Mahtab - Nassir Djafari - E-Book

Mahtab E-Book

Nassir Djafari

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Beschreibung

Die späten 1960er Jahre in Frankfurt sind politisch und gesellschaftlich turbulente Zeiten, in denen alte Gewissheiten ins Wanken geraten. Erst recht für Mahtab, die ein Jahrzehnt zuvor mit ihrem Mann und ihren drei Kindern aus Iran eingewandert ist. Mit ihrem Gehalt als Krankenschwester trägt sie wesentlich zum Unterhalt der Familie bei, auch die deutsche Sprache beherrscht sie immer besser. Lange Zeit stimmt alles in ihrem Leben. Doch nun drohen ihr die Dinge zu entgleiten: Ihre Tochter Azadeh demonstriert gegen den Vietnamkrieg, anstatt für das Abitur zu lernen, trägt Minirock und nimmt die Pille; ihr Mann Amin hat ganz offensichtlich ein Verhältnis mit seiner Buchhalterin und sie selbst muss die Avancen eines Verehrers abwehren. Mahtab befindet sich gleich mehrfach im Dilemma. Hin- und hergerissen zwischen ihren tradierten Moralvorstellungen und den Freiheiten ebenso wie den Untiefen des modernen westlichen Lebens muss sie sich behaupten und ihren eigenen Weg finden.

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Inhaltsverzeichnis
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Nassir Djafari

MAHTAB

Roman

 CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

©  2022 by Sujet Verlag

Mahtab

Nassir Djafari

ISBN: 978-3-96202-626-4

Lektorat: Amir Shaheen, www.shaheentext.de

Umschlaggestaltung: www.the-editorial.de

Layout: Hanna Simon

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Auflage Frühjahr 2022

www.sujet-verlag.de

1

Mahtab spürte das nahende Gewitter. Den ganzen Tag schon war es drückend heiß. Sie schaute zum Himmel, je schneller die Abkühlung kam, desto besser. Auf dem Krankenhausparkplatz herrschte eine träge Ruhe, kein Mensch war zu sehen, hier und da standen vereinzelte Autos von Besuchern, nur die für Ärzte reservierte Reihe war voll besetzt. Amin schien das Wetter nichts auszumachen. Bei heruntergekurbelten Fenstern saß er in seinem grauen Mercedes und las schmunzelnd ein iranisches Satiremagazin. Seine Anzugjacke hatte er ordentlich an dem dafür vorgesehenen Haken aufgehängt. Sein weißes Hemd saß tadellos und der Krawattenknoten war kein bisschen verrutscht. Sie öffnete die Beifahrertür, ließ sich auf den weichen Ledersitz fallen. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und erzählte ihr bestens gelaunt den Witz, den er gerade gelesen hatte. Sie hörte kaum hin und war froh, dass sie nichts sagen musste. Es genügte, über den Scherz zu lachen.

Amin fuhr vom Parkplatz und fädelte sich in den Verkehr ein. Der Fahrtwind tat gut. Sie klappte die Sonnenblende herunter, aber die Sonne stand zu tief und blendete sie. Sie nahm sich vor, bei Woolworth eine neue Sonnenbrille zu kaufen, die alte war unauffindbar.

In der Zeppelinallee staute sich der Verkehr. Amin trat auf die Bremse, das Auto kam abrupt zum Stehen, er fluchte.

„Ist ein Unfall passiert?“, fragte Mahtab.

„Keine Ahnung.“ Er steckte den Kopf aus dem Autofenster.

Laute Stimmen, Sprechchöre brandeten an ihre Ohren.

„Was rufen die Leute da?“

Amin öffnete die Autotür und lehnte sich hinaus.

„Das sind junge Leute, vielleicht Studenten, viele.“

„Was rufen die denn?“

„Ho-Ho-Ho-Chi-Minh.“

„Und was soll das bedeuten?“

„Die protestieren offenbar gegen den Vietnamkrieg.“

Jetzt bemerkte sie auch die Mannschaftswagen der Polizei, die aufgereiht am Straßenrand standen. Amin setzte sich wieder, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er war auch gegen das Blutvergießen in Vietnam. Die Amerikaner und die Engländer waren schuld an allem, davon war er überzeugt. Sie hatten im Iran Mossadegh weggeputscht, und nun richteten sie dieses arme Land in Südostasien zugrunde.

Vor ihnen kam Bewegung in die Autokolonne. Amin legte den Gang ein und fuhr langsam los. Sie rollten auf die Kreuzung Zeppelinallee/Bockenheimer Landstraße zu. Die Demonstranten waren jetzt deutlich zu sehen und zu hören, rot-blaue Fahnen mit einem gelben Stern wurden geschwenkt, Transparente hochgehalten. Einige hatten sich untergehakt, andere liefen paarweise oder allein. Ihre Stimmen klangen wütend, ihre Bewegungen energisch und ihre Augen leuchteten. Die jungen Leute empörten sich über den Bombentod Tausender Vietnamesen, aber sie selbst wirkten glücklich. Warum auch nicht, dachte Mahtab, diese Studenten spürten ihre jugendliche Kraft, ihnen gehörte die Zukunft, sie würden die Welt erobern. Ihr Blick fiel auf ein großes Transparent.

„Gestern Korea, heute Vietnam, morgen Deutschland, steht da. Das ist doch wirklich übertrieben, oder?“, wandte sich Mahtab an ihren Mann.

„Wo?“, fragte Amin zerstreut.

„Dort.“ Ihr Arm, den sie eben noch ausgestreckt hatte, um ihm das Spruchband zu zeigen, erlahmte. Das Mädchen, das es zusammen mit einem langhaarigen jungen Mann hochhielt, war Azadeh. Was machte ihre Tochter da? Anstatt für das Abitur zu lernen, trieb sie sich hier mit irgendwelchen Studenten herum. Mahtab staunte, sie wusste gar nicht, dass sich das Mädchen für Politik interessierte. Aber bei diesem Vater war das kein Wunder. Beim gemeinsamen Abendessen pflegte Amin die neusten Nachrichten des Londoner Exilsenders wiederzugeben, die er in seinem Kurzwellenradio gehört hatte. Doch dabei beließ er es nicht und holte zu vertieften Analysen aus, klagte den Schah, seinen Geheimdienst und alle anderen Verbrecher an, um sich dann der internationalen Politik zuzuwenden. Die Kinder kannten es gar nicht anders, aber die Einzige, die wirklich verstand, wovon der Vater redete, war ihre Älteste.

„Schau mal, da läuft doch…“

„Weißt du eigentlich, was Ursula bedeutet?“, fiel ihr Amin ins Wort.

„Wie bitte? So schau doch mal…“

„Der Name stammt aus dem Lateinischen und bedeutete kleine Bärin.“

Was redete er da?

„Ich finde nicht, dass sie wie eine kleine Bärin aussieht, eher wie eine Gazelle. Das habe ich ihr natürlich nicht gesagt“, fuhr Amin unbekümmert fort.

„Wem?“

„Ursula natürlich.“

„Was?“

Amin drehte den Kopf zu ihr. „Ursula Eckstein.“ Er sprach den Namen aus, als hätte er Schokolade im Mund.

Mahtab spürte einen Druck auf der Stirn. Da war diese Person wieder. Warum erwähnte er ständig diese Frau in letzter Zeit? Immer nur kurze Andeutungen – wie ein Schatten huschte diese Person durch ihre Gespräche. Kaum versuchte Mahtab sie zu packen, war sie auch schon wieder verschwunden.

„Ich habe unsere Tochter gesehen“, sagte Mahtab kraftlos. „Sie war mitten unter den Studenten und hielt ein Transparent.“

„Wo?“

Aber mittlerweile waren sie schon weitergefahren, längst vorbei an den Demonstranten.

„Lass uns nach Hause fahren. Ich habe Kopfschmerzen.“

Das kam für Amin überhaupt nicht infrage. Sie hatten sich vorgenommen, zum Verkehrsübungsplatz zu fahren, und das würden sie nun auch tun, stellte er klar.

Der Fahrlehrer hatte Mahtab letzte Woche zur Verzweiflung gebracht. Immer wieder ließ er sie am Hang anfahren. So sehr sie sich zu konzentrieren versuchte, es gelang ihr nicht, gleichzeitig die Handbremse zu lösen, die Kupplung kommen zu lassen und anzufahren. Jedes Mal rollte der Wagen zurück, und der Fahrlehrer trat so heftig auf das Bremspedal, dass sie einen Schreck bekam. Am Ende meinte er, sie solle es in aller Ruhe mit ihrem Mann auf dem ADAC-Übungsplatz probieren; es sei nicht schwer, wenn sie nur ihre Nervosität in den Griff bekäme.

Der ADAC-Platz war wie die Miniaturausgabe einer Stadt, nur ohne Häuser. Ansonsten gab es alles, Bäume, Ampeln, Verkehrsschilder, Brücken, ja sogar kleine Anhöhen. Es erinnerte sie an eine Minigolfanlage. Das hier würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten, sie war schließlich das Fahren auf richtigen Straßen gewöhnt, dachte sie und atmete auf. Es erstaunte sie trotzdem, dass so viele Autos auf dem Platz unterwegs waren. Aber auch mit dem Verkehr hatte sie Erfahrung. Sie tauschten die Plätze und Mahtab übernahm das Steuer. Amin wies sie vom ersten Moment an zurecht, durchaus in ruhigem Ton, aber stetig. Er fing mit den Grundlagen an, indem er ihr erklärte, dass sie den Zündschlüssel drehen müsste, um den Motor zu starten. Sie seufzte laut, was er jedoch falsch verstand.

„Entspann dich, kein Grund, nervös zu sein“, ermunterte er sie großzügig.

Daraufhin beschloss Mahtab, diese Übungsstunde geduldig über sich ergehen zu lassen und ihm keinen Anlass zu geben, sich aufzuregen. Sie fuhr los, und Amin schlüpfte ganz in die Rolle des Lehrers, indem er sie überschwänglich lobte. Sie fuhr Runde für Runde auf den kleinen Straßen des Übungsplatzes, und ihr Mann fand immer weniger Anlass für kritische Kommentare. Schließlich erinnerte sie Amin daran, dass sie das Anfahren am Hang üben müsse. Sie fuhr zu dem Mini-Hügel, hielt auf der halben Anhöhe an und zog die Handbremse. Zum Glück war kein Auto hinter ihnen. Gleichmütig hörte sie sich Amins Anweisungen an, dann legte sie den Gang ein, ließ die Kupplung kommen, löste die Handbremse und gab kräftig Gas. Der Wagen schoss nach vorne, den Hang hinauf. An der Kuppe angekommen, sah Mahtab von einem Moment auf den nächsten nur noch in ein von Licht durchflutetes Nichts.

„Die Sonne“, schrie sie.

„Langsam!“, brüllte Amin.

Mahtab nahm für den Bruchteil einer Sekunde das entgegenkommende Auto wahr, fragte sich noch, wo es so plötzlich herkam, da hörte sie schon einen Knall und wurde im selben Moment nach vorne geworfen. Sie spürte einen scharfen Schmerz auf der Brust, löste sich vom Lenkrad und blickte zu Amin. Der war offenbar gegen die Windschutzscheibe geprallt, denn er hielt sich den Kopf. Es war kein Blut zu sehen. Mahtab wollte etwas sagen, fragen, ob bei ihm alles in Ordnung sei, doch sie bekam kein Wort heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Amin drehte sich zu ihr.

„Bist du verletzt?“, fragte er und fing gleich an, sie abzutasten.

„Du blutest nicht“, stellte er nüchtern fest.

Sie war dankbar, dass er nicht gleich schimpfte.

Draußen lief jemand brüllend vor ihrem Auto auf und ab, und im nächsten Augenblick sah sie Amin, wie er beruhigend auf einen übergewichtigen Blonden einredete. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie ihr Mann ausgestiegen war. Sie legte ihren Kopf auf das Lenkrad und versuchte die Tränen aufzuhalten. Es gelang ihr nicht. Als sie aufblickte, sah sie in das entsetzte Gesicht einer Frau, die sich an das Lenkrad klammerte. Das bin ich, dachte sie einen Augenblick lang. Dann begriff sie, dass es sich um die Fahrerin des anderen Wagens handelte. Sie war erleichtert. Nur eine Frau, dachte sie und fühlte sich gleich weniger schuldig.

Der Dicke hatte inzwischen einen roten Kopf bekommen und regte sich immer noch auf. Fasziniert bemerkte sie, dass Amin seine Anzugjacke angezogen hatte. Jetzt griff er in seine Innentasche, holte sein silbernes Etui hervor und bot dem Choleriker eine Zigarette an. Der sah Amin verblüfft an, nahm sich tatsächlich eine und ließ sich Feuer geben. Jetzt kehrte Ruhe ein. Beide beugten sich nun über die Kotflügel ihrer Autos und begutachteten den Schaden. Aus der Ferne hörte sie ein Donnern und wie in einem Stummfilm schloss sie aus der Mimik der Männer, dass sie inzwischen offenbar friedlich miteinander verhandelten.

Reden war Amins Stärke, selbst in der fremden Sprache. Keine Sekunde lang schien er sich darum zu kümmern, ob sein Deutsch korrekt war oder ob er überhaupt verstanden wurde. Fiel ihm das richtige deutsche Wort nicht ein, wechselte er einfach ins Englische. Wer ihm trotzdem nicht folgen konnte, war selbst schuld, so einfach war das. Sie hingegen legte sich in schwierigen Lagen jeden Satz vorher zurecht und verfolgte aufmerksam die Wirkung auf ihr Gegenüber. Da sie auf Deutsch nur das sagte, wofür sie die richtigen Worte fand, blieb vieles, was sie auf dem Herzen hatte, unausgesprochen. Sie beneidete Amin um seine Unbekümmertheit. Wie in so vielem ging er selbstverständlich davon aus, dass sich die Welt ihm anzupassen hatte und nicht umgekehrt.

Mahtab tastete vorsichtig ihre Brust ab und fand die Stelle, die noch etwas wehtat. Schlimmer war aber ihr Nacken, sie konnte ihn kaum noch bewegen, und in ihren Kopf breitete sich Schmerz aus. Sie fragte sich, über was die beiden so lange redeten. Jemand müsste den ADAC-Angestellten an der Eingangspforte verständigen, um die Polizei zu rufen.

Amin warf nun seine Zigarette auf den Boden, lächelte und reichte dem Dicken die Hand. Der machte eine mürrische Miene, schlug aber schließlich ein. Nun griff ihr Mann in seine Jackentasche, holte ein kleines längliches Heft hervor, dann zückte er seinen silberfarbenen Kugelschreiber, füllte schwungvoll ein Blatt aus, riss es ab und überreichte es dem anderen. Der nahm den Scheck zögerlich entgegen.

Im nächsten Moment öffnete Amin die Fahrertür.

„Ich fahre“, sagte er nur und wartete geduldig, bis sie ausstieg. Jetzt sah Mahtab, dass der linke Kotflügel ihres Mercedes eingedellt und der dazugehörige Scheinwerfer kaputt war. Das andere Auto, sie hatte keine Ahnung, von welcher Marke es war, hatte mehr oder weniger die gleichen Schäden. Ihr Blick fiel auf den dicken Blonden, der sie mit offenem Mund anstarrte, als sei sie ein seltenes Tier. Sie schluckte die Entschuldigung, die sie schon auf den Lippen hatte, herunter und beeilte sich wieder einzusteigen.

2

Als sie vom Übungsplatz herunterfuhren, begann es endlich zu regnen, erst zaghaft, dann mit einem Mal sintflutartig. Der Regen schlug wild gegen die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer flogen hin- und her, hilflos gegen die Wassermassen. Die Fahrt zog sich hin. Der Berufsverkehr verstopfte die Straßen. Der Regen kam hinzu. Angespannt klammerten sich die Autofahrer an ihr Lenkrad, bemüht, jede Lücke, die sich vor ihnen auftat, umgehend zu füllen. Doch kaum rollten sie, sprang die Ampel wieder auf Rot.

Amins Schweigen legte sich wie ein eisiger Mantel um sie. Seine Wut ließ er am Bremspedal aus. Mahtab hielt sich verzweifelt am Haltegriff über ihrem Kopf fest, um nicht schon wieder nach vorne geworfen zu werden. Jedes Mal durchfuhr sie ein stechender Schmerz im Nacken, doch durch ihre zusammengebissenen Zähne drang kein Laut. Wenn es sein musste, konnte auch sie schweigen.

Vor ihrem Haus angekommen, hielt er bei laufendem Motor in der Einfahrt, den Blick starr nach vorne gerichtet. Mahtab verstand das Signal, murmelte ein ‚Auf Wiedersehen’ und stieg aus. Kaum hatte sie die Autotür zugeschlagen, fuhr er wieder los. Sie hatte keine Ahnung, wohin er wollte oder wann er wiederkäme. Sie wollte es auch gar nicht wissen, war froh, ihn vorerst los zu sein. Manchmal wünschte sie sich, in solchen Situationen von ihm angeschrien zu werden, sie würde es besser ertragen als dieses frostige Schweigen.

Ihr Kopf drohte zu platzen. Sie würde eine Aspirin-Tablette nehmen und sich hinlegen. Die Kinder mussten jetzt mal eine Stunde lang ohne sie klarkommen. Wenn sie vorsichtig auftrat, waren die Schmerzen in Kopf und Nacken zu ertragen.

Amin hatte noch nie einen Unfall gebaut. Aber kaum saß sie zum ersten Mal außerhalb der Fahrstunde hinter dem Steuer, ging es schief. Als habe er ihr Scheitern von Anbeginn geahnt, war er ihr seit der ersten Fahrstunde hinterhergefahren. An jeder Ampel, jedem Stoppschild sah sie sein markantes Gesicht im Rückspiegel. Übte sie das Einparken, stellte er sein Auto in die zweite Reihe, stieg aus und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Auch wenn sie ihn mal nicht sah, spürte sie, dass er in der Nähe war, seine Augen auf ihr ruhten.

Sie war ihm dankbar gewesen, dass er ihr das Autofahren erlaubt hatte. Amin warnte sie aber auch, dass es nicht einfach werden würde. Mit den deutschen Autofahrern sei nicht zu spaßen, sie würden auf ihrem Recht beharren und keinerlei Kompromisse eingehen. Habe einer Vorfahrt, würde er wie ein Panzer auf einen zurollen. Ausnahmen würden nicht geduldet. Und Hupen schon gar nicht. Er frage sich, wie man eigentlich sonst mit einem anderen Fahrer kommunizieren solle, wenn nicht über die Hupe.

„Aber weißt du was“, hatte er laut überlegt, „die wollen sich gar nicht verständigen, die wollen ihr Recht. Wer das Gesetz auf seiner Seite hat, setzt es erbarmungslos durch, wozu also noch mit anderen sprechen? Die Eschterassen-verkeers-ordenung…“ – er legte eine Kunstpause ein, um das zungenbrecherische deutsche Wort wirken zu lassen, und fuhr, wie gewohnt, auf Persisch fort – „…regelt alles, Mahtab. Die musst du auswendig lernen! Und ihre Autos darfst du niemals auch nur berühren. Bei der kleinsten Kleinigkeit springen sie wutentbrannt aus dem Fahrzeug und suchen mit der Lupe nach Kratzern, die selbst unter einem Mikroskop nicht zu erkennen wären.“

Sie wusste nicht, worauf er mit diesem Vortrag eigentlich hinauswollte. Mit dem Auto wäre alles leichter für sie. Sie musste sich jeden Tag abhetzen, um vom Markuskrankenhaus nach Hause zu gelangen und da zu sein, wenn der Jüngste aus dem Hort kam. Der Zeitteufel saß ihr im Nacken und trieb sie gnadenlos an, zwang sie, sich wie eine Einbrecherin von der Arbeit zu stehlen, verbot ihr, sich von den Kolleginnen ordentlich zu verabschieden und jagte sie quer durch die Stadt. Erst in der Straßenbahn ließ er von ihr ab. Erschöpft sank sie jedes Mal auf den erstbesten freien Sitz und genoss acht Stationen lang die Freiheit nichts zu tun, für niemanden da sein zu müssen.

„Eine moderne Frau muss natürlich Auto fahren können. Wir leben schließlich in Europa“, stellte er fest und verkündete entschlossen, dass er sie bei einer Fahrschule anmelden würde. So hatte es begonnen.

Heute erschien ihr der Ausflug in die Welt der Autofahrer vermessen. Autofahren war eben doch Männersache. Sie würde sich morgen gleich bei der Fahrschule abmelden, entschied sie.

Kaum betrat sie die Wohnung, kam ihr schon im Flur Abbas aufgeregt entgegen. Hamid habe sich seit einer Ewigkeit im Bad eingeschlossen und gebe merkwürdige Geräusche von sich.

„Der Idiot macht nicht auf. Ich habe alles probiert, gegen die Tür geklopft, gehämmert, gedroht, sie einzutreten, aber der reagiert nicht“, empörte sich ihr Zweitältester auf Deutsch.

„Zu Hause reden wir Farsi, merk dir das.“

„Wir sind aber in Deutschland.“

„Keine Widerworte! Hier wird Farsi gesprochen“, zischte sie ihn an.

Er hat sich wieder rasiert, stellte sie fest. Amin hatte ihm, nachdem er sich selbst einen neuen Elektrorasierer gekauft hatte, sein altes Gerät überlassen. Stolz darauf, nunmehr zur Welt der Männer zu gehören, malträtierte der Vierzehnjährige seither täglich seine Kinderhaut, obwohl außer dem schwarzen Flaum auf der Oberlippe und ein paar Härchen am Kinn noch kein nennenswerter Bartwuchs vorhanden war. Abbas brauchte klare Ansagen. Bei ihm durfte sie nie, unter keinen Umständen Zweifel erkennen lassen. Eigentlich galt das für alle drei Kinder, aber bei ihm ganz besonders. Solange sie sich daran hielt, kam sie mit ihm klar, bisher jedenfalls. Er hatte von seinem Vater das herausfordernde, kämpferische, zuweilen aggressive Verhalten geerbt. Er konnte aber auch, so wie Amin, charmant sein und, wenn es drauf ankam, jeden um den Finger wickeln.

Mahtab schob ihn zur Seite und klopfte behutsam an. „Hamid, was ist denn los, mein Kleiner? Ist dir nicht gut? Mach bitte auf.“

„Los, aber dalli“, brüllte Abbas über ihre Schulter hinweg.

Zu Mahtabs Kopfschmerzen kam jetzt auch noch die Übelkeit hinzu. Sie hielt ihren Kopf und schloss für einen Moment die Augen. „Verschwinde“, zischte sie den Rabauken an. Der schien zu verstehen, dass mit seiner Mutter gerade nicht zu spaßen war. Erschrocken wich er zurück.

Das Schloss klackte und die Badezimmertür öffnete sich. Vor ihr stand Hamid und wirkte noch schmächtiger als ohnehin. Er müsse dauern ­spucken, jammerte er. Ihr Jüngster hatte, obwohl er schon zehn war, seine Kleinkindsprache beibehalten.

„Das heißt, ich muss mich übergeben“, korrigierte Mahtab mechanisch.

„Mir ist so schlecht.“ Jetzt brach es aus ihm heraus und er fing an, hemmungslos zu weinen.

Mahtab nahm ihn in den Arm und streichelte seinen Kopf, bis er sich beruhigte.

„Ist ja gut. Ist ja gut.“

Im Wohnzimmer machte sie es sich mit ihm auf dem Sofa bequem und schaltete das Fernsehgerät an. Sie legte den Arm um Hamdis schmale Schultern und küsste seinen Kopf. Der Duft seiner Haare erinnerte sie an ihre Mutter. Er muss mehr an die frische Luft gehen, dachte sie mit schlechtem Gewissen. Für sein Alter war Hamid viel zu schmächtig. Dafür hatte Gott ihm eine gute Auffassungsgabe mit auf den Weg gegeben. Von ihren drei Kindern war er der Einzige, der schon vor der Einschulung lesen konnte. Auch sonst fiel er aus dem Rahmen, etwa mit seiner fast schon erschreckenden Ordnungsliebe, weiß der Himmel, wo er das herhatte. Für Amin war es keine Frage, denn schließlich war der Kleine in Deutschland geboren. Sie mochte es nicht, wenn er seinen jüngsten Sohn den Almani nannte, obwohl auch immer ein bisschen Stolz mitschwang, wenn er ihn als Deutschen bezeichnete.

Der Kleine kuschelte sich an sie und gemeinsam verfolgten sie auf dem Bildschirm, wie schwer bewaffnete Soldaten Menschen zusammentrieben und Verhaftungen vornahmen. Amin hatte von dem Militärputsch in Griechenland erzählt. Natürlich steckten auch hier die Amerikaner dahinter, hatte er klargestellt. Sie übereichte ihrem Jüngsten den Tee mit Kandis. Er trank in kleinen Schlucken und langsam kehrte wieder Farbe in sein Gesicht zurück. Als Nächstes erschien der deutsche Außenminister auf dem Bildschirm, im Kreis anderer Staatsmänner. Sie hatte ihn schon oft im Fernsehen und auch auf Wahlplakaten gesehen. Dieser Willy Brandt war ein gutaussehender Mann, dachte sie noch, bevor ihr die Augen zufielen.

Das Zuschlagen der Wohnungstür riss sie aus ihren Träumen, verwirrt schaute sie sich um. Das Zimmer lag im Halbdunkel, im Fernsehen lief Mit Schirm, Charme und Melone, und der Kleine neben ihr schien fest zu schlafen. Aus dem Flur drangen Klappergeräusche an ihr Ohr. Amin ist nach Hause gekommen, durchfuhr es sie. Und nichts war vorbereitet, sie hatte weder gekocht noch den Tisch gedeckt. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass es schon nach 21 Uhr war. Noch halb benommen stand sie auf, strich ihren Rock glatt und fuhr mit den Händen durch ihre Haare. Sie würden heute Brot, Wurst und Käse zu Abend essen, entschied sie. So wie die Deutschen. Die nannten das Abendbrot. Amin hatte bestimmt nichts dagegen, wenn es mal nichts Warmes gab.

Im Flur stieß sie auf Azadeh, die wie eine auf frischer Tat ertappte Diebin mitten in der Bewegung innehielt und eine unschuldige Miene aufsetzte.

„Wo kommst du um diese Uhrzeit her?“

„Ich war bei Monika. Wir haben zusammen gelernt.“

„Rede keinen Unsinn. Ich habe dich auf der Demonstration gesehen.“

„Wie? Sie waren auch da?“

Mahtab ließ ihren Blick an ihr herauf und herab wandern. Azadehs Gesicht war gerötet, als wäre sie gerannt. Aber das war es nicht allein, sie hatte Lidschatten und Wimperntusche aufgetragen, was ihre großen dunkelbraunen Augen zur Geltung brachte. Ihre Lippen waren zartrosa angemalt, und die seidig glänzenden schwarzen Haare fielen in leichten Wellen auf ihre Schulter. Die pistazienfarbene Bluse hatte sie ihr selbst geschenkt. Aber wo kam dieser Rock her? Er endete weit oberhalb des Knies und zeigte mehr, als er verdeckte. Sie ist so schön, dachte Mahtab, aber herausgeputzt wie ein Flittchen. 

„Wie siehst du überhaupt aus?“

„Wieso?“

„Wo hast du den Rock her?“

„Gekauft.“

„Der kommt weg. Zieh ihn gleich aus und gib ihn mir.“

„Das ist ein Minirock“, sagte Azadeh auf Deutsch und strich darüber. „Das ist jetzt Mode.“

Der altkluge Ton ärgerte Mahtab. Als müsse man ihr die Zivilisation nahebringen.

„Ich lasse nicht zu, dass meine Tochter so herumläuft.“

„So laufen alle Mädchen in meiner Klasse rum.“

„Du nicht mehr.“

„Ich bin schon einundzwanzig. Ich kann mich anziehen, wie ich will und…“

„Damit ist nun Schluss“, fuhr ihr Mahtab über den Mund. „Also, wo kommst du jetzt her?“

„Von Monika, das sagte ich doch schon.“

Mahtab spürte ihre Erschöpfung, das alles wurde ihr allmählich zu viel.

„Zieh dich um und wasch dir diese Clownsschminke ab. In zehn Minuten gibt es Abendessen, dann reden wir weiter.“

„Ich habe keinen Hunger.“ Die Tochter schlug ihre Zimmertür zu.

Mahtab blieb allein im Flur zurück. Wegen Azadeh fragte sie sich manchmal, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, nach Deutschland zu kommen. Je älter ihre Tochter wurde, desto schwerer war es, sie zu beschützen. Sie war schon lange kein Kind mehr, andere hatten in dem Alter schon selbst Kinder. Um die beiden Jungen musste sie sich keine großen Sorgen machen, sie würden zu Männern heranwachsen, lernen sich zu wehren. Aber ihre Tochter war in diesem Land tausend Gefahren ausgesetzt. Und nach deutschem Recht war sie volljährig –sie musste aufpassen, dass sie ihr nicht entglitt.

An ihren Schläfen begann es zu pochen, die Kopfschmerzen kehrten zurück. Leise schlich sie ins Wohnzimmer und hob den schlafenden Hamid vorsichtig hoch, trug ihn ins Jungenzimmer und legte ihn in sein Bett. Abbas war auch schon eingeschlafen, noch in seinen Kleidern. Sie strich ihren beiden Söhnen sanft über die Haare und deckte sie zu. Beim Hinausgehen schaltete sie das Licht aus.

Im Bad klatschte sich Mahtab kaltes Wasser ins Gesicht. Sie betrachtete ihr nasses Antlitz im Spiegel. Gut, dass Mutter nichts von dem Minirock ihrer Enkelin ahnte.

Für Mutter war damals schon das Verschleierungsverbot Reza Schahs eine unerträgliche Zumutung gewesen. Noch Jahre später regte sie sich darüber auf und verfluchte alle Gotteslästerer. Einen größeren Unsinn habe sie noch nie gehört, wiederholte sie ein ums andere Mal. Auch Mahtab musste sich, ungeachtet der staatlichen Anordnung, weiterhin verhüllen, sobald sie einen Fuß vor die Tür setzte. Damit befand sich Mahtab in einer Zwickmühle. Sie hatte die Wahl, es entweder ihrer Mutter recht zu machen und in der Schule gemaßregelt zu werden oder den Anordnungen der Lehrer zu folgen und dafür zu Hause Prügel zu beziehen. Sie entschied sich dafür, jeder Seite das jeweils Verlangte zu geben. Morgens legte sie den Tschador an, bevor sie zur Schule ging, zog ihn aber, kaum hatte sie ihre Gasse hinter sich gelassen, wieder herunter und steckte ihn ordentlich gefaltet in ihre Tasche. Mittags, auf den letzten Metern ihres Heimwegs, holte sie ihn wieder hervor.

Mutter hatte anfangs das Verbot schlicht ignoriert. Ohne Schleier das Haus zu verlassen, war jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Sie erledigte Einkäufe und besuchte Freundinnen, stets so, wie sie es seit jeher gewohnt war, mit dem schwarzen Tuch auf dem Kopf und um den Körper. Die Konfrontation mit der Staatsmacht blieb nicht aus und warf die arme Frau völlig aus der Bahn. Über Wochen hinweg war sie kaum noch ansprechbar, niemand im Haus wagte es ihr nahezukommen. Alle Familienmitglieder, selbst die Katze, schlichen mit gesenktem Kopf an ihr vorbei, um nicht ihren Unwillen auf sich zu ziehen, sogar Vater hielt sich zurück. Um den Einkauf musste sich fortan Mahtab kümmern, denn Mutter verließ das Haus nicht mehr. Sie werde nicht nackt auf die Straße gehen, schrie sie. Niemand solle es wagen, ihre Ehre zu beschmutzen. Wie ein feuerspeiender Drache zog sie mit ihrem schweren Körper über den Hof und schimpfte vor sich hin.

Was geschehen war, hatte Mahtab erst später aus dritter Hand erfahren. Sina Chanum, die am Ende der Gasse wohnte, war auf der Monirije Straße unterwegs gewesen, als sie einen Tumult bemerkte. Immer auf der Suche nach neuen Skandalen, mit denen sie ihre Freundinnen füttern konnte, ließ sie sich das nicht entgehen und kam näher.

„Fass mich nicht an! Untersteh dich!“, herrschte Mutter gerade einen schmächtigen Polizisten an. Der forderte sie mit lauter Stimme auf, umgehend den Schleier abzulegen.

„Schäm dich, Junge. Haben deine Eltern dir keinen Anstand beigebracht?“

Der Polizist versuchte, den Schleier zu greifen, was ihm aber nicht gelang, da Mutter mit der rechten Hand jeden Angriff abwehrte, während sie mit der linken den Tschador festhielt.

„Jetzt reicht’s!“, schrie der Ordnungshüter schließlich und schubste sie nach hinten. Mutter riss erschrocken die Arme nach oben, und er zog ihr den Schleier mit einem kräftigen Ruck vom Kopf.

Während Mutters Wehklage noch zwei Straßen weiter zu hören war, ging der Polizist zwei Schritte zurück, holte ein Messer hervor und zerschnitt den Tschador an Ort und Stelle. Den zerfetzten Stoff warf er verächtlich auf den Boden und entfernte sich mit durchgedrückter Brust.

Wie nicht anders zu erwarten, verbreitete Sina Chanum die Geschichte im ganzen Viertel. Mutter verlor nie ein Wort darüber, und auch Vater war erstaunlich schmallippig geworden, obwohl er als treuer Beamter eigentlich alles, was der Schah verordnete, befolgte.

Mahtab tupfte ihr Gesicht mit dem Handtuch ab und cremte es sorgfältig ein. Sie hatte gedacht, in Deutschland sei alles leichter. Welch ein Irrtum, jede Welt barg ihre eigenen Gefahren. Sie musste auf ihre Tochter aufpassen.

Amin kam an diesem Abend erst spät nach Hause. Mahtab saß an dem gedeckten Tisch und wartete auf ihren Mann. Als sie seinen Schlüssel im Schloss hörte, zog sich ihr Magen zusammen. Sie ging ihm entgegen.

„Du kommst spät“, bemerkte sie beiläufig und forschte in seinem Gesicht nach Spuren von schlechter Laune. Da war nichts zu erkennen, im Gegenteil, er strahlte sie an, streichelte ihre Wange und fragte: „Geht’s dir besser, mein Schatz?“ Sie war erleichtert, dass er ihr nicht mehr böse war. Amin legte seinen Hut ab und hängte den Regenmantel an die Garderobe, währenddessen summte er leise die Melodie von Singing in the Rain. Woher kam seine gute Laune?

„Das Essen steht für dich bereit.“

„Ich habe schon gegessen.“

„Ach ja? Wo denn?“ Sie wartete auf eine Erklärung, aber da kam nichts.

In dieser Nacht fand Mahtab keinen Schlaf. Amin schlüpfte unter die Bettdecke und mummelte sich ein. Schon bald hob sein Schnarchen an und schuf die vertraute Geräuschkulisse der Nacht. Seine Fähigkeit, in jeder Lebenslage wie auf Knopfdruck einschlafen zu können, war beneidenswert. Mahtab dreht sich leise zu ihm und schnupperte. Sie konnte keinen Fremdgeruch an ihm wahrnehmen, was natürlich nichts hieß. Im Geiste ging sie alle Orte und Menschen durch, die ihr Mann hätte aufsuchen können, nachdem er sie vor ihrer Haustür abgesetzt hatte. Alles war möglich. Ihr Körper verlangte nach Ruhe, aber die Gedanken fuhren Karussell. Bilder flackerten vor ihrem inneren Auge auf – Amin in den Armen einer blonden Frau, die Unfallszene, Azadeh im Minirock. Schob sie eins zur Seite, rückte wie in einer Diashow das nächste an seine Stelle, es gab kein Entrinnen. Mit offenen Augen lag sie da und verlor sich in der Dunkelheit. Als das erste Sonnenlicht durch die Vorhänge schimmerte, stand sie schließlich auf und verrichtete ihr Morgengebet wie gewohnt. Dann nahm sie den neuen Tag in Angriff.

3

Mahtab stand an der Straßenbahnhaltestelle, doch in Gedanken war sie immer noch im Krankenhaus. Der Choleriker auf 342 war wieder kaum zu bändigen gewesen. Sie war froh, diesen Menschen wenigstens für die nächsten fünfzehn Stunden nicht sehen zu müssen. Es würde sicherlich noch dauern, bis sie ihn loswürde. Nach der Gallenoperation waren Komplikationen aufgetreten, und seinen Verdruss darüber ließ er an ihr aus. Schon beim Betreten des Krankenzimmers herrschte er sie an, wo sie denn bliebe und was ihr einfalle, so spät zu kommen, bei jedem Handgriff wies er sie ungeduldig zurecht, warf ihr Worte an den Kopf, die sie nicht kannte und die sie auch nicht verstehen musste, sein Ton war eindeutig. Diese hinfällige Gestalt war zu erstaunlichen Kraftanstrengungen in der Lage, lief in ihrer Wut zur Höchstform auf, um bald darauf wieder in sich zusammenzufallen. Anfangs hatte sie sich bei jeder Nörgelei solcher Patienten wie auf Knopfdruck entschuldigt. Doch darüber war sie inzwischen längst hinweg. Es prallt an mir ab, sagte sie sich, ebenso wie manch anderes.

Ab und an musste sie Bettlägerige mit dem Waschlappen notdürftig waschen, Frauen ebenso wie Männer. Schon bald nachdem sie eingestellt worden war, hatte sie zu Oberschwester Erika gesagt, es wäre für alle Beteiligten besser, wenn Männer die intimen Verrichtungen an männlichen Patienten vornehmen würden. Sie war nicht sicher, ob ihre Chefin sie überhaupt verstanden hatte. Erika hatte sie erst stumm angeschaut, dann die Schulter gezuckt und schließlich einen Wortschwall losgelassen. Erreicht hatte Mahtab nichts. Sie wollte keinen Ärger, also fügte sie sich. Mittlerweile hatte sie sich an die männliche Anatomie gewöhnt und konnte durchaus Unterschiede ausmachen, Gott möge ihr verzeihen. Amin ahnte nichts von alledem, und dabei wollte sie es auch belassen.

Die Straßenbahn fuhr langsam an die Haltestelle heran. Mahtab stieg ein und war erleichtert, gleich einen freien Platz am Fenster zu finden. Seit zehn Stunden war sie nun auf den Beinen. Um sechs Uhr morgens war sie leise aus dem Schlafzimmer geschlichen, um Amins Schlaf nicht zu stören. Die halbe Stunde, bis sie die Kinder wecken musste, diese Nullzeit, in der sich die Nacht schon verabschiedet, der Tag aber noch nicht begonnen hatte, gehörte ihr ganz allein. Sie genoss den heißen Tee und die Scheibe Toastbrot mit Honig, vor allem aber die Ruhe. Pünktlich um halb sieben riss sie mit einem fröhlichen „Salam, Kinder, aufstehen!“ nacheinander die Türen der beiden Kinderzimmer auf. Azadeh erhob sich würdevoll wie eine Dame, auf die wichtige Aufgaben warten. Der Kleine sprang wie ein Soldat sofort aus dem Bett, nur Abbas musste geschüttelt werden, bis er die Augen öffnete. Da dies erfahrungsgemäß noch nicht den Durchbruch brachte, zog sie ihm auch gleich noch die Bettdecke weg. Erst da pflegte ihr Zweitältester leise schimpfend aufzustehen. Ein scharfer Blick von Mahtab genügte, und der Junge war still. Nachdem die Schulbrote geschmiert waren und die Kinder am Frühstückstisch saßen, machte sie sich selbst für die Arbeit zurecht, wobei sie zwischendurch immer wieder den Kopf aus dem Badezimmer streckte und die Kinder zur Eile antrieb. Bevor sie alle gemeinsam um Viertel nach sieben das Haus verließen, weckte sie Amin.

Die Straßenbahn fuhr quietschend um die Kurve und riss Mahtab aus ihren Gedanken. Der Herr auf dem Sitz gegenüber lächelte sie an. Sofort senkte sie ihren Blick. Er kam ihr bekannt vor, aber das war wohl eine Täuschung.

„Guten Tag, Frau Hamidzadeh.“

Erstaunt sah sie auf. Das war doch der Oberarzt. Woher kannte er ihren Namen?

„Oh, guten Tag, Herr Doktor.“

„Das war ein langer Tag, nicht wahr?“ Er sah sie freundlich an.

„Ja, Herr Doktor.“ Mahtab nickte höflich.

„Die Arbeit wird nicht weniger“, lachte der Arzt.

Notgedrungen lächelte sie, wandte sich zum Fenster. Als sie wieder nach vorne schaute, traf sie der Blick des Mannes. Sie begann sich unwohl zu fühlen. Was machte er überhaupt in der Straßenbahn? So jemand wie er fuhr doch bestimmt einen Mercedes. Mahtab zog ihren Rock über die Knie und fing an, in ihrer Handtasche herumzuwühlen. Ich bin unhöflich, dachte sie gleich darauf und ließ die Schultern hängen.

„Das ist eine schöne Tasche, die Sie haben. Ist sie aus dem Iran?“

„Ach, nein.“ Von Woolworth wollte sie schon sagen, verkniff es sich aber. Das war eine gewöhnliche Handtasche, was sollte an ihr schön sein? Sie schüttelte verlegen den Kopf. „Aus Deutschland.“

Musste der Doktor nicht bald mal aussteigen? Oder sollte sie selbst aussteigen und auf die nächste Bahn warten? Wenn er sie doch bloß nicht so ansehen würde.

„Iran ist ein wunderschönes Land. Ich war mal als Student dort. Das ist noch gar nicht so lange her.“ Er rückte seine Brille zurecht. „Am besten hat mir Isfahan gefallen. Dieser herrliche große Platz, auf dem früher die Prinzen Polo gespielt haben. Wie heißt er noch mal?“

„Ja, Herr Doktor.“ Mit einem eingefrorenen Lächeln nickte sie ihm zu. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Iran und Isfahan hatte er erwähnt.

„Ich bin in Esfahan geboren“, sagte sie, um auch etwas zu der Konversation beizutragen.

„Ach, tatsächlich? Das ist ja ein netter Zufall.“

Was war Zufall? Sie kannte nur Unfall. Das Wort hatte der Fahrlehrer ständig im Mund gehabt.

„Unfall“, entfuhr es ihr und sie schämte sich sofort, als der Arzt sie erstaunt ansah.

„Egal“, sie winkte ab.

Er lachte.

„Entschuldigung.“ Sie musste hier raus, umklammerte ihre Handtasche und erhob sich. „Auf Wiedersehen, Herr Doktor“, sagte sie und hoffte, er würde sitzen bleiben.

4

Die Nachmittagssonne durchflutete das Krankenzimmer. Die Luft war verbraucht, es roch nach Essen. Die Patientinnen dösten ermattet vor sich hin, einige hatten ihre Bettdecken zurückgeschlagen, anderen fehlte selbst dazu die Energie. Mahtab öffnete als Erstes das Fenster, dann räumte sie nacheinander die Tabletts mit dem Geschirr ab. Die alte Frau, die am Fenster lag, hatte wieder kaum etwas zu sich genommen. Der Teller mit Gulasch und Kartoffelbrei war unberührt, nur vom Apfelmus hatte sie etwas probiert. Nach der Darmoperation konnte sie nicht viel essen, das war klar. Aber dass sie so gut wie keinen Appetit zu haben schien, war beunruhigend. Die Patientin wurde von Tag zu Tag schwächer. Ihre Stirn glänzte vor Schweiß. Mahtab holte ein feuchtes Tuch und tupfte behutsam ihr Gesicht ab, dann richtete sie die alte Dame etwas auf und hielt ihr die noch halbgefüllte Tasse an die Lippen. Begierig nahm die Alte ein paar Schlucke Pfefferminztee und verzog dabei leicht das Gesicht.

„Danke, mein Kind“, murmelte sie.

Mahtab streichelte ihren Kopf und verließ das Zimmer. Ihr Dienst war zu Ende, und sie musste sich beeilen, um noch den Einkauf zu erledigen, zu kochen und nach den Kindern zu sehen, von dem Berg an Bügelwäsche ganz zu schweigen, und das alles musste fertig sein, bevor Amin nach Hause kam.