Main Street - Sinclair Lewis - E-Book

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Sinclair Lewis

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Beschreibung

Ein Schlüsselroman zum Verständnis der modernen USA, ihrer tiefen Ambivalenz und inneren Zerrissenheit

Carol Kennicott, eine junge Frau aus Neuengland, hat es in ein Provinznest verschlagen, deren Einwohner, so merkt sie rasch, völlig anders ticken als sie. Um keinen Preis wollen sie von Vorurteilen abrücken und mit neuen Ideen beglückt werden. Im Gegenteil: Wer an ihren tief verwurzelten Überzeugungen rüttelt, kann sein blaues Wunder erleben. So entspinnt sich ein Kampf zwischen zwei konträren Weltbildern - urbane Liberalität vs. rustikales Hinterwäldlertum. Dass Letzteres nicht so einfach zu überwinden ist, sondern böse zurückschlägt, wenn es sich bedroht fühlt, lässt sich an der USA der Gegenwart ebenso studieren wie an diesem turbulenten, unterhaltsamen Klassiker.

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Ein Schlüsselroman zum Verständnis der modernen USA, ihrer tiefen Ambivalenz und inneren Zerrissenheit

Carol Kennicott, eine junge Frau aus Neuengland, hat es in ein Provinznest verschlagen, deren Einwohner, so merkt sie rasch, völlig anders ticken als sie. Um keinen Preis wollen sie von Vorurteilen abrücken und mit neuen Ideen beglückt werden. Im Gegenteil: Wer an ihren tief verwurzelten Überzeugungen rüttelt, kann sein blaues Wunder erleben. So entspinnt sich ein Kampf zwischen zwei konträren Weltbildern – urbane Liberalität gegen rustikalen Traditionalismus. Dass Letzteres nicht so einfach zu überwinden ist, sondern böse zurückschlägt, wenn es sich bedroht fühlt, lässt sich an der USA der Gegenwart ebenso studieren wie an diesem turbulenten, unterhaltsamen Klassiker.

Sinclair Lewis (1885–1951), geboren in einer Kleinstadt in Minnesota, studierte in Yale und arbeitete als Journalist und Lektor in New York, San Francisco und Washington. Seit dem Erfolg seines Romans«Main Street« konnte er von der Schriftstellerei leben. 1926 erregte er mit seiner Ablehnung des Pulitzerpreises Aufsehen, der ihm für«Arrowsmith« zuerkannt worden war; 1930 erhielt er als erster US-Amerikaner den Literaturnobelpreis.

Sinclair Lewis

MAIN STREET

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christa E. Seibicke

Neuausgabe

Nachwort von Heinrich Steinfest

MANESSE VERLAG

Für James Branch und Joseph Hergesheimer

Das ist Amerika – eine Kleinstadt wie tausend andere in einem Landstrich mit Weizen- und Maisanbau, mit Milchwirtschaft und kleinen Waldungen.

In unserer Erzählung heißt die Stadt «Gopher Prairie1, Minnesota». Doch ihre Main Street ist eigentlich nur die Fortsetzung jeder anderen Hauptstraße im Land. Die Geschichte wäre in Ohio oder Montana, in Kansas, Kentucky oder Illinois dieselbe und auch droben im Staat New York oder in den Bergen der beiden Carolinas keine wesentlich andere.

Die Main Street, das ist der Höhepunkt der Zivilisation. Damit heute jenes Ford-Automobil vor dem «Bon Ton»-Warenhaus2 stehen kann, ist Hannibal in Rom einmarschiert und hat Erasmus in der klösterlichen Abgeschiedenheit von Oxford zur Feder gegriffen.3 Was Kaufmann Ole Jenson dem Bankier Ezra Stowbody erzählt, wird zum neuen Gesetz für London, Prag, ja selbst für die keinerlei Gewinn bringenden Meeresinseln; alles, was Ezra nicht kennt und nicht gutheißt, ist Ketzerei – nutzloses Wissen und frevelhafte Beschäftigung.

Unser Bahnhof erfüllt höchste architektonische Ansprüche. Sam Clark erzielt mit seinen Eisen- und Haushaltswaren einen Jahresumsatz, um den die vier Countys, die «Gottes Land»4 ausmachen, ihn beneiden. Die gefühlvolle Kunst der «Rosebud»5-Lichtspiele vermittelt uns Denkanstöße und jugendfreien Humor.

So viel zu unserer behaglichen Tradition und unserem festen Glauben. Würde sich da nicht als zynischer Fremdling entlarven, wer die Main Street anders schildern oder ihre Bewohner mit Spekulationen darüber erschrecken wollte, ob es noch andere Bekenntnisse gibt?

Kapitel 1

I Auf einem Hügel am Mississippi, wo noch vor zwei Generationen die Chippewa ihr Lager aufgeschlagen hatten, stand, scharf abgehoben gegen den kornblumenblauen Nordhimmel, eine junge Frau. Statt der Indianer sah sie jetzt allerdings Kornmühlen und die sonnenblinkenden Fenster der Wolkenkratzer von Minneapolis und St. Paul. Folglich dachte sie auch nicht an Squaws oder Portagen6 oder an Yankee-Pelzhändler, selbst wenn deren Schatten noch überall gegenwärtig waren. Ihre Gedanken kreisten um Walnusskaramell und die Dramen von Brieux,7 um die Frage, warum Absätze sich abnutzen, und darum, wie der Chemieprofessor die neue Frisur angestarrt hatte, die ihre Ohren verbarg.

Ein leichter Wind, der tausend Meilen Weizenland überquert hatte, bauschte ihren Taftrock so graziös, so lebhaft und anrührend schön, dass sich einem zufälligen Beobachter unten an der Straße sehnsüchtig das Herz zusammenzog ange­sichts dieses Bildes spontaner Freiheit. Sie ­reckte die Arme und lehnte sich gegen den Wind, ihr Rock flog auf und nieder, übermütig flatterte eine Locke. Ein Mädchen auf einer Hügelkuppe – leichtgläubig, formbar, jung; es schlürft die Luft so begierig, wie es zu gern auch das Leben schlürfen würde. Die ewige Tragikomödie erwartungsvoller Jugend.

Das Mädchen ist Carol Milford, die sich für ein Stündchen aus dem Blodgett College8 fortgestoh­len hat.

Die Pionierzeit, in der Mädels Sonnenhüte tru­gen und man Bären auf einer Waldlichtung mit dem Beil erschlug, liegt inzwischen ferner als Camelot9; und ein rebellisches junges Mädchen verkörpert heute den Geist jenes konfusen Imperiums, das man den amerikanischen Mittelwesten nennt.

II Das Blodgett College am Rande von Minneapolis ist ein Bollwerk intakter Religion, das die erst vor Kurzem aufgekommenen Ketzerlehren eines Voltaire, Darwin oder Robert Ingersoll10 unermüdlich bekämpft. Fromme Familien aus Minnesota, Iowa, Wisconsin und den beiden Dakotas schicken ihre Kinder dorthin, und Blodgett beschützt sie vor der Verderbtheit der staatlichen Universitäten. Doch hinter seinen Mauern birgt es nette Mädchen, junge Männer, die singen können, und zumindest eine Dozentin, der Milton und Carlyle wirklich am Herzen liegen. Mithin waren die vier Jahre, die Carol in Blodgett verbrachte, nicht ganz vertan. Da das College klein war und die Zahl der Rivalen gering, konnte sie mit ihrer nicht ungefährlichen Vielseitigkeit recht gut experimentieren. Sie spielte Tennis, gab Rechaud-Partys11, belegte einen Graduiertenkurs in Theaterwissenschaft, turtelte mit Verehrern und trat einem halben Dutzend Klubs bei, die sich den schönen Künsten widmeten oder sich krampfhaft an etwas heranpirschten, was sich Allgemeinbildung nannte.

Zwei, drei Mädchen in ihrem Jahrgang waren hübscher als sie, keine jedoch war eifriger. Sie tat sich beim Büffeln im Seminar genauso hervor wie auf Bällen, auch wenn von den dreihundert Blodgett-Studenten sehr viele genauer rezitierten und Dutzende den Boston12 geschmeidiger tanzten als sie. Jede Faser ihres Körpers war quicklebendig – von den schmalen Handgelenken über den quittenblütenzarten Teint und die kindlich unbefangenen Augen bis hin zum schwarzen Haar.

Die anderen Mädchen im Schlafsaal staunten, wenn sie Carol im hauchdünnen Negligé erblickten oder pitschnass aus der Dusche flitzen sahen, über ihre unglaubliche Zierlichkeit. In solchen Momenten kam sie ihnen nur halb so kräftig vor, als sie sie sonst geschätzt hätten; ein zartes Kind, das in Güte und Verständnis eingehüllt gehörte. «Vergeistigt», flüsterten die Mädchen einander zu und «übersinnlich».

Indes war sie nervlich so radioaktiv und vertraute so blindlings auf ein recht verschwommenes Idyll aus eitel Freude und Sonnenschein, dass sie mehr Elan entwickelte als all die grobschlächtigen jungen Frauen, die mit prallen Schenkeln in dick gerippten Wollstrümpfen unter züchtigen blauen Sergepumphosen beim Training für Blodgetts Damenbasketballteam durch die Turnhalle donnerten.

Carols dunkle Augen blieben aufmerksam, selbst wenn sie müde war. Noch wusste sie nichts von der ungeheuren Befähigung der Welt zu beiläufiger Grausamkeit und stolzem Stumpfsinn, aber selbst wenn sie diese erschreckenden Kräfte je kennenlernen sollte, würden ihre Augen niemals verdrießlich, niedergeschlagen oder triefend-verliebt dreinblicken.

Ungeachtet ihrer Begeisterungsfähigkeit, der Zuneigung und der Strohfeuer, die sie entfachte, hatten Carols Bekannte ihr gegenüber Hemmungen. Ob sie nun inbrünstig Kirchenlieder sang oder böse Streiche ausheckte, immer wirkte sie vornehm zurückhaltend und skeptisch. Mag sein, dass sie leichtgläubig war, die geborene Schwärme­rin, und doch prüfte und hinterfragte sie immerzu alles und jedes. Was immer auch aus ihr werden mochte, sie würde jedenfalls nie auf der Stelle treten.

Bisweilen verfing sie sich in ihrer Vielseitigkeit. Sie hoffte abwechselnd auf die Entdeckung einer ungewöhnlichen Stimme, ihrer Begabung als Pianistin, Schriftstellerin oder Schauspielerin oder der ihres Organisationstalents. Jedes Mal wurde sie enttäuscht, engagierte sich aber immer wieder von Neuem mit Begeisterung – für den studentischen Freiwilligendienst13, der Missionare rekrutierte, fürs Kulissenmalen im Theaterklub, bei der Anzeigenakquise für die Collegezeitschrift.

An jenem Sonntagnachmittag, als sie in der Ka­pelle spielte, war sie in Höchstform. Aus der Dämmerung nahm ihre Geige das Orgelmotiv auf, und das Kerzenlicht enthüllte sie im gerade geschnittenen Goldkleid, den Arm über dem Bogen angewinkelt, mit ernstem Mund. Alle anwesenden Männer verliebten sich auf der Stelle in die Religion und in Carol.

Im letzten Studienjahr suchte sie bei all ihren Experimenten und Teilerfolgen angespannt nach einer Beziehung zum späteren Beruf. Tagtäglich drehten sich die Gespräche der Studentinnen auf der Bibliothekstreppe oder im Flur des Hauptgebäudes nur um das eine Thema: «Wie soll es nach dem College weitergehen?» Sogar die Mädchen, die wussten, dass sie heiraten würden, taten so, als liebäugelten sie mit wichtigen Posten im Geschäftsleben; umgekehrt munkelten auch die, die genau wussten, dass sie einen Beruf ergreifen mussten, etwas von sagenhaften Verehrern. Was Carol anging, so war sie Waise; ihre einzige nahe Verwandte war eine biedere Schwester, die einen Optiker in St. Paul geheiratet hatte. Das von ihrem Vater ererbte Geld hatte sie zum größten Teil schon verbraucht. Sie war nicht verliebt – das heißt nicht oft und niemals lange. Sie würde sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.

Aber wie sie das anstellen und wie sie die Welt erobern sollte – fast ausschließlich der Welt zuliebe –, das war ihr noch völlig schleierhaft. Von den Mädchen, die nicht verlobt waren, wollten die meisten Lehrerin werden. Sie schieden sich in zwei Gruppen: einmal die frivolen jungen Dinger, die offen zugaben, dass sie «dem grässlichen Klassenzimmer und den Schmuddelkindern» den Rücken kehren wollten, sowie sich eine Gelegenheit zum Heiraten bot, und dann die beflissenen, altjüngferlichen Geschöpfe, nicht selten mit wulstiger Stirn und Glotzaugen, die Gott beim gemeinsamen Seminargebet anflehten, er möge «ihren Fuß auf einen besonders sinnvollen und nützlichen Pfad lenken». Carol zog es weder zur einen noch zur anderen Gruppe. Erstere erschien ihr unaufrichtig (in dieser Zeit eins ihrer erklärten Lieblingswörter), und die gewissenhaften Jungfrauen konnten, fand sie, mit ihrem Vertrauen auf den Wert der Syntaxanalyse bei Cäsar ebenso viel Schaden anrichten wie Gutes tun.

In unterschiedlichen Zeiten fasste Carol während des Abschlussjahrs definitiven Entscheidungen, dass sie Jura studieren, Drehbücher schreiben, Krankenschwester werden und einen bislang unbekannten Helden heiraten würde.

Und dann wurde Soziologie ihr Lieblingsfach.

Der Soziologieprofessor war neu und als verheirateter Mann tabu, aber er kam aus Boston, hatte im New Yorker University Settlement14 mit Dichtern und Sozialisten, Juden und karitativ engagierten Millionären verkehrt, und sein Hals war wunderschön stark und weiß. Er führte sein kicherndes Seminar durch die Gefängnisse, Wohltätigkeitsbüros und Arbeitsämter von Minneapolis und St. Paul. Carol, die hinter den anderen hertrottete, war empört über die ungenierte Neugier der anderen, die die Armen anstarrten wie Tiere im Zoo. Dagegen fühlte sie sich als die große Befreierin. Sie legte die Hand an den Mund, kniff sich mit Zeigefinger und Daumen in die Unterlippe, dass es ordentlich wehtat, zog ein finsteres Gesicht und genoss es, abseitszustehen.

Ein Kommilitone namens Stewart Snyder, ein ruhiger, aber gescheiter junger Mann im grauen Flanellhemd, mit schäbiger schwarzer Fliege und der lila-grünen Jahrgangsmütze, schimpfte in einem fort, während er mit ihr hinter den anderen durch die Jauchepfützen auf den Schlachthöfen von South St. Paul stakste: «Diese Collegetrottel öden mich an. So was von hochnäsig! Die hätten selber mal auf ’ner Farm arbeiten sollen, so wie ich. Ein gestandener Arbeiter steckt die doch alle in die Tasche.»

«Ach, ich hab eine Schwäche fürs einfache Volk», schwärmte Carol.

«Du darfst dabei nur nicht vergessen, dass die Arbeiter sich nicht zum einfachen Volk rechnen.»

«Da hast du recht! Entschuldige!» Carols Brauen hoben sich staunend und bewegt. Sie schwelgte in Demut, und ihre Augen bemutterten die Welt.

Stewart Snyder musterte sie verstohlen. Er zwängte seine großen roten Fäuste in die Hosentaschen, zog sie hastig wieder heraus und entledigte sich ihrer kurz entschlossen dadurch, dass er die Hände hinter dem Rücken verschränkte.

«Ich weiß schon», stammelte er. «Du kannst’s gut mit Leuten. Kein Vergleich mit den blöden Gänsen da vorn … Weißt du, Carol, du könntest viel für die Menschen tun.»

«Aber wie?»

«Ach … na ja … du weißt schon … Einfühlungsvermögen und so … wenn du … angenommen, du wärst die Frau von ’nem Anwalt. Du würdest seine Mandanten verstehen. Ich werde Rechtsanwalt, weißt du. Aber mit dem Einfühlungsvermögen, da hapert’s bei mir ehrlich gesagt manchmal. Ich werd so verdammt ungeduldig mit Leuten, die sich von jedem Dreck unterkriegen lassen. Du wärst genau die Richtige für so einen schwerblütigen Kerl. Durch dich würde er … na, du weißt schon … eben einfühlsamer werden!»

Seine etwas aufgeworfenen Lippen und die treuen Hundeaugen flehten sie an, ihn zum Fortfahren zu ermuntern. Aber sie schrak vor dieser Dampfwalze an Gefühl zurück. «Ach, guck dir bloß die armen Schafe an», rief sie, «Tausende und Abertausende!» Und damit sauste sie davon.

Stewart war nicht interessant. Er hatte keinen wohlgeformten weißen Hals und hatte auch nie unter berühmten Reformern gelebt. Im Augenblick wünschte sie sich nichts weiter als eine ­Zelle in einer Mission, wie eine Nonne, bloß ohne das lästige schwarze Habit; dort würde sie Gutes tun, George Bernard Shaw15 lesen und eine Horde dankbarer armer Leute kolossal kultivieren.

Bei der Ergänzungslektüre zur Soziologie stieß sie auf ein Buch über Dorfverschönerung – angeregt wurden Begrünungspläne, festliche Umzüge, Mädchenklubs. Der Band enthielt Abbildungen von Rasenflächen und Gartenmauern in Frankreich, Neuengland und Pennsylvania. Eigentlich hatte sie ganz gedankenlos danach gegriffen, ja sogar mit einem leichten Gähnen, das sie aber in katzenhafter Anmut flugs mit den Fingerspitzen wegtupfte.

Sie kuschelte sich in ihre Fensternische, und die schlanken Beine in den Baumwollstrümpfen gekreuzt, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, vertiefte sie sich in das Buch. Beim Lesen streichelte sie ein Satinkissen, Zeugnis des Dekorationsüberschwangs in den Schlafräumen am Blodgett College: cretonnebespannte Sitzbank in der Fensternische, Mädchenphotos, ein Pigmentdruck des Kolosseums, ein Rechaud und ein Dutzend Kissen, manche bestickt, andere mit Perlen oder mit auf Leder eingebrannten Mustern verziert. Die Miniatur der «Tanzenden Bacchantin»16 wirkte dazwischen schockierend deplatziert. Sie war denn auch Carols einzige persönliche Note in dem Zimmer. Alles andere hatten ihr Generationen von Studentinnen vererbt.

Auch die Studie über Dorfverschönerung betrachtete Carol zunächst als Teil dieser Banalitätensammlung. Doch dann war auf einmal Schluss mit ihrem Herumgezappel, und sie las sich fest. Bevor die Dreiuhrglocke sie zum Seminar über englische Geschichte rief, hatte sie das Buch zur Hälfte überflogen.

«Genau das werde ich nach dem College tun!», beschloss sie mit einem Stoßseufzer. «Ich nehme mir eins von diesen Prärienestern vor und mache etwas wirklich Schönes daraus. Ein Zeichen will ich setzen! Aber dazu sollte ich wohl Lehrerin werden – natürlich nicht so eine wie die anderen. Ich werde nicht langweiliges Zeug daherschwafeln! Warum sollte Long Island alle Gartenvorstädte für sich allein haben? Für die hässlichen Ortschaften hier im Nordwesten hat kein Mensch je etwas getan, außer Erweckungsversammlungen abzuhalten und Bibliotheken für Elsie-Bücher zu bauen.17 Ich werde dafür sorgen, dass man einen kleinen Park anlegt, entzückende Cottages baut und eine malerische Main Street!»

Mit solchen und ähnlichen Gedanken überstand sie den Kurs, einen der typischen Blodgett-Kämpfe zwischen einem faden Dozenten und lustlosen zwanzigjährigen Kindern, die stets der Professor gewann, weil seine Gegner ihm alle Fragen beantworten mussten, indes er ihre tückischen Fangfragen wie folgt parieren konnte: «Haben Sie das in der Bibliothek nachgeschlagen? Na, dann sollten Sie das aber schleunigst nachholen!»

Der Geschichtsprofessor war ein pensionierter Geistlicher. Heute hatte er seinen sarkastischen Tag und drangsalierte erst den sportlichen Mr. Charley Holmberg: «Sagen Sie, Charles, würde es Ihre zweifellos faszinierende Jagd auf diese boshafte Fliege stören, wenn ich Sie bitte, uns zu bestätigen, dass Johann Ohneland eine Ihnen völlig unbekannte Größe ist?» Und dann genoss er ganze drei Minuten den Triumph, dass tatsächlich keiner von seinen Studenten wusste, wann genau die Magna Charta unterzeichnet worden war.

Carol freilich hörte ihn nicht. Sie zimmerte gerade am Dach eines Fachwerkrathauses. Im dazu­gehörigen Präriestädtchen war sie auf einen ein­zigen Mann gestoßen, der für ihre Vorstellung von verschlungenen Sträßchen und Arkaden keinen Sinn hatte, aber sie hatte den Stadtrat einberufen und ihren Gegner in die Knie gezwungen.

III Obgleich Carol in Minnesota geboren war, kannte sie die Präriestädtchen nicht aus eigener Anschauung. Denn ihr Vater, ein lächelnder, etwas heruntergekommener, gebildeter und sanft spöttelnder Charakter, stammte aus Massachusetts und amtierte Carols ganze Kindheit hindurch als Richter in Mankato, das durchaus kein Präriestädtchen, sondern mit seinen gartengesäumten Straßen und Ulmenalleen ein wiedergeborenes weiß-grünes Neuengland ist. Mankato liegt zwischen einem Felsmassiv und dem Minnesota River, ganz nahe bei der «Traverse des Sioux», wo die ersten Siedler Verträge mit den Indianern schlossen und Viehdiebe Haken schlugen, um den Teufelsreitern der Sherifftrupps zu entkommen.

Carol kletterte über die Uferböschungen des dunklen Flusses und lauschte seinen raunenden Sagen vom weiten Land der gelben Wasser und gebleichten Büffelknochen im Westen, von den Dämmen, den singenden Schwarzen und den Palmen im Süden, wohin sein ewig gleicher, geheimnisvoller Lauf führte, und sie hörte im Geiste das aufgeregte Warnläuten und sah die dicken Qualmwolken der Flussdampfer mit ihren hohen Schornsteinen, die sechzig Jahre zuvor auf den Sandbänken gestrandet waren. An Deck sah sie Missionare, Berufsspieler mit Melone und Dakotahäuptlinge mit scharlachroten Decken … Des Nachts Trillerpfeifen von weit her, hinter der Flussbiegung, das Echo der Ruderschläge in den Kiefern und auf schwarzen, plätschernden Wellen ein fahler Lichtschimmer.

Carols Familie führte, dank Einfallsreichtum und Fantasie, ein recht unabhängiges Leben; Weihnachten zum Beispiel war ein Fest voll zärtlicher Überraschungen, mit spontan organisierten, ausgelassenen Kostümfesten. Zur Menagerie der Milford’schen Kaminmärchen gehörten keine widerlichen Kreaturen der Nacht, die aus Schränken heraus­stürzten und kleine Mädchen auffraßen, sondern nur gutartige Geschöpfe mit heiterem Blick – wie etwa der Wannenolm, ein flauschiger blauer Wicht, der im Badezimmer haust und furchtbar schnell rennt, damit die Füßchen warm werden; oder der eiserne Ölofen, der anheimelnd blubbert und Geschichten erzählen kann; oder der Schrattelpuck, der vor dem Frühstück mit den Kindern spielt, falls sie hurtig aus dem Bett springen und das Fenster schließen, sobald ihr Vater beim Rasieren das Lied über die puellas18 anstimmt.

Richter Milfords Erziehungsprogramm bestand darin, die Kinder ihre Lektüre frei wählen zu lassen, und Carol verschlang in seiner braun getäfelten Bibliothek Balzac und Rabelais, Thoreau und Max Müller.19 Das Buchstabieren lehrte er sie ernsthaft anhand der Lettern auf den Buchrücken der Lexika, und wenn höfliche Besucher sich nach den geistigen Fortschritten der «lieben Kleinen» erkundigten, vernahmen sie entsetzt, wie die Kinder feierlich ihr «A–And, And–Aus, Aus–Bis, Bis–Cal, Cal–Cha» aufsagten.

Carols Mutter starb, als sie neun Jahre alt war, und sie war elf, als ihr Vater sein Richteramt aufgab und mit der Familie nach Minneapolis übersiedelte. Zwei Jahre später starb auch er. Ihre ältere Schwester, emsig, korrekt und stets mit klugen Ratschlägen bei der Hand, war ihr schon fremd geworden, als sie noch unter einem Dach lebten.

Aus diesen silberbraunen Kindertagen, unbehelligt von fernerer Verwandtschaft, bewahrte ­Carol sich den Willen zur Distanz von jenen Umtriebigen, die mit Büchern nichts anzufangen wissen, und den Instinkt, deren geschäftiges Treiben selbst dann skeptisch zu beobachten, wenn sie daran beteiligt war. Als sie indes ihre städteplanerische Karriere entdeckte, nahm sie beifällig zur Kenntnis, dass es sie jetzt selbst zur Umtriebigkeit drängte.

IV Binnen eines Monats hatte Carols Ehrgeiz sich abgekühlt, und ihre Skepsis gegenüber dem Lehrerberuf war zurückgekehrt. Sie befürchtete, nicht stark genug zu sein für den täglichen Trott, und sie traute sich nicht zu, einer feixenden Schulklasse abgeklärt und entschlossen gegenüberzutreten. Die Sehnsucht nach Erschaffung einer wunderschönen Stadt blieb ihr jedoch, und wenn ihr ein Artikel über einen kleinstädtischen ­Frauenklub oder das Photo einer spärlich bebauten, weitläufigen Main Street unterkam, empfand sie Heimweh und fühlte sich um ihr Werk betrogen.

Es geschah auf den Rat ihrer Englischprofessorin hin, dass sie sich in Chicago zur Bibliothekarin ausbilden ließ. Ihre Einbildungskraft malte sich den neuen Plan sogleich bunt und vielgestaltig aus. Sie sah sich schon aufgeweckte Kinder an bezaubernde Märchen heranführen, jungen Männern bei der Suche nach Maschinenbau-Lehrbüchern helfen und alten Herren liebenswürdig beistehen, die nach irgendeiner Zeitung fahndeten – sah sich als Mittelpunkt der Bibliothek, eine Autorität in Sachen Bücher, die man gemeinsam mit Dichtern und Forschern zum Dinner lud und die vor einer illustren Gelehrtenversammlung referierte.

V Der letzte Fakultätsempfang vor Abschlussfeier und Zeugnisvergabe. In fünf Tagen würde man sie alle miteinander durch die Examensmangel drehen.

Das Haus des Präsidenten war so mit Palmen überladen, dass man unwillkürlich an ein feines Bestattungsinstitut denken musste, und in der Bibliothek, einem zehn Fuß hohen Saal mit Globus und den Porträts von Whittier und Martha Washington,20 spielte das Studentenorchester ein Potpourri aus «Carmen» und «Madame Butterfly». Carol war ganz schwummrig vor Musik und Abschiedsmelancholie. Die Palmen erschienen ihr als Dschungel, die rosa beschirmten ­elektrischen Kugellampen als opalener Nebel und die bebrillten Professoren als Olympier. Und wenn sie die mausgrauen Mädchen ansah, die sie «immer schon näher kennenlernen» wollte, oder die Handvoll junger Männer, die sich schrecklich gern von ihr hätten den Kopf verdrehen lassen, wurde sie schwermütig.

Allein sie ermunterte nur Stewart Snyder. Er war so viel männlicher als die anderen, war gleichsam ein ausgeglichenes, warmes Braun, genau wie sein neuer Konfektionsanzug mit den wattierten Schultern. Carol saß mit ihm sowie zwei Tassen Kaffee und einem Hühnerpastetchen auf einem Haufen von Präsidentenüberschuhen im Garderobenschrank unter der Treppe, und als die gedämpfte Musik zu ihnen hereindrang, flüsterte Stewart: «Ich ertrag es nicht, dass wir nach vier Jahren – der glücklichsten Zeit unseres Lebens – einfach so auseinandergehen müssen!»

Sie schenkte dem Glauben. «Ach, ich weiß, was du meinst! Schrecklich, sich vorzustellen, dass wir uns in ein paar Tagen Adieu sagen und ein paar von unserer Clique nie wiedersehen werden.»

«Carol, du musst mich anhören! Du kneifst jedes Mal, wenn ich ernsthaft mit dir reden will, aber heute musst du mir zuhören. Ich will ein berühmter Anwalt werden, vielleicht sogar Richter, und ich brauche dich! Ich würde dich beschützen und …»

Sein Arm stahl sich um ihre Schulter. Die ein­schmeichelnde Musik brachte ihre Selbstständigkeit ins Wanken, und sie fragte zaghaft: «Würdest du für mich sorgen?» Sie tastete nach seiner Hand, die warm und kräftig war.

«Worauf du dich verlassen kannst! Und wir, mein Gott, wie schön wir’s zusammen haben würden in Yankton. Da will ich mich nämlich niederlassen …»

«Aber ich möchte etwas aus meinem Leben machen.»

«Was kann denn schöner sein, als sich ein gemütliches Heim zu schaffen, ein paar süße Kinder großzuziehen und nette Freunde um sich zu versammeln?»

Das war die klassische Männerantwort für eine Frau, der Flügel wachsen. So hatten weiland die Melonenverkäufer zur jungen Sappho ­gesprochen, genau wie die Hauptleute zu Zenobia,21 und mit ebendiesem Argument protestierte schon der stark behaarte Freier in feuchter Höhle über abgenagten Knochen gegen die Verfechterin des Matriarchats. Im Idiom von Blodgett College, aber mit Sapphos Stimme, gab Carol zur Antwort: «Ja, sicher. Ich weiß. Wahrscheinlich hast du recht. Und ich liebe Kinder, ehrlich. Aber es gibt so viele Mädchen, die sich zur Hausfrau eignen, während ich … Also wenn man schon eine Collegeausbildung hat, dann sollte man auch etwas für die Welt Nützliches damit anfangen.»

«Schon, aber du kannst deine Kenntnisse im eigenen Heim genauso sinnvoll einsetzen. Mensch Carol, stellt dir doch bloß mal vor, wie wir mit unsrer Clique an ’nem schönen Frühlingsabend eine Spritztour mit dem Auto machen und irgendwo ein schönes Picknick veranstalten.»

«Ja.»

«Und im Winter Schlitten fahren und fischen gehen …»

Tusch! Das Orchester oben hatte mit Aplomb den «Soldatenchor»22 angestimmt, und sie protestierte: «Nein, nein! Du bist wirklich lieb, aber ich will etwas schaffen, selber etwas erreichen. Ich versteh mich manchmal auch nicht, aber ich wünsche mir … ach, alles auf der Welt! Vielleicht kann ich nicht singen oder schreiben, aber als Bibliothekarin, da kann ich bestimmt etwas bewirken, das weiß ich. Stell dir bloß vor, irgendein Knirps ließe sich von mir inspirieren und würde eines Tages ein großer Künstler! Ach, Stewart, das mach ich, ich bin fest entschlossen! Ich kann mich nicht einfach bloß mit Geschirrspülen zufriedengeben!»

Zwei Minuten später – und es waren hektische Minuten – wurden sie von einem verlegenen Pärchen gestört, das sich ebenfalls in die lauschige Abgeschiedenheit des Wandschranks zurückziehen wollte.

Bei der Abschlussfeier sah sie Stewart Snyder zum letzten Mal. Sie schrieb ihm einmal die Woche – einen Monat lang.

VI Ein Jahr verbrachte Carol in Chicago. Sie lernte Katalogisieren, Dokumentieren und den Umgang mit Nachschlagewerken, ein Studium, das leicht, aber nicht zu einschläfernd war. Begeistert besuchte sie das Art Institute23, ging in Sinfonie-, Violin- und Kammerkonzerte, schwärmte für Theater und klassisches Ballett. Ja, fast hätte sie die Bibliotheksarbeit aufgegeben, um sich jenem Kreis junger Frauen anzuschließen, die, in hauchdünnes Leinen gewandet, im Mondschein Tänze aufführen.24 Sie wurde auf ein waschechtes Atelierfest eingeladen, eins mit Bier, Zigaretten, Bubikopf und einer russischen Jüdin, die die Internationale sang. Nicht dass Carol den Bohemiens irgendetwas Erwähnenswertes zu sagen gehabt hätte. Sie war vielmehr gehemmt in ihrer Gegenwart, kam sich ungebildet vor und war gleichzeitig schockiert über die hier zelebrierte Freizügigkeit, nach der sie sich dennoch jahrelang gesehnt hatte. Aber sie merkte sich, was sie von den Diskussionen mitbekam: über Freud und Romain Rolland25, über den Syndikalismus, die Confédération générale du travail26, Feminismus contra Harem, chinesische Lyrik, Verstaatlichung der Bergwerke, die Christian Science27 und die Fischgründe in Ontario.

Irgendwann ging sie nach Hause, und das war Anfang und Ende ihres Bohemelebens.

Der Vetter zweiten Grades von Carols Schwager wohnte in Winnetka, und eines Sonntags lud er sie zum Essen ein. Sie wanderte zu Fuß zurück, und als sie unterwegs in Wilmette und Evanston neue Varianten der Vorstadtarchitektur entdeckte, fiel ihr wieder ein, dass sie doch so gern Dorfverschönerung hatte betreiben wollen. Sie beschloss, die Bibliotheksarbeit an den Nagel zu hängen und kraft eines Wunders, das sich ihr freilich noch nicht klar offenbaren wollte, ein Präriestädtchen in ein Ensemble georgianischer Herrenhäuser und japanischer Bungalows zu verwandeln.

Am nächsten Tag musste sie in der Bibliotheks­schule ein Referat über die Benutzung des Sammelindex halten, und bei der anschließenden Diskussion nahm man sie so ernst, dass Carol ihre Karriere als Städteplanerin vorläufig ­hintanstellte – und im Herbst trat sie eine Stelle in der öffentlichen Bücherei von St. Paul an.

VII Carol war weder unglücklich noch in Hochstimmung, während sie an der St. Paul Library arbeitete, doch sie gestand sich langsam ein, dass sie keinen erkennbaren Einfluss auf das Leben ihrer Mitmenschen gewann. Dabei war ihr Umgang mit den Lesern anfangs von einem Engagement getragen, das Welten hätte verändern müssen. Nur dass von diesen schwerfälligen Welten die wenigsten verändert werden wollten. Wenn sie im Zeitschriftensaal Dienst hatte, erkundigte sich niemand nach erbaulichen Essays; stattdessen verlangten die Leute unwirsch «den ‹Lederwaren-Anzeiger› vom letzten Februar!». Und wenn sie am Ausleihschalter stand, lautete die häufigste Frage: «Können Sie mir eine gute, leichte, spannende Liebesgeschichte empfehlen? Mein Mann verreist für eine Woche.»

Sie mochte die anderen Bibliothekare gern und war stolz auf deren Ambitionen. Und sie las, da sie ihr zufällig in die Hände fielen, zig Bücher, die überhaupt nicht zu ihrer fröhlichen blassen Wenigkeit passten: ganze Bände über Anthropologie mit Gräben voller Fußnoten und bergeweise kleinen, angestaubten Lettern, aber auch Studien über Pariser Imagisten28, Hindu-Rezepte für Curry­gerichte, Reiseberichte von den Salomoninseln, theosophische Abhandlungen mit modernen amerikanischen Verbesserungsvorschlägen, Handbücher für den erfolgreichen Immobilienmakler. Sie machte lange Spaziergänge, trug vernünftige Schuhe und achtete auf gesunde Ernährung. Und bei alledem hatte sie nie das Gefühl, wirklich zu leben.

Sie wurde von ehemaligen Kommilitonen zum Essen und zu Hausbällen eingeladen. Manchmal tanzte sie einen züchtigen Onestep, manchmal verwandelte sie sich, vor lauter Angst, das Leben könne an ihr vorbeigehen, in eine wahre Bacchantin – die sanften Augen vor Erregung glitzernd, die Kehle wie zugeschnürt, wirbelte sie durch den Saal.

In den drei Jahren, die sie in der Bücherei beschäftigt war, zeigten etliche Männer ernsthaftes Interesse an ihr: der Prokurist eines pelzverarbeitenden Betriebs, ein Lehrer, ein Zeitungsreporter und ein Bahnbeamter in untergeordneter Stellung. Keiner davon machte ihr wirklich Eindruck. Monatelang trat nicht ein Mann aus der anonymen Menge her­vor. Und dann lernte sie bei den Marburys Dr. Will Kennicott kennen.

Kapitel 2

I Es war eine zerbrechliche, ­melancholische und einsame Carol, die an jenem Sonntag zum Abendessen in die Wohnung der Johnson Marburys ­zockelte. Mrs. Marbury war eine Nachbarin und Freundin von Carols Schwester, Mr. Marbury reiste als Vertreter für eine Versicherungsgesellschaft. Die Spezialität der Marburys war ein improvisierter Sandwich-Salat-Kaffee-Imbiss, und sie betrachteten Carol als ihr Aushängeschild in Sachen Kunst und Literatur. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie die neue Caruso-Platte zu schätzen wusste, ebenso wie den Lampion, den die Agentur in San Francisco Mr. Marbury verehrt hatte. Carol wiederum fand es himmlisch, wie die Marburys sie anhimmelten.

An diesem Sonntagabend im September trug sie ein zartrosa gefüttertes Tüllkleid. Die schwachen Müdigkeitsfältchen um ihre Augen hatte ein Nickerchen geglättet. Sie war jung und unbefangen, die frische Luft hatte sie belebt. In der Diele warf sie ihren Mantel auf einen Stuhl und stürmte ins plüschig-grüne Wohnzimmer, wo sich der gewohnte Kreis in Konversation erging. ­Carol erblickte Mr. Marbury, die Turnlehrerin einer Highschool, den Bürochef der Great Northern Railway, einen jungen Rechtsanwalt – und dann war da noch ein Fremder, ein hochgewachsener junger Mann von sechs- oder siebenunddreißig, mit widerspenstigem braunem Haar, einem befehlsgewohnten Mund und Augen, die gutmütig alles ringsum beobachteten. Er kleidete sich auf eine Weise, dass man hernach nie genau hätte sagen können, was er eigentlich anhatte.

Mr. Marbury rief mit dröhnender Stimme: «Carol, kommen Sie, kommen Sie! Ich möchte Sie mit Doc Kennicott bekannt machen – Dr. Will Kennicott aus Gopher Prairie. Er arbeitet auf dem flachen Land als ärztlicher Gutachter für unsere Versicherung, und seine Patienten schwören auf ihn!»

Während sie, irgendeine nichtssagende Höflich­keitsfloskel murmelnd, auf den Fremden zutrat, rief Carol sich ins Gedächtnis, dass Gopher Prairie eine Ortschaft mit etwas über dreitausend Einwohnern war, der im Weizenanbaugebiet von Minnesota lag.

«Freut mich, Sie kennenzulernen», sagte Dr. Kennicott. Er hatte einen festen Händedruck, obwohl die Handfläche weich und glatt war. Auf dem wettergegerbten Handrücken schimmerten goldblonde Härchen auf der straffen, geröteten Haut. Er sah sie an, als ob sie ein erfreuliches Fund­stück wäre.

Sie zog ihre Hand zurück und stammelte: «Ich muss hinaus in die Küche und Mrs. Marbury helfen.» Sie sprach erst wieder mit ihm, nachdem sie die Brötchen aufgebacken und die Papierserviet­ten herumgereicht hatte, worauf Mr. Marbury sie lauthals mit Beschlag belegte: «So, jetzt ist aber Schluss mit dem Rumgerenne! Setzen Sie sich her und erzählen Sie uns, wie’s Ihnen geht.» Damit bugsierte er sie auf ein Sofa neben Dr. Kennicott, der recht zerstreut dreinblickte und die wuchtigen Schultern so schlaff hängen ließ, als wüsste er nicht, was man als Nächstes von ihm erwartete. Doch als ihr Gastgeber sie allein ließ, wurde Kennicott plötzlich munter.

«Marbury hat mir erzählt, dass Sie ein ganz großes Tier in der öffentlichen Bücherei sind. Darum war ich so überrascht, wie Sie vorhin reinkamen. Konnte mir kaum vorstellen, dass Sie schon alt genug sind für so was. Ich hätte Sie glatt für ein Collegemädchen gehalten.»

«Ach, aber ich bin uralt! Jeden Morgen zittere ich davor, dass ich mein erstes graues Haar entdecke, und bestimmt brauche ich auch bald einen Lippenstift.»

«Haha! Ja, wenn das so ist, dann müssen Sie wirklich furchtbar alt sein – womöglich schon zu alt, als dass Sie meine Enkelin sein könnten!»

Genauso vertändelten Nymphe und Satyr in Arkadien einst die Stunden; in ebendiesem Stil (und keineswegs mit honigsüßen Pentametern) parlierten Elaine of Astolat und der sieche Sir Lancelot im schattigen Laubengang.29

«Wie gefällt Ihnen denn Ihre Arbeit?», fragte der Doktor.

«Eigentlich ganz gut, aber manchmal komme ich mir doch recht isoliert vor – tagein, tagaus nur die Metallregale im Magazin, und dann die ewigen Ausleihkarten, vollgeschmiert mit roten Datenstempeln.»

«Und die Stadt wird Ihnen nicht zuviel?»

«St. Paul? Warum, gefällt es Ihnen hier denn nicht? Also ich kann mir keinen schöneren Ausblick denken als den oben von der Summit Avenue über die Unterstadt bis zu dem Steilufer des Mississippi und den Hochlandfarmen am anderen Ufer.»

«Ja, das stimmt schon … Und natürlich hab ich auch lange in den Twin Cities30 gelebt, neun Jahre, um genau zu sein … Hier an der Uni hab ich das Examen abgelegt und auch promoviert, und mein Praktikum hab ich in einem Krankenhaus in Minneapolis gemacht, aber trotzdem – man wird hier einfach nicht so warm mit den Leuten wie bei mir daheim. In Gopher Prairie hab ich das Gefühl, dass ich mitbestimmen kann. In einer Großstadt mit zwei-, dreihunderttausend Einwohnern dagegen, also da wär ich doch bloß eine weitere Laus im Pelz, eine von vielen Tausend. Und dann hab ich auch eine große Schwäche für Überlandfahrten und geh im Herbst gern auf die Jagd. Sagen Sie, sind Sie eigentlich schon mal in Gopher Prairie gewesen?»

«Nein, aber wie ich höre, soll es ein sehr hübscher Ort sein.»

«Hübsch? Also wissen Sie …! Mag ja sein, dass ich voreingenommen bin, aber ich hab schon jede Menge Städte gesehen – einmal war ich zum Kongress des Amerikanischen Ärztebunds in Atlanta, na, und in New York hab ich mich praktisch ’ne ganze Woche lang rumgetrieben! Aber eine Stadt mit so vielen aufstrebenden Bürgern wie Gopher Prairie ist mir nirgends untergekommen. Bresnahan – Sie wissen schon, der berühmte Automobilhersteller, der stammt aus Gopher Prairie. Jawohl, ist bei uns geboren und aufgewachsen, der Mann! Ach ja, es ist schon ein verdammt schönes Städtchen. Wunderhübsche Ahorne und Eschen in rauen Mengen und zwei der echt tollsten Seen, die Sie sich vorstellen können, bloß einen Katzensprung von der Stadt weg! Ja, und wir haben heute schon sieben Meilen befestigter Gehwege, und täglich kommen neue hinzu! In vielen Landgemeinden behelfen sie sich ja immer noch mit Bohlenwegen, aber wir sind da fortschrittlich, das können Sie mir glauben!»

«Tatsächlich?» (Wieso fiel ihr ausgerechnet jetzt Stewart Snyder ein?)

«Ja, Gopher Prairie hat eine große Zukunft. Bei uns gibt’s die besten Böden für Weizenanbau und Milchwirtschaft im ganzen Staat – zum Teil bringt das Land heute schon anderthalb Dollar pro Morgen, und in zehn Jahren geht’s garantiert rauf auf zweieinviertel Dollar!»

«Ist … mögen Sie Ihren Beruf?»

«Könnte mir keinen schöneren denken. Man kommt viel raus an die frische Luft, aber zur Abwechslung kann man auch mal in der Praxis die Zeit vertrödeln.»

«Daran habe ich jetzt eigentlich nicht gedacht. Ich meine eher … ein Arzt hat doch so viel Gelegenheit, Mitgefühl zu praktizieren.»

Kennicott winkte gutmütig ab. «Ach, ­diese deutschen Bauern31, die wissen mit Mitgefühl nichts ­anzufangen. Alles, was die brauchen, ist ein ordentliches Bad und eine tüchtige Dosis Abführsalz.»

Carol war offenbar zusammengezuckt, denn er korrigierte sich sofort und sehr eindringlich. «Also jetzt halten Sie mich bloß nicht für einen von diesen Quacksalbern, die mit Bittersalz und Chinin hausieren gehen. Aber ich hab unter meinen Patienten so viele raubeinige Farmer, dass ich wahrscheinlich mit der Zeit selber irgendwie abgebrüht werde.»

«Mir scheint, ein Arzt könnte eine ganze Gemeinde verändern, wenn er nur wollte – wenn er die Notwendigkeit dazu einsähe. Schließlich ist er doch in der Regel der einzige qualifizierte Wissen­schaftler am Ort, nicht?»

«Ja, das stimmt schon, aber die meisten von uns rosten wohl ein, mit der Zeit. Wir geraten über kurz oder lang alle in den ewig gleichen Trott: Entbindungen, Typhus, Knochenbrüche. Was wir brauchen, sind Frauen wie Sie, die uns mit ihrem kritischen Geist aufs Dach steigen. Wenn jemand die Stadt umkrempeln könnte, dann Sie.»

«Nein, ich bestimmt nicht. Dafür bin ich viel zu flatterhaft. Komischerweise hatte ich zwar genau das mal vor, aber dann bin ich, scheint’s, irgendwie wieder davon abgekommen. Ach je, als ob ausgerechnet ich Ihnen eine Standpauke halten könnte!»

«Nicht doch! Sie sind genau die Richtige dafür! Sie haben Anschauungen und Ideen, ohne dass Sie darüber Ihren weiblichen Charme verloren hätten. Apropos: Finden Sie nicht auch, dass viele von den Frauen, die für diese ganzen verschiedenen Bewegungen auf die Straße gehen … also meinen Sie nicht, die opfern …» Nach diesem Exkurs über die Suffragetten erkundigte er sich unvermittelt nach ihren persönlichen Verhältnissen.

Seine Freundlichkeit und Charakterfestigkeit beeindruckten sie so nachhaltig, dass sie ihm das Recht zubilligte, ihre Gedanken, ihren Modegeschmack, ihre Ess- und Lesegewohnheiten kennenzulernen. Er wirkte überzeugend. Er hatte sich von einer Zufallsbekanntschaft zum Freund gewandelt, dessen Plaudereien wichtige Neuigkeiten waren. Sie bemerkte die gesunde Breite seiner Brust. Seine Nase, die anfangs schief und riesengroß ausgesehen hatte, kam ihr auf einmal sehr männlich vor.

Carol wurde unsanft aus dieser ernst-süßen Unterhaltung aufgeschreckt, als Marbury über sie herfiel und peinlicherweise für alle hörbar lostrompetete: «He, ihr beiden, was macht ihr denn da? Spielt ihr Wahrsager, oder turtelt ihr schon miteinander? Nehmen Sie sich in Acht, Carol, der Doc ist ein lebenslustiger Zöllibitär. Und nun los, Freunde, Tempo, Tempo! Zeit für ein paar lustige Einlagen oder ’ne kesse Sohle oder so.»

Erst als sie aufbrachen, wechselte Carol nochmals einige Worte mit Dr. Kennicott.

«Hat mich wirklich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Miss Milford. Darf ich Sie vielleicht ­besuchen, wenn ich das nächste Mal nach St. Paul komme? Ich bin ziemlich oft hier … zum Beispiel wenn ich einen Patienten für ’ne größere Operation in die Klinik begleite …»

«Also ich …»

«Wo wohnen Sie denn?»

«Das können Sie von Mr. Marbury erfahren, wenn Sie nächstes Mal in St. Paul sind – falls es Sie wirklich interessiert!»

«Ob es mich interessiert? Warten Sie’s ab!»

II Von der Liebesromanze zwischen Carol und Will Kennicott gibt es nichts zu erzählen, was man nicht an jedem Sommerabend in jeder schummrigen Gasse belauschen könnte.

Was sie zusammenführte, war halb Biologie, halb Mysterium; in ihren Gesprächen blitzte unter Allerweltsfloskeln bisweilen ein Funke Poesie auf; ihr Schweigen drückte Zufriedenheit aus oder, wenn sein Arm sich um ihre Schulter legte, wohl auch bebenden Gefühlsaufruhr. Was hier zusammenkam, war die ganze Schönheit der Jugend (die man erst bewusst wahrnimmt, wenn sie zu schwinden beginnt) und die ganze Banalität eines gut situierten, unverheirateten Mannes, der einer jungen Frau gerade dann begegnet, wenn sie ihre Stelle schon ein bisschen satthat, aber weder eine glanzvolle Zukunft in Sicht ist noch ein Mann, dem sie sich mit Freuden unterordnen würde.

Sie hatten einander aufrichtig gern – beide waren aufrichtige Menschen. Carol war zwar enttäuscht darüber, dass er sich so hingebungsvoll dem Geldverdienen widmete, aber andererseits konnte sie sich sicher sein, dass er seine Patienten nicht belog und sich anhand der medizinischen Fachzeitschriften gewissenhaft auf dem Laufenden hielt. Was etwas mehr als bloße Zuneigung in ihr weckte, war sein jungenhaftes Ungestüm auf ihren gemeinsamen Ausflügen.

Einmal wanderten sie von St. Paul den Fluss entlang nach Mendota. Kennicott wirkte viel schwungvoller mit Kappe und weichem Krepphemd und Carol sehr jugendlich mit braunsamtener Schottenmütze und im blauen Sergekostüm mit einem übertrieben breiten, gleichwohl hübschen leinenen Umlegekragen und kess entblößten Fesseln über den Sportschuhen. Die High Bridge, die den Mississippi überspannt, steigt von einer sanften Flussniederung zum jenseitigen zerklüfteten Steilufer empor. Tief unter ihr ist, auf den Schlammbänken nach St. Paul zu, eine wilde Siedlung entstanden, mit von Hühnern verwüsteten Gärten und Baracken, zusammengeschustert aus ausrangierten Schildern, Wellblech und Treibholz. Carol beugte sich über das Brückengeländer, spähte hinunter auf dieses Jangtse-Dorf, kreischte in köstlich eingebildeter Angst, sie sei nicht schwindelfrei, und fand es ungemein wohltuend, von einem starken Mann gepackt und auf sicheren Grund zurückgerissen zu werden – statt der schnippischen Bemerkung einer pragmatischen Lehrerin oder Bibliothekarin: «Ja, wenn du dich fürchtest, dann bleib doch einfach vom Geländer weg!»

Von den Klippen jenseits des Flusses blickten Carol und Kennicott auf St. Paul mit seinen Hügeln zurück und bewunderten den majestätisch weiten Bogen von der Kuppel der Kathedrale bis zur Kuppel des Kapitols.

Vorbei an steinigen Weidehängen, tiefen Bergschluchten und farbenprächtigen Herbstwäldern führte die Uferstraße nach Mendota: weiß getünchte Mauern und zwischen den Bäumen unterhalb eines Hügels eine Kirchturmspitze, ein Stück Beschaulichkeit aus der Alten Welt. Und für dieses junge Land ist es in der Tat ein altehrwürdiger Ort. Hier steht das trutzige Steinhaus, das General Sibley, der König der Pelzhändler, 1835 erbaut hatte, mit Flussschlamm als Mörtel und aus Gras gedrehten Seilen als Putzträgern.32 Man hätte glauben können, es sei Hunderte von Jahren alt. Carol und Kennicott fanden in seinen solide gebauten Räumen auch Spuren längst vergangener Tage, die Sibleys Haus miterlebt hatte: Fräcke im Blaugrün von Rotkehlcheneiern, Bilder von klobigen, mit kostbaren Pelzen beladenen Red-River-Karren33 und von schnurrbärtigen Unionssoldaten mit schräg sitzendem Schiffchen und rasselndem Säbel an der Seite.

Zeugnisse wie diese suggerierten eine gemeinsame amerikanische Vergangenheit, was ihnen, da sie die Entdeckung zusammen gemacht hatten, denkwürdig erschien. Und als sie weiterwanderten, wurde ihr Gespräch vertraulicher, die ­Themen wurden persönlicher. Den Minnesota River überquerten sie in einer Ruderfähre und stiegen am anderen Ufer den Hügel zum runden Steinturm von Fort Snelling34empor. Von oben sahen sie den Zusammenfluss von Mississippi und Minnesota und gedachten der Männer, die sich vor achtzig Jahren hier zusammengefunden hatten – Holzfäller aus Maine, Händler aus dem Staat New York und Soldaten aus den Hügeln Marylands.

«Es ist ein gutes Land, und ich bin stolz ­darauf. Trotzdem wollen wir uns anstrengen, damit eines Tages alles so wird, wie diese alten Knaben sich’s erträumt haben!» Ausgerechnet dem unsentimentalen Kennicott entschlüpfte dieser feierliche Schwur.

«Abgemacht!»

«Dann komm mit. Komm mit nach Gopher Prairie, und zeig uns, wie’s geht. Mach unsere Stadt … na ja … mach sie kunstsinnig! Mächtig hübsch ist sie schon, aber ich muss gestehen, übermäßig kunstsinnig sind wir nicht grade. Unser Holzlager ist wahrscheinlich nicht so geschleckt wie diese ganzen griechischen Tempel. Aber mach du dich nur ran! Kremple uns tüchtig um!»

«Das würde ich schon gern … irgendwann.»

«Nein, jetzt! Gopher Prairie wird dir gefallen. In den letzten paar Jahren haben wir schon eine Menge Grünflächen und Gärten angelegt, und es ist so heimelig bei uns … die großen Bäume und … und die besten Menschen der Welt. Und so engagiert. Ich wette, Luke Dawson …»

Wenn er Namen nannte, hörte Carol nur mit halbem Ohr hin. Sie konnte nicht glauben, dass diese für sie je wichtig würden.

«Ich wette, Luke Dawson hat mehr Geld als die meisten von diesen feinen Pinkeln auf der Summit Avenue, und Miss Sherwin von der Highschool ist ein Phänomen – liest Latein so wie ich Englisch; und Sam Clark, der Eisenwarenhändler, also der ist einsame Klasse – im ganzen Staat findest du keinen besseren Jagdgefährten. Und wenn’s dir auf Kultur ankommt, da haben wir außer Vida Sherwin noch Reverend Warren, den Kongregationalistenprediger, und Professor Mott, den Schulinspektor, und Guy Pollock, den Rechtsanwalt – es heißt, der schreibt fabelhafte Gedichte –, und … ja, und Raymie Wutherspoon ist auch nicht auf den Kopf gefallen, man muss ihn bloß erst mal näher kennenlernen, und singen kann er wunderschön. Und … ach, da sind noch so viele andere. Lym Cass zum Beispiel. Bloß hat natürlich keiner deinen Schliff, wenn ich so sagen darf. Aber ein willigeres und dankbareres Publikum findest du nirgends, das schwör ich dir. Also komm, gib dir einen Ruck! Wir warten nur drauf, dass du uns rumkommandierst!»

Sie saßen, vor neugierigen Blicken geschützt, an der Uferböschung unter dem Wall des alten Forts. Er schlang ihr den Arm um die Schulter, und Carol, einerseits entspannt von dem langen Spaziergang, andererseits fröstelnd unter einem kühlen Windhauch, lehnte sich im Bewusstsein seiner Wärme und Kraft dankbar an ihn.

«Du weißt doch, dass ich dich liebe, Carol!»

Sie antwortete nicht, aber ihr Finger tastete forschend über seinen Handrücken.

«Du wirfst mir vor, dass ich so verdammt materialistisch bin. Aber wie soll ich dagegen an, wenn ich dich nicht hab, um mich aufzurütteln?»

Sie antwortete immer noch nicht. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

«Du sagst, ein Arzt könnte eine Gemeinde genauso heilen wie einen einzelnen Patienten. Also, dann kurier du unser Gopher Prairie von all seinen Wehwehchen, wenn’s denn welche hat – und ich will dir gern dabei assistieren.»

Sie bekam kaum mit, was er sagte, nur die stoi­sche Entschlossenheit seiner Worte prägte sich ihr ein. Sie war schockiert, aber auch erregt, als er sie auf die Wange küsste und ausrief: «Ach, das ewige Reden führt doch zu nichts! Sprechen denn meine Arme nicht zu dir – jetzt?»

«Oh, bitte, bitte!» Sie überlegte, ob sie wohl hätte böse werden müssen, aber es war nur ein flüchtiger Gedanke, und im nächsten Augenblick merkte sie, dass sie weinte.

Dann saßen sie auf Armeslänge voneinander getrennt und taten so, als wären sie sich nie nähergekommen, indes sie um einen unpersönlichen Ton rang.

«Ich würde … ich möchte mir Gopher Prairie schon gern einmal anschauen.»

«Das trifft sich gut! Ich hab dir nämlich ein paar Schnappschüsse mitgebracht.»

Die Wange an seinem Ärmel, betrachtete sie ein Dutzend Dorfansichten. Die Photos waren schlierig, und sie erkannte bloß Bäume, Sträucher und im Laubschatten undeutlich eine Veranda. Von den Seen jedoch war sie begeistert: dunkle Wasser, in denen sich bewaldete Felsen spiegelten, eine Entenschar, ein hemdsärmeliger Fischer mit breitkrempigem Strohhut, der einen Fang Barsche in die Kamera hielt. Eine Winteraufnahme vom Ufer des Lake Plover hätte man fast für einen Kupferstich halten können: schimmernde Eisschollen, Schnee in den Spalten eines morastigen Ufers, der Hügel eines Bisamrattenbaus, Schilf als dünne schwarze Linien, vom Frost geknickte Gräser. Das Ganze ein Sinnbild kühler, klarer Kraft.

«Wie würde dir das gefallen, hier ein, zwei Stun­den Schlittschuh zu laufen oder eissegeln zu gehen und dann schnell nach Hause zu Kaffee und heißen Wienern?», fragte er.

«Das könnte … schon Spaß machen.»

«Ah! Aber nun sieh dir das mal an! Da kommst du ins Spiel.»

Die Photographie einer Waldlichtung: jämmerliche frische Furchen, die sich schief und krumm zwischen Baumstümpfen durchschlängeln, eine klobige Blockhütte, mit Lehm abgedichtet und strohgedeckt. Davor eine ausgemergelte Frau mit straff zurückgekämmtem Haar und ein dreckverschmiertes Kleinkind mit wunderschönen Augen.

«Siehst du, so wie die sehen viele von meinen Patienten aus. Nels Erdstrom ist ein blitzsauberer junger Schwede. In zehn Jahren hat der eine erstklassige Farm, aber heute … Ich hab seine Frau auf dem Küchentisch operiert, und mein Fahrer hat ihr die Narkose gegeben. Guck dir nur dieses verschreckte kleine Würmchen an! Das braucht eine Frau mit deinen Händen. Es wartet auf dich! Schau dem Bübchen bloß mal in die Augen, sieh doch, wie es dich anfleht …»

«Nicht! Sie tun mir weh, diese Augen. Aber es wär himmlisch, ihm zu helfen – einfach himmlisch.»

Und als seine Arme sich nach ihr ausstreckten, brachte sie all ihre Bedenken mit diesem «Himmlisch, einfach himmlisch» zum Schweigen.

Kapitel 3

I Unter vorbeiziehenden Präriewolken eine vorwärtsdrängende Masse aus Stahl. Ein irritierendes Rattern und Klirren, übertönt von lang anhaltendem Geheul. Stechender Orangenduft mäßigt den dumpfigen Geruch ungewaschener Leiber und uralten Reisegepäcks.

Ortschaften, so planlos in die Landschaft gestellt wie auf einem Dachboden verstreute Pappkartons. Die weiten, blassgoldenen Stoppelflächen nur hin und wieder unterbrochen von einem Weidegrund mit weißen Häusern und roten Scheunen in der Mitte.

Nr. 7, der Bummelzug, stampft durch Minnesota, erklimmt unmerklich das riesige Plateau, das über eine Spanne von tausend Meilen vom heißen Schwemmland des Mississippi ansteigt bis hinauf zu den Rockies.

Es ist September, heiß und sehr staubig.

Der Zug führt keinen schmucken Pullmanwagen und statt der Personenwagen des Ostens solche mit verstellbaren Sitzen, frei bewegliche Plüschsessel, deren Kopfstützen mit zweifelhaften Leinentüchern überzogen sind. In der Mitte unterteilen geschnitzte Eichensäulen den Wagen, aber der Gang besteht nur aus nacktem, rissigem ölgeschwärztem Holz. Es gibt keinen Schaffner, keine Kissen, keine Schlafgelegenheit, und doch werden sie heute den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht in dieser überlangen Stahlbox zubringen – Farmer mit ständig müden Frauen und Kindern, die alle gleich alt aussehen, Arbeiter auf dem Weg zu einer neuen Stelle, Handlungsreisende mit Melone und frisch gewichsten Schuhen.

Sie sind eingepfercht, dem Verdursten nahe und ihre Handlinien schwarz von Schmutz. Verkrampft zusammengekauert machen sie sich zum Schlafen bereit, den Kopf ans Fenster oder auf einen über der Armlehne eingerollten Mantel gebettet. Die Beine strecken sie in den Gang. Sie lesen nicht; anscheinend denken sie auch nicht. Sie warten. Eine früh verblühte, jung-alte Mutter, die sich bewegt, als ob ihre Gelenke eingerostet wären, öffnet einen Koffer, in dem man zerknitterte Blusen erkennt, ein Paar an den Zehen durchgestoßene Hausschuhe, eine Arzneiflasche, eine Blechtasse, ein in Papier eingeschlagenes Buch über Träume, das ihr der Bauchladenmann aus dem Zug angedreht hat. Die Frau holt einen Grahamcracker heraus und füttert damit das Kleine, das der Länge nach auf einem Sitz liegt und schreit wie am Spieß. Dabei fallen eine Menge Krümel auf den roten Plüschsitz. Die Frau versucht sie seufzend abzuklopfen, aber sie springen nur boshaft hoch und rieseln wieder aufs Polster zurück.

Ein schmutziges Paar mampft Sandwiches und wirft die Brotkrusten auf den Boden. Ein großer, stämmiger Norweger mit ziegelrotem Gesicht zieht die Schuhe aus, grunzt erleichtert und legt die Füße in den dicken grauen Socken auf den Sitz gegenüber.

Eine alte Frau, deren zahnloser Mund zuklappt wie der einer Schildkröte und deren Haar nicht richtig weiß, sondern eher gelb ist wie stockfleckiges Leinen und zwischen den Flechten rosig die Kopfhaut durchschimmern lässt, hebt ängstlich ihre Tasche hoch, macht sie auf, lugt hinein, schließt sie, stellt sie unter den Sitz, nur um sie hastig wieder hervorzuholen, zu öffnen und abermals zu verstecken. Die Tasche ist randvoll mit Schätzen und Erinnerungen: eine Lederschnalle, ein uraltes Konzertprogramm, Bändchen-, Spitzen- und Satinschnipsel. Auf dem Gang neben ihr steht ein Käfig mit einem höchst ungnädigen Sittich darin.

Eine Vierersitzgruppe, völlig überbelegt von der Familie eines slowenischen Grubenarbeiters, ist übersät mit Schuhen, Puppen, Whiskyflaschen, in Zeitungspapier eingeschlagenen Bündeln und einem Nähbeutel. Der älteste Sohn zieht eine Mundharmonika aus der Tasche, wischt die Tabakkrümel ab, und dann spielt er «Marching through Georgia»35, bis der ganze Wagen Kopfweh hat.

Der Bauchladenmann geht mit Schokoladeriegeln und Zitronendrops durch den Zug. Ein kleines Mädchen trabt unermüdlich zwischen dem Trinkwasserbehälter und seinem Platz hin und her. Die steife Papiertüte, die sie als Becher benutzt, tropft, wenn die Kleine durch den Gang trippelt, und bei jeder Runde stolpert sie über die Füße eines Tischlers, der dann «Aua!» und «Pass doch auf!» stöhnt.

Die staubverkrusteten Türen stehen offen, und aus dem Raucherabteil quillt ein sichtbares blaues Band beißenden Tabakrauchs, untermalt vom aufgekratzten Gelächter über die Geschichte, die der junge Mann im hellblauen Anzug mit der lavendelfarbenen Krawatte und den kanariengelben Schuhen eben dem gedrungenen Mann im Monteuranzug erzählt hat.

Die Luft riecht zunehmend muffig und schal.

II Jeder Passagier betrachtete seinen Platz als vorübergehendes Zuhause, und die meisten Passagiere gingen schlampig damit um. Ein Platz jedoch wirkte sauber und täuschend kühl. Dort saßen ein offenbar wohlhabender Mann und eine schwarzhaarige junge Frau mit zartem Teint, deren Pumps auf einer untadeligen Pferdeledertasche ruhten.

Das waren Dr. Will Kennicott und Carol, seine junge Gattin.

Nach einjähriger Brautwerbung im Plauderton hatten sie geheiratet und waren nun, nach einer Hochzeitsreise durch Colorado, auf dem Weg nach Gopher Prairie.

Unzivilisiertes Volk wie das hier im Regionalzug war Carol nicht völlig fremd, war sie doch dem gleichen Menschenschlag schon auf Reisen von St. Paul nach Chicago begegnet. Nur waren es jetzt plötzlich ihre Leute, die sie pflegen und aufbauen und kultivieren sollte, und darum musterte sie sie aufmerksam und verlegen zugleich. Ihr stumpfer Gleichmut bedrückte sie. Carol hatte immer behauptet, in Amerika gebe es keine Bauerntölpel, und diesen Glauben versuchte sie sich jetzt zu bewahren, indem sie in dem jungen schwedischen Farmer und einem ­Handlungsreisenden, der seine Auftragsformulare durchging, Fantasie und Unternehmungsgeist sah. Aber die älteren Leute, Yankees so gut wie Norweger, Deutsche, Finnen, Frankokanadier, hatten vor der Armut kapituliert. «Das», seufzte sie innerlich, «das sind Bauerntölpel.»

«Gibt es denn keine Möglichkeit, sie aufzurütteln? Wenn sie zum Beispiel etwas von Agrarwissenschaft verstünden, glaubst du, das würde nützen?», fragte sie und tastete nach Kennicotts Hand.

Die Flitterwochen waren eine Offenbarung gewesen, und zitternd hatte sie entdeckt, zu welch stürmischer Erregung sie fähig war. Will hatte sich ganz prächtig verhalten – war immer beherzt und vergnügt, im Zelten wunderbar bewandert, und in den Stunden, da sie nebeneinander hoch oben zwischen den Kiefern auf einem einsamen Felsvorsprung im Zelt lagen, erwies er sich als zartfühlend und verständnisvoll.

Seine Hand umschloss die ihre, als er jetzt aus den Gedanken an die Praxis, zu der er ja zurückkehrte, aufschrak. «Die Leute da? Aufrütteln? Aber wozu denn? Sie sind doch glücklich und zufrieden.»

«Aber so provinziell! Nein, das meine ich eigent­lich nicht. Sie … ach, sie stecken so hoffnungslos im Dreck.»

«Jetzt hör mir mal zu, Carrie! Du solltest dich schleunigst von diesen städtischen Vorurteilen frei machen. Bloß weil ein Mann ungebügelte Hosen trägt, ist er noch lange kein Trottel. Und diese Farmer sind verdammt engagierte, aufstrebende Leute.»

«Ich weiß! Aber das ist ja grade das Traurige. Ich meine, sie haben doch so ein furchtbar schweres Leben – diese einsamen Farmen da draußen und dieser vorbeirauschende Zug.»

«Ach, das macht ihnen nichts aus. Im Übrigen tut sich bereits allerhand: Denk nur an Auto, Telefon und freie Landpostzustellung. All das bringt die Farmer in engeren Kontakt mit der Stadt. Eine Wildnis, wie’s die Gegend hier noch vor fünfzig Jahren war, zu kultivieren, das dauert freilich seine Zeit. Aber immerhin! Heutzutage können sich die Leute Samstagabend in ihren Ford schwingen oder in die Überlandbahn, und sie sind schneller im Kino, als du’s in St. Paul mit der Straßenbahn warst.»

«Aber wenn die Farmer, um ihrer Einöde zu entkommen, in Städte fahren wie die hier an der Strecke … Begreifst du denn nicht? Sieh doch bloß aus dem Fenster!»

Kennicott war bass erstaunt. Seit seiner Kindheit hatte er die Städtchen an dieser Strecke ein ums andere Mal vom Zug aus gesehen. «Wieso?», murrte er jetzt. «Was ist denn mit ihnen? Lauter brave, arbeitsame Gemeinden. Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, wie viel Weizen, Roggen, Mais und Kartoffeln die pro Jahr verschiffen. «

«Aber sie sind doch so hässlich!»

«Gut, ich geb zu, sie sind nicht so gemütlich wie Gopher Prairie. Du musst ihnen halt Zeit lassen.»

«Was nützt das, solange niemand da ist, der den Wunsch und auch die nötige Sachkenntnis hat, etwas daraus zu machen? Hunderte von Fabriken wetteifern darum, immer schickere ­Automobile zu bauen, aber diese Städte … überlässt man ein­fach dem Zufall. Nein! Nicht einmal das: Um sie derart zu verschandeln, muss schon ein Genie am Werk gewesen sein!»

«Na, so schlimm ist’s auch wieder nicht», war alles, was er darauf sagte. Dann begann er das Spiel, bei dem seine Hand die Katze war und ihre die Maus. Zum ersten Mal duldete Carol es mehr, als dass sie ihn ermunterte. Aber ihr Interesse konzentrierte sich im Moment auf Schoenstrom, einen Weiler mit vielleicht hundertfünfzig Einwohnern, wo der Zug eben hielt.

Ein bärtiger Deutscher und seine runzlige Frau zerrten ihren riesigen kunstledernen Rucksack unter dem Sitz hervor und watschelten aus dem Zug. Der Stationsvorsteher hievte ein totes Kalb in den Gepäckwagen. Weiter schien in Schoenstrom nichts los zu sein. Doch, in der Stille dieses kurzen Halts hörte Carol ein Pferd in seiner Box ausschlagen und einen Zimmermann, der ein Schindeldach ausbesserte.

Das Geschäftszentrum von Schoenstrom erstreckte sich über eine Hälfte des Häuserblocks gegenüber der Bahnlinie. Es bestand aus einer Reihe einstöckiger Läden, die teils mit ­verzinktem Eisenblech, teils mit rot und schwefelgelb gestrichenen Schindeln gedeckt waren. Die Häuser, die überhaupt nicht zusammenpassten, wirkten so provisorisch wie die Filmkulisse einer Bergarbeitersiedlung. Der Bahnhof war nichts als ein Holzverschlag mit nur einem Raum, flankiert von einer morastigen Viehhürde und einem knallroten Weizensilo. Der Silo, auf dessen Schindeldach noch eine Kuppel thronte, glich einem breitschultrigen Mann mit einem kleinen, tückischen Eierkopf. Die einzig ansehnlichen Gebäude in ­Sichtweite waren die katholische Kirche, ein übermäßig verzierter, leuchtend roter Ziegelbau, und das dazuge­hörige Pfarrhaus am Ende der Main Street.

Carol zupfte Kennicott am Ärmel: «Hier würdest du aber nicht sagen: ‹So schlimm ist es auch wieder nicht›, oder?»

«Na ja, diese deutschen Siedlungen kommen tatsächlich ein bisschen langsam auf die Füße. Aber davon abgesehen … Siehst du den Burschen, der da aus dem Krämerladen kommt und in den großen Wagen einsteigt? Den hab ich mal kennengelernt. Ihm gehört die halbe Stadt und der Laden obendrein. Rauskukle heißt er. Besitzt außerdem ’ne Menge Hypotheken und spekuliert mit Ackerland. Hat Köpfchen, der Bursche! Sein Vermögen wird auf drei-, vierhunderttausend Dollar geschätzt. Hat eine piekfeine gelbe Villa mit Plattenwegen, Garten und allem Drum und Dran. Die kannst du allerdings von hier aus nicht sehen, liegt auf der anderen Seite vom Ort, aber ich bin schon mal dran vorbeigefahren, als ich mit dem Automobil durchkam. Ja, da staunst du, was?»

«Also wenn der Mann so steinreich ist, dann gibt’s erst recht keine Entschuldigung für dieses Kuhdorf! Denn wenn seine dreihunderttausend in den Ort zurückflössen, wo sie eigentlich hingehören, dann könnte man diese Baracken da abbrennen und an ihrer Stelle ein Traumdorf hinbauen, ein Juwel! Sag, warum dulden die Farmer und die Einwohner hier am Ort es, dass dieser Mogul alles für sich behält?»

«Also manchmal blicke ich bei dir nicht ganz durch, Carrie. Was heißt hier dulden? Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Sicher, er ist ein oller Holzkopf, ein holländischer, und der Pfarrer kann ihn wahrscheinlich mit Leichtigkeit um den Finger wickeln, aber wenn’s um gutes Ackerland geht, dann hat der Mensch einen genialen Riecher!»

«Verstehe. Er ist das Schönheitssymbol der Hiesigen. Statt anständige Häuser zu bauen, bauen sie lieber ihn auf.»

«Ich weiß wirklich nicht, worauf du hinauswillst. Wahrscheinlich bist du einfach geschafft nach der langen Reise. Aber du wirst dich gleich besser fühlen, wenn du heimkommst, ein schönes heißes Bad nimmst und das blaue Negligé anziehst. Ein richtiges Vampirkostüm ist das, du Hexe!» Er drückte ihren Arm und sah sie bedeutungsvoll an.

Das stille, öde Schoenstrom lag hinter ihnen. Der Zug quietschte, polterte und schwankte, die Luft war zum Ersticken. Kennicott wandte ihr Gesicht vom Fenster ab und zog ihren Kopf an seine Schulter. Tatsächlich ließ sie sich auch aus ihrer düsteren Laune herauslocken, aber doch nur widerstrebend, und als Kennicott eben in dem Glauben, er habe ihr all ihre Flausen ausgeredet, zufrieden ein Heft mit harmlos-unterhaltsamen Detektivgeschichten aufschlug, richtete sie sich unversehens wieder auf.

«Hier», dachte sie, «liegt der Welt jüngstes Imperium: der nördliche Mittelwesten Amerikas, ein Land, reich an Milchvieh und herrlichen Seen, mit neuen Automobilen und Baracken aus Teerpappe, mit Silos, die aussehen wie rote Wehrtürme, mit holpriger Sprache und grenzenlosen Hoffnungen. Ein Imperium, das ein Viertel der Welt ernährt – und dabei hat die Arbeit kaum erst begonnen. Pioniere sind sie, diese verschwitzten Zugvögel, trotz ihrer Telefone und Bankkonten und elektrischen Klaviere und Genossenschaftsbetriebe. Und ihr Land, so reich und fruchtbar es auch sein mag, bleibt doch Pionierland. Wie», fragte sie sich weiter, «mag wohl seine Zukunft aussehen? Ob auf den heute kahlen, weiten Feldern einmal Städte stehen werden und rußige Fabriken? Orte, die allen, ohne Ansehen der Person, eine sichere Heimstatt bieten? Oder eher beschauliche Châteaux, umgeben von düsteren Hütten? Wird die Zukunft einer freien, lernbegierigen, lachenden Jugend gehören? Die bereit ist, die geheiligten Lügen infrage zu stellen? Oder dicken Weibern mit weicher Haut, beschmiert mit Fett und Farbe, herausgeputzt mit den Fellen toter Tiere und den blu­tigen Federn ermordeter Vögel, Frauen, die mit geschwollenen, juwelengeschmückten Fingern und rosa lackierten Nägeln Bridge spielen und trotz großen Aufwands an Mühe und schlechter Laune auf groteske Weise immer noch ihren aufgeblähten Schoßhündchen ähneln? Werden auch in Zukunft die überkommenen Ungleichheiten triumphieren, oder wird die Geschichte diesmal einen anderen Weg einschlagen als den, der zum schleichenden Verfall früherer Imperien geführt hat? Wie wird sie aussehen, die Zukunft, und welche Hoffnungen hält sie wohl bereit?»

Carol tat der Kopf weh vor lauter Rätselraten.

Sie sah hinaus auf die Prärie, den ewigen Wechsel zwischen endlosen Feldern in der Ebene und lang hingestreckten, welligen Hügelketten. Die Größe und Weite des Landes, die noch vor einer Stunde ihren Geist angeregt hatten, begannen ihr Angst zu machen. Nie würde sie vertraut werden können mit einer Landschaft, die sich so unkontrollierbar weit ausbreitete. Kennicott war in seine Detektivgeschichte vertieft. Um der Einsamkeit, die einen inmitten vieler Menschen mitunter am meisten bedrückt, Herr zu werden, versuchte sie, die Probleme zu vergessen und die Prärie objektiv zu betrachten.

Das Gras entlang der Bahnlinie hatte man abgebrannt; übrig geblieben war ein rußig kahler Damm, aus dem verkohlte Unkrautstängel wie Stoppeln herausragten. Jenseits der schnurgeraden Stacheldrahtzäune wucherten Goldruten. Nur dieser schmale Heckenschutz trennte sie von der offenen Prärie – herbstlich abgeerntete Weizenfelder (hundert Morgen pro Acker), die aus der Nähe aussahen wie öde graue Stoppeln, aber in diesiger Ferne, auf den sanften Höhen am Horizont, leuchteten sie wie goldbrauner Samt. Die Weizengarben marschierten in langen Reihen wie Soldaten im abgetragenen gelben Waffenrock. Frisch gepflügte Äcker überzogen wie schwarze Fahnen die ­fernen Hänge. Es war eine kriegerische Unermesslichkeit, kraftvoll, ein bisschen rau, von keinem freundlichen Garten gemildert.

Immerhin wurde die schier unendliche Weite hie und da von einer Eichengruppe belebt, in deren Schatten kurzes Steppengras wucherte. Und in Abständen von etwa einer Meile tauchten ganze Ketten kobaltblauer Sumpflöcher auf, über denen flügelschlagend ein Schwarm Stärlinge aufflog.

Ihre mitreißende Vitalität aber verdankten diese riesigen Nutzlandflächen dem Licht. Wie trunken tanzten die Sonnenstrahlen über die freien Stoppelfelder. Die Schatten mächtiger Kumuluswolken glitten unermüdlich über niedrige Hügel, und der Himmel war weiter und höher und von einem viel intensiveren Blau als in der Großstadt … schloss Carol ihre Bilanz.

«Es ist ein fantastisches Land, an dem man wach­sen kann», flüsterte sie gefühlvoll.

Und dann erschreckte Kennicott sie, indem er lachend sagte: «Weißt du, dass die übernächste Station schon Gopher Prairie ist? Gleich sind wir daheim!»

III Jenes eine Wort «daheim» versetzte sie in Panik. Hatte sie sich wirklich und unwiderruflich verpflichtet, in dieser Stadt namens Gopher Prairie zu leben? Und dieser vierschrötige Mann neben ihr, der sich erdreistete, über ihre Zukunft zu bestimmen, er war doch ein Fremder! Sie wandte sich ihm zu und starrte ihn an. Wer war er? Warum saß er an ihrer Seite? Er gehörte nicht zu ihr und ihresgleichen! Sein Hals war dick, seine Ausdrucksweise ungeschliffen, er war zwölf oder dreizehn Jahre älter als sie, und nichts an ihm ­atmete den Zauber geteilter Begeisterung und gemeinsam bestandener Abenteuer. Sie konnte es nicht fassen, dass sie je in seinen Armen geschlafen hatte. Das war bloß einer von den Träumen, die man, wenn man sie hat, tunlichst für sich behält.