Mami braucht 'nen Drink – erst recht an Weihnachten - Gill Sims - E-Book

Mami braucht 'nen Drink – erst recht an Weihnachten E-Book

Gill Sims

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Beschreibung

Frohe Weihnachten und 'nen guten Rausch – ähh Rutsch … Die Kinder verwandeln sich in kleine Dämonen, die Gans verbrennt im Ofen, und die Verwandtschaft findet immer wieder neue Wege, sich komplett danebenzubenehmen.  Dieses Jahr will Mami einfach nur Spekulatius essen und ihren Kindern am Kaminfeuer aus der Weihnachtsgeschichte vorlesen. Aber wie es mit allen von Mamis sorgfältig durchgedachten Plänen ist, gehen sie nicht auf, und ihre chaotische Familie droht auch diesmal das perfekte Weihnachtsfest zu ruinieren. Wenn es wenigstens die Hoffnung auf einen romantischen Kuss unter dem Mistelzweig gäbe! Stattdessen scheint es, dass die Kinder dieses Jahr alle ihre eigenen Pläne haben. Wird Mami es schaffen, einen Lichtblick in all dem Weihnachtschaos zu finden und die Familie für einen Moment zusammenzubringen? Oder sollte sie schon mal Glühwein rausholen? »Sehr unterhaltsam!« Donna »Der Brüller!« Brigitte 

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 373

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Weihnachten – was gibt es Schöneres für Mami. Die Kinder verwandeln sich in kleine Dämonen, die Gans verbrennt im Ofen, und die Verwandtschaft findet immer wieder neue Wege, sich komplett danebenzubenehmen. Da hilft manchmal nur noch der Griff zum Weihnachtslikör … Trotzdem will Mami ihre Vision vom perfekten Weihnachtsfest nicht aufgeben. Aber wie es mit all ihren sorgfältig durchdachten Plänen ist, gehen sie nicht auf. Als Jane und Peter beide verkünden, Weihnachten dieses Jahr erstmals ohne ihre Eltern feiern zu wollen, dämmert es Mami, dass ihre kleinen Küken vielleicht gar nicht mehr so klein sind. Wird Mami es schaffen, ihre Familie doch noch für einen Moment zusammenzubringen? Und sei er noch so chaotisch?

Die Autorin

Gill Sims ist die Bestseller-Autorin der gefeierten Mami-Reihe, die sich weltweit über eine Million Mal verkauft hat. Darin schildert sie mit Witz und Verve den ganz normalen Wahnsinn des Familienlebens. Mit ihrem Mann, zwei Kindern und zwei Border Terriern – einer allein hat wohl nicht für genug Chaos gesorgt – lebt sie in Schottland. Am liebsten trinkt sie Wein, vergeudet ihre Zeit auf Social Media, versucht vergebens, ihre verlorene Jugend nachzuholen, und jagt ständig dem einen Hund hinterher, während sie den anderen verzweifelt davon abhält, unaussprechliche Dinge zu verzehren.

ROMAN

Aus dem Englischen von Ursula C. Sturm

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN 978-3-96161-208-6

Die Originalausgabe »Why Mummy Drinks at Christmas« erschien 2023 bei HarperCollins Publishers Ltd, London.

1. Auflage 2024

© 2023 Gill Sims

© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

© Coverdesign: HarperCollins Publishers Ltd 2023

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © Tom Gauld/ Heart Agency

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Freitag, 1. Dezember

Samstag, 2. Dezember

23. Dezember vor 19 Jahren

Sonntag, 3. Dezember

Freitag, 8. Dezember

Sonntag, 10. Dezember

Mittwoch, 13. Dezember

Sonntag, 17. Dezember

Samstag, 23. Dezember

Sonntag, 24. Dezember

Montag, 25. Dezember

Dank

EMPFEHLUNGEN

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Ich habe Weihnachten immer geliebt. Solange ich denken kann, war ich jedes Jahr überzeugt, dass Weihnachten diesmal perfekt werden würde. Diesmal würden all unsere Träume in Erfüllung gehen: Die Kinder würden fröhlich durchs Haus toben, in ihren rotwangigen Gesichtern würde sich das Entzücken über meine sorgfältig ausgewählten Geschenke spiegeln, und wenn ich den knusprig braunen Truthahn auftrug (auf einer goldenen Servierplatte, die erst noch besorgt werden musste), würden alle überwältigt »Ahh!« und »Ohh!« rufen, und Simon würde »Hach, Ellen, du bist eine veritable Weihnachtsfee!« seufzen und mich unter dem Mistelzweig küssen.

Noch nie war ich mir all dessen so sicher wie dieses Jahr. Diesmal würde es ohne jeden Zweifel ein rundum gemütliches, wunderschönes Weihnachtsfest werden, und zwar schon deshalb, weil wir ausnahmsweise einmal im ganz kleinen Kreis feiern konnten – nur Simon, ich und die Kinder! Das war uns in all den Jahren nämlich nur höchst selten vergönnt. Ich habe Peter und Jane eine halbe Ewigkeit nicht gesehen, und was gibt es Schöneres als eine Familienzusammenkunft zum Fest der Liebe? Die Glückwunschkartenindustrie hat ja eine komplette Produktpalette rund um dieses Ereignis kreiert: Draußen rieselt leise der Schnee, der Nachwuchs purzelt fröhlich lachend zur Tür herein, Groß und Klein ist wieder vereint, rotweiße Zuckerstangen überall …

Meine Vorfreude war riesig. Peter und Jane haben Weihnachten ebenfalls seit jeher geliebt, deshalb war ich wild entschlossen, ihnen dieses Jahr, wo wir endlich einmal nur zu viert sein würden, alles besonders schön zu gestalten. Ich sah uns schon am 24. Dezember gemeinsam vor dem Kamin sitzen – ich würde aus Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens vorlesen und meine fasziniert lauschenden Sprösslinge dabei dann und wann verstohlen betrachten. Der Anblick ihrer vom Schein des flackernden Feuers erhellten Gesichter, die mir so schrecklich gefehlt haben, wäre die Entschädigung für all die harten Zeiten, die hinter uns lagen. Die zwei hatten zwar noch nicht auf meine Mails geantwortet, aber bestimmt waren sie wie ich schon ganz aufgeregt bei der Aussicht auf dieses wunderbare Fest der Liebe.

Vor uns lag das weihnachtlichste Weihnachtsfest aller Zeiten, jawohl! Das bewegende Wiedersehen mit meinen geliebten Kinderchen würde mein einsames, verkümmertes Herz mit Freude erfüllen, bot es doch eine hervorragende Gelegenheit, etwas Quality Time mit ihnen zu verbringen. Ich würde ihnen beim ausgelassenen Umhertollen mit unseren wunderbaren Hunden zusehen, während ich mit Simon Hand in Hand durch von Raureif überzogene Wiesen spazierte (Punkt eins und zwei auf meiner »Das perfekte Weihnachtsfest«-Liste wären damit schon mal erledigt.) Besagte Hunde würden uns entsprechend meiner Vision vom perfekten Weihnachtsfest urplötzlich aufs Wort folgen (Punkt drei: erledigt!). Bei der Rückkehr würde es die oben erwähnten entzückenden Geschenke und den knusprigen Truthahn geben, gefolgt von den Lobeshymnen auf mich, die veritable Weihnachtsfee, dem Küssen unterm Mistelzweig und so weiter und so fort (Punkt vier, fünf, sechs et cetera erledigt, tschakka!). Nichts, absolut gar nichts konnte diesmal meine Pläne vereiteln.

Das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten. Ich konnte es kaum erwarten.

Tja, und heute Vormittag rief mich dann mein in Edinburgh studierendes Fräulein Tochter an. Am Festnetz. Ich wusste gleich, das verheißt nichts Gutes, gehört Jane doch der Generation an, für die Anrufe am Festnetz etwas höchst Unnatürliches sind. Auf derart ungewohntes Terrain wagt sie sich ausschließlich unter Zwang oder in absoluten Notfällen. Ich war nicht sicher, in welcher Kategorie wir uns hier bewegten; ich tippte mal auf Ersteres, denn hätte sie mir lediglich eine Nachricht geschickt, dann hätte ich sie postwendend angerufen und wutentbrannt »Du willst WAS?« gezetert, das war ihr garantiert bewusst. Ja, zweifellos: Sie hatte darauf spekuliert, mich mit diesem Kunstgriff ein klein wenig besänftigen zu können. Mein Baby Girl, meine Erstgeborene, beliebte nämlich, mich telefonisch davon in Kenntnis zu setzen, dass die Eltern ihres Freundes Rafferty sie zu einem Skiurlaub eingeladen hatten, und zwar ausgerechnet über Weihnachten! Tja, was soll man auch erwarten von Eltern, die ihrem Sohn den Namen Rafferty verpassen? (Bin ich die Einzige, die da gleich an Raffgier denkt?)

»Es macht dir doch nichts aus, oder, Mum?«, fragte Jane.

»Du kannst doch gar nicht Skifahren«, wandte ich ein.

»Na, und? Raff bringt es mir bei.«

»Aber du hast keine Skisachen!«, blökte ich. »Hose, Anorak, Brille, Skier!« »Sachen« sind seit jeher der Schlüssel zu ihrem Herzen.

»Jetzt chill mal, Mum. Bei TK Maxx gibt es massenhaft supergünstiges Skizeug. Ich hab mir alles Nötige dort besorgt.«

»Bei TK Maxx gibt es Skier?«, rief ich ungläubig. Wie hatte mir das entgehen können, wo ich mich doch regelmäßig durch das gesamte Schnäppchenangebot bei TK Maxx arbeite? Über dieser Frage vergaß ich einen Moment lang, dass ich an Weihnachten nun wider Erwarten ohne Jane auskommen musste.

»Nein, ich rede von Hose und Anorak und so. Die Skier und die Schuhe leihe ich mir aus.«

»Aber so ein Skiurlaub kostet ein Vermögen! Wie willst du das finanzieren?«

»Raffertys Eltern haben ein Ferienhaus in Verbier, und die Liftkarte schenken sie mir zu Weihnachten. Ich muss also bloß meinen Flug und die Leihgebühr bezahlen, und dafür reicht mein Erspartes locker. Wie du weißt, hab ich einen Teilzeitjob.«

Ich umklammerte das Telefon. Eine Jane, die über Skipisten flitzte, statt mit uns spazieren zu gehen, das entsprach verdammt nochmal ganz und gar nicht meiner Vision vom perfekten Weihnachtsfest. Der Drang, mich in Kleinkind-Manier auf den Boden zu werfen und empört »und was ist mit miiiiir?« zu plärren, war groß, aber ich wusste natürlich, dass sich so ein Verhalten für eine Mutter nicht ziemt. Also rief ich mir in Erinnerung, dass ich mich für Jane freuen sollte. Die Eltern ihres Freundes hatten bei der Wahl des Namens für ihren Nachwuchs zwar einen absolut lächerlichen Geschmack bewiesen, aber, hey, dafür waren sie offenbar geradezu unverschämt gut betucht. Ich meine, ich will nicht, dass Jane diesen Rafferty heiratet – mal abgesehen von allem anderen könnte das nämlich dazu führen, dass meine Enkel noch affigere Namen abbekommen als Persephone und Gulliver, die Kinder meiner Schwester, aber zumindest darf man wohl davon ausgehen, dass Jane im Falle einer Scheidung ganz gut aussteigen würde. Trotzdem war es total unfair, dass mir die stinkreichen Eltern dieses stinkreichen Schnösels mit ihrem bescheuerten Reichtum mein perfektes Weihnachtsfest ruinierten. Diese Aasgeier. Ohne meine kleine Jane war Weihnachten doch kein bisschen weihnachtlich! Da fehlte einfach etwas ganz Entscheidendes.

Ich gab mein Bestes, großes Ehrenwort. Ich holte mehrmals tief Luft und konzentrierte mich mit ganzer Kraft darauf, die unverdrossene Optimistin zu geben, doch es war vergebliche Liebesmüh: Statt wie geplant »Das freut mich sehr für dich, Schatz. Amüsier’ dich schön!« zu flöten, brach ein »Ich halte das für keine gute Idee, Jane« aus mir heraus, gefolgt von: »Es ist eine Sache, wenn du dich in Edinburgh mit diesem Rafferty triffst, aber mit ihm ins Ausland zu reisen, das ist eine ganz andere Nummer. Wer ist dieser Junge überhaupt? Du hast ihn uns noch gar nicht vorgestellt. Er könnte alles Mögliche sein, ein krimineller Menschenhändler beispielsweise. Was, wenn es gar kein Ferienhaus gibt? Wenn er dich nur in ein Flugzeug lockt, um dir den Pass abzunehmen und dich als weiße Sklavin zu verkaufen?«

»MUM!«

»Sowas kommt vor! Weiß ich aus der Sendung Panorama!«

»Von den Ausschnitten aus Panorama, die die Leute auf Twitter posten, meinst du wohl! Du schaust dir doch höchstens Das perfekte Dinner und die Wiederholungen von My Big Fat Gypsy Wedding an! Raff ist kein Menschenhändler. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Wir sind seit Monaten zusammen.«

»Aber du warst noch nicht mit ihm im Ausland!«

»Herrgott nochmal, Mutter, ich fliege bloß nach Verbier! Du klingst ja wie einer dieser fremdenfeindlichen Schnösel in den Romanen von Nancy Mitford!«

»Nun ja, in einigen Punkten hat dieser Onkel Matthew aus Englische Liebschaften durchaus recht«, brummte ich.

»Hör auf, die Daily Mail zu lesen. Raff ist harmlos.«

»Woher willst du das wissen? Kennst du seine Eltern?«

»Noch nicht. Er stellt mich ihnen nächste Woche vor.«

»Also, mal angenommen, er ist kein Menschenhändler: Was, wenn deine Ausrüstung nichts taugt? Dieser Billigkram von TK Maxx dürfte wohl kaum die richtige Wahl sein. Und hast du an Skiunterwäsche gedacht, oder soll ich dir eine lange Unterhose schicken?«

Um meine Enttäuschung darüber, dass Jane die Weihnachtsfeiertage nicht mit uns verbringen würde, zu kaschieren, wandte ich mich sogleich einer Beschäftigung zu, bei der ich in Zeiten emotionaler Belastung stets Trost finde: Panikshoppen.

»Du brauchst ordentliche Thermounterwäsche«, beharrte ich, während ich fieberhaft scrollte. »Ich bin gerade auf der Seite von John Lewis; da gibt es tolle Sachen aus Merinowolle. Hm, und hast du Skisocken? Ach, John Lewis führt keine Skisocken. Gut, sehen wir mal nach bei … Na, also. Warst du überhaupt mal auf der Seite von Nevisport? Du könntest dir Frostbeulen zuziehen oder durch Erfrierungen sogar ein paar Zehen verlieren! Du könntest an Unterkühlung sterben oder von einer Lawine erfasst werden. Mit Lawinen kenne ich mich aus, ich hab alle Bände der Chalet-School-Reihe geles-«

»Jetzt hör schon auf, Mum. Es ist echt immer dasselbe!«

»Was?«

»Du malst dir jedes Mal irgendwelche Katastrophenszenarien aus, und dann versuchst du zwanghaft, die Kontrolle an dich zu reißen.«

»Gar nicht wahr. Ich ziehe lediglich all das in Betracht, was schlimmstenfalls passieren könnte, …«

»Katastrophenszenarien!«

»… und dann bemühe ich mich, zu helfen.«

»Du reißt die Kontrolle an dich! Du bist ein totaler Kontrollfreak, Mum!«

»Das ist wirklich unfair. Ich hab dir übrigens gerade Thermounterwäsche und Skisocken bestellt.«

»Ich habe alles, was ich brauche, und ich kann verdammt nochmal darauf verzichten, dass du dich einmischst!«

»Von Einmischung kann keine Rede sein. Ich hatte den Eindruck, dass du das alles überhaupt nicht richtig durchdacht hast, also habe ich dir unter die Arme gegriffen. Kein Grund, deswegen sauer auf mich zu sein.«

Zumal ich dir helfe, obwohl du mich zur schönsten Zeit des Jahres im Stich lässt, um dich stattdessen mit deinem stinkreichen Freund und seinen dämlichen Eltern zu vergnügen, dachte ich verdrießlich.

»Schluss damit, Mum!«

»Was hab ich denn getan? Du bist doch hier diejenige, die nicht nach Hause kommt. Ist ja weiß Gott nicht so, als hättest du Weihnachten ruiniert oder so«, keifte ich sarkastisch.

»Ich habe Weihnachten nicht ruiniert!«

»So, so. Was ist eigentlich mit Silvester?«

»Was soll damit sein?«

»Na, wo bist du an Silvester? Kommst du da nach Hause?«

»Weiß ich nicht! Ich habe keine Ahnung, wo ich an Silvester sein werde! Vielleicht breche ich ja das Studium ab und fliege von Verbier direkt nach Ibiza zu Persephone, um dort wie sie als Shot-Girl zu jobben.«

»Nein! Du wirst nicht zu deiner Cousine nach Ibiza fliegen und dich als Shot-Girl verdingen!«

»Doch, das werde ich, wenn ich Bock drauf habe! Warum hörst du mir nicht zu? Es ist verdammt nochmal mein Le-ben!«

»Jane, ich …«

»Ach, lass mich einfach in Frieden, Mum. Und ich habe Weihnachten nicht ruiniert, das war echt gemein von dir!«

»Jane, bitte …«

Zu spät. Sie hatte aufgelegt.

Ich setzte mich auf den Fußboden und vergoss ein paar Tränen. Ich wollte doch bloß an Weihnachten meine Familie um mich haben! Ich wollte am 25. Dezember morgens meine Kinder umarmen und ihnen dann dabei zusehen, wie sie ihre Strümpfe plünderten. Ich wollte mit ihnen ein paar gottverdammte Weihnachtslieder singen, Mince Pies futtern und das schönste Fest der Liebe aller Zeiten feiern. War das denn zu viel verlangt? Jane jedenfalls zog es vor, in irgendein gottverdammtes Winterparadies im Ausland zu fliegen. Wo zum Teufel liegt dieses Verbier überhaupt? In Frankreich oder in der Schweiz? Ich sollte wohl nachsehen, damit ich zumindest wusste, wofür ich sitzen gelassen wurde. Nicht, dass mir noch einmal so ein peinlicher Fauxpas unterlief wie damals, als ich dachte, Jane wäre auf Schulexkursion in Frankreich, tatsächlich befand sie sich jedoch in Belgien. Laut Jane war das nicht eben eine Sternstunde meines Mutterdaseins, und als ich zu meiner Verteidigung vorbrachte, so ein Fehler könne einem bei Nachbarländern schon mal unterlaufen, hatte sie beharrt: »Das ist doch wohl das Mindeste, was man von einer Mutter erwarten kann, dass sie weiß, in welchem Land sich die eigene Tochter befindet!« Tja, und jetzt flog sie mit irgendeinem dahergelaufenen Lümmel in den Skiurlaub.

Ich schluchzte noch ein wenig weiter, irritiert beäugt von den Hunden. Mein geliebter Border Terrier Judgy (nicht mehr der Jüngste, aber noch genauso bockig wie eh und je) nieste mich an, was so viel hieß wie: »Los, aufstehen! Es ist Zeit, meinen Fressnapf zu füllen!« Judgy war Gefühlsduselei ein Graus – von Tränen wird sein Fell nass, und das kann er nicht ausstehen. Flora, mein schon recht betagter zweiter Border Terrier (sie war fünfzehn, als ich sie zu uns geholt habe, um ihr einen Lebensabend im Tierheim zu ersparen, dennoch ist sie fit wie ein Turnschuh, bis auf ihre leichte Blasenschwäche, aber die kriegen wir ja alle ab einem gewissen Alter), brachte mir, um mich aufzumuntern, einen labbrigen Gummiknochen. Und Barry, mein »Pferd« (als ich ihn adoptiert habe, war er schon verhältnismäßig groß, und die freundliche Dame aus dem Tierheim versicherte mir damals, er sei bereits ausgewachsen, was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, weiter zu wachsen), vollführte seine tollsten Kunststücke in dem Bemühen, mich zum Lachen zu bringen. Am Ende stellte er sich mit den Vorderpfoten auf Judgy, der vehement protestierte, und Flora, die nicht recht wusste, was das alles sollte, stürzte sich ebenfalls ins Getümmel. Damit war ich jäh gezwungen, meine Selbstmitleidsorgie zu beenden und das Fellknäuel wieder in drei Hunde aufzudröseln. Ich verteilte Leckerlis, wischte mir die Tränen von den Wangen und sagte mir, dass sich Jane schon wieder einkriegen würde. Früher oder später musste sie doch erkennen, dass ich ihr wirklich nur bei der Urlaubsplanung hatte helfen wollen.

Hm. Ob ich statt des bereits bestellten Truthahns einen kleineren Braten besorgen sollte? Nein, Peter kam ganz sicher nach Hause. Wobei er mir seine Flugzeiten noch nicht mitgeteilt hatte, obwohl ich ihn schon hundertfünfundsiebzigtausend Mal daran erinnert hatte, dass ich dringend wissen musste, wann er kam, um die nötigen kulinarischen Vorkehrungen treffen zu können. Schließlich war er seit drei Monaten unterwegs.

Peter hatte vom Tag seiner Geburt an in einer Tour den Schnabel aufgerissen wie ein verzweifelt um Nahrung bettelndes Vogelküken. Und da er zurzeit sein Gap Year damit zubrachte, Asien zu bereisen, ging ich davon aus, dass er bei seiner Rückkehr ausgehungerter denn je sein würde. Seinen Instagram-Videos nach zu urteilen ernährte er sich überwiegend von Bier und Tequila Shots. Zumindest müsste er dank der Limettenspalten von Skorbut verschont bleiben. Hoffentlich bleibt er auch von diversen anderen Krankheiten verschont … Ich habe ihm seinem Protest zum Trotz vorsorglich drei Jumbo-Packungen Gummis in den Rucksack gesteckt. Na, jedenfalls stand zu befürchten, dass er sich den gesamten Inhalt unseres Kühlschranks auf einmal einverleiben würde. Hm. Vielleicht sollte ich eher noch einen zweiten Truthahn bestellen, nur für Peter? Ihn ein wenig mästen, ehe er seine Weltreise fortsetzte?

Ich gab mir Mühe, es positiv zu sehen: Dieser Skiurlaub war eine tolle Gelegenheit für Jane, und zugleich bot er mir die Möglichkeit, mich an Weihnachten ganz meinem Sohnemann zu widmen und ihm ungestört zu lauschen, wenn er von seinen Erlebnissen berichtete. Ich sah uns schon am Kamin sitzen und Brettspiele spielen, ganz ohne die üblichen Nettigkeiten à la »Fick dich ins Knie«, die Jane und er für gewöhnlich austauschten. Ja, es konnte trotz allem noch ein märchenhaftes Weihnachtsfest werden …

Und da landete mit einem »Pling« eine Mail von Peter in meiner Inbox.

Yo Ma,

ich bleibe in Thaland Weihnachten is hier ne Beachparty hoffe du bist nich sauer is krass viel los hier dass ich nich verpassen will und so spart ihr euch die Kole fürn Flug wir sehn uns dann ostern

x

Es kostete mich einige Mühe, mir einen Reim auf seine vor Fehlern strotzende Mitteilung zu machen (»Liebstes Mütterlein, ich habe beschlossen, an Weihnachten nicht in den Schoß meiner mich liebenden Familie zurückzukehren, stattdessen gedenke ich, an einem Strand in Thailand zu saufen, bis der Arzt kommt, und mir womöglich die eine oder andere Penicillin-resistente Geschlechtskrankheit einzufangen. Ich hoffe sehr, damit weder deinen Unmut zu erregen, noch dir Unannehmlichkeiten zu bereiten, weil ich damit dein zweifellos raffiniertes, von langer Hand geplantes Programm für die Feiertage durcheinanderbringe. Es gibt hier so viel mehr von Interesse für mich, liebste Mutter, allem voran Mädchen in Bikinis und so manch andere Dinge, mit denen ich dein zartes mütterliches Gemüt nicht weiter belasten möchte. Die Sache hat gleich mehrere positive Nebeneffekte – nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch für die Umwelt: Die eingesparten Flüge kommen eurem Kontostand zugute, verbessern meinen ökologischen Fußabdruck und verringern das Leid der Eisbären. Gut möglich, dass ich euch in nicht allzu ferner Zukunft mit meiner Anwesenheit beehren werde. In ewiger Liebe, dein einziger Sohn Peter.«) Ich wusste nicht, was schlimmer war – der Inhalt der Nachricht oder die erschreckende Ahnungslosigkeit meines Sohnes in Sachen Interpunktion, Grammatik und Rechtschreibung.

Erst also Jane, und jetzt auch noch Peter. Nun freu dich doch für die beiden, Ellen, ermahnte ich mich. Sei froh, dass Jane einen stinkreichen Schnösel – ähem – einen gut betuchten und sympathischen jungen Mann kennengelernt hat, mit dem sie womöglich den Rest ihres Lebens verbringen wird. (Wobei ich mich bislang offenbar nicht als würdig erwiesen habe, diesem Goldknaben vorgestellt zu werden.) Sei froh, dass sich Peter so toll entwickelt hat, nachdem er jahrelang nur in seinem Zimmer gehockt, schier unfassbare Mengen an Doritos verdrückt und mit seinen ähnlich menschenscheuen besten Freunden Lucas und Toby Dungeons & Dragons gespielt hat. Gemeinsam mit ebendiesen Freunden hat er sich dann in der zwölften Klasse neu erfunden; aus den drei schlurfenden Schlaffis mit Kellerbräune wurden urplötzlich die Party Boys des Jahrgangs. Natürlich finde ich es toll, dass diese Metamorphose Peter mit dem nötigen Selbstvertrauen ausgestattet hat, vor dem Studium die Welt zu bereisen, zugleich jedoch sehne ich mich bisweilen nach den Zeiten, als ich noch stets haargenau wusste, wo er steckte (unter der Bettdecke) und was er trieb (pupsen und Minecraft spielen). Heutzutage bedarf es einer wahren Flut von E-Mails, um zu eruieren, ob er noch am Leben ist; ja, ich muss quasi damit drohen, die britische Botschaft des Landes, in dem er sich gerade befindet, zu kontaktieren, sollte er seiner besorgten Mutter nicht auf der Stelle antworten.

Auf meinen Versuch, mich mit Peters Vater, meinem geliebten Göttergatten, in der Angelegenheit zu beraten, werde ich mit der Aussage abgespeist, das Reisen werde Peter »guttun« und »seinen Charakter formen.« Ich vermute mal, Simon denkt dabei an das Geld für den Flug, das wir uns sparen, sowie an die deutlich reduzierten Lebensmittelkosten an Weihnachten. Auch Janes geplantem Skiurlaub mit Rafferty dem Reichen steht er gelassen gegenüber. Er murmelt etwas, das verdächtig nach »überreizt« und »überzogene Reaktion« klingt, als ich jedoch nachhake, behauptet er, er habe nichts gesagt. Hmpf. Als träfen Formulierungen wie »überreizt« und »überzogene Reaktion« auf mich zu!

»Die letzten zwanzig Jahre hast du dich ständig nach ein wenig Ruhe gesehnt«, erinnert mich Simon. »Und jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind, machst du plötzlich auf Muttertier und willst sie unbedingt zurückhaben!«

»Naja, damals kam es mir eben so vor, als würden sie nie erwachsen werden und ausziehen!«, erkläre ich weinerlich. »Da wollte ich doch bloß mal in Frieden pinkeln gehen können, ohne dass jemand an die Klotür hämmert und etwas von mir verlangt. Ich wollte weiß Gott nicht, dass sie ans Ende der Welt reisen und dort für immer und ewig bleiben.«

»Verbier liegt nicht am Ende der Welt, sondern in der Schweiz.« Ah, also doch nicht Frankreich. Gut zu wissen. »Selbst Thailand ist heutzutage nicht mehr so weit weg. Und von ›für immer und ewig‹ kann auch keine Rede sein, sie sind bloß an Weihnachten nicht da.«

Bloß an Weihnachten! Simon hat echt keinen Schimmer, ey.

Übellaunig schenke ich mir ein Glas Wein ein und setze mich ins Wohnzimmer, allein. Hier hocke ich nun von allen verlassen am Kamin, dabei wollte ich heute die perfekten Stellen aus Eine Weihnachtsgeschichte zum Vorlesen aussuchen.

Eigentlich sollte ich mich über diese Entwicklung freuen, schließlich verspricht ein Weihnachtsfest in trauter Zweisamkeit bedeutend unkomplizierter zu werden. Ich sollte jubeln, weil zur Abwechslung keine Berge von Kartoffeln geschält werden müssen, weil es keinen Zoff wegen der Bratensoße geben und weil niemand Panik schieben wird, dass die berühmte eingemachte Rote Beete, die Granny Green Jessica und mir anno 1989 zu Weihnachten überreicht hat (und die Jahr für Jahr feierlich auf den Tisch gestellt, aber nicht gegessen wird), am Ende Schimmel angesetzt hat.

Sehr verlockend finde ich auch die Aussicht, mal nicht mit meinen und Simons engsten Angehörigen mühevoll aushandeln zu müssen, wo, wann und wie genau gefeiert werden soll. Je älter und wilder Peter und Jane wurden, desto häufiger ließen ihre Großeltern im Laufe der Jahre verlauten, man könne »gerne auch mal woanders Weihnachten feiern als bei ihnen« – ganz egal wo. Für gewöhnlich bedeutete das, dass alle bei uns zusammenkamen, denn Simons Eltern leben seit einigen Jahren in Frankreich, da hieß es dann oft: »Weihnachten ist eine schöne Gelegenheit, die Heimat zu besuchen und Freunde zu treffen«, und »Es macht euch doch nichts aus, uns zu beherbergen, oder?« Seltsamerweise fiel die Wahl eher selten auf Simons Schwester Louisa, die neben sechs nicht ganz stubenreinen Kindern die Angewohnheit hat, nackt Gedichte vorzutragen und etwaige Besucher in »ganzheitliche« Heilrituale zu verwickeln, wenn sie am wenigsten damit rechnen. Wobei ich beim Anblick der Trauerränder unter ihren Fingernägeln jedes Mal denke, dass Reiki immerhin ein Gutes hat: Man wird dabei nicht angefasst. Meine Schwester Jessica hatte im Gegensatz zu mir immer recht schnell einen Grund parat, warum Weihnachten unmöglich bei ihnen gefeiert werden konnte. Zumeist lag es daran, dass sie viel zu wichtig und beschäftigt war.

Unsere Eltern ließen sich scheiden, als wir im Teenageralter waren; damit hätte sich unsere Familie rein theoretisch um etliche Mitglieder erweitern müssen, die als potentielle Ausrichter der Feierlichkeiten infrage kamen, doch bei meinem Vater wusste man nie so recht, mit wem er bis Weihnachten verheiratet sein würde, und mehr als einmal war er ärgerlicherweise an eine Frau geraten, die darauf bestanden hatte, im Winter eine Kreuzfahrt zu machen, was sich mit der Organisation einer Weihnachtsfeier ja eher schlecht vereinbaren lässt.

Eine schöne Winterkreuzfahrt wäre wohl auch ganz nach dem Geschmack meiner Mutter gewesen, doch da sie sich ihren zweiten Ehemann Geoffrey just auf einer Kreuzfahrt geangelt hat (gegen seinen Willen, wie ich vermute), verweigert er sich derlei Unternehmungen seither. In Ermangelung der Kreuzfahrt-Ausrede führte meine Mutter meist ins Treffen, sie habe leider, leider zu viel mit den Blumengestecken für ihre Kirche zu tun, zudem reagierten angeblich sowohl Geoffrey als auch ihre Katzen sehr empfindlich auf Veränderungen, ansonsten würde sie natürlich liebendgern als Weihnachtsgastgeberin fungieren. Somit blieb für gewöhnlich alles an mir hängen. Und an Simon natürlich, aber überwiegend an mir. Und so knurrte ich alle Jahre wieder im Dezember O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! oder schluchzte alternativ Stille Nacht, heilige Nacht vor mich hin, während ich wahllos mit Mistel- und Stechpalmenzweigen um mich warf und versuchte, alle Wünsche, Vorstellungen, Erwartungen und Traditionen unserer Gäste unter einen Hut zu bringen, ganz zu schweigen von ihren Ängsten, Allergien und Unverträglichkeiten (seien es nun ernährungsbedingte oder – wie im Falle meines grässlichen Stiefvaters Geoffrey – rassistisch motivierte).

Doch diesmal ist die unvermeidliche E-Mail-Flut zu meiner Verwunderung ausgeblieben. Es gab keine Anrufe mit allerlei Andeutungen, und es hat sich auch niemand ganz ungeniert selbst eingeladen. Alle haben bereits andere Pläne: Simons Eltern Sylvia und Michael taten telefonisch kund, sie seien zu Weihnachten bei lieben Freunden eingeladen, die ein »ausgesprochen charmantes kleines Château in der Dordogne besitzen«; Jessica und Neil haben beschlossen, mit Persephone und Gulliver in London zu feiern, da ihre Vorzeige-Sprösslinge mittlerweile groß und Sippen-Weihnachtsfeiern somit albern sind (Jessica konnte es sich nicht verkneifen, mir unter die Nase zu reiben, dass sie das Essen von einem Caterer liefern lassen wird); meine verwitwete Stiefmutter Natalia, die letzte Ehefrau meines Vaters, besucht über Weihnachten Verwandte in Russland (schade eigentlich, sie ist mit Abstand das normalste Mitglied meiner Familie), und Mum und Geoffrey wollen zu Geoffreys Tochter Sarah und deren Ehemann Piers fahren, denn die beiden sind zu dem Schluss gekommen, dass sie sich nun, da ihre überaus begabte Tochter Orla fast zehn ist, vorstellen können, auch einmal die Weihnachtsgastgeber zu sein. Mum hat doch glatt versucht, mir über die Feiertage ihre vier siamesischen Katzen aufs Auge zu drücken, und reagierte auf meine Bemerkung, meine drei Hunde würden sich zweifellos mit großer Begeisterung über dieses vermeintliche Weihnachtsbüffet hermachen, mit einem indignierten »Tja, mach dir bloß keine Vorwürfe, falls sie traumatisiert aus der Katzenpension zurückkommen.« Louisa wiederum hat sich völlig unerwartet mit Bardo dem Widerlichen, ihrem »Ehemann«, versöhnt. Keiner von uns weiß, ob ihre heidnische Handfasting-Zeremonie überhaupt rechtsgültig ist, jedenfalls hat sie ihn vor über zehn Jahren verlassen, nachdem er versucht hat, ihr eine durchgeknallte reiche Ami-Braut, die seinem »alternativen Retreat« in Schottland einen Besuch abgestattet hatte, als »Schwester-Gattin« unterzujubeln. Wie auch immer, kürzlich informierte Louisa ihren Bruder, sie wolle Weihnachten ebenfalls en famille verbringen, sprich, mit Bardo und ihren sechs Dreckspatzen in seiner Jurte, und fragte bei der Gelegenheit auch gleich, ob ihr Simon dem wahren Geiste der Weihnacht entsprechend wohl zweihundert Pfund borgen könne, sie müsse für die Fahrt dorthin noch tanken.

Bis vor ein paar Stunden habe ich mich also noch so richtig auf Weihnachten zu viert gefreut – nur Simon, Jane, Peter und ich! Kein Geoffrey, für den extra eine Brotsoße zubereitet werden muss, während Jessica hysterisch gegen Gluten und Kohlenhydrate wettert. Keine Louisa, die immerzu betont, sie würden sich ja alle vegan ernähren, während sich ihre Kinder mit Haribo-Süßkram vollstopfen, ganz zu schweigen davon, dass sie selbst jedes Glas leert, das sie in die Finger kriegt, um dann in ihrem Suff zwölf Würstchen im Schlafrock zu verschlingen. Keine Sarah, die sich vergewissert, dass auch wirklich alle Küchengeräte sterilisiert sind, wegen der Keime, während sich Orla eine Handvoll Hundekekse mit Flora, Judgy und Barry teilt. Keine unschöne Auseinandersetzung zwischen Mum und Natalia wegen Dad, weil Mum nach mehreren Gläsern Gin Tonic plötzlich kundtut: »Jeder weiß, dass ich für Ralph die Liebe seines Lebens war! Ich hätte ohne weiteres das Testament anfechten können!«, und das, obwohl er vor dreißig Jahren die Scheidung eingereicht hat.

Ja, dachte ich deshalb, Weihnachten verspricht endlich einmal absolut märchenhaft zu werden, ganz ohne Gäste, mal abgesehen von der klitzekleinen, sehr zivilisierten Cocktail-Party am 24., zu der nur meine beste Freundin Hannah und ihr Mann Charlie sowie mein bester Freund Sam und dessen Mann Colin eingeladen sind, samt den dazugehörigen Kindern natürlich, die dank einer glücklichen Fügung des Schicksals die besten Freunde unserer Kinder sind. Und am 25. Dezember würden wir uns dann zu viert über den Truthahn von Marks & Spencer hermachen. In einem Anfall von Leichtsinn habe ich diesmal das gesamte Festessen bei Marks & Spencer bestellt, damit ich nicht wieder den ganzen Heiligabend mit dem Schälen von Kartoffeln zubringen muss. Wie oft habe ich Sir Walter Raleigh, der die verdammten Knollen in England eingeführt hat, schon das Kreuz abgeflucht! Kein Wunder, dass ihn Königin Elisabeth I später enthaupten ließ. Früher oder später habe ich mit den Worten »Ich kann nicht mehr!« unweigerlich das Schälmesser in die Spüle gepfeffert und bin heulend hinaus in den Garten gestürmt, um mir auf der Bank hinter dem Haus eine Marlboro Gold anzustecken. (Ich gebe zu, für die Einführung des Tabaks bin ich Sir Walter Raleigh dann doch zu Dank verpflichtet.) Dieses Jahr muss ich lediglich einen Stapel Aluschalen mit überteuerten Beilagen in den Ofen schieben, und schwuppdiwupp ist das Festmahl servierbereit. Ich war mit meiner Bestellung sogar so früh dran, dass ich noch einen Click-&-Collect-Slot am 23. Dezember ergattert habe. Yippie, dachte ich zu dem Zeitpunkt, das hätten wir!

Tja, von wegen. In all den Jahren, in denen ich an Weihnachten mit einer Zigarette und einem großen Glas Weißwein draußen im Garten gesessen und mir mit einem Blick zu den Sternen hinauf gewünscht habe, die ganze Bande möge sich in Luft auflösen, ist mir nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass ich damit ja auch meine Kinder zum Teufel wünschte und tatsächlich eines Tages ohne sie dastehen würde. Was nun? Simons Mitleid hält sich naturgemäß in Grenzen. Ich beschließe, mir noch ein Gläschen Wein zu gönnen und in Erfahrung zu bringen, wie die Sachlage bei meinen Freunden ist. Sollten Hannah und Sam wie ich von ihrem Nachwuchs im Stich gelassen werden, würde mich das zweifellos trösten (beziehungsweise eine gewisse Schadenfreude bei mir hervorrufen), sollte sich dagegen herausstellen, dass ihre Kinder nach Hause kommen, dann kann ich meine kleinen Lieblinge vielleicht mittels emotionaler Erpressung dazu bewegen, es ebenfalls zu tun.

Auf meine WhatsApp im entsprechenden Gruppen-Chat hin teilen mir die beiden mit, ihr Sohn Lucas habe die gleiche Nummer wie Peter abziehen wollen, worauf er allerdings die klare Ansage »Auf gar keinen Fall!« erhalten hat – er wisse doch, dass seine Großeltern am 27. Dezember ihre Goldene Hochzeit feierten, und deshalb habe er gefälligst spätestens am 23. auf der Matte zu stehen. Und Hannah hat wie ich zwiespältige Gefühle, was die Weihnachtspläne unserer Söhne betrifft.

Hannah: Es ist einfach so weit weg, und er ist immer noch mein Baby! Ja, ich weiß, genau genommen ist Edward mein Baby, schließlich ist er erst vier. Ganz ehrlich, was hab ich mir dabei gedacht, in meinem Alter nochmal ein Kind in die Welt zu setzen? Darauf müsst ihr nicht antworten, okay? Sambuca-Shots haben eben allerlei Nebenwirkungen, und so eine zweite Eheschließung auch. Trotzdem ist Lucas nach wie vor mein Baby! Ich weiß, es wäre nicht das erste Mal, dass ich Weihnachten nicht mit ihm feiern kann, schließlich waren die Kinder früher ja auch gelegentlich bei meinem Ex, aber das ist was anderes. Diesmal ist er am anderen Ende der Welt, noch dazu allein!

Ellen: Naja, Peter ist bei ihm – vorausgesetzt, wir erlauben ihnen, dort zu bleiben – vermutlich nebst einer ganzen Horde attraktiver Mädchen. Wie sollen wir es ihnen verbieten? Sie würden es uns garantiert übelnehmen, wenn wir sie zwingen, nach Hause zu kommen. Aber wenn wir es nicht tun, können wir Weihnachten gar nicht richtig genießen, weil wir uns so schreckliche Sorgen machen. Und Jane kommt auch nicht. Was hat Emily vor?

Hannah: Sie hat nicht erwähnt, dass sie nicht kommt, also nehme ich an, dass sie kommen wird. Aber sie scheint zu erwarten, dass ich auf telepathischem Wege errate, wann und wie sie anreisen wird … Ach, Kacke!! Ellen, was meinst du, wie viel Salzteig darf ein Vierjähriger maximal verzehren?

Ellen: Ähm, gar keinen? Das Zeug ist doch ziemlich salzig.

Hannah: Shit, Shit, Shit! Ich wollte die superkreative Mami raushängen lassen und hab für den Kindergarten Weihnachtsdeko aus Salzteig ausgestochen, und Ed behauptet gerade, er hätte alle Rentiere aufgefuttert, während ich am Handy war. Lass mich das mal eben googeln … Ich kann unmöglich schon wieder in der Notaufnahme antanzen! Als ich letztens mit ihm dort war, weil er sich eine getrocknete Erbse in den Schniedel gesteckt hatte, hat man mir damit gedroht, das Sozialamt zu benachrichtigen, wenn ich weiterhin so oft komme. Ich melde mich später, ja?

Arme Hannah. Ich sehe förmlich vor mir, wie sie hektisch »Wie viel Salzteig ist für einen Vierjährigen gefährlich?« googelt. Aber dafür hat sie mit ihrem alles andere als geplanten Nachzügler Edward zumindest jemanden, mit dem sie Salzteig-Rentiere ausstechen kann. Ich bin nicht besonders kreativ veranlagt, aber Weihnachtsbastelei macht mir seit jeher Spaß. Bekümmert werfe ich einen Blick in den verstaubten Karton mit den Bastelsachen, der seit Jahren unbeachtet im Verschlag unter der Treppe steht: eingetrockneter Glitzerkleber, bunte Eisstäbchen, zerknittertes Seidenpapier – welch passend tristes Sinnbild für meine längst verpufften Hoffnungen und Träume!

»Hast du Lust, Weihnachtsdeko aus Salzteig mit mir zu machen?«, frage ich Simon, der in diesem Moment vorbeigeht. »Wir könnten sie als Anhänger für unsere Geschenke verwenden. Hab ich auf Insta gesehen.«

»Du hast gesagt, du willst nie wieder was mit ›diesem gottverdammten Salzteig‹ zu tun haben, als du damals bis drei Uhr nachts wach warst, um Weihnachtsdeko für den Stand auf dem Weihnachtsbasar des Eltern-Lehrer-Verbands zu basteln«, erwidert Simon konsterniert. »Wie zum Teufel kommst du jetzt darauf, Geschenkanhänger aus Salzteig zu basteln?«

»Na, wegen der vorweihnachtlichen Stimmung, und weil ich dachte, es macht dir vielleicht Spaß, ein bisschen mit mir zu basteln«, flunkere ich, weil ich natürlich auf keinen Fall zugeben kann, dass er recht hat, und versuche dabei, die in mir aufsteigenden Erinnerungen an jene grauenhafte Nacht zu verdrängen. »Und wenn sie getrocknet sind, schreiben wir mit meinem Kalligraphie-Stift aus dem Pound-Shop Made by Simon oder Made by Ellen oder Made by Mummy & Daddy drauf, damit die Kinder und alle anderen wissen, dass wir unsere Geschenke mit viel Liebe verpackt haben.«

»Wozu?«, fragt Simon. »Dir ist schon klar, dass diese Salzteigdinger das Porto in die Höhe treiben werden? Außerdem zerbrechen sie unterwegs womöglich. Mal ehrlich, Ellen, warum macht es dir so zu schaffen, dass Jane nach Verbier fliegt und Peter in Thailand bleibt? Als die Kinder im Sommer nicht mehr mit uns Urlaub machen wollten, hast du so gelassen reagiert! Du warst direkt begeistert. Selbst als Peter damals mit seiner Oberstufenklasse auf Zakynthos war, hattest du kein Problem damit. Genauso wenig wie damit, dass Jane mit Persephone auf Ibiza Urlaub gemacht hat. Okay, bis Persephone verkündet hat, dass sie dort bleiben will, um als Shot-Girl zu jobben.«

»Das war etwas ganz anderes.« Ich seufze.

Wie soll ich Simon verklickern, dass man das nicht vergleichen kann? Ein ganzer Sommer mit zwei Kleinkindern ist der reinste Horror: Man ist gezwungen, den gesamten Jahresurlaub am Stück zu nehmen, weil die Sprösslinge nun mal acht Wochen lang betreut werden müssen. Alles ist exorbitant teuer, der Nachwuchs fordert toujour Essen oder Bespaßung, und dazu kriegt man ständig dieses beknackte »Du hast nur achtzehn Mal den Sommer mit den Kids, genieß jeden einzelnen!« unter die Nase gerieben – und das, nachdem man den ganzen Tag in einem Streit um ein gottverdammtes Eis am Stiel vermitteln musste, der drohte, sich zum Dritten Weltkrieg auszuwachsen. Für Weihnachten dagegen gilt bekanntermaßen: Ihr Kinderlein kommet – und zwar nach Hause, das gehört sich einfach so! Bei der Ankunft sollte es draußen leicht schneien (nur etwas festliches Gestöber, kein ausgewachsener Schneesturm, bei dem der Verkehr zum Erliegen kommt), und wenn die rotwangigen, mit Geschenken beladenen Bambini dann lachend zur Haustür hereinstolpern, in geschmackvolle Dufflecoats, goldige Bommelmützen und kuschelige Schals gehüllt, werden sie empfangen von der stolz strahlenden Mama, die ihre Küken im Nest willkommen heißt …

Als ich Simon beim Abendessen mit Tränen in den Augen diese Vision schildere, die nun unweigerlich der Vergangenheit angehört, droht er mir damit, unser Abo für den Hallmark Movies Channel zu kündigen.

»Sieh es doch mal als Chance für uns, Ellen«, sagt er. »Wir haben Peter und Jane zwanzig Jahre lang unser Geld, unseren Schlaf und unsere geistige Gesundheit geopfert. Und du hast immer gesagt, Erziehung sollte darauf abzielen, aus Kindern resiliente, selbstständige Menschen zu machen. Genau das sind die beiden doch jetzt, oder? Sowas ist kein Grund, Trübsal zu blasen, im Gegenteil – wir sollten uns dazu beglückwünschen, dass wir so einiges richtig gemacht haben.«

»Jane ist nicht der Ansicht, dass ich irgendetwas richtig gemacht habe«, wende ich geknickt ein. »Sie hat mich einen Kontrollfreak genannt, der sich andauernd einmischt. Und überhaupt können die zwei meinetwegen das ganze Jahr über resilient und selbstständig sein, aber nicht an Weihnachten! Da haben sie sich gefälligst nach ihrem geliebten Mütterlein zu sehnen und in den Schoß ihrer Familie zurückzukehren, damit wir uns fröhlich lachend vor dem Kamin versammeln können, um Kastanien zu rösten, oder vor dem Klavier, um Weihnachtslieder zu singen.«

»Ich mein’s ernst, das Hallmark-Abo wird morgen gekündigt«, knurrt Simon. »Im Übrigen besitzen wir kein Klavier, und wir haben ein einziges Mal Kastanien geröstet, und danach musste Peter mit Verbrennungen zweiten Grades in die Notaufnahme. Und jedes Jahr, Liebling, jedes verdammte Jahr, redest du schon Anfang Dezember von nichts anderem mehr als von deiner Weihnachtsvision, von ›Freude und Frieden allen Menschen, die guten Willens sind‹ und erstellst fieberhaft Pinterest-Boards mit allerlei bizarren Gestecken aus Stechpalmenzweigen, und dann verstreust du im ganzen Haus Efeu und Mistelzweige und krakeelst dabei übellaunig Weihnachtsduft in jedem Raum, und am Ende schickt uns die Tierärztin eine saftige Rechnung, weil die Hunde das verflixte Grünzeug gefressen haben, und du wirst immer gereizter, weil sich niemand deiner gottverdammten Vision entsprechend benimmt. Du bist nämlich durchaus ein klitzekleiner Kontrollfreak.«

»Bin ich nicht!«

»Und spätestens am 24. Dezember hast du dann deinen mittlerweile traditionellen Nervenzusammenbruch und stürmst hysterisch heulend und ›Ich hasse euch alle!‹ brüllend mit einer Flasche Baileys und den Hunden in die Garage, um dir auf dem Handy Ist das Leben nicht schön? reinzuziehen. Und wenn es mir schließlich mit dem Versprechen, dir beim Kartoffelschälen zu helfen, gelungen ist, dich wieder ins Haus zu locken, bestehst du darauf, das Weihnachtskonzert des Knabenchors vom King’s College im Radio laufen zu lassen, aber statt zuzuhören, beschwerst du dich nur die ganze Zeit bitterlich über deine und meine Familie und darüber, wie undankbar doch alle sind, und du betonst ein ums andere Mal, dass du viel lieber allein wärst, wobei du dann höflichkeitshalber ein ›Mit dir natürlich‹ hinterherschiebst. Du hast so oft gesagt, du würdest Weihnachten gerne mal an einem Tropenstrand verbringen, oder in einem luxuriösen Landhaus-Hotel, in dem du elegant mit einem Martini in der Hand umherstöckeln kannst, statt dich um die Kartoffeln und das Feuer im Kamin zu kümm-«

»Das mit dem Baileys in der Garage ist nur ein einziges Mal passiert.«

»Nein, es passiert jedes Jahr.«

»Gar nicht wahr. Und ich rede nicht, während Carols from King’s läuft.«

»Du redest in einer Tour, egal ob im Kino, vor der Glotze oder beim Radiohören, aber darum geht es nicht, Liebling. Es geht darum, dass wir jetzt die Möglichkeit haben, all das zu tun. Wir können in die Tropen fliegen oder uns in einem dekadenten Hotel auf dem Land einquartieren. Bisher gab es immer irgendwelche Hindernisse – exorbitante Preise, Kinderprogramm, Besuch von der Verwandtschaft. Aber dieses Jahr sind wir nur zu zweit. Wir können tun und lassen, was wir wollen.«

»Können wir nicht«, widerspreche ich. Was für eine bekloppte Idee. Was, wenn die Kinder unerwartet doch nach Hause kommen und ich nicht da bin? Dann stehen sie draußen in Schnee und Kälte und holen sich den Tod, wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern! Darüber hat Hallmark noch keinen Weihnachtsfilm gemacht.

»Doch, wir können.«

»Nein, ich hab schon im Oktober einen Truthahn bei Marks & Spencer bestellt.«

»Dann bestellst du ihn eben wieder ab.«

»Auf keinen Fall. Die 40 Pfund Anzahlung wären futsch. Und überhaupt kommt ohne Blätterteigpasteten von Marks & Spencer doch gar keine Weihnachtsstimmung auf!«

»Dann frierst du den ganzen Kram eben ein, Herrgott nochmal!«

»Aber ich kann die Sachen erst am 23. abends abholen, das heißt, wir kämen frühestens am 24. Dezember los, und da sind die Flüge garantiert unerschwinglich teuer. Und wenn etwas schiefgeht, stranden wir in Heathrow, und dann werden wir für die Nachrichten interviewt und müssen uns Durchhalteparolen anhören, und irgendjemand wird alle Wartenden zwingen, Weihnachtslieder zu singen.«

»Ja, du vermutlich! Wenn wir an Heiligabend auf einem Flughafen festsäßen, würdest du krampfhaft versuchen, die Leute aufzumuntern und deine Weihnachtsvision zu verwirklichen. Du kannst doch gar nicht anders. Und am Ende würdest du mit einer geklauten Flasche Baileys aus dem Duty-Free-Shop heulend in der Ecke hocken, weil mal wieder keiner mitspielt.«

»An Flughäfen gibt es keinen Kamin, an dem man aus Eine Weihnachtsgeschichte vorlesen kann«, gebe ich zu bedenken.

»Wozu auch? Du hasst Dickens.«

»Tu ich nicht.«

»Tust du wohl.«

»Aber nicht Eine Weihnachtsgeschichte.«

»Du hast das Buch nie gelesen. Du kennst nur den Muppets-Weihnachtsfilm.«

»Ich finde einfach, man sollte Weihnachten in der Heimat verbringen. Es wäre nicht dasselbe an einem heißen, sandigen Ort, so ganz ohne Truthahn und Weihnachts-Cracker und teure Datteln mit Mandelkernen, an denen man sich die Zähne ausbeißt.«

»Gut, wie wär’s dann mit ein, zwei Übernachtungen in einem schicken Hotel mit Samtvorhängen und Antiquitäten? Sowas war mit den Kindern ja ausgeschlossen, weil sie unweigerlich etwas geklaut oder zerdeppert hätten. Du holst am 23. das Essen bei Marks & Spencer ab, deponierst es in der Gefriertruhe, und am nächsten Morgen starten wir los. Dann stünde deiner verdammten Weihnachtsvision nichts im Weg. Es wäre wie zu Hause, nur schöner.«

Ich lasse mir seinen Vorschlag durch den Kopf gehen und überlege, was es daran auszusetzen geben könnte. Die Aussicht, mit Simon in trauter Zweisamkeit an einem schönen Ort Weihnachten zu feiern, ist jedenfalls ausgesprochen ungewohnt. Bisher hat Wegfahren an Weihnachten stets bedeutet, bei anderen Leuten mit anderen Regeln zu Gast zu sein, auf einer undichten Luftmatratze zu schlafen und nach einem allzu reichhaltigen Mahl verzweifelt eine Toilette zu suchen, auf der man sich einigermaßen anonym austoben kann. Ein Luxushotel mit zahlreichen Toiletten, auf denen man jederzeit ungestört und inkognito abwursten kann, das erscheint mir geradezu dekadent und gar nicht weihnachtlich.

»Aber es wird vor anderen Menschen wimmeln.«

»Das ist mir klar.«

»Du hasst andere Menschen.«

»Für dein perfektes Weihnachtsfest bin ich gewillt, die in Kauf zu nehmen.«

»Und teuer wird es auch.«

»Ich weiß.«

»Aber du hasst es, Geld auszugeben.«

»Ich würde alles tun, damit du glücklich bist, Liebling.«

»Okay, was willst du?«, frage ich. So viel Entgegenkommen macht mich misstrauisch, schließlich ist Simon ein notorischer Geizhals und Menschenfeind.

»Sag ich doch: dass du glücklich bist.«

»Und …?«

»Und … äh, dein Lieblings-Kaschmirpulli ist versehentlich im Wäschetrockner gelandet … Hey, wenigstens geb ich es zu!«, verteidigt er sich, als ich den Mund öffne, um einen Wutschrei hervorzustoßen. »Ich hatte kurz in Erwägung gezogen, ihn kommentarlos in deine Kommode zu legen und darauf zu spekulieren, dass du glaubst, du hättest zugenommen. Aber ich bin eben ein netter, fürsorglicher, liebender Ehemann, der dir ein wunderschönes, märchenhaftes Weihnachtsfest bieten möchte. Du kannst mir also gar nicht böse sein.«

»Kann ich wohl«, brumme ich. »Und wir können nicht wegfahren, wegen der Hunde.«

»Organisier eine Hundesitterin. Oder bring sie in einer Tierpension unter.«

»Doch nicht an Weihnachten! Judgy wäre stinksauer. Er liebt Weihnachten und Geschenke auspacken. Und Flora ist zu alt für eine Tierpension. Was, wenn dort ihr letztes Stündlein schlägt? Und der arme kleine Barry, wie kannst du den an Weihnachten im Stich lassen?«

»Von klein kann keine Rede sein, letztes Jahr hat er im Krippenspiel der Grundschule als Esel mitgewirkt.«

»Aber er ist psychisch labil. Er wird schon genug darunter leiden, dass Jane nicht nach Hause kommt. Das können wir ihm unmöglich antun. Keinem von ihnen. Wir werden einfach hierbleiben müssen.« Ich seufze. Dann fällt mir etwas ein. »Andererseits können wir, wenn wir nur zu zweit sind, all das tun, was man so in Modezeitschriften liest. Ich hab mal vor Jahren in einem Artikel mit Tipps für die Weihnachtstage gelesen, dass frau sich vier Mal umziehen sollte: Morgens wird der Satin-Schlafanzug gegen schwarze Palazzo Pants und ein schlichtes weißes Seiden-T-Shirt ausgetauscht …«

»Ein T-Shirt, im Dezember!«, stößt Simon entrüstet hervor. »Weißt du, was wir da an Heizkosten berappen? Und eine Clownshose an Weihnachten …«

»Palazzo, nicht Bajazzo! Gemeint ist ein eleganter Hosenrock«, erkläre ich, und er schnaubt.

»Kann man dann nicht einfach Hosenrock sagen?«