Maigret im Haus der Unruhe - Georges Simenon - E-Book

Maigret im Haus der Unruhe E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Es ist spät geworden, die meisten Büros am Quai des Orfèvres sind verwaist. Nur bei Kommissar Maigret bullert noch der Kanonenofen. Endlich findet er die Zeit, einen längst überfälligen Bericht zu schreiben, was ihn einige Mühe kostet: Zahlreiche leere Biergläser säumen bereits seinen Schreibtisch. Im Büro mischt sich der Pfeifenrauch mit dem Nebel der Novembernacht. Da bekommt er überraschend Besuch: Eine junge Frau, deren Blässe durch ihre schwarze Kleidung noch betont wird, bekennt sich eines Mordes für schuldig. Ein dringendes Telefonat ruft Kommissar Maigret ins Nebenzimmer. Als er zurückkehrt, ist die Frau verschwunden. Maigret wird sie wiederfinden – in einem "anständigen" Wohnhaus in Montreuil, einem Vorort von Paris. Mühsam halten die Bewohner eine bürgerliche Fassade aufrecht, alle haben sie etwas zu verbergen. Und alle haben sie Angst. Denn einer der Bewohner ist tot – er wurde ermordet.

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Der 0. Fall

Georges Simenon

Maigret im Haus der Unruhe

Roman

Aus dem Französischen von Thomas BodmerMit einem Nachwort von Daniel Kampa

Kampa

1»Ich habe einen Mann umgebracht!«

Das Ereignis selbst überraschte Kommissar Maigret kaum. Wenn es Orte gibt, an denen es besonders häufig zu unerwarteten, unerhörten, absonderlichen Besuchen kommt, dann sind es Zeitungsredaktionen und Polizeiwachen.

Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass dort ein Verrückter, Schwärmer, verfolgter Erfinder, Verkünder besserer Zeiten, Antichrist oder wiedererstandener Napoleon auftaucht. Meist lässt man ihn schwadronieren und kümmert sich um andere Dinge.

Polizisten wie Redaktionsassistenten kennen diese Leute. Und Kommissar Maigret hatte, wie es üblich war, in verschiedenen Kommissariaten Dienst getan, bevor er als Ermittler zur Kriminalpolizei gestoßen war.

In jener Nacht war er praktisch allein am Quai des Orfèvres. Auf der Wache schlummerte ein Mann. Ein Inspektor, der bis spät gearbeitet hatte, war eben weggegangen. Es war die Nacht vom Samstag, dem 8. November, auf den Sonntag. Draußen herrschte so dicker Nebel, dass man keinen Meter weit sah.

Die Tür zu Maigrets Büro war die hinterste auf einem langen Flur, den ein paar wenige Lampen nur schwach beleuchteten.

Der Kommissar trug wie gewohnt weder ein Jackett noch einen Kragen. Auf dem Tisch standen leere Biergläser. Um zwei Uhr früh war Maigret noch mit dem Bericht über eine Untersuchung beschäftigt, die er in der vergangenen Woche geleitet und die zur Verhaftung einiger Rauschgifthändler geführt hatte.

Er hatte riesige Hände. Mit jedem Strich schien er seine Feder zerdrücken zu wollen.

Plötzlich öffnet der Mann vom Wachdienst die Tür und schiebt eine junge Frau herein.

Maigret schließt die Tür und mustert die Frau. Sofort fallen ihm die feinen Seidenstrümpfe und das schwarze Kostüm auf, das zwar vorzüglich geschnitten, aber für eine solche Nacht aus zu leichtem Stoff ist.

Die Unbekannte trägt keine Handschuhe, ihre Hände sind blau vor Kälte, ihre Lippen gespannt, was ebenfalls an der Temperatur liegen könnte.

»Also …«, stieß sie mit Mühe hervor. »Ich habe gerade einen Mann umgebracht.«

Der Kommissar war wie gesagt nicht sonderlich erstaunt. Im Blick der jungen Frau, ihrer Haltung, der krampfhaften Art, wie ihre Finger sich krümmten, lag etwas schwer zu Fassendes, das aber darauf hinwies, dass sie zur großen Familie derer gehörte, die zur Polizei gehen, um seltsame Aussagen zu machen.

»Setzen Sie sich.«

Doch sie schien ihn nicht zu hören. Sie blickte starr vor sich hin. Ihre Augen waren von verwaschenem Grau und ihre Haare von einem Blond, das man sonst nur bei ganz kleinen Kindern sieht.

»Hat er Sie angegriffen? Haben Sie sich gewehrt?«

»Nein! Ich habe ihn umgebracht … Das ist alles.«

Mit seinen dicken Fingern stopfte Maigret behäbig eine Pfeife. Er wusste, dass er die Besucherin nicht vor den Kopf stoßen durfte, dass eine zu direkte Frage sie verscheuchen könnte.

»Was haben Sie mit dem Revolver getan?«

»Es war kein Revolver …«

Ein Klingeln ertönte am anderen Ende des Flurs. Zunächst achtete der Kommissar nicht darauf. Doch als das Klingeln nicht aufhörte, fiel ihm ein, dass der Mann vom Wachdienst aus dem Haus gegangen war. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, horchte. Das Klingeln hielt an. Niemand hob ab.

»Einen Augenblick bitte«, sagte er. »Setzen Sie sich.«

Er ging hinaus. Eine Sekunde lang spielte er mit dem Gedanken, seine Bürotür zuzusperren, doch gleich belächelte er diese Anwandlung. Wenn er allein war, wurde normalerweise auf seinen Apparat umgeschaltet. Das hatte man vergessen. Er musste mehrere Büros durchqueren, bis er zur Zentrale kam.

»Hallo? … Ja, das Polizeipräsidium … Wie? … Nein, Madame, dafür sind nicht wir zuständig … Rufen Sie das Kommissariat Ihres Viertels an … Gute Nacht, Madame.«

Das war wirklich die Nacht der Störungen. Eine Ausländerin, die in einem Hotel an der Avenue Friedland abgestiegen war, beschwerte sich, man habe ihr einen Ring gestohlen. Um drei Uhr morgens!

Wieder ging Maigret durch den langen Flur, öffnete seine Tür – und stieß einen Fluch aus.

»Abgehauen!«

Die junge Frau im schwarzen Kostüm war verschwunden. Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, lag jetzt ein Taschentuch ohne Monogramm am Boden.

Maigret rannte zur Treppe und hinaus auf den Quai, mitten hinein in den Nebel. Er stieß mit einem Paar zusammen, das sich in eine Ecke zurückgezogen hatte, wünschte die beiden zum Teufel, machte noch ein paar Schritte in diese und in jene Richtung, gab auf und ging zurück in sein Büro.

Eine Verrückte? Das war sein Eindruck gewesen. Doch sicher war er nicht. Er sah das kleine bleiche Gesicht mit den angespannten Gesichtszügen wieder vor sich, und vor allem diese merkwürdigen Augen.

»Warum ist sie weggelaufen?«

Er setzte sich an seinen Platz. Sein Bericht war noch nicht fertig. Er versuchte sich dahinterzuklemmen, doch seine Gedanken schweiften immer ab.

»Morgen früh sehen wir weiter«, knurrte er beim Gedanken an dieses Verbrechen, das vielleicht nur im Kopf der Unbekannten existierte.

Er war griesgrämig, nicht im Gleichgewicht. Kurz vor vier ging er zur Zentrale und schaltete auf seinen Apparat um. Zurück in seinem Büro rief er ein Pariser Kommissariat nach dem anderen an.

»Keine Meldung? Kein Verbrechen?«

In der Rue de Lappe hatte es eine Messerstecherei gegeben, aber das war im Lauf einer Schlägerei geschehen, und man hatte den Mörder gefasst. In Montmartre hatte eine Auseinandersetzung zwischen Schwarzen mit Schüssen geendet, die einen Passanten getroffen hatten.

Das beruhigte den Kommissar ein bisschen, der sich gegen halb sechs von der Wärme einlullen ließ und döste. Um acht sollte ihn ein Kollege ablösen. Dieser rief um Viertel nach acht an.

»Sagen Sie, mein Lieber, würde es Ihnen etwas ausmachen, bis elf zu bleiben? Eben ist mein Schwiegervater aus Nantes eingetroffen, und er bleibt nur bis Mittag …«

Maigret wünschte den Kollegen ebenso zum Teufel wie das Liebespaar. Wie so viele Dicke gab er sich gern mürrisch. Er las noch einmal den Anfang seines Berichts, fügte ein paar Zeilen hinzu, strich andere, setzte seinen Hut auf und ging, nachdem er den Wachposten, der in einem Sessel schlief, geweckt hatte, in eine kleine Bar, wo er einen Kaffee mit Schuss trank.

Er blieb dort keine Viertelstunde. Als er in das Präsidium zurückkam, rief eine Stimme:

»Schnell! … Montreuil ist dran.«

»Zum Teufel mit Montreuil!«

Am Apparat war ein einfacher Streifenpolizist, der ganz aufgeregt war, weil sich – ausgerechnet während der Kommissar von Montreuil frei hatte und dessen Assistent den Sonntag in Dijon verbringen wollte – etwas Dramatisches ereignet hatte.

»Ein Mann ist umgebracht worden … Vom Täter keine Spur … Wie der reingekommen ist und wie er abgehauen ist, lässt sich unmöglich sagen … Kommen Sie?«

Maigret dachte an seine Besucherin und fragte:

»Mit einem Revolver?«

»Nein … Es muss ein Messer gewesen sein oder ein Dolch.«

»Ein Liebesdrama?«

»Unwahrscheinlich … Der Tote ist alt … 111, Avenue de Paris … Soll ich auf Sie warten?«

Maigret brauchte eine Viertelstunde, bis er ein Taxi fand. Es war halb zehn, als der Wagen vor einem großen vierstöckigen Backsteinbau hielt.

Auf dem Gehsteig keine Gaffer. Im Flur ein Polizist in Uniform.

»Kommen Sie vom Präsidium? … Gehen Sie in den dritten Stock. Sie werden erwartet.«

Obwohl das Haus recht modern war, gab es keinen Aufzug.

Im ersten Stock bewegte sich eine Tür, als Maigret daran vorbeiging. Er hätte sie am liebsten aufgestoßen, um demjenigen, der da lauerte, ins Gesicht zu schauen, ließ es aber bleiben.

Das war seit Beginn der Nacht die zweite Anwandlung, die er unterdrückt hatte, stellte er etwas später fest.

Die erste war gewesen, die junge Frau in sein Büro einzusperren, und dass er es nicht getan hatte, hatte er bereut. Warum hatte er die Tür im ersten Stock nicht aufgestoßen?

Weiter oben lehnte sich jemand über das Geländer.

»Wer ist da? … Polizei?«

Im zweiten Stock stürzte eine Frau im Nachthemd und mit Lockenwicklern im Haar zurück in ihre Wohnung.

Im dritten Stock stieß er auf ein paar mehr oder weniger angekleidete Leute. Es war Sonntag. Man hatte sich vorgenommen, auszuschlafen oder in der Wohnung herumzulungern, ohne sich richtig anzuziehen.

Einzig die Concierge, eine nervöse kleine Dürre mit wachen braunen Augen, trug ihre Alltagskleidung. Sie sagte immer wieder:

»Ich bin wie gewohnt um acht hochgegangen. Ich habe den Kocher angemacht für den Kaffee … Dann wollte ich, bis das Wasser kocht, im Arbeitszimmer sauber machen. Und da hab ich den Kapitän entdeckt, der …«

Maigret betrat das Vorzimmer, wo eine Glühbirne brannte. Ein Polizist in Zivil empfing ihn.

»Komisches Verbrechen …«

Das waren seine ersten Worte. Seine Stirn war gefurcht. Die Verantwortung machte ihm zu schaffen. Niemand hatte dran gedacht, den Gaskocher auszumachen in der Küche, die links neben dem Flur lag, der als Vorzimmer diente. In einem Emailtopf brodelte Wasser.

Weiter weg stand eine Tür offen.

»Hier lang, Herr Kommissar … Der Arzt untersucht gerade die Leiche … Einen Gerichtsmediziner konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben, aber ich schwöre Ihnen, wir haben nichts angerührt.«

Das Arbeitszimmer war ziemlich groß und mit Kunstleder verkleidet. Auf dem Teppich neben einem Schreibtisch aus Mahagoni lag die Leiche eines Mannes. Der Arzt kniete neben ihr und betastete sie.

»Und?«, fragte Maigret.

»Die Klinge hat das Herz gestreift. Der Tod ist sofort eingetreten.«

»Können Sie sagen, um wie viel Uhr das Verbrechen stattgefunden hat?«

»So ungefähr … Wir müssen die Autopsie abwarten … Es muss kurz nach Mitternacht gewesen sein … Der Mann ist jedenfalls nicht länger als zehn Stunden tot … Man rechne …«

Der Polizist bemerkte, dass sich Maigret nach der Waffe umsah.

»Nein! Wir haben nichts gefunden … Und die Aussage der Concierge ist sehr verwirrend …«

»Nämlich?«

»Sie habe die Tür nach zehn Uhr abends nicht mehr aufgemacht … Sie sagt, niemand habe rein- oder rausgehen können, weil, sie hat einen bösen schmutzig gelben Hund, der beim geringsten Geräusch gleich losbellt … Davon konnte ich mich selbst überzeugen.«

»Und heute früh ist niemand aus dem Haus gegangen?«

»Nicht, bevor sie die Leiche entdeckt hat.«

»Hat der Mörder etwas mitgenommen?«

»Das wissen wir nicht … Ich habe den Neffen des Toten holen lassen. Er war offenbar der Einzige, der ihn manchmal besucht hat.«

»Ist er gestern da gewesen?«

»Um acht Uhr abends … Er ist aber nur ein paar Minuten geblieben.«

Kommissar Maigret hatte das Zimmer durchmessen und war wieder bei der Tür angelangt. Von dort aus betrachtete er die Mieter, die auf dem Treppenabsatz verharrten.

Plötzlich stutzte er und fixierte einen jungen Mann mit blondem Haar, hellen Augen und einem länglichen Gesicht, welcher der Unbekannten aus der Nacht in jeder Hinsicht glich.

2Kapitän Truffiers Ermordung

»Machen Sie die Tür zu! Klemmen Sie sich hinters Telefon, informieren Sie die Staatsanwaltschaft und den Erkennungsdienst. Die müssen unbedingt einen Gerichtsmediziner ausfindig machen … Moment! Die Concierge soll reinkommen … Das wär’s!«

Der Polizist gehorchte noch so gern, froh, die Verantwortung los zu sein.

»Haben Sie schon eine Idee?«

Der Kommissar antwortete nicht, sondern wandte sich an den Arzt aus Montreuil:

»Sie können gehen. Schicken Sie mir Ihren Bericht so rasch wie möglich. Danke!«

Er war jetzt allein mit der Concierge, die eben eingetreten war, aber statt sie gleich zu befragen, ging er wieder hin und her, die Hände in den Taschen, den Hut in den Nacken geschoben.

An der Wand gegenüber dem Schreibtisch hing die große Fotografie eines Mannes um die vierzig in der Uniform eines Offiziers der Handelsmarine.

Es handelte sich um das Opfer, zwanzig Jahre jünger, das Gesicht weniger aufgedunsen, die Barthaare noch braun.

Weil die Concierge immer wieder bestürzt auf die Leiche blickte und nicht wusste, wohin mit ihren Händen, öffnete Maigret die Tür zum Schlafzimmer, zog ein Laken vom unbenutzten Bett und deckte damit den Toten zu, ohne ihn zu berühren.

Dann hob er vom Boden ein Stück graues Papier auf, in dem die Bücher verpackt gewesen sein mussten, die auf dem Schreibtisch lagen. Auf dem Etikett stand als Absender Gesellschaft für Geschichte und Geografie, Boulevard Saint-Germain. Und als Adressat: Monsieur Georges Truffier, Kapitän auf großer Fahrt, 111, Avenue de Paris, Montreuil-sous-Bois.

Bei einem Buch waren ein paar Seiten aufgeschnitten: Mit Charcot am Südpol von Kapitänleutnant Saint-Clair.

Auf den Regalen ringsum standen Bücher über Schifffahrt, Reiseberichte, Mitteilungen geografischer Gesellschaften in Frankreich, England und Amerika.

An den Wänden hingen Fotos von Frachtern, bestimmt denjenigen, auf welchen Kapitän Truffier unterwegs gewesen war. Im Hintergrund sah man chinesische Häuser, die Bucht von Rio de Janeiro, Rotterdam, die Freiheitsstatue. Da und dort auch Schwarze oder Südseeinsulaner. Die Wohnung war gemütlich. Die Vorhänge waren geschlossen.

»Wohnt hier im Haus eine sehr blonde junge Frau?«

Die Concierge war auf alle möglichen Fragen gefasst, aber nicht auf diese. Entsetzt blickte sie den Kommissar an.

»Mademoiselle Gastambide?«, fragte sie.

»Das weiß ich nicht. Sehr blond? Helle Augen? Ein schwarzes Kostüm?«

»Ja, das ist Mademoiselle Hélène.«

»Hat sie einen Bruder?«

»Der ist da draußen im Treppenhaus! Monsieur Christian, ja …«

»Ist sie heute früh heimgekommen?«

Die Concierge protestierte.

»Die ist doch gar nie weggegangen! Die hat hier im Haus übernachtet!«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut! Das ist ein anständiges Fräulein. Außerdem würde Monsieur Gastambide nie zulassen, dass sie …«

»Aha! Ihr Vater wohnt hier … Und ihre Mutter?«

»Nein … Sie sind zu dritt … Der Vater, sie und Monsieur Christian.«

»Welches Stockwerk?«

»Das erste.«

»Und Sie heißen …«

»Madame Foucrier.«

»Wenn ich richtig verstehe, haben Sie den Haushalt gemacht für …«

Er deutete auf die Gestalt unter dem Laken.

»Ich habe dem Kapitän den Haushalt gemacht, jawohl!«

»Aha. Und haben Sie ihn so genannt?«

»Alle hier haben ihn ›Kapitän‹ genannt.«

»Hat er schon lang im Haus gewohnt?«

»Seit er geerbt hat, von seinem Vater, vor ungefähr fünfzehn Jahren … Sein Vater war Bauunternehmer … Er hat den ganzen Häuserblock gebaut.«

»Und der Sohn fuhr derweil zur See …«

»Ja. Nach dem Tod des Alten ist Monsieur Georges hier eingezogen.«

»Waren Sie damals schon hier?«

»Nein. Ich habe die Loge erst drei Jahre später übernommen … Der Kapitän hat mich gebeten, ihm den Haushalt zu machen … Er hat sogar eine elektrische Klingel anbringen lassen, damit er mich rufen kann, wenn er mich braucht … Der Knopf ist links auf dem Schreibtisch.«

»Ah, ja … Und letzte Nacht haben Sie die Klingel keinmal gehört?«

»Wenn ich sie gehört hätte, wäre ich hergerannt … Und ich …«

»Selbstverständlich! Ist der Kapitän immer um acht aufgestanden?«

»Im Winter … Im Sommer viel früher … Ich habe ihn geweckt, indem ich ihm einen Kaffee ans Bett gebracht habe. Während er sich anzog, habe ich im Arbeitszimmer aufgeräumt. Dann hat er einen Spaziergang gemacht, fast immer im Bois de Vincennes, und er hat Belleau mitgenommen.«

»Belleau?«

»Mein Hund, Sie haben ihn wohl im Flur gesehen …«

»Hat der Kapitän zu Hause gegessen?«

»Nein! Im Restaurant an der Ecke Avenue Michelet … Mittags zumindest … Aber abends, vor allem wenn er in ein Buch vertieft war, hat er mir gesagt, ich soll ihm drei Spiegeleier machen oder ein Omelett mit Schinken …«

»Ist er nach dem Abendessen ausgegangen?«

»Nie! Der hat sich in seinem Arbeitszimmer verkrochen und jede Woche ein neues Paket Bücher bestellt.«

»War er reich?«

»Ich weiß nicht … Das Haus bringt so um die achtzigtausend Franc … Aber mit den Steuern und den Reparaturen …«

»Hatte er noch andere Häuser?«

»Nein. Aber er muss ein bisschen was auf die hohe Kante gelegt haben …«

»Viele Freunde?«

»Es ist nie jemand gekommen.«

»Auch keine Frauen?«

Ihrer Aufgewühltheit zum Trotz musste sie lächeln.

»Der und Frauen!«

»Schon gut! Man hat mir von einem Neffen erzählt …«

»Monsieur Henry, ja … Der ist zwei-, dreimal pro Woche vorbeigekommen … Manchmal ist er den ganzen Abend geblieben … Er hat mich gebeten, sein Auto im Auge zu behalten …«

»War er gestern hier?«

»Um acht … Aber er ist gleich wieder gegangen … Er ist nicht in die Loge gekommen.«

»Und nach seinem Besuch, haben Sie den Kapitän da noch gesehen?«

»Nein! Aber es ist nicht so, wie Sie denken … Monsieur Henry ist ein braver Junge, und er hat seinen Onkel geliebt … Außerdem haben die vom zweiten Stock den Kapitän um halb elf noch im Arbeitszimmer herumgehen hören … Das haben sie dem andern Polizisten gesagt.«

»Wer wohnt im zweiten Stock?«

»Die Maréchals …«

Das sagte sie so, als müsste alle Welt die Maréchals kennen.

»Monsieur Maréchal ist im Landwirtschaftsministerium, ebenso wie sein ältester Sohn, Monsieur Léon. Der andere Sohn ist seit letztem Monat beim Militär. Vor einer Woche hatte er zum ersten Mal Urlaub. Und die drei Fräuleins Maréchal …«

»Schon gut! Haben die das ganze zweite Stockwerk belegt?«

»Es sind ja ziemlich viele. Und wenn man bedenkt, dass das eine Mädchen, das bald heiratet, dann weiter bei den Eltern wohnen muss …«

»Und auf diesem Stockwerk?«

»Gegenüber wohnt Mademoiselle Augustine, die war lange Köchin in einem großen Haus … Bei einem Herzog, glaub ich … Seit zwei Wochen liegt sie mit Grippe im Bett.«

»Und im vierten?«

»Eine der Wohnungen steht leer, weil die Leute seit fast einem Jahr auf dem Land sind … Links wohnt ein junges Ehepaar, die Tassets, die sind gestern um acht nach Rouen gefahren, wie jeden Samstag, zur Mutter der jungen Dame.«

»Gibt es einen fünften Stock?«

»Bloß einen Dachboden. Jeder Mieter hat dort ein Abteil.«

»Im ersten Stock wohnen die Gastambides, nicht wahr?«

»Ja! Und im Erdgeschoss ist der Laden des Schlachters, und dahinter seine Wohnung.«

»Als Sie die Leiche entdeckt haben, was haben Sie da getan, Madame Foucrier?«

»Ich bin wie eine Irre die Treppe runtergerannt … Erst wollte ich meinen Mann um Rat fragen … Aber der ist krank … Seit dem Krieg muss er jeden Monat zwei, drei Wochen liegen … Das Gas … Und dann noch ein Granatsplitter, der in seinem Kopf steckt … Ich bin auf die Straße rausgerannt … Da steht immer ein Polizist … Ich hab ihm gesagt, er soll kommen.«

»Die Mieter wussten da noch nichts?«

»Nein! Als ich mit dem Polizisten hoch bin, sind wir einem der Fräuleins Maréchal begegnet, das gerade zur Messe wollte … Sie hat ihre Eltern gerufen … Monsieur Christian hat den Lärm gehört und ist auch gekommen … Danach, ich weiß auch nicht … Ich hab’s ihnen erzählt.«

»Mademoiselle Gastambide haben Sie nicht gesehen?«

»Nein!«

»Und Sie sind ganz sicher, dass gestern Abend nach zehn Uhr niemand aus dem Haus gehen konnte?«

»Zum letzten Mal habe ich die Tür um fünf vor zehn geöffnet … Ich lag schon im Bett … Es war der junge Maréchal, der aus der Stadt kam mit einer seiner Schwestern, ich weiß nicht, mit welcher.«

»Und Mademoiselle Gastambide war nicht ausgegangen?«

»Nein!«

»Geht sie abends nie aus?«

»Selten … Und wenn, dann geht sie ins Kino, fast immer mit ihrem Vater …«

Maigret ging weiter im Zimmer auf und ab. In diesem Augenblick wurden im Treppenhaus Stimmen laut. Ein junger Mann stürzte herein und rief, ohne sich umzuschauen:

»Wo ist er?«

Er blieb vor dem Laken stehen, riss es weg und erstarrte.

»Monsieur Henry …«, rief die Concierge und brach in Tränen aus.

Er war ein eleganter junger Mann um die fünfundzwanzig. Er biss sich auf die Unterlippe, während sein Blick trüb wurde und sich Tränen in seinen Augenwinkeln bildeten.

Tonlos sagte er nichts als:

»Mein Gott …«

»Sie sind gestern kurz nach acht hier weggegangen, nicht wahr?«

Verblüfft drehte er sich um und schaute Maigret an.

»Ja … Was wollen Sie damit sagen?«

»Was haben Sie um diese Zeit hier gewollt?«

Er war empört.

»Sie denken doch wohl nicht …«

»Ich frage nur, was Sie hier wollten?«

Maigret merkte, dass er zögerte.

»Meinem Onkel guten Tag sagen.«

»Mehr nicht?«

Der Kommissar hielt das graue Papier, in dem die Bücher eingeschlagen gewesen waren, noch immer in der Hand. Mit einem Fingernagel fuhr er über eine Notiz, die mit einer anderen Tinte als die Adresse hingeschrieben worden war.

»Ist das die Schrift Ihres Onkels?«

»Nein.«

»Ist es Ihre?«

»Ja.«

Der junge Mann wurde immer verwirrter.

»Haben Sie das gestern Abend hingeschrieben?«

»Ja … Gestern … Aber …«

»Verzeihung! Können Sie mir sagen, was es zu bedeuten hat?«

»Ich weiß nicht … Ich …«

Er wirkte fahrig. Auf dem Papier stand:

Amt 42

»Haben Sie das bloß so hingeschrieben, beim Reden?«

»Ja.«

»Sehr gut! Dann saßen Sie also ganz nah beim Schreibtisch …«

»Ich … Ja …«

»Madame Foucrier! Ich hoffe, man hat die Stühle nicht verrückt?«

»Gar nichts hat man verrückt …«

»Also standen sie heute früh da, wo sie jetzt stehen?«

»Das schwöre ich …«

»Dann erklären Sie mir doch bitte, Monsieur Henry, warum Ihr Onkel, der um acht gemütlich in seinem Lehnstuhl saß, extra aufgestanden ist, um den Stuhl, auf dem Sie während Ihres Besuchs saßen, in eine andere Ecke des Zimmers zu stellen … Denn wie Sie sehen, steht kein Stuhl beim Schreibtisch …«

»Ich kann mich nicht erinnern … Vielleicht bin ich auch stehen geblieben …«

»Und im Stehen haben Sie dann bloß so Wörter hingeschrieben, die mit dem Gespräch absolut nichts zu tun hatten? … Sie haben eine Feder genommen, Sie haben sie ins Tintenfass getunkt, Sie haben sich über das Papier gebeugt, und das alles bloß so? … Worüber haben Ihr Onkel und Sie zu diesem Zeitpunkt gesprochen?«

»Über die Reise, die ich heute Abend antreten muss.«

»Wohin?«

»Nach Nizza. Wir haben dort eine Filiale.«

»Verzeihung! Was arbeiten Sie?«

»Meine Mutter und ich führen ein Antiquitätengeschäft in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré … Maison Demassis … So heißen wir …«

»Und Ihre Mutter ist die Schwester des Kapitäns?«

Ein Nicken.

»Weiß sie Bescheid?«

»Nein! Ich werde ihr gleich Bescheid sagen … Sie wird zutiefst erschüttert sein … Zumal sie und ihr Bruder … zerstritten waren …«

»Wusste sie von Ihren Besuchen?«

»Nein … Ich …«

Er verkrampfte sich und sagte schroff:

»Ich hab genug von Ihren Fragen! Ich antworte nicht mehr!«

Kommissar Maigret steckte sich eine neue Pfeife an, deckte das Gesicht des Toten zu und hätte am liebsten losgeträllert.

3Mademoiselle Gastambide

Der Rest des Morgens und ein Teil des Nachmittags verliefen schrecklich chaotisch. Und Kommissar Maigret gab kaum einen Laut von sich.

Die Hände in den Taschen, ging er auf und ab, blieb dann zehn Minuten lang in einer Ecke stehen, lief wieder herum, öffnete eine Schublade oder nahm einen beliebigen Gegenstand in die Hand und stellte ihn dann anderswohin.

Zunächst waren die Fotografen vom Erkennungsdienst mit ihren Leitern, Apparaten und Lampen gekommen. Da sagte jemand der Concierge, ihr Mann verlange nach ihr, und so war sie weggelaufen. Das Magnesium hinterließ dichten Rauch. Große Linsen wurden auf die Leiche gerichtet, von oben, links und rechts, aus vielerlei Blickwinkeln.

Der Gerichtsmediziner war leise hereingekommen. Er wartete ungeduldig darauf, seine Arbeit zu erledigen, denn er war für eine Treibjagd im Cher verabredet, und man hatte ihn angerufen, als er gerade Flinten und Munition ins Auto gelegt hatte.