Mag der Sturm kommen - Leena Lander - E-Book

Mag der Sturm kommen E-Book

Leena Lander

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Beschreibung

Die Journalistin Iiris entdeckt nach 13 Jahren Ehe, dass ihr Mann sie betrügt. Tief getroffen flüchtet sie aus dem gemeinsamen Leben in das finnische Bergbaudorf, aus dem ihre Familie stammt. Dort will sie das Grab ihrer Großeltern besuchen und trifft auf ihre alte Tante Natalia. Von ihr erfährt Iiris von einem lange gehüteten Familiengeheimnis. Stück für Stück findet sie mehr heraus - über ihre Großmutter, die eine Affäre mit einem Fremden hatte, und über den Tod eines Kindes, das genau an dem Tag ums Leben kam, an dem ein zweites Kind geboren wurde ...

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Die Journalistin Iiris entdeckt nach 13 Jahren Ehe, dass ihr Mann sie betrügt. Tief getroffen flüchtet sie aus dem gemeinsamen Leben in das finnische Bergbaudorf, aus dem ihre Familie stammt. Dort will sie das Grab ihrer Großeltern besuchen und trifft auf ihre alte Tante Natalia. Von ihr erfährt Iiris von einem lange gehüteten Familiengeheimnis. Stück für Stück findet sie mehr heraus – über ihre Großmutter, die eine Affäre mit einem Fremden hatte, und über den Tod eines Kindes, das genau an dem Tag ums Leben kam, an dem ein zweites Kind geboren wurde …

LEENALANDER, geboren 1955, ist eine der international bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellerinnen der finnischen Gegenwartsliteratur. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Verfilmungen ihrer Romane »Die Insel der schwarzen Schmetterlinge« und »Die Unbeugsame« waren in Finnland große Erfolge. Leena Lander lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Hannu Raittila, im Südwesten von Finnland in der Nähe von Turku.

LEENA LANDER

Mag der Sturm kommen

ROMAN

Aus dem Finnischen von Angela Plöger

Die finnische Originalausgabe erschien 1998 unter dem TitelTulkoon myrsky bei Werner Söderström Ltd. (WSOY), Helsinki.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Oktober 2014 Copyright © Leena Lander and WSOYPublished by arrangement with Werner Söderström Ltd. (WSOY) Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: plainpicture/BriljansSatz: Uhl + Massopust, Aalen

MI · Herstellung: scISBN 978-3-641-19785-8www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

In der Erde und in den Steinen gibt es viel Unbekanntes. Aber da alle Metalle gesucht und gefunden werden müssen, so ist ein solches Suchen und Arbeiten nicht geringzuschätzen, vielmehr zu achten und zu rühmen. Diese Lust und Begehrlichkeit, Bergbau zu treiben, sollte man keinesfalls unterdrücken und einfach abtun, denn genauso wie die jungen Männer Lust zur Liebe verspüren und wie das Trachten der Bienen nach Rosen geht, aus welchen sie Honig und Blütensaft saugen, ebenso willig und geneigt sollte der Mensch sein, indes ohne Gier, Erz zu suchen und Bergbau zu betreiben.

Sigrid Aronus Forsius,Mineographia, 1643(Erstes schwedisch-finnischesLehrbuch für Mineralogie)

Das Kind, zart und hell, steht mitten auf dem Hof, still, ohne sich zu rühren.

Was möchtest du, Kleine?

Ich möchte sterben.

Nein, leg das Bild weg. Denk nicht daran. Das tut weh. Du willst nicht wissen, was geschehen ist.

Du willst eine Geschichte von den Steinen erzählen. Die haben dich doch immer fasziniert. Schon als Kind hast du ganz gewöhnliche Steine gesammelt und gewaschen und sie in Pappkartons unter dem Bett aufbewahrt. Deine Schwestern fanden das erst komisch, dann mitleiderregend. Ihrer Ansicht nach ergab das überhaupt keinen Sinn. Steine, das ist doch nichts. Die bekommt man umsonst.

Aber so ist es nicht. Ein Stein ist Zeit, die unerschütterliche Geduld der Zeit.

Ganze Magnetfelder können sich umpolen, der Erdboden kann sich verschieben, aber der Stein bleibt.

Der Stein bleibt, und der Fels spricht.

Sagte Vida Harjula.

Es ist ihre Schuld, dass du nicht von der Zauberkraft der Steine losgekommen bist. Dass selbst in jenem grauenhaften Moment, als du in der zentralen Kammer des neolithischen Ganggrabs von Newgrange stehst, das Sonnenlicht des Mittwinters in die totale Finsternis dringt und eine zarte Kinderleiche preisgibt, deine Gedanken bei dem Altar verweilen, der sie trägt.

Er ist aus Granit, anders als die anderen Opferstellen der Grabkammer, die aus Sandstein und Schiefer gemacht sind. Gerade diese Platte ist am besten erhalten, sie ist nahezu makellos rund. Knapp einen Meter im Durchmesser. Über und über verziert, von beiden Seiten.

Wenn du die spiralförmigen Muster leicht berührst, sagen dir die Fingerspitzen sofort, dass der Meißel des Steinmetzen nicht aus Metall, sondern aus Stein war. Winzig kleine Schläge dicht bei dicht. Die Arbeit war langwierig und mühsam, aber es gab keine andere Wahl. Der Künstler lebte zu einer Zeit, als auch das Kupfererz noch ein Stein unter vielen war. Noch niemand war darauf gekommen, diesen Stein zu erhitzen. Niemand hatte bemerkt, dass man ihn schmelzen, dass man ihn biegen und formen, ja gestalten kann wie ein Töpfer den Ton, mit dem einzigen Unterschied, dass er nach dem Abkühlen so hart wird wie Stein.

Nein, diese Platte hat ihre Form viel früher erhalten, ziemlich genau vor fünftausend Jahren, wenn man der Beweiskraft radioaktiven Kohlenstoffs Glauben schenken darf.

Vor fünftausend Jahren schleifte eine Horde von Menschen, die als äußerst primitiv gelten, riesige Steinblöcke ohne neuzeitliche Hilfsmittel Hunderte von Kilometern weit, errichtete daraus einen gewaltigen Grabtempel und stellte die Opferplatten in der zentralen Grabkammer auf. Dann warteten diese Menschen auf den Augenblick, an dem die Sonne am kürzesten Tag des Jahres den schmalen Gang entlang bis zu ihnen strömte. Am Tag der Wintersonnenwende.

Und niemand weiß, warum.

Wenn überhaupt jemand, dann müsstest du es wissen. Deshalb bist du doch hier. Um das Geheimnis der Steine zu lüften. Um an einem solchen Tag hierherzukommen, muss man allerhand Mühen auf sich nehmen. Man muss sehr, sehr glaubwürdig sein. Dennoch ist es ein Wunder, dass du es geschafft hast, die Voraussetzungen zu erfüllen. Vielleicht war es die keltische Gastfreundschaft, oder deine exotische skandinavische Herkunft und deine skandinavischen rätselhaften Examina haben die Iren beeindruckt. Und dein guter Geist, dem schuldest du ebenfalls Dank. Vida Harjulas Liebhaber. Dem, der ihr Leben zerstört hat.

Ich bin ein Mann, der sich verliebt wie ein Stein, der ins Wasser fällt, Hals über Kopf, bis auf den Grund. Falsch. Auf diese Weise habe ich mich nur in dich verliebt …

Vergiss es. Gemein, die Briefe eines anderen zu lesen. Auch die Tatsache, dass der Empfänger tot ist, ändert daran nichts. Eine unrühmliche Indiskretion war es trotzdem. Wenn deine Großmutter gewollt hätte, dass du die Briefe liest, dann hätte sie sie dir doch gegeben, oder?

Nicht, dass diese pathetischen Zeilen noch für irgendjemanden von großer Bedeutung wären. Sie waren ein ebenso grimmiges Spiel, wie es fast alle Anstrengungen des Menschen in diesem Leben sind, sie lenken nur davon ab, dass die Zeit vergeht und man dem Grab näher kommt. Das Spiel der Liebe ist nicht ernster zu nehmen als all die anderen, aber natürlich sehen das diejenigen, die es spielen, anders. Mit dem nötigen Ernst spielen. Statthaft oder nicht. Wenn man sich ihm ergibt, muss man die Regeln beherzigen. Sich der Gewalt des Spiels ergeben. Sich verzaubern lassen. Gespannt sein. Trotz des ungewissen Erfolgs alle nur erdenklichen Fähigkeiten einsetzen: Mut, Schläue und Geistesgegenwart in dem lodernden Kampf der Liebe.

Erst, wenn man sich aus dem Spiel zurückzieht, darf man gewahr werden, wie zerbrechlich es war, wie rituell sein Charakter, wie grobschlächtig seine Masken: so schwarz wie die Erde, so weiß wie der Schnee, und was zuletzt kommt, ist der Tod.

Und was war das für ein großes Spiel, das heilige Schauspiel des Opfers, für das dieser Tempel errichtet wurde? Vielleicht war auch das ein Traum von der Unsterblichkeit. Der Glaube an einen immer wiederkehrenden Neubeginn, bei dem die Finsternis über dem Abgrund schwindet, das Licht aus der Finsternis hervortritt und die Leere sich mit Sinn füllt.

Warum sonst hätte ein in seinen blinden Instinkten gefangener steinzeitlicher Mensch dieses architektonische Wunder geschaffen, diesen erstaunlichen steinernen Palast zu Ehren des kärglichsten Lichtes des Jahres?

Ein starker, uns unbekannter Gott riet ihm, ein ewiges Monument zu errichten für den Augenblick, in dem die unbegreifliche Länge und die Kürze der Zeit miteinander verschmelzen, in dem die Verzweiflung über die Vergeblichkeit alles irdischen Tuns sich wenigstens für einen Augenblick in Stärke verwandelt. Eine lichtfeine Brücke von der langen Nacht zum Tag. Eine Gelegenheit, zu spüren, wie das Leben, das unaufhaltsam in Richtung Nichtsein fortschreitet, langsamer wird und einen unter seine Fittiche nimmt wie ein großer, schützender Vogel. Die schwindelerregende, nur einen Augenblick währende Flucht aus der lächerlichen Kleinkariertheit des Alltags, aus der ewig nagenden Furcht vor Enttäuschung, aus dem schlechten Gewissen, aus dumpfer Schuldhaftigkeit. Der Gebieter über die Zeit zeigt sich seinem Spielzeug gewogen und nimmt das Opfer an: Mit dem Veilchengeschmack des Erfolgs auf der Zunge und Hochspannung in den Fingerspitzen berührst du dein einzigartiges Dasein, du bist, hier und jetzt.

Doch nein. Anstelle all dessen zeigt der Fels dir den Tod, die sinnlose Gewalt. Anstelle von Reinigung wird dir Erschütterung geboten, ein Opfer. Der entseelte Körper eines kleinen Mädchens. Ist es dasselbe Kind, dessen Verschwinden ganz Irland betrauert? Die kleine Teresa, um deretwillen die tränenüberströmte Mutter in der abendlichen Nachrichtensendung flehte: Ich bin arm, aber ich will alles geben, was ich habe, wenn ich nur mein Kind wiederbekomme!

Alles, was ich habe, wenn ich es nur wiederbekomme.

Alles, was ich habe.

Such Halt an dem neben dir stehenden Mann, schließ die Augen. Du hast es dir nur eingebildet. Du hast nichts gesehen, du weißt nichts. Wer kann der Mutter die schrecklichste aller Nachrichten überbringen? Du jedenfalls nicht. Du nicht.

Das Kind, blond und unauffällig, steht in der biergelben Frühlingssonne, starrt in eine Pfütze. Was hast du? Was möchtest du, kleines Mädchen?

Es steht dort, ohne sich zu rühren, in seinen roten Gummistiefeln, vollkommen konzentriert, verschanzt sich in den diamantenen Spiegelungen der Pfütze. Das gemächliche Motorengeräusch des Autos geht das Kind nichts an. Es weint nicht, es reagiert nicht. Es ist nur da.

Was möchtest du, Kleine?

Ich möchte sterben.

ERSTE SOHLE

Beim Eindringen in den Felsgrund besteht das Verfahren, das sich als wirkungsvoll erwiesen hat, darin, das zu sprengende Gebiet in Tiefenebenen aufzuteilen. Die erste Sohle liegt nicht weit unter der Erdoberfläche, und die tiefste Sohle ist der Grund, bis zu dem man mit der vorhandenen Technik vordringen kann. Die Sohlen werden quer zum Erz in Sprengeinheiten, Schürfe und Pfeiler aufgeteilt. Der Verlauf der Schichten wird durch Bohrungen überprüft, um so ein genaues Bild von den Erzvorkommen zu erhalten.

Sean O’Brien, On the Geologyand Tectonics of theOlkikumpu Ore Field and Region,Bull. 1936

Olkikumpu, Mai 1936

Der Mann steht an dem zugeschaufelten Grab. Er weint nicht, er klagt nicht, aber er ist auch nicht bereit zu gehen.

Es ist Eero Harjula, mein Großvater. Sein Kind ruht da unter der kühlen Erde, und auf dem Grabhügel liegen Kränze: Letzte Ruh an diesem Ort, Herr, o gib mir fort und fort, und an deiner Hand mich leit’ hin zur ew’gen Seligkeit. In Sehnsucht Tante Natalia …

Der Arzt, der die kleine Leiche untersucht hatte, meinte die Eltern dadurch zu trösten, dass er ihnen erzählte, ihm selbst seien schon zwei Kinder weggestorben. Das eine als Neugeborenes und das andere an einer Lungenkrankheit. Ja, tatsächlich zwei, und Ihnen erst dieses eine. So ist das Leben eben, daran muss man sich gewöhnen.

Aber man gewöhnt sich nicht daran. Man hat gar nicht die Zeit, sich daran zu gewöhnen, weil es so heimtückisch schnell und unerwartet geht: Man hat ein niedliches, liebes Mädelchen, in seiner sensiblen Art lebhaft wie eine Bachstelze. Es gibt einfach nichts an ihr auszusetzen. Bis sich ein Wind erhebt, über das Kind hinwegstreicht, und es ist nicht mehr da.

Der Mann weint nicht. Er weint nicht, aber er will auch nicht nach Hause.

Und die Frau, seine Ehefrau Vida, geht den von Hängebirken gesäumten Sandweg entlang zur eisernen Friedhofspforte, steht da und sieht nach dem im Wagen schlafenden Kind. Es hat seine Faust neben die Wange gelegt, die rosig schimmernden Fingerspitzen fahren leicht zusammen und bewegen sich, als die Frau das Deckbett anhebt, um sie zuzudecken. Die Frau wendet sich, lautlos weinend, vom Wagen ab und schreitet über das wuchernde Moos am Grund der Pfützen mit dem grünen Wasser hinweg, ohne sich darum zu kümmern, dass sie nasse Füße bekommt.

Sie kehrt zu dem Mann zurück und fasst ihn am Ärmel.

»Lass mich.«

Die Blicke reichen nicht zueinander hin, der Mann will die Frau nicht in seiner Nähe haben, er kann den Verlust nicht mit ihr teilen.

Die Frau berührt ihn erneut. Berührt ihn, obwohl sie weiß, sie sollte es nicht tun.

»Herrgott, darf man denn nicht mal in Ruhe um sein einziges Kind trauern?«

Aber die Frau lässt sich nicht abweisen, sie packt den Ärmel, hängt daran, während ihre Schultern von leisem Schluchzen zucken, auch wenn der Mann noch so sehr versucht, sie abzuschütteln.

Zum ersten Mal begegnete ihr Eero Harjula im Kontor. Dieser schönen Dolmetscherin, Witwe eines Kumpels, von der alle sprachen.

Die so völlig anders war als die anderen.

Sie verstand sich ja nicht einmal geziemend zu kleiden. Helle Kleider voller winziger, glänzender Knöpfe, an den Ohren schamlos große, goldene Gehänge. Hat man denn solche Ruchlosigkeit schon erlebt, ihr Mann war kaum ein Jahr tot. Von Trauer keine Spur. Nein, immer lächelnd und ihrem Gegenüber direkt in die Augen blickend, so klare, ausdrucksstarke Augen, die Abraumhalde nennen Sie also tumppa, Herr Harjula, das ist doch sicherlich dasselbe Wort wie dump, das man bei uns in Kanada benutzt hat? Herr Harjula! Als würde man sich, auch wenn man zehnmal Obersteiger ist, dort unter der Erde in einen Herrn verwandeln.

Aber die Leidenschaft, das Verderben, packte ihn erst, als er ihr Lachen hörte. Er hatte zwar versucht, einen Scherz zu machen, aber das Lachen überraschte ihn dennoch. Es sprudelte aus ihr heraus, es strömte über, es flatterte auf einen zu wie ein vom Wind gebauschtes Frühlingslaken. Es nahm ihm den Atem. Der Mann war wie gelähmt. Wurde rot. Er war sich sicher, dass die Frau im Grunde über seine Unbeholfenheit lachte. Musste er denn auch so groß sein und Hände wie Schaufeln haben! Ganz bestimmt amüsierte sich die Frau über sein rot angelaufenes Äußeres, das alles verriet: Welche Farbe hat das Feuerwehrauto, Herr Harjula?

Herrgott, wie er sich schämte. Er schämte sich! Er war wütend, und ihm war so siedend heiß, dass er die Frau am liebsten auf der Stelle ins Hinterzimmer geschleift und über sie hergefallen wäre, um ihr zu zeigen, was für ein Kerl er war.

Aber hätte er das fertiggebracht? Niemals. Obendrein ließ er noch die Stundenzettel auf den Boden fallen, und die Frau kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, da ist noch einer, Herr Harjula, hob den Zettel rasch auf, der unter den Stuhl geflattert war, und gab ihn samt einem elektrischen Schlag dem Mann in die lächerlich zitternde Hand.

»Und jäkleiki ist bestimmt eine Art Bohrmaschine, das kann nichts anderes sein als jack leg, und Lainari ist natürlich ein Leyner, so ein älteres Modell, nicht wahr?«

Aber der Mann bekam kein Wort mehr heraus, er, der nun wirklich keine Angst vor Mädchen hatte, wie manch ein Schürzenjäger aus der Gegend bezeugen kann. Diesmal aber kein Wort, sondern stumme Flucht hinaus und wildes Treten in die Pedale bis nach Hause. Wobei er für keinen Augenblick vergaß, wie der schwarze Rock um das Hinterteil der Frau gespannt hatte, als sie sich zum Fußboden hinabbückte.

»Und wie nennen Sie diesen Stock, mit dem man den Sprengstoff tief unten im Loch deponiert, Herr Harjula?«

Die Augen voller Lächeln und an den Fingern winzig kleine Tintenkleckse. Der Federhalter bereit, ein wichtiges Detail festzuhalten.

Warum bloß haben die mich geschickt? zürnte der Mann im Stillen: Wie kann ich ihr denn sagen, dass sie den meist Schwanz nennen. Oder Pimmel. Je nach Laune.

Nein, es gab keine andere Möglichkeit, als die Flucht zu ergreifen und wie verrückt nach Hause zu strampeln. Da kamen ihm die weißgekleideten Prediger aus der Tiefebene zu Fuß entgegen, die schwarzen Bücher unter dem Arm, was denn sonst, betet für mich, Brüder, rief er ihnen zu, betet, dass die Frau aus diesem Sünder einen rechtschaffenen Mann macht! Wahrhaftig, auf dieser unvergesslichen Fahrt schwor der eingefleischte Junggeselle, der Obersteiger Eero Harjula, die aus Kanada ins Heimatland zurückgekehrte Bergarbeiterwitwe Vida Tichonow zu heiraten, koste es, was es wolle, und zwar noch vor Ablauf der Trauerzeit.

Aber so einfach war das nicht. Jetzt, wo die Frau den Eindruck gewonnen hatte, dass der Mann ein bedauernswerter Tolpatsch war, an den man keinen Gedanken zu verschwenden brauchte. Und dabei wäre es auch geblieben, wenn ihm nicht der Zufall in Gestalt eines Sportfestes für die Bergleute zu Hilfe gekommen wäre.

Er war immer ein guter Schütze gewesen. Als er noch keine zehn Jahre alt war, hatte er unter Anleitung seines Vaters sogar mit dem Vorderlader bemerkenswert gut getroffen, aber jetzt wunderte es ihn doch, wo er unter dem sengenden, skeptischen Blick der Frau eine solche Gelassenheit hernahm! Wie er es schaffte, seine große Faust zu so stoischer Ruhe zu zwingen, dass er die ganze Mannschaft haushoch besiegte, die eigenen Leute und die Gäste!

Auch beim Dreihundert-Meter-Scheibenschießen Volltreffer. Während die anderen drauflosballerten, dass die Prellschüsse nur so pfiffen. Auch die Kumpels wollten ihren Augen nicht trauen, als sie gingen, um die Scheibe abzunehmen.

Isidor Haarla, der Kontorchef, hatte seine Scheibe überhaupt nicht getroffen, was allgemeine Verwunderung hervorrief, weil er oft – scheinbar im Scherz – damit geprahlt hatte, wie viele Aufständische er im Freiheitskrieg abgeknallt hatte.

»Wie kann man einen Menschen erschießen, wenn man nicht mal die ein Meter breite Scheibe trifft?«

Aber Isidor Haarla verzog keine Miene:

»Vielleicht sind ein paar Rote in der Mitte verschont geblieben, aber umso mehr Kadaver gab es an den Flanken.«

Solche Scherze gefielen den Männern nicht sonderlich, auch wenn man sie nicht ernst nehmen konnte.

»Hat der Krieg auch Sie das Schießen gelehrt, Herr Harjula?«, fragte Vida Tichonow. Der Mann fand, dass in ihrem Blick ein ganz neuer, respektvoller Ausdruck lag.

»Nein«, lachte er. »Menschen habe ich nun doch in Ruhe gelassen. Im Jahre achtzehn hab ich nur auf Wölfe gefeuert.«

Ich habe Wölfe geschossen und war der Mann im Haus, obwohl ich erst vierzehn war, so ein Held war ich!

»Obwohl ich eine Winchester hatte für den Fall, dass plötzlich ein Bär auftaucht. Aber es ist keiner aufgetaucht. Ich bin ein einfacher Mann, der von Politik nichts versteht.«

Vida Tichonow lächelte.

Und sagte nicht nein, als der Mann ihr eine rote Limonade und ein Bündel Lose spendieren wollte. Sie gewann schließlich nichts weiter als irgendein Buch, es schien aber, als freute sie sich sehr darüber.

Am wichtigsten war es dem Mann, der Frau öfter ihr Lachen zu entlocken. Dieses tiefe, verschwenderische Lachen, das ihn verrückt machte. Das aber seinen Geschichten galt, nicht seiner Hilflosigkeit.

Er ließ sie neben sich in der Schaukel Platz nehmen und erzählte ihr, wie er einmal auf einem Bauernhof hatte arbeiten müssen:

»Als das Bergwerk nach einem Einsturz eine Zeit lang geschlossen war. Da musste man sich etwas einfallen lassen, damit einem das Brot nicht ausging. Ich ging also auf einen Bauernhof: Für einen so kräftigen Burschen findet sich doch sicherlich Arbeit? Jaa, warum nicht, sagte der Bauer und gab mir eine Hacke und einen Stapel Säcke. Wenn du nur kein Faulpelz bist, denn Faulheit dulde ich nicht. So redete er, während er mich auf den Kartoffelacker führte. Ich faul? Ich fing an zu rackern, als hätte ich Schaufeln statt Hände, und die hab ich ja auch, diese Pranken, in denen steckt Kraft, das kann ich dir sagen. Aber als ich nach zehn Stunden Feierabend machte, da fand sich am Boden des Sacks nicht mehr als ein Kilo Kartoffeln. Der Bauer wurde sehr nachdenklich, als er das bemerkte. Er meine es ja nicht böse, aber er finde doch, dass das nun wirklich zu wenig sei. Ich darauf, so ist es nun mal gegangen. So nämlich, dass ich anfangs, als ich begann, in dem Acker zu graben, all die Kartoffeln fand, die nun in dem Sack lagen. Aber nachdem ich einen halben Meter tief gegraben hatte, fand ich bis in eine Tiefe von zwölf Metern keine einzige Kartoffel mehr …«

Etwas in dem Mann zitterte jedes Mal vor Angst, wenn er anfing, ihr eine neue Anekdote zu erzählen, denn er fürchtete, jemand anders könnte sie ihr schon vor ihm aufgetischt und als eigenes Erlebnis ausgegeben haben. Aber Vida enttäuschte seine Erwartungen nie, ihr wunderbares Lachen nahm ihm in immer gleicher Weise den Atem. Es verging nur ein Monat, da schlief er mit ihr.

Tja, also, er schlief und schlief mit ihr.

Freilich war er es, der die Initiative ergriff. Aber Vida Tichonow stand ihm in nichts nach. Auch beim Geschichtenerzählen nicht: Möchten Sie hören, wie gefährlich das Leben der finnischen Bergleute in Kanada war, Herr Harjula?

Na, warum nicht, wenn die kleine Süße es ihm erzählen wollte.

Freilich, genau das wollte die kleine Süße:

Einmal passierte es, dass in Creighton Mine ein Kumpel in der Mittagspause an einer nicht näher bezeichneten empfindlichen Stelle von einer Bremse gestochen wurde. Die Folge: eine gewaltige Schwellung und schreckliche Qualen. Jemand versicherte dem sich vor Schmerzen windenden Pechvogel, dass der Schmerz aufhören würde, wenn er die schlimme Stelle in Buttermilch tauchte. Da ging dieser Kumpel, ich glaube, er hieß Matti, in die nächste Molkerei und tat genau das. Unglücklicherweise kam aber ein Mädchen von der Molkerei dazu und fragte, was um alles in der Welt Matti dort mit ihrer Buttermilchkanne mache. Der Mann war natürlich verlegen, er fragte, ob das Mädchen dergleichen noch nie gesehen habe. Darauf das Mädchen: Doch, aber ich habe noch nie gesehen, wie er geladen wird!

Das Mädel hatte ja Geschichten auf Lager!

Der Mann beschloss, sich keine Sorgen zu machen. Letztlich erregte ihn eine so aufrichtige Schamlosigkeit nur noch mehr, lass mich wenigstens deine Bluse aufknöpfen, kleine Vida! Aber als er sich mit seinen großen Händen an den verdammt fest sitzenden, winzigen Knöpfen zu schaffen machte, kam er damit überhaupt nicht zurecht. Er war durchaus kein unerfahrener Mann. Eher gewöhnt, das zu bekommen, wonach ihm gerade der Sinn stand, aber diese Frau hatte aus dem Ausland so verdammt ausgeklügelte Harnische mitgebracht, dass er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.

Die Frau wusste es.

Sie führte den Mann in ihre kleine Wohnung, zog sich still aus und gab sich dem Mann ohne viel Umstände hin, so als würde sie ihm eine Tasse Kaffee servieren.

Anfangs war das schön, das musste er zugeben. Unter dem Korsett hatte die Witwe einen wohlgeformten Körper, auch wenn die Brüste für seinen Geschmack etwas zu klein waren. Und wie gern sie sich verwöhnen ließ! Auch auf eine Weise, zu der manch eine, die schüchterner war als sie, nein gesagt hätte.

Sie hatte das so gern, dass dem Mann schon Zweifel kamen. Er dachte bei sich, dass eine so bereitwillige Frau doch eine allzu fragwürdige Heiratskandidatin war. Wie könnte er nur auf diskrete Weise herauskriegen, ob sie sich überhaupt noch zum Heiraten eignete?

Gar nicht.

Denn Vida Tichonow wollte nicht heiraten.

»Die Ehe bedeutet eine Versklavung der Frau«, erklärte sie gelassen, glitt unter der Decke hervor und spazierte quer durchs Zimmer, bekleidet nur mit ihrer Selbstsicherheit: Gerade wir sollten über so etwas nicht reden, wir haben es doch so gut, ich fühle mich so zufrieden wie noch nie, machen wir uns doch einen Kaffee und genießen das Dasein.

Doch so einfach konnte der Mann das Thema nun doch nicht fallenlassen, nicht wahr.

Versklavung?

Von dieser Seite hatte er die Sache noch nie betrachtet. Er war eher der Auffassung, dass die Ehe eine Fallgrube sei, in die die Frauen die Männer um jeden Preis treiben wollten. Wie oft hatte er schon ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er es nicht schaffte, den entscheidenden Schritt zu tun. Hatte guten Mädchen nachgeweint.

Aber Vida Tichonow war ein völlig anderes Kaliber. Geheiratet wird nicht, um nichts in der Welt. Glückliche Ehen gibt es nicht. Das ist die Methode der kapitalistischen Gesellschaft, die Frau ihrer Individualität zu berauben. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, irgendetwas mit Pastoren zu tun zu haben und den Segen dieser Schlangen auch nur für eine einzige ihrer Handlungen entgegenzunehmen.

So so. Und warum nicht?

Die Frau setzte sich ans Kopfende des Bettes und legte seinen Kopf auf ihren warmen, weißen Schenkel.

»Die Pastoren haben die Waffen gesegnet, mit denen mein Bruder im Klassenkrieg am Rand der Kiesgrube erschossen wurde«, sagte sie. »Sie zielten auf das Mitgliedsbuch der Arbeitervereinigung, das an seine Brust genagelt war. So hab ich es gehört.«

»Es wurde so viel geredet. Auf beiden Seiten«, murmelte der Mann, räusperte sich und schaute, krank vor Begierde, auf das dunkle Gestrüpp vor seinen Augen.

»Egal, was geredet wurde, aber dort in der Kiesgrube ist er gestorben. Mit sechzehn Jahren.«

»In Kanada warst du doch aber bereit zu heiraten.«

»Ja«, gab sie zu und strich ihrem Liebhaber über die Haare. »Da hab ich tatsächlich geheiratet.«

»Und dein kanadischer Mann, hat er dich gut behandelt?«

»Ja, aber er war kein Kanadier, sondern Ukrainer. Er hat mich gut behandelt in den zwei Monaten, die er nach unserer Hochzeit noch lebte.«

»Was, zum Teufel, ist ihm denn passiert?«

»Er ist vom Schornstein einer Eisengießerei gefallen. Er war dabei, ihn in zweihundert Fuß Höhe zu reparieren, als er irgendwie vom Gerüst abrutschte.«

»Hast du nicht gesagt, er wäre Bergmann gewesen?«

»Ja, das war er auch, aber für die Arbeit am Schornstein bekam er Gefahrenzulage, und er hatte die fixe Idee, uns ein Haus kaufen zu wollen. Bei jeder Schornsteinreparatur stürzten im Durchschnitt zwei Mann ab, deshalb wurde dafür ungeheuer viel bezahlt.«

Der Mann blickte der Frau verstohlen ins Gesicht, um zu sehen, ob ihr Tränen in die Augen traten, und tatsächlich meinte er, am Rand der grünen Augen eine kleine Rötung zu bemerken. Finstere Eifersucht packte ihn:

»Der Mann muss dir ja sehr viel bedeutet haben, obwohl er ein Russki war und dich so schnell zur Witwe gemacht hat.«

»Er hätte gern noch leben dürfen, aber jetzt denke ich nicht mehr an ihn. Ich wollte zurück nach Finnland, aber er wollte lieber dort bleiben. Sodass wir sicherlich doch nicht glücklich geworden wären. Er war nicht so fortschrittlich wie ich. Er meinte, der Platz der Frau sei zu Hause und der Mann entscheide, wo das Zuhause ist. Aber das sagte er erst, als wir verheiratet waren. Dass jetzt Schluss damit sei, dass ich immer in die Versammlungen der Arbeiterfrauen laufe. Auch die Sonntagsschule sollte ich aufgeben.«

»Die Sonntagsschule?«

»Wir haben sonntags die Kinder der Einwanderer unterrichtet. Abwechselnd. Geschichte des Sozialismus und so was. Du weißt schon. Damit sie zu anständigen Menschen heranwuchsen.«

»Bist du Kommunistin, Vida?«

»Sagen wir eher, Sozialistin. Anfangs war ich nichts, aber nachdem die meinen Bruder abgeschlachtet hatten, hab ich mir gedacht, dass sie auch hinter mir her sind. Mein anderer Bruder war zur Legion Murmansk nach Nordrussland geflohen und hatte sich der britischen Armee angeschlossen. Ich folgte ihm. Fast den ganzen Weg dorthin hab ich zu Fuß zurückgelegt. Mit siebzehn ist man noch zu allen möglichen Verrücktheiten fähig. Aber ich habe meinen Bruder gefunden, und die Engländer beschafften uns Einreisepapiere für Kanada.«

»Wie war es da?«

Vida Tichonow lachte:

»Nett und gemütlich wie immer im Ausland: fünfzehn Stunden Arbeit täglich, wenig Geld, Ratten und Krankheit und Trauer und entsetzliches Heimweh. Mein Bruder ist dort gestorben. Er wurde lungenkrank von der Luft im Kohlebergwerk.«

»Und dieser Jewgeni Tichonow war der einzige Mann, den du … liebgewonnen hast?«

»Ja. Ich hätte gern in einer freien Beziehung mit ihm gelebt, aber er hat gesagt, wenn ihm ein Unglück zustößt, dann gibt es keine Entschädigung. Und so ist es dann ja auch gekommen. In dieser Hinsicht war er klüger als ich.«

»Und andere hast du danach nicht gehabt?«

»Nein.«

»In keiner Weise?«

»Nein. Ich hab mich in keinen anderen verliebt.«

So war das also. Alles ganz klar und einfach. Und der Mann wusste nicht mehr, was er denken, woran er glauben sollte. Je mehr er darüber nachdachte, desto gemeiner wurden seine Fantasien. In seinen schlimmsten Albträumen sah er geile, geifernde Kerle hinter der Tür der erschrockenen Einwanderin lauern, wurde als machtloser Zuschauer Zeuge von schamlosen Kämpfen, blutigen Schößen, dem Aussetzen von Säuglingen.

Aber dann streiften die Haare der Witwe in verhängnisvoller Weise seine Weichen, er spürte den aufreizenden Duft ihres Schoßes und war verloren.

Ihm schien, als wäre Vida Tichonow von Anfang an zu klug für ihn gewesen. Sie behandelte ihren Liebhaber, wie sie wollte. Redete wie ein Wasserfall, behielt aber ihre Geheimnisse, die an ihm nagten und seinen Hunger nur noch wachsen ließen, dennoch für sich.

Zuletzt stand es mit Obersteiger Eero Harjula so schlimm, dass es für ihn kein Halten mehr gab. Nicht einmal die erschütternde Unbefangenheit schreckte ihn noch ab, mit der die Frau das Päckchen mit den Verhütungsmitteln hervorholte: Ich will keine Kinder, merk dir das!

Über den seligen Tichonow hatte die Witwe offenbar nichts weiter hinzuzufügen. Aber auch das gab sie in lauterster Gutmütigkeit, mit kindlich klarem Blick zu verstehen: »Ach, sprechen wir nicht mehr von ihm, er ist doch tot, von ihm ist nichts übrig, ich musste einfach glauben, dass das, was sie in den Sarg gelegt hatten, der arme Genja war.«

So als ginge es um irgendeinen zufälligen Bekannten, an den sie sich nicht einmal mehr so genau erinnerte.

Das Schlimmste war, dass sie ihn zwang, für die Nacht fortzugehen. Die Hauswirtin duldete keine Übernachtungsgäste. Und Vida Tichonow fürchtete, ihre gute und billige Wohnung zu verlieren.

Jeden Abend musste der Mann mit weichen Knien zu seiner leeren Wohnung strampeln. Allein. Müde. Verlassen und ausgenutzt.

»Sehnst du dich überhaupt nach mir?«

»Na, aber Liebster, ich denke doch die ganze Nacht an dich.«

Ich denke die ganze Nacht an dich.

Die ganze Nacht.

Nur an dich, Liebster.

Aber Vida Tichonow schlief, schlief garantiert jede Nacht, die Gott werden ließ, wie ein Murmeltier, sofort nachdem der Mann verschwunden war, das sah man ihr am nächsten Morgen an. Der Mann dagegen tat kaum ein Auge zu, weil er darüber nachgrübelte, woran es lag, dass er, anders als dieser lumpige Russe, Vida Tichonow als Ehemann nicht gut genug war.

Innerhalb von zwei Wochen hatte die Frau Eero Harjula, einen gesunden Mann, an den Rand des Wahnsinns getrieben. Kein Zweifel, er würde in der mahlenden Mühle der freisinnigen Umarmungen dieser Frau zugrunde gehen. Würde ersticken an der tonnenschweren Eifersucht schlafloser Nächte, an höllischem Misstrauen, an Einsamkeit, Magenkrämpfen, verzehrender Leidenschaft und der Angst, verlassen zu werden.

So fasste der Mann seinen Entschluss.

»Wir müssen heiraten! Oder ich sterbe.«

Vida Tichonow lächelte und begann ihre Knöpfe zu öffnen, aber der Mann ergriff ihre Hand.

»Nein«, sagte er. »Nicht, bevor du es versprochen hast.«

»Aber du weißt doch. Ich will nicht heiraten.«

»Dann musst du zu einer Beerdigung.«

»Muss ich nicht.«

»Musst du doch.«

Standesamtliche Trauung. Davon rückt sie nicht ab. Wenn die Sache nicht ohne Pastor über die Bühne geht, dann unterbleibt sie eben. Also gut, willigt er ein. Wahrscheinlich gaben der cremefarbene Satin und der Spitzenstoff, die in Kjisiks Stoffbude eingetroffen waren, endgültig den Ausschlag. Aus Vida Tichonow wurde Vida Harjula, und alles war so gut, wie man es sich nur vorstellen konnte.

Oder war es, bis das Mädchen geboren wurde.

Danach veränderte sich die Frau.

Eigentlich geschah es schon während der Schwangerschaft. Wochenlang war sie in Tränen aufgelöst, als sie erfuhr, dass sie schwanger war. Der Mann verstand das nicht. Er hatte nie gedacht, dass die Frau es ernst meinte, als sie sagte, sie wolle keine Familie. Das war irgendwie unnatürlich. Keine andere Frau war so.

Irgendwann beruhigte sie sich zwar, aber etwas an ihr war anders. Fremd. Sie beschäftigte sich gedanklich mehr mit dem Kind, wandte sich ab von dem Mann, vom eigenen Körper. Sie wies den Mann nicht ab, nein, das konnte man ihr nicht vorwerfen, wirklich nicht, aber in der Art, wie sie sich in seinen Armen gab, lag etwas Befremdliches.

Der Mann dachte, das liege an dem Kind. Als das Mädchen geboren war und der Mann ihre Brüste berühren wollte, die jetzt groß und weiß waren und von bläulichen Milchadern durchzogen, prall gefüllt mit süßer Flüssigkeit, hielt die Frau die Hände davor, so als wollte sie sagen, dass sie nun nicht mehr ihm gehörten, sondern dem Kind.

Jetzt, wo er am Grab steht, erinnert sich der Mann daran, wie er eines Nachts so große Eifersucht auf das Kind empfand, dass er ihm die Milch wegtrank. Die Frau schlug mit den Fäusten auf ihn ein, aber er war viel stärker.

Als er sich jetzt daran erinnert und das frische Grab seiner Tochter ansieht, presst ein fürchterlicher Schmerz sein Inneres zusammen. Dass ich der Kleinen auch diese Freude genommen habe! Dass ich mehr an ihre Mutter dachte als an sie, das zarte Elfenkind!

Papa, sagte sie vertrauensvoll zu ihm. Papa. Papa Papa, darf ich mitkommen? Sie erinnerte sich nicht daran. Sie wusste nicht, was der Mann ihr angetan hatte, als sie noch ein Säugling war und in ihrem einsamen Bett so schreckliche Sehnsucht nach der Mutter hatte.

Papa, darf ich …

Der Mann knüllt das Taschentuch in seiner Tasche zusammen. Er will es nicht hervorholen, solange die Frau da ist.

Wer konnte denn so etwas ahnen? denkt er. Ich habe Fehler gemacht, wer täte das nicht, aber der Tod – das ist zu viel. Den Tod habe ich nicht herbeigerufen. Und dann noch einen solchen.

»Siehst du«, fragt Eero Harjula heiser und wendet sich seiner Frau zu. »Siehst du nun, wozu der Umgang mit wildfremden Menschen führen kann?«

Die Frau senkt ihr Gesicht, das vom Weinen fleckig ist, nickt.

»Aber durch Heulen erwecken wir sie nicht wieder zum Leben.«

Nein, das ist wahr.

Der Mann holt das Taschentuch aus der Tasche und reicht es der Frau. Und die Frau nimmt es an, schnäuzt sich und wischt sich die Augen.

Seit die Leiche des Mädchens gefunden wurde, ist das die erste Geste des Trostes, die der Mann seiner Frau gegenüber zeigt: Du hast auch ein Recht darauf zu leiden. Bist immerhin die Mutter des Kindes. Noch dazu eine gute Mutter. In dieser Hinsicht kann ich kein schlechtes Wort sagen. Eine gute Mutter. Zumindest so lange, bis.

»Die Zeit«, murmelt der Mann, während er seine kotigen Schuhe abtrampelt, »die Zeit ist das einzige Heilmittel.«

Die Frau nickt, bricht aber von Neuem in stilles Weinen aus. Die Besonnenheit des Mannes geht über ihre Kräfte.

»Hörst du, was ich sage, Vida?«

Die Frau nickt. Ihre Frisur hat sich unter dem Trauerschleier halb aufgelöst. Am Morgen hat sie die Haarnadeln nicht gefunden, hatte keine Kraft zum Suchen.

Sie kümmert sich nicht mehr darum, wie sie aussieht. Sie, der es immer so wichtig war, die Schönste von allen zu sein.

»Eines Tages werden wir sicherlich ein neues Kind bekommen«, sagt der Mann und macht sich an dem schwarzen Band am Arm zu schaffen, um der Frau nicht in die Augen sehen zu müssen. »Wir bekommen eine neue kleine Aino, und alles fängt von vorne an. Wir lassen keine fremden Menschen zu uns, besuchen nicht Hinz und Kunz, damit sie es nicht lernt, Unbekannten zu vertrauen, nein, wir bewahren sie gemeinsam vor allem Übel … vor den bösen Verlockungen, die ein so kleines Wesen in seiner Kindlichkeit überhaupt nicht begreift …«

Er kann nichts dafür, die Finger pressen sich gegen die Handflächen, er spricht, als sage er etwas Auswendiggelerntes auf, er kann das Weinen nicht länger hinunterschlucken, heult stattdessen laut auf wie ein geschlagenes Kind.

»Wir werden ein neues Kind haben«, sagt Eero Harjula, als er sich beruhigt und die Nase geschnäuzt hat.

Die Frau späht verloren in Richtung Pforte. Die Federn des Wagens knarren leise.

»Was?«, fragt der Mann herausfordernd, obwohl er selbst nicht weiß, was er mit der Frage meint.

Die Frau ist still, ihre Schultern hängen herab, als warteten sie auf einen Schlag. Kein Knarren mehr. Vielleicht war es nur der Wind gewesen.

»Hast du schon an deine Mutter geschrieben? Wegen dem da?«

Die Frau streicht sich das Haar aus den Augen, schiebt es unter den schwarzen Schleier. Sie kann oder will nicht antworten.

»Wir können ihn nicht behalten. Das verstehst du doch? Du schaffst es nicht, ihn zu pflegen. Nicht jetzt, wo du das Mädchen verloren hast. Auch der Arzt sagt, dass du nicht gesund bist. Es kann sogar die Schwindsucht sein. Die ist ja ansteckend und nicht gut für das Neugeborene. Du musst dich erholen können. Wenn deine Mutter es nicht will, kann ich mit Natalia reden. Ich hab gesehen, dass manche Leute eine Anzeige in die Zeitung setzen, aber das find ich nicht gut, ein Mensch ist ja kein Hundejunges …«

Der Mann meint, dass seine Stimme nicht vorwurfsvoll klingt, überhaupt nicht, aber seine Frau schweigt immer noch. Trotzig wie ein Kind. Geradezu ablehnend.

»Natalia liebt Kinder. Das weißt du doch. Und eigene waren ihr nicht vergönnt. Sie würde es gut behandeln.«

Keine Antwort.

Nun ist es aber genug, auch seine Geduld ist irgendwann zu Ende, dieses hartnäckige, unsinnige Schweigen geht zu weit! Der Mann tritt vor seine Frau, fasst sie an den Schultern: Sieh mich an, Frau, jetzt siehst du deinen Mann an. »Woran denkst du, Vida? Woran?«

Die Frau fährt zusammen. Zieht sich etwas zurück, bückt sich dann, um die Schroffheit der Geste zu verdecken, und ordnet die Kranzschleifen, die auf dem Grabhügel flattern.

»Ich denke an den Stein«, antwortet sie so leise, dass es kaum zu hören ist. »Ich überlege, was für einen Stein wir ihr setzen sollen.«

Eero Harjula und die Qual des betrogenen Mannes.

War es das oder etwas anderes? Und wieso denke ich überhaupt, dass alle Geschichten mit einem Grab beginnen? Auch das hat natürlich mit den Zwangsvorstellungen meiner Kindheit zu tun. Schlimmer noch als das manische Sammeln von Steinbrocken war, dass ich mich besonders in der Gesellschaft von Grabsteinen wohl fühlte. Ich zeichnete sie auf Papier, schrieb die Namen der Verstorbenen ab, erfand Lebensgeschichten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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