Eine Woche, ein Leben - Nassir Djafari - E-Book

Eine Woche, ein Leben E-Book

Nassir Djafari

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Beschreibung

Kurz nach seinem 18. Geburtstag schließt sich Timm in sein Zimmer ein und verlässt es kaum noch. Hamid bietet alles auf, um seinen Sohn herauszuholen. Seine sämtlichen Anstrengungen laufen ins Leere. Er, der stets stolz darauf war, sein Leben in jeder Hinsicht unter Kontrolle zu haben, stürzt über die Verweigerung seines Sohnes in eine Lebenskrise. Nur zaghaft nähern sich die beiden einander wieder an und unternehmen eine gemeinsame Reise nach Peru. Dort geschieht etwas, das alles ändert. Ausgerechnet an Timms 19. Geburtstag verlässt Hamid in der Andenstadt Cusco morgens das Hotel und verschwindet.

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Inhaltsverzeichnis
HAMID
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
TIMM
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünfzig
Zweiundfünfzig
Danksagung

Nassir Djafari

Eine Woche, ein Leben 

Roman

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek
© 2020 by Sujet Verlag
Eine Woche, ein Leben
Autor: Nassir Djafari
ISBN: 978-3-96202-612-7
Lektorat: Amir Shaheen, www.shaheentext.de
Umschlaggestaltung: www.the-editorial.de
Layout: Marina Kornelaki
Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen
Printed in Europe
1. Auflage Frühjahr 2020

www.sujetverlag.de

Der Tag, an dem Hamid spurlos verschwinden sollte,

begann wie jeder andere, seit sie eine Woche zuvor in

Cusco angekommen waren. Und dennoch war es ein

besonderer Tag: Timms Geburtstag.

HAMID

Eins

Der Junge saß da wie ein Taubstummer und ignorierte alle anderen am Tisch. Als Hamid sich endlich dazu durchgerungen hatte, eine kleine Rede zu halten, war es schon fast zu spät. Die Kellner servierten bereits den Nachtisch, und seine Gäste schienen sich auch ohne sein Zutun wohlzufühlen. Er hatte erst letzte Woche eingeladen und war froh, dass alle gekommen waren. Jetzt saßen sie an einer langen Tischreihe, umringt von laut plaudernden iranischen Familien, die wie jeden Sonntagmittag dieses Restaurant bevölkerten. Der Duft von Safranreis und Kebab lag in der Luft.
Eva hatte ihn dazu überredet, dieses Geburtstagsessen für Timm auszurichten. Er hätte darauf verzichtet, ihm war nicht nach Feiern zumute. Der Junge hatte sich ihm völlig entzogen, ja offenbar der ganzen Welt. Wie ein aus der Umlaufbahn geratener Satellit trieb er verloren dahin. Seit Monaten verließ Timm sein Zimmer nur noch, um auf die Toilette zu gehen. Und ab und zu tauchte er wie ein stiller Untermieter in der Küche auf und machte sich ein Brot. Wenn Eva oder er ihn bei diesen Gelegenheiten ansprachen, bekamen sie nur einsilbige Antworten. Zu den gemeinsamen Mahlzeiten erschien er schon lange nicht mehr. Nachdem sie seinem Rückzug eine Weile ratlos zugesehen hatten, hielt es Eva nicht mehr aus und brachte ihm jeden Abend einen Teller mit warmem Essen. Hamid duldete es stillschweigend, obwohl er Evas Nachgiebigkeit für einen Fehler hielt. Gesten und Worte erreichten den Jungen schon lange nicht mehr. Gespräche erschöpften sich, noch bevor sie begonnen hatten, liefen ins Leere und versickerten. Der Zustand seines Zimmers sagte allerdings genug. Wann immer er es in letzter Zeit betreten hatte, bot sich das gleiche Bild: Sein Sohn saß mit dem Rücken zur Tür an seinem Computer und hatte den Kopfhörer auf. Das Bett war zerwühlt, der Sessel zugedeckt mit Kleidern, die über die Rücken- und Armlehnen hingen und auch einen Teil des Fußbodens erobert hatten. Der Papierkorb quoll über.
Von Timms früheren Freunden kam keiner mehr vorbei und er selbst ging nirgendwo mehr hin, außer jeden Morgen zur Schule. Hamid fragte sich freilich, ob sein Sohn überhaupt noch irgendetwas für den Unterricht tat. Ein besonders guter Schüler war er noch nie gewesen, hatte sich nur mühsam über Wasser halten können. Jetzt stand das Abitur unmittelbar bevor und es sah nicht so aus, als wäre ihm das klar. Sein Geburtstag war Timm jedenfalls völlig egal, das hatte Eva aus ihm herausbekommen. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, diese kleine Feier auszurichten. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, runde Geburtstage zu übergehen, so war Eva eben.
Hamid wartete, bis sich die Bedienung wieder zurückgezogen hatte und erhob sich. Langsam trat er hinter seinen Sohn. Beiläufig legte er ihm die Hände auf die Schultern und spürte, wie angespannt der Junge war. Derweil verebbten die Gespräche und verloren sich in erwartungsvoller Stille. Alle blickten zu Hamid.
Es gelang ihm mühelos, ein Lächeln zustande zu bringen.
„Vor euch steht ein rundum zufriedener Vater.“ Er schaute jeden einzelnen Gast an. „Der 18. Geburtstag ist immer ein Meilenstein. Wir beide“, er drückte Timms Schultern und schaute zu ihm herab, „haben gemeinsam einen langen Weg zurückgelegt. Vor dir hast du nun ein ganzes Leben, es liegt in deiner Hand, was du daraus machst. Ich war immer stolz auf dich, Timm, und habe keinen Zweifel, dass du es weit bringen wirst.“ Hamid spürte, wie der Junge versuchte, sich nach vorne zu neigen, um seinem Griff zu entkommen. Er hielt ihn fest. „In diesem Sinne erhebe ich mein Glas auf Timms vielversprechende Zukunft.“
Die Gäste taten es ihm gleich. „Auf das Geburtstagskind!“, rief einer in das zustimmende Gemurmel hinein.
Hamid breitete die Arme aus. „Es ist schön, euch alle hier zu haben.“
Wie in Stein gemeißelt verharrte sein Sohn immer noch mit durchgedrücktem Rücken auf seinem Stuhl, rührte keine Miene und mied jeglichen Blickkontakt. Wieder einmal fiel Hamid auf, wie schnell der Junge gewachsen war. Mittlerweile überragte er ihn fast um Haupteslänge. Mit seinen dichten schwarzen Locken und seinem schlanken, aber ausdrucksvollen Gesicht müsste er eigentlich ein Schwarm der Frauen sein. Aber er hatte noch nie eine Freundin mit nach Hause gebracht. Nicht einmal das bekam sein Sohn hin.
Hamid ließ den Blick über die Geburtstagsrunde schweifen. Die hier Versammelten wussten nicht, wie es wirklich um Timm stand. Für sie war es ein schönes Familienfest, eine Gelegenheit wieder zusammenzukommen. Das Geburtstagskind war ein wenig in sich zurückgezogen, aber mein Gott, das war eine Phase in diesem Alter, nicht wahr?
Nach dem Essen schlug Hamid vor, noch gemeinsam einen Spaziergang durch den Palmengarten zu machen, worauf alle begeistert zustimmten. Es tat gut, ein paar Schritte zu gehen, seine Unruhe brauchte ein Ventil. Die Geburtstagsrunde schlenderte in kleinen Gruppen angeregt plaudernd durch den schönen Park und genoss die letzte Wärme des ausklingenden Sommers.
Nachdem sie auch dem Palmenhaus einen Besuch abgestattet hatten und am Ausgang angekommen waren, verabschiedeten sich nacheinander die Gäste bei Hamid und Eva mit Umarmungen, Wangenküsschen und Schulterklopfen. Mit letzten Scherzen, lautem Lachen und vagen Verabredungen für ein nächstes Zusammenkommen wurde der Abschied noch ein wenig hinausgezögert. Jemand richtete schöne Grüße an Timm aus. Erst da bemerkte Hamid, dass der gar nicht mehr dabei war.

Zwei

Hamid blickte zufrieden auf seine Uhr. Es hatte sich wieder einmal als richtig erwiesen, ausreichend Zeit einzuplanen. Obwohl eine U-Bahn ausgefallen war, kam er pünktlich an. An der Wand des Schulgebäudes lehnten ein paar junge Leute und rauchten. Mit ernster und etwas gelangweilter Miene zogen sie an ihren Zigaretten und schauten versonnen durch den Rauch hindurch. Alle paar Sekunden warfen sie einen prüfenden Blick auf ihre Mobiltelefone, als erwarteten sie einen dringenden Anruf. Sie müssten etwa in Timms Alter sein, überlegte er und schaute sich um, ob er seinen Sohn irgendwo entdecken konnte. Aber da war sonst niemand auf dem Schulhof. Als er näher kam, betrachtete er die jungen Leute genauer. Waren vielleicht frühere Freunde und Spielgefährten seines Sohnes dabei? Aber es stellten sich keine Erinnerungen ein. Wie enorm erwachsen sie schon wirkten. Im Vorübergehen murmelte er ein „Guten Morgen“ und wunderte sich, dass die Jugendlichen seinen Gruß prompt erwiderten.
Drinnen herrschte die angespannte Ruhe, wie er sie aus seiner eigenen Schulzeit kannte. Die große Eingangshalle war menschenleer, es drangen kaum Geräusche durch die verschlossenen Türen, hinter denen der Unterricht in vollem Gange war. Hamid fragte sich, hinter welcher Timm sich gerade befand.
Das Lehrerzimmer lag am anderen Ende der Eingangshalle. Hamid klopfte und trat ein. Die einzige Person, die er entdecken konnte, war eine dunkelhaarige junge Frau, die in den Bildschirm ihres Laptops vertieft war und von ihm keine Notiz nahm. Er betrachtete die bequemen Sessel, die niedrigen Tische, die Theke mit der altmodischen Kaffeemaschine. Bin ich hier richtig?, fragte er sich. Die Bücherwand und der große Besprechungstisch weiter hinten indessen versprachen die notwendige Ernsthaftigkeit, die er von einem Lehrerzimmer erwartete.
Hamid hörte Schritte hinter sich, fuhr herum und stand einer hageren Frau mittleren Alters gegenüber, die ihn frostig anlächelte. Er erkannte sie an ihrem spitzen Gesicht und ihrem stechenden Blick wieder. Er war bestimmt zwei Jahre her, seit er Frau Erbel zuletzt gesehen hatte und schon damals hatte sie ihn in ihrem grauen Tweedkostüm und ihren kurzen grauen Haaren an den Prototyp englischer Lehrerinnen aus einem Sechzigerjahrefilm erinnert. So eisig wie ihre Miene war, klang auch ihre Stimme, als sie eine Begrüßung hervorpresste. Sie bat ihn an einen Besprechungstisch, setzte sich ihm gegenüber und sah ihn an wie einen Bittsteller, dem sie freundlicherweise Gelegenheit gab, sein Anliegen vorzutragen.
„Ich möchte mich nach den Leistungen meines Sohnes erkundigen. Das Abitur steht ja vor der Tür.“
„Wie geht es Ihrem Sohn? Wann dürfen wir wieder mit ihm rechnen?“
„Mit ihm rechnen?“
„Ich hoffe, es ist nichts Ernsthaftes. Es stehen eine Reihe von Klausuren an.“
„Deswegen bin ich ja hier, wegen der Klausuren und all dem, was in nächster Zeit auf ihn zukommt. Wie beurteilen Sie seine Leistungen?“
Sie sah ihn an, als sei er schwer von Begriff.
„Herr Hamidzadeh, Ihr Sohn hat sich vor drei Wochen krank gemeldet. Wenn ich Sie richtig deute, ist das aber gar nicht der Grund Ihres Besuchs.“
Benommen versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Doch bevor er zu einem greifbaren Ergebnis kam, setzte die Erbel nach.
„Sie wussten es nicht, oder?“
„Frau Erbel, Timm hat sich in letzter Zeit stark zurückgezogen.“
„Aber Sie hätten es doch mitbekommen, wenn er ernsthaft krank wäre? Er wohnt doch noch bei Ihnen?“
„Selbstverständlich.“
„Herr Hamidzadeh, das ist eine ernste Angelegenheit. Ihr Sohn hat eine Krankheit vorgetäuscht und ist unentschuldigt der Schule ferngeblieben. Wir werden über Konsequenzen reden müssen.“
„Wie bitte?“
Hamid merkte, dass er eine Spur zu laut geworden war. Er rief sich zur Ordnung, räusperte sich und stellte in geschäftsmäßigem Ton fest: „Wenn sich mein Sohn krank gemeldet hat, wird das schon seine Richtigkeit haben.“
„Herr Hamidzadeh, machen wir uns nichts vor. Es ist offensichtlich, dass hier etwas nicht stimmt. Kann er eine ärztliche Bescheinigung vorlegen? Dann sollte er das umgehend tun. Ansonsten müssen wir Schritte einleiten wegen unentschuldigten Fernbleibens von der Schule.“ Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und erhob sich.
Hamid stand ebenfalls auf. Die Hand der Lehrerin war kalt und knochig. Sie nahm einen Stapel Hefte, wandte sich zum Gehen und sagte: „Um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Timm hat sich in letzter Zeit gar nicht mehr am Unterricht beteiligt, seine schriftlichen Arbeiten sind inakzeptabel und wenn er so weitermacht, kann er das Abitur vergessen. Das wollten Sie doch wissen, oder?“
Hamid hatte das Gefühl, soeben selbst durchgefallen zu sein.
„Ich hoffe, er war wirklich krank, auch wenn das merkwürdig klingt“, schob die Lehrerin nach. „Sonst täte es mir wirklich leid.“
Sie hat ihn aufgegeben, dachte Hamid.

Drei

Hamid konnte kaum die Augen aufhalten. Letzte Nacht hatte er so gut wie gar nicht geschlafen. Irgendwann gegen 3 Uhr morgens hatte er kapituliert, war aufgestanden, hatte sich angezogen, ins Wohnzimmer gesetzt und ratlos auf den Morgen gewartet. Mit ihm im Zimmer hatte die spitzgesichtige Lehrerin gesessen, die ihm den Schlaf geraubt hatte. Schließlich hatte er es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten, war spazieren gegangen und erst im Morgengrauen nach Hause zurückgekehrt. Das Laufen hatte ihm gut getan. Er hatte geduscht und gefrühstückt. Als er um halb sieben zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Eva noch geschlafen.
Ausgerechnet für heute hatte Kartmüller eine Besprechung einberufen. Seit zwei Stunden saßen sie nun schon zusammen und ein Ende war nicht in Sicht. Ihr Chef erläuterte das Budget für das kommende Jahr. Wie zu erwarten, schnitt ihm Jochen das Wort ab. Wann immer es um finanzielle Fragen ging, fühlte sich sein alter Freund berufen, für Klarheit zu sorgen. Hamid stöhnte auf. Hatte Jochen erst einmal das Wort ergriffen, gab er es freiwillig nicht mehr ab. Während er sprach, beobachtete Hamid, wie sich Kartmüller zurücklehnte, den linken Arm leicht anhob, den Ärmel seines blütenweißen Hemdes langsam zurückschob und kurz auf seine Armbanduhr schaute, bevor er seinen konzentrierten Blick wieder auf Jochen richtete. Kaum redete ein anderer, sah Kartmüller auf die Uhr.
Michael Kartmüller und Hamid hatten zusammen studiert. Jahre später verschlug es sie beide als Wissenschaftliche Mitarbeiter an das Institut für Entwicklungsökonomie in Frankfurt. Beide verband schon im Studium eine tiefe gegenseitige Abneigung. Vom ersten Semester an behandelte Kartmüller seine Kommilitonen, als würde er in einer höheren Liga spielen. Er vermittelte dies, indem er wenig Zeit für seine Gesprächspartner hatte, sie selten ausreden ließ und stets auf dem Sprung zu einem wichtigeren Termin war. Mit den Professoren sprach er von Anfang an so, als wäre er einer von ihnen, was vielleicht daran lag, dass sein Vater und sein Großvater angesehene Hochschullehrer gewesen waren. Als vor fünf Jahren der Leiter des Instituts in den Ruhestand ging und die Stelle ausgeschrieben wurde, hatte sich Hamid sofort beworben. Umso größer war der Schock, als Michael Kartmüller die Stelle bekam und sein Vorgesetzter wurde. Aber überraschenderweise war es dann gar nicht so schlimm, denn Kartmüller ließ Hamid in Ruhe seine Arbeit machen.
Jochen schien die Geste seines Chefs nicht bemerkt zu haben oder bemerken zu wollen. Der Kerl konnte nerven, wenn er sich an einer Sache festgebissen hatte. Mittlerweile hatten alle anderen ihre Stifte hingelegt und warteten nur darauf, dass er endlich fertig wurde.
„Wie dem auch sei, es führt kein Weg daran vorbei, Prioritäten zu setzen.“ Kartmüller unterbrach Jochen mitten im Satz, fuchtelte mit einem Papier herum und erzählte etwas von Planstellen. Hamid spürte, wie sich eine bleierne Müdigkeit auf ihn legte. Sie ließ sich nicht abschütteln, weder mit Kaffee, noch mit einer anderen Sitzhaltung. Kartmüllers Worte wogten an seine Ohren, aber er hatte längst den Faden verloren.
Bilder aus vergangenen Zeiten tauchten auf. Hamid, wie er aus dem Institut hetzte; die Tagesmutter, die mit vorwurfsvoller Miene auf ihn wartete; der Kleine, der ihm jauchzend entgegen rannte, und der große Perserteppich, der für Stunden ihre gemeinsame Welt wurde, in der sie Häuser errichteten und wieder einrissen, Autorennen veranstalteten oder mit Schiffen ferne Kontinente erkundeten. Später am Abend, wenn Timm eingeschlafen war, hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt und manchmal bis nach Mitternacht gearbeitet. Timm war ein sonniges und ausgeglichenes Baby gewesen. Dass die Mutter fehlte, merkte man ihm nicht an. Die Probleme fingen später an, im Kindergarten. Hamid musste das Kerlchen regelrecht dorthin schleifen. Weinend und aus voller Kehle brüllend warf sich Timm auf den Boden und war durch nichts zu beruhigen.
Hamid spürte, dass plötzlich etwas anders war. Es war so still. Als er die Augen öffnete, waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Kartmüller sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Er wirkte besorgt. Hamid straffte sich, nahm hektisch seinen Kugelschreiber in die Hand, legt ihn sogleich aber wieder hin und sagte: „Ja?“
Aber niemand antwortete ihm. Kartmüller fuhr fort: „So haben wir uns zum Beispiel schon mit dem gesellschaftlichen Wandel in den Schwellenländern und dem sozialen Konfliktpotenzial, das diesem innewohnt, beschäftigt, als in der internationalen Diskussion gerade einmal das Entstehen der neuen Mittelschicht konstatiert wurde. Mein Dank gilt hier besonders dir, Hamid. Dein Artikel im Journal on Economics of Development hat eine Kette von internationalen Diskussionsbeiträgen ausgelöst“, sagte Kartmüller und nickte Hamid zu.
Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Das unverhoffte Lob wirkte stärker als jeder Kaffee. Er richtete sich auf und lächelte in die Runde.
Kurz darauf war die Sitzung zu Ende und alle strebten zur Tür.
Auch Hamid erhob sich. Doch Kartmüller griff nach seinem Arm und bat ihn, noch einen Moment zu bleiben. Als die letzte Kollegin den Raum verlassen hatte, lehnte sich sein Chef vor und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei.
Hamid strich über seinen Schnurbart. Es war ihm peinlich, in der Sitzung eingeschlafen zu sein.
„Alles bestens“, er machte eine Handbewegung als wolle er das Thema vom Tisch wischen.
Kartmüller fixierte ihn, dann lehnte er sich zurück und betrachtete seine Fingernägel eingehend. Hamid blieb auf der Hut. Nach einem Moment des Schweigens eröffnete ihm Kartmüller, dass er mit ihm und Professor Adler von der Universität München ein Forschungsprojekt über den gesellschaftlichen Wandel in den aufstrebenden Schwellenländern durchführen würde. Die Thesen, die Hamid in seinem letzten Artikel im Journal dargelegt habe, sollten sie vertiefen. Er habe schon mit verschiedenen Unternehmen und Stiftungen gesprochen und sei sicher, dass sie die notwendige Finanzierung hinbekämen.
Hamid straffte sich.
Kartmüller sah ihn prüfend an: „Wenn es dir nicht zu viel ist…“
„Nein, nein. Im Gegenteil!“, sagte er eilig und spürte, wie die Verzagtheit der letzten Tage von ihm abfiel. Natürlich würde das Forschungsprojekt sein Werk sein. Er würde die Hauptarbeit leisten, und das war auch gut so. Kartmüller und Adler hatten keine Ahnung von der Materie, was sie natürlich nicht hindern würde, seine Ergebnisse auch zu ihrem Erfolg zu erklären. Aber das würde er hinnehmen, solange sie ihn machen ließen. Er wusste, dass er allein niemals ein solches Forschungsprojekt würde akquirieren können. Ein guter Deal, fand Hamid – er gab sein Wissen, sie ihre Namen. Jeder hatte etwas davon.
„Also?“, vergewisserte sich Kartmüller noch einmal.
„Wir können sofort anfangen, wenn ich aus Boston und Guatemala zurück bin“, sagte Hamid. Zwar würde er die Ergebnisse seiner Dienstreise noch in einen Bericht auswerten müssen, aber sein Ehrgeiz war entfacht.

Vier

Beflügelt eilte Hamid nach Hause, die Sorgen um Timm wogen mit einem Mal weniger schwer als noch am Morgen. Er wollte seinem Sohn eine Chance geben, selbst damit herauszurücken, dass er die Schule schwänzte. Anschließend würde er ihm die Konsequenzen in aller Klarheit vor Augen führen. Kaum zu Hause angekommen, ging er geradewegs zu Timms Zimmer.
Der Junge saß schon wieder vor dem Computer, als wäre er daran festgewachsen. Immerhin hatte er keinen Kopfhörer auf, er war ansprechbar. Das Zimmer bot den üblichen Anblick. Im Grunde genommen müsste Timm doch nur einmal ordentlich aufräumen, es war keine große Sache. Und ein neues Sweatshirt könnte er auch anziehen, dachte Hamid, das hier trug er bestimmt seit Wochen. Wahrscheinlich war es mal wieder eine Phase, die, ehe man sich versah, wieder zu Ende gehen würde, genauso wie die Zeit, als er sich zweimal täglich rasierte und sich anschließend die halbe Flasche Rasierwasser ins Gesicht klatschte. Die ganze Wohnung stank damals nach diesem fürchterlichen Aftershave, alles Lüften nutzte nichts. Hamid musste grinsen.
„Hallo Timm. Alles klar? Kommst du bitte mal ins Wohnzimmer? Ich möchte mit dir sprechen.“
Bevor der Junge etwas erwidern konnte, machte er auf dem Absatz kehrt.
Er setzte sich auf das rote Ledersofa und wartete. Im Geiste zerlegte er das Gespräch mit der Erbel und ging Aussage für Aussage durch. Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Sie hatte tatsächlich mit Schulverweis gedroht, was völlig übertrieben war. Trotzdem musste er handeln, jetzt sofort.
Hamid schaute auf die Uhr, es waren schon zwanzig Minuten vergangen und Timm war immer noch nicht gekommen. Er sprang auf. Er würde ihm schon Beine machen. In dem Moment hörte er, wie die Zimmertür aufging und der Junge angeschlurft kam.
„Ich musste mir sagen lassen, dass mein Sohn seit drei Wochen nicht in die Schule geht! Was sagt der Herr Sohn dazu?“, schleuderte er ihm entgegen.
„Hää?“
„Ich habe mit Frau Erbel gesprochen.“
„Was?“
Hamid sog scharf die Luft ein und musterte den Jungen.
Der machte einen bejammernswerten Eindruck. Blass und mit weit aufgerissenen Augen saß er da.
„Angeblich bist du seit drei Wochen krank. Stimmt das?“
Timm betrachtete die Familienfotos auf der gegenüberliegenden Wand, die Arme verschränkt wie ein renitenter Schüler.
Hamid konnte sich nicht mehr zurückhalten und herrschte ihn an: „Sag endlich was!“
Timm zuckte zusammen. 
Sofort tat es ihm Leid. Er wartete, bis sich sein Atem normalisiert hatte. Dann beugte er sich vor und versuchte es in ruhigem Ton. „Also, was ist los?“
„Ich hatte Magenschmerzen.“
Der Magen war tatsächlich einer seiner Schwachpunkte, dachte Hamid. Timm hatte als Kleinkind Phasen gehabt, in denen er nicht gut gegessen hatte. Immer wieder klagte der Kleine über Bauchweh, meistens nachts. Dann stand er mit seinem Teddy im Arm im Türrahmen des Schlafzimmers und weinte. Hamid quälte sich aus dem Bett und machte Kamillentee, tat etwas Kandis hinein und gab ihm zu trinken. Danach setzte er sich mit dem Kleinen aufs Sofa, den Arm um ihn gelegt, eine Decke über sie beide gebreitet und las ihm vor. Schon nach wenigen Seiten schlief Timm, nicht selten auch er ein. Am nächsten Morgen war keine Rede mehr von Bauchweh. Mit etwa elf Jahren waren die Magenschmerzen zurückgekehrt. Eva hatte vermutet, der Stress sei der Grund. Der Junge war gerade auf das Gymnasium gekommen. Aber das war natürlich Unsinn. Im Leben muss man sich eben anstrengen, hatte Hamid ihr erklärt. Auch er habe es in der Schule nicht leicht gehabt, na und? Das habe er durchgestanden, und Timm würde es genauso schaffen, schließlich seien sie aus dem gleichen Holz geschnitzt.
„Magenschmerzen!“ Hamid wog ab, was er gehört hatte. „Warum hast du uns denn nichts davon gesagt? Du weißt, dass du mit deinen Eltern über alles reden kannst.“
Timm murmelte etwas.
„Was sagst du da?“
„Eva ist nicht meine Mutter.“
„Wovon redest du? Mensch, dein Abitur steht auf dem Spiel! Ist dir das klar?“
Der Junge zuckte lässig die Schultern.
Hamid starrte seinen Sohn ungläubig an. „Ist dir denn alles egal?“
Timm sagte nichts. Seine schlaffe Haltung und sein abwesender Blick waren Antwort genug.
Hamid hob die Stimme und spürte, wie er in Rage geriet. „Ein für alle Mal, damit das klar ist: Ab morgen gehst du wieder in die Schule! Kapiert? Ende der Debatte.“
Timm zeigte keine Regung.
Hamid steigerte seine Lautstärke: „Ist das klar?“
Nachdem Timm in sein Zimmer zurückgekehrt war, trat Hamid auf den Balkon. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft war merklich abgekühlt. Die Straße unter ihm glänzte schwarz, und die wenigen Autos, die vorbeifuhren, spritzten Wasser auf den Bürgersteig. Er stützte sich mit beiden Händen auf das Balkongeländer und atmete tief ein und aus. Langsam beruhigte er sich. Er musste den Dingen auf den Grund gehen.

Fünf

Endlich kam Timm aus dem Haus. Er warf seinen Rucksack über die rechte Schulter und lief die Straße entlang. Hamid zählte langsam bis fünfzig, dann trat er aus der Einfahrt gegenüber und folgte ihm. Nach einer Weile erreichte Timm die U-Bahnstation. Hamid atmete vorsichtig auf. Das war sein üblicher Schulweg. Und eilig hatte es der Junge, er kam kaum nach. Schon auf der Rolltreppe war Gedränge. Ernst dreinblickende Angestellte versuchten sich gegen die Übermacht der laut schnatternden Schüler zu behaupten. Der Bahnsteig war brechend voll, Hamid fühlte sich unsichtbar.
Hamid stieg in einen der hinteren Wagen ein und stellte sich an die Tür. Die Bahn fuhr los, und er hielt sich an der Haltestange fest, entschlossen, seinen Platz zu behaupten. An jeder Haltestelle behielt er die Türen des vorderen Zugteils genau im Blick. Er reckte den Kopf hinaus, hielt sich dabei weiter an der Stange fest und stemmte sich schräg dem Strom der Ein- und Aussteigenden entgegen. Er musste wissen, ob Timm die U-Bahn verließ. Immer wieder rempelte ihn jemand an, „Du stehst im Weg, Alter“, pöbelte einer. Hamid reagierte nicht. Und immer, wenn die Türen sich wieder schlossen und die U-Bahn anfuhr, atmete er auf. An der Haltestelle Grüneburgweg jedoch schlüpfte sein Sohn im letzten Moment aus der Bahn. Hektisch bahnte sich Hamid einen Weg durch die Menge und konnte gerade noch durch die sich schließenden Türen hinaus gelangen. Bitte nicht, flehte er leise, als er auf dem Bahnsteig stand. Da war Timm schon auf den Treppenstufen zum Ausgang, drei Stationen von der Schule entfernt. Hamid kämpfte die Enttäuschung nieder und beeilte sich, hinterherzukommen.
Vor einer Bäckerei blieb der Junge unvermittelt stehen und schien zu überlegen, dann betrat er den Laden. Hamid wagte vom Rand des Schaufensters einen kurzen Blick hinein. Timm war der einzige Kunde. Die Verkäuferin packte Croissants in eine Tüte und reichte sie ihm. Hamid zog seinen Kopf zurück, wechselte rasch auf die andere Straßenseite und begab sich schräg hinter einen Kiosk, wo er so tat, als lese er die Schlagzeilen der ausgestellten Zeitungen. Er fragte sich, für wen der Junge Croissants kaufte, die er doch selbst nie aß.
Timm trat mit der Tüte in der Hand aus der Bäckerei und setzte seinen Weg fort. Hamid wartete, bis ein angemessener Abstand gewonnen war, und folgte ihm, bis sie den Grüneburgpark erreicht hatten. Sein Sohn lief zielstrebig zu einer Bank und setzte sich. Hamid schlug einen Bogen und fand schließlich eine Sitzgelegenheit etwa hundert Meter seitlich hinter dem Jungen.
Dort wartete er lange darauf, dass etwas passierte. Eigentlich konnte er es sich gar nicht leisten, hier zu sein. Der Abgabetermin für den Forschungsantrag rückte näher. Er stand unter Druck. Aber Timm war wichtiger. Was um Gottes Willen machte der Junge hier, auf wen oder was wartete er? Ein schlimmer Gedanke beschlich ihn. Wartete er auf einen Dealer? Ging es darum? Das würde natürlich einiges erklären. Aber eigentlich konnte er sich das nicht vorstellen. Nein, der Junge rauchte noch nicht einmal und trank auch keinen Alkohol. Er schaute sich um. Weit und breit war kein einziger Junkie zu sehen. Es war ein milder frühherbstlicher Tag, gelbe, rot-gelbe und rot gefärbte Blätter lagen auf den Wegen. Am Himmel waren nur wenige Wolken. Hier und da saß ein Rentner auf einer Parkbank und versuchte, die letzten warmen Sonnenstrahlen einzufangen.
Sein Blick fiel auf den Spielplatz weiter unten. Zwei kleine Jungen turnten auf einem Klettergerüst, und auf der Bank saßen zwei Frauen, wahrscheinlich die dazugehörigen Mütter. Sie unterhielten sich angeregt. Jahrelang war er mit Timm auf diesen Spielplatz gegangen. Von der Wolfgangstraße, wo sie damals wohnten, war es nicht weit. Meistens war er hier der einzige Vater gewesen, umgeben von mehreren Müttern, die lebhaft plauderten und ihm mal verstohlen, mal offen einen neugierigen Blick zuwarfen. Hin und wieder hatte eine von ihnen Hamid angesprochen und ein paar freundliche Worte mit ihm gewechselt.
Jetzt sah Hamid, wie Timm den Kopf hob und etwas auf der gegenüberliegenden Häuserfront fixierte. Hamid folgte seiner Blickrichtung und entdeckte vielleicht hundert Meter entfernt eine junge Frau, die gerade aus dem Haus getreten war und sich nun umsah. Sie war schlank, einfach gekleidet, in Jeans und einer cremefarbenen Jacke, die gut zu ihren schwarzen, halblangen Locken passte. Sie stand einfach nur da, und obwohl sie klein war, wirkte sie überaus präsent, wie eine Ballerina, die soeben die Bühne betreten hat. Sie schritt mit erhobenem Kopf zu einem grünen Fahrrad, das am Laternenmast angekettet war und beugte sich zum Fahrradschloss herab. Die Haare, die ihr ins Gesicht fielen, strich sie hinter ihr Ohr. Hamid war elektrisiert. Er hatte das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Es war nicht nur ihr Aussehen, sondern ihre Art sich zu bewegen, die ihrer Erscheinung eine solche Anmut verlieh und ihn an Maryam erinnerte.

Sechs

Die junge Unbekannte stieg auf das Fahrrad und fuhr langsam los. Timm folgte ihr mit dem Kopf. Als sie um die Ecke verschwunden war, erhob er sich und ging mit hängenden Schultern den gleichen Weg, den sie gewählt hatte. Die Tüte mit dem Gebäck, die er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, warf er achtlos in einen Abfalleimer.
Hamid blieb sitzen und versuchte zu verstehen, was er beobachtet hatte. Wer war die junge Frau und was wollte sein Sohn von ihr? Warum war er nicht direkt auf sie zugegangen? Noch einmal sah er ihm hinterher, konnte ihn aber nicht mehr entdecken. Sein Telefon klingelte, es war Kartmüller. Hamid drückte den Anruf weg und beschloss, ins Institut zu gehen und sich wieder in seine Arbeit zu stürzen. Dort hatte er wenigstens alles im Griff.
Die Sirenen eines Einsatzwagens rissen Hamid aus seinen Gedanken. Als er die Feldbergstraße überquerte, sah er von Weitem einen Krankenwagen und es hatte sich schon eine kleine Menschenmenge versammelt. Gaffer waren ihm zuwider. Den Voyeurismus dieser Leute empfand Hamid als beschämend. Betont zügig ging er an der Unfallstelle vorbei, konnte es dann aber doch nicht lassen, kurz hinzuschauen. Verstört hielt er inne. Auf dem Boden lag ein grünes Fahrrad, daneben stand ein schwarzer Mercedes. Hamids Magen krampfte sich zusammen. Zum zweiten Mal an diesem Vormittag musste er an Maryam denken. Er war bei ihrem Unfall nicht dabei gewesen, aber so ähnlich musste es sich zugetragen haben. Auch sie war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Wie in einem Flashback verfolgte er fassungslos das Geschehen, da bemerkte er, wie Timm von einem Sanitäter zum Rettungswagen geleitet wurde und hinten einstieg. Kurz darauf fuhr der Wagen los.
Hastig bahnte sich Hamid unter Einsatz seiner Schultern und Ellenbogen einen Weg nach vorne. Der dicke Mann, der vor ihm gestanden hatte, verlor beinahe das Gleichgewicht und beschwerte sich lautstark. Hamid achtete nicht auf ihn. Schließlich stand er vor dem Polizisten.
„Ich bin der Vater des jungen Mannes, der eben in den Krankenwagen eingestiegen ist. Was ist passiert?“
Der Polizist sah von seinem Schreibblock auf und musterte ihn.
„Sie können beruhigt sein. Das war eine junge Frau, kein junger Mann.“ Der Polizist widmete sich wieder seinen Notizen.
„Ist die junge Frau verletzt? Können Sie mir sagen, in welches Krankenhaus der Wagen fährt?“
„Sie wollen‘s wohl ganz genau wissen, was? Anscheinend genügt es nicht zuzuschauen, man muss auch noch Fragen stellen. Gehen Sie bitte weiter!“ Der Polizist beachtete Hamid nicht mehr, steckte seinen Stift ein und wandte sich zu seinem Einsatzwagen, in dem seine Kollegin schon am Steuer saß.
Hamid überlegte, ob er die Polizistin fragen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Gaffer schauten ihn interessiert an, als wären sie gespannt, was er als Nächstes tun würde. Sein Blick blieb an einer Frau mit einem runden, freundlichem Gesicht hängen. Er ging auf sie zu und fragte, ob sie gesehen habe, was passiert sei.
„Der Mercedes hat eine Radfahrerin im Vorbeifahren gestreift. Sie ist böse gestürzt. Zum Glück kam der Krankenwagen schnell.“
Hamid eilte zu den Taxis, die an der Straßenecke weiter hinten standen.
„Zum Markuskrankenhaus“, schnauzte er den Taxifahrer an. Soweit er wusste, war es das nächstgelegene Krankenhaus. Auf der Fahrt wählte er immer wieder Timms Handynummer. Es meldete sich nur die Mailbox.
Beim Betreten des Krankenhauses fühlte er sich seltsam beklommen. Maryam hatten sie nach ihrem Unfall auch hierher gebracht. In den Gängen dieses Krankenhauses hatte er die schlimmsten Stunden seines Lebens verbracht. Er steuerte direkt den Empfang an, wo eine etwas ältere Frau fragend zu ihm aufschaute.
„Mein Name ist Hamidzadeh, ich muss sofort zu meiner Frau“, murmelte er die Worte von damals.
„Wie bitte?“
„Entschuldigung. Zur Notaufnahme?“
Hamid wartete die Antwort kaum ab, hastete die Gänge entlang, immer den Schildern folgend. An der Anmeldung ging er vorbei, dort stand ein Mann mit einem kleinen Jungen, dessen Arm notdürftig verbunden war. Er hielt eine ihm entgegenkommende junge Krankenschwester an, baute sich vor ihr auf und fragte sie in strengem Ton: „Sagen Sie, wo finde ich die Patientin, eine junge Frau, die eben mit dem Rettungsdienst hergebracht worden ist? Unfallopfer, Alter Anfang 20, schwarze halblange Haare. Sie muss hier in der Notaufnahme sein. Es ist wirklich dringend.“
„Oh, ich kümmere mich gleich darum, Herr Doktor.“ Beflissen eilte die junge Frau zur Anmeldung. Inzwischen ging Hamid den Flur auf und ab und schaute durch die offenen Türen der einzelnen Behandlungszimmer. Die Mienen der Patienten, die schicksalsergeben auf das Eintreffen eines Arztes warteten, hellten sich hoffnungsvoll auf, als sie ihn bemerkten.
Hamid hatte gerade seine Inspektion beendet, da kam die junge Krankenschwester zurück. „Herr Doktor, wie heißt denn die Patientin?“
Irritiert sah er die junge Frau an und ließ sie stehen. Auf dem Weg nach draußen zog er sein Handy hervor. Immer noch keine Nachricht von Timm. Er stürmte zu den wartenden Taxis, nahm den vordersten Wagen und riss die Tür auf.
Am Grüneburgpark bat er den Taxifahrer zu warten, eilte zu dem Haus, vor dem sein Sohn noch zwei Stunden zuvor gestanden hatte, und sah die Klingelschilder durch. Nur deutsche Namen — bis auf einen. Er holte aus seiner Jackentasche einen Zettel hervor und notierte den Namen Nikopolidou. Das musste sie sein, sie sah nicht aus wie eine gebürtige Deutsche. Dann ließ er sich zum Krankenhaus zurückfahren.
In der Anmeldung der Notaufnahme war eine etwas ältere Frau damit beschäftigt, Daten von einem Blatt abzulesen und in den Computer einzugeben. Hamid warf einen verstohlenen Blick auf seinen Zettel und steckte ihn rasch wieder weg.
„Können Sie mir bitte sagen, ob Frau Nikopolidou noch in der Notaufnahme ist?“
Die Frau unterbrach ihre Tätigkeit.
„Sind Sie ein Angehöriger?“ Sie blickte ihn über ihre Lesebrille hinweg an.
„Ja.“
Die Frau beäugte ihn, als warte sie auf weitere Angaben zum Grad der Verwandtschaft. Hamid hob ungeduldig das Kinn.
„Wie schreibt sich der Name?“
Hamid hätte den Zettel beinahe erneut aus der Hosentasche geholt, unterdrückte den Impuls in letzter Sekunde, zog seine Hand hervor, legte Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel und diktierte. „N wie Nordpol, i wie Ida, k wie Kaufmann, o wie Olive, p wie Paul…“
„Ach, ich habe es schon. Sie ist gerade beim Röntgen. Anschließend kommt sie wieder hierher zurück.“
„Ist es etwas Ernstes?“
„Das weiß ich nicht. Das müssen Sie die diensthabende Ärztin fragen. Aber das kann dauern. Vielleicht können Sie ja dann auch direkt mit der Patientin sprechen. Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Da wartet übrigens schon ein anderer Angehöriger, ein junger Mann.“ Die Krankenschwester wies auf den Raum hinter ihm.
Hamid sog die Luft ein und drehte sich langsam um. Das Wartezimmer war leer.

Sieben

Hamid lehnte sich auf dem roten Ledersofa zurück und wartete Evas Reaktion ab. Er hatte ihr minutiös erzählt, wie er Timm unbemerkt gefolgt und Zeuge all der sonderbaren Ereignisse geworden war und nun kein Zweifel mehr bestehe, dass sein Sohn tatsächlich die Schule schwänze. Sie hatte ihm schweigend zugehört. Jetzt sah sie ihn an, wie sie es gewöhnlich tat, wenn er es nicht geschafft hatte, sie zu überzeugen. Obwohl er mit diesem nachsichtigen Blick seit vielen Jahren vertraut war, wurde er doch jedes Mal wieder verlegen.
Ihre Augen hatten ihn schon bei ihrer ersten Begegnung in ihren Bann gezogen – grau-grün und gesprenkelt mit kleinen goldenen Pünktchen. Bereits wenige Tage nach ihrem Einzug in die gegenüberliegende Wohnung hatte sie bei ihm geklingelt und sich vorgestellt. Fortan wohnten sie Tür an Tür, ohne viel miteinander zu sprechen. Wenn sie sich im Treppenhaus begegneten, hatte sie immer ein Lächeln und ein freundliches Wort für den kleinen Timm gehabt. Hamid war erleichtert, eine so kinderliebe Nachbarin zu haben. Ihm gegenüber war sie stets aufmerksam und doch auf Abstand bedacht. Sie war etwas kleiner als er, zierlich, mit einer schönen Figur. Ihre vollen blonden Haare umrahmten ihr feines Gesicht. Einmal fragte sie Hamid, ob er eine Lampe in ihrer Küche anbringen könnte, was er gern erledigte. Danach standen sie noch etwas in ihrem Flur und plauderten – mehr nicht. So vergingen die ersten Monate ihrer Nachbarschaft.
Dann kam diese Nacht, in der Timm nicht aufhörte zu weinen. Hamid gab dem kleinen Kerl Kamillentee, versuchte ihn zu beruhigen, erst mit Vorlesen, dann mit Fernsehen abzulenken, aber es wurde nicht besser. Je länger Timm weinte, desto hektischer rannte Hamid in der Wohnung herum, riss zum wiederholten Mal die Hausapotheke auf, inspizierte die verschiedenen Medikamente und fand doch nichts Geeignetes, blätterte den dicken Gesundheitsratgeber so ungeduldig durch, dass er fast die Seiten rausgerissen hätte, stürzte dann wieder zu Timm und drückte ihn an sich, als könne er dadurch seine Schmerzen vertreiben. Er hatte gerade beschlossen, ein Taxi zu rufen und mit dem Kind ins Krankenhaus zu fahren, da klingelte es an der Wohnungstür. Jetzt beschweren sich auch noch die Nachbarn, schoss es ihm durch den Kopf und innerlich gewappnet gegen kommende Vorwürfe öffnete er die Tür. Vor ihm stand Eva und fragte, ob sie helfen könne. Hamid war erleichtert, sie zu sehen und nicht einen der anderen Nachbarn. Mit dem verzweifelten Kind an der Hand behauptete er, alles sei in Ordnung, der Kleine habe nur eine Kolik, und er würde nun mit ihm ins Krankenhaus fahren. Eva beugte sich einfach herab, nahm den Dreijährigen auf den Arm und erklärte, sie komme mit. Dann holte sie ihren Autoschlüssel und fuhr Vater und Sohn in die Kinderklinik Höchst.
Von da an besuchte sie ihn gelegentlich abends, wenn Timm schon schlief. Nachdem sie gemerkt hatte, dass es bei Hamid außer Tee, Mineralwasser und Milch nichts Trinkbares gab, brachte sie sich fortan ihren Weißwein selbst mit. Bei Tee und Wein saßen sie bis spät in der Nacht am Küchentisch. Eva redete und Hamid hörte fasziniert zu. Wenn sie erzählte, leuchteten ihre Augen, und ihre Hände waren ständig in Bewegung. Hamid aber vergaß für ein paar Stunden seine Arbeit im Institut und zerbrach sich nicht mehr den Kopf darüber, was er für den kleinen Timm kochen sollte. Wenn er ihr dann versunken zuhörte, fragte sie ihn manchmal unvermittelt, was er denn so den ganzen Tag gemacht habe. Hamid gab knappe Antworten, vielleicht, weil er das alles nicht erwähnenswert fand, sich lieber mit den großen Weltthemen beschäftigte. Sie aber interessierte sich für alles, was er erlebte und bohrte so lange, bis seine Worte sprudelten und er von früher erzählte, von seiner Zeit in Peru, dem Institut und von den neuesten Entwicklungsfortschritten seines Sohnes, auf den er so unglaublich stolz war. Hamid begann, sein tägliches Leben mit anderen Augen zu sehen. Maryam erwähnte er nicht, und sie fragte auch nie, so als wollten sie beide eine Schlafende nicht wecken. Eva lächelte ihn oft an und schaute ihm lange in die Augen.
Als sie sich ein paar Tage lang nicht meldete, merkte er, dass er sie vermisste. Und eines Morgens schlug er die Augen auf und musste sich eingestehen, dass er von ihr geträumt hatte. Als sie einige Zeit später nach einem langen Abend am Küchentisch mit ihrer halbleeren Weinflasche in der Hand an der Wohnungstür vor ihm stand, um sich zu verabschieden, fiel ihm auf, dass ihre Halskette exakt die Farbe ihrer Augen hatte. Er betastete vorsichtig ihre Kette und berührte dabei ihren Hals. Wie zart ihre Haut war.
„Aus Jade“, sagte Eva und lächelte ihn an.
Wann hatte sie ihn zuletzt so angelächelt wie damals? Hamid nippte an seinem Tee, stellte ihn dann aber wieder ab, weil er noch zu heiß war.
„Was war denn nun mit der jungen Frau?“
„Ach, nichts Ernstes. Sie hat sich nichts gebrochen, nur eine Gehirnerschütterung. Die Ärztin sagte mir, sie könne schon bald wieder nach Hause.“
„Und wie geht es jetzt weiter? Ich nehme an, du hast immer noch nicht mit Timm gesprochen – richtig?“
„Der Kerl wird wieder in die Schule gehen, darauf kannst du Gift nehmen.“
„Hat er das selbst gesagt?“
„Was er sagt, spielt doch wirklich keine Rolle. Er muss es machen.“
„Hast du ihm erzählt, dass du ihm heimlich gefolgt bist wie ein Spion?“
„Eher wie ein besorgter Vater.“
„Mensch Hamid, hast du es ihm gesagt oder nicht?“
„Ich konnte noch nicht mit ihm sprechen. Er schließt neuerdings seine Zimmertür ab. Sobald ich mit ihm geredet habe, erzähl ich es dir.“
„Danke, dass du mich an deinem Leben teilhaben lässt.“
Er hatte zunächst selbst Klarheit gewinnen wollen, räumte er ein.
„Und hast du sie gewonnen?“
Nein, musste Hamid seufzend eingestehen. „Bitte, Eva. Ich musste doch wissen, was Timm macht, wenn er nicht zur Schule geht.“
„Vielleicht hättest du es erfahren, wenn du von Anfang an mit ihm gesprochen hättest.“
„Ach, jetzt liegt es wieder an mir? Ja, klar, ich war zu blöd, um mit meinem Sohn zu reden und ihn auf die richtige Spur zu setzten. Damit wäre die Schuldfrage beantwortet.“
„Meinst du, es liegt nur an ihm?“
„Bitte, Eva! So kommen wir doch nicht weiter.“ Hamid griff über den Tisch nach ihrer Hand, die sie ihm jedoch entzog.
Hamid hatte ihre Hände immer gemocht. Sie waren nicht nur unglaublich zart, sondern passten auch so wunderbar in seine Hände. Schon beim ersten Mal, als er ihr die Hand gab, war ihm das aufgefallen. Es war ein Abend im Juli. Hamid hatte den kleinen Timm zu Bett gebracht und wollte endlich einen Artikel über die Zwangssterilisationen, die unter Präsident Fujimori an armen indigenen Frauen in den ländlichen Gebieten Perus durchgeführt wurden, lesen. Seit Tagen hatte er das Papier in seiner Aktentasche mit sich herum getragen, um sich zu Hause damit zu befassen, im Institut fehlte ihm dafür die Zeit. Froh, dass der Kleine endlich eingeschlafen war, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er war gerade in die Untiefen der Familienplanung in Peru eingetaucht, da klingelte es an der Wohnungstür. Seufzend erhob er sich und öffnete. Vor ihm standen Eva und eine sehr junge Frau, die er noch nie gesehen hatte. Eva strahlte ihn an, als würde sie ihm ein Geschenk überreichen.
„Dürfen wir eintreten?“
Hamid brachte nicht mehr als ein Nicken zustande und trat mit einer lahmen Geste zur Seite. Nachdem Eva und ihre Begleiterin schon in der Wohnung waren, murmelte er zerstreut: „Ja, kommt rein, bitte.“
Eva stellte ihm Julia vor und erklärte, die junge Frau sei heute Abend die Babysitterin.