Man muss die Männer sehr lieben - Marie Darrieussecq - E-Book

Man muss die Männer sehr lieben E-Book

Marie Darrieussecq

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Beschreibung

Die junge Französin Solange steht am Beginn ihrer Filmkarriere in Hollywood. Mehr als zu den Schönen und Erfolgreichen unter ihren Kollegen fühlt sie sich zu dem Outsider Kouhouesso hingezogen. Er, der Außenseiter in Los Angeles, verfolgt einen großen Plan: die Neuverfilmung von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Die wichtigste weibliche Rolle darin ist Solange wie auf den Leib geschrieben. Als Kouhouesso nach Afrika aufbricht, folgt sie ihm. Wie Marie Darrieussecq dieses afrikanische Abenteuer und Solanges verzweifelte Liebe beschreibt ist eine literarische Meisterleistung.

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Die junge Französin Solange steht am Beginn ihrer Filmkarriere in Los Angeles. Mehr als zu den Schönen und Erfolgreichen unter ihren Kollegen fühlt sie sich zu dem Outsider Kouhouesso, einem schwarzen Schauspieler und Regisseur, hingezogen. Die beiden werden ein Paar. Doch während sie nur noch an ihn denken kann, verfolgt er einen großen Plan: die Neuverfilmung von Joseph Conrads Herz der Finsternis. Die wichtigste weibliche Rolle darin ist Solange wie auf den Leib geschrieben. Als Kouhouesso nach Afrika aufbricht, folgt sie ihm. In Kamerun, mitten im Urwald, erlebt sie ihre tiefste Krise. Wie Marie Darrieussecq dieses afrikanische Abenteuer und Solanges verzweifelte Liebe beschreibt, ist eine literarische Meisterleistung.

Hanser E-Book

Marie Darrieussecq

Man muss

die Männer

sehr lieben

Roman

Aus dem Französischen

von Patricia Klobusiczky

Carl Hanser Verlag

Die französische Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel Il faut beaucoup aimer les hommes

bei P.O.L in Paris.

ISBN 978-3-446-24999-8

© Éditions P.O.L 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

© plainpicture/cultura/Charles Gullung

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Wangen im Allgäu

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Man muss die Männer sehr

lieben. Sehr, sehr. Sehr

lieben, um sie lieben zu können.

Sonst ist es nicht möglich,

sonst kann man sie nicht ertragen.

Marguerite Duras

Es heißt, jenseits des Meers

unter lichtem Himmel

sei eine Stadt, deren

Zauber jeden erfasst.

Und in der Dämmerung

unter hohen schwarzen

Bäumen richt ich darauf

meine ganze Hoffnung.

Josephine Baker

Man fährt übers Meer und erreicht einen Fluss. Man kann auch fliegen, keine Frage. Aber man erreicht einen Fluss und muss in den Fluss hinein. Manchmal gibt es einen Hafen, und Kräne, Frachter, Matrosen. Und Lichter, nachts. Einen Hafen im bewohnbaren Teil des Deltas. Danach gibt es niemanden. Nur Bäume, während man immer weiter flussaufwärts fährt.

INHALT

Vorspann

I

Der Anfang

Ein Tiger, der den Gesetzen der Schwerkraft trotzt

Trouble

Video

Rendezvous auf der anderen Seite

Im nächtlichen goldenen Licht

Messingene Fußringe

II

Und ihr Gespenster steigt chemieblau auf

Bel Air

Hollywood Doowylloh

Man muss die Männer sehr lieben

Tamtam im Soho House

Savannenfreiheit

Crashtest

Black like me

Storyboard in Malibu

Angola ist ein Fest

Der Tod hat seinen Pflock eingeschlagen,    wir haben die Hacke hingeworfen, und alle Namen    wurden aufgebraucht

Businessclass

Wie soll man da nicht den Kopf verlieren

J’ai deux amours

Das Problem Afrikas

III

Solange – alles Gute

Ein großer Moment

Der Rechte Weg

Des Kochtopfs Hintern fürchtet das Feuer nicht

Phantastische Bilder von    großen, unendlichen Waldwelten

Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität

Bis zum Hals in Arbeit

Die Nacht des Schuppentiers

IV

Jungle Fever

Und unter hohen schwarzen Bäumen

Die Frauen sind im Wald

2Eine zu schöne Welt 24

Cameo

Poco-Beach

V

The End

Und danach

Extra

VORSPANN

Er war ein Mann mit einer Großen Idee. Die sah sie in seinen Augen leuchten. Seine Pupille rollte sich zum glühenden Band zusammen. Sie drang in seine Augen ein, um mit ihm dem Fluss zu folgen. Aber sie glaubte nicht an sein Projekt. Es würde sich niemals verwirklichen lassen. Wie sollte man den Kongo je erreichen?

Da gab es ihn selbst: ein Problem. Und seine Große Idee war zu kostspielig. Verlangte zu vielen Menschen zu viel ab. Und für sie war die Große Idee wie eine andere Frau, und sie wollte nicht, dass er sich damit befasste.

»Durch das Denken an den Kongo / bin ich ein von Wäldern und Flüssen rauschender Kongo / geworden / wo die Peitsche klatscht wie eine große Standarte.« Er las ihr Césaire vor. Nicht gerade ihr Lieblingsschriftsteller. Auch wenn er schöne Passagen hinterlassen hat, keine Frage. Und schwarz war, ein wichtiger Aspekt. Bestimmt. Von nun an stammte auch sie dorther. Aus dem unmöglichen Land, lawinenträchtig und überbordend.

Jeden Morgen wachte sie mit einer Hautkrankheit auf. Ihre Schultern, Brüste, die Innenseite ihrer Arme, alles, was mit ihm in Berührung kam – ihre ganze Haut war von Linien, Ornamenten durchzogen. Sie verliefen überall, hatten sich festgesetzt. Sie rieb und rieb, aber es ging nicht weg. Sie duschte, aber das Wasser richtete nichts aus, und im Spiegel sah sie, wie unter der Haut die schmalen, gleichmäßigen Stollen verliefen, zarte Perlenschnüre, nach innen gewölbt.

Sogar die Maskenbildnerin konnte nichts dagegen tun. Dabei sollte sie die durchscheinende Französin geben, weder tätowiert noch gemartert. Das Gesicht ist der Körperteil, den man selbst nicht sehen kann. Das gilt auch für den Rücken, zugegeben. Wenn man sich verrenkt, erhascht man einen winzigen Teil des Schulterblatts, ein Stückchen vom Schlüsselbein und vom Steiß. Sein Gesicht aber trägt man vor sich her wie eine Opfergabe. Er sah sie. Sie sah sich nur in den Filmen oder im Spiegel. Dieses makellose Gesicht, das sich umso leichter prägen ließ.

Und er – wer war er überhaupt? Ein Schauspieler wie sie, durch Nebenrollen ein wenig bekannt – man kennt sein Gesicht, seinen Namen aber nicht, ohnehin schwer auszusprechen. Wenn in ihm etwas Kämpferisches steckte, dann vielleicht das: dass er auf seinen Namen beharrte – dass er mit einem solchen Namen Karriere machen wollte. Ein Name, den sie ja selbst zu gern getragen hätte. Das hatte sie im Kopf. In Verbindung mit ihrem urfranzösischen Vornamen, Solange.

Er mochte nicht, dass sie ihn anblickte, wenn sie sich liebten. Falls sie die Augen aufmachte, stieß er zwischen den Zähnen einen kleinen Zischlaut aus, tschsch. Sie machte die Augen wieder zu, kehrte in die rotschwarze Finsternis zurück. Aber sie hatte sein aufgewühltes Gesicht gesehen, den Glanz auf seinen Wangen, den Schweiß auf seinen Jochbeinen, fast schon Tränen. Und seine Augen, die fest auf sie gerichtet waren, tschsch. Zwei schwarze Spitzen, die unter den Augenlidern hervorbrachen, seine chinesischen Augen, zwei Schlitze, die dreieckigen Schläfen in die Höhe ziehend.

Sie erinnerte sich an die geometrischen Züge seiner Schönheit, aber wer war der Mann auf dem Foto? Wer ist der Mann, dessen Fotos in den Klatschblättern von Hollywood kursieren? Wer ist der Mann, der sie angeblickt hatte, der sie in ihrer Erinnerung anblickt? Ihre Haut weist von ihm keinerlei Spuren mehr auf, nur die Spuren der Zeit, die Narben von Dreharbeiten, die ihr vorkommen wie geträumt.

I

DER ANFANG

Der Anfang ist wie ein Einschnitt, ständig sieht sie den Anfang wieder, scharf und deutlich in ihrem Leben, während alles Anschließende wirkt, als wäre es verkehrt herum geschnitten, oder gekürzt, oder in einem wirren Durcheinander.

Sie hat ihn gesehen, ihn und keinen anderen. Auf einer Party bei George. Die meisten Gäste waren versammelt, aber sie hat ein Magnetfeld betreten. Eine dichtere Sphäre, die alle anderen ausschloss. Sie war still. Seine Anwesenheit machte sie still und einsam. Ihre Stimme versagte: Sie war sprachlos. Von ihm ging ein Kraftfeld aus, greifbar, strahlend, der Sog einer steten Explosion. Eine Welle fuhr durch sie hindurch und spaltete sie. Ihre Atome waren zertrümmert. Sie hing in der Luft, und schon wollte sie genau das: die Zersetzung.

Er war in einen seltsamen Mantel gehüllt, lang, aus feinem, fließendem Stoff. Er blickte sie nicht an. Er blickte auf den Grund der kleinen Schlucht hinab, auf die Lichter von Los Angeles. Den wuchtigen dunklen Kopf trug er, als wäre er vollauf mit dieser Anstrengung beschäftigt. Als wäre ihm als einzigem unter den Anwesenden bewusst, welche Last ein Kopf an sich darstellt. Im Gegenlicht der Lampions bildete sein langes Haar eine tiefe Kapuze, und seine langgliedrige Gestalt hatte etwas Mönchisches an sich. Das Kraftfeld entwickelte eine solche Intensität, dass einer von ihnen – sie – irgendeine Bemerkung machte, über die milde Luft oder George oder das, was sie tranken; und es war wie ein Aufatmen. Der Nebel bleichte die Nacht, sie wurden von Wasser bestäubt. Er drehte ihr eine Zigarette. Ihre Hände haben sich nicht berührt, aber das Kraftfeld hat sich so heftig um sie geschlossen, dass die Zigarette geschwebt ist, von einem zum anderen, einfach so, in diesem vibrierenden, summenden Zwischenraum. Er hat so getan, als suchte er im Dunkeln nach Feuer, in den bodenlosen Taschen seines Mantels. Er hatte keins – doch –, die Flamme stach auf. Sie hat sich das Haar verbrannt, weil sie zu dicht heranrückte, und sie hat gelacht, ein Fehler, denn er verlangte ihr jetzt schon, wortlos, größte Ernsthaftigkeit ab. Sie hat einen tiefen Zug genommen, und sie ist emporgetaucht, ein letztes Mal.

Und dann ist sie in das Herz der Welt hinabgetaucht, mit ihm, in das Kraftfeld, in den Nebel, der den Laurel Canyon ausfüllte, in das vollkommene Glück, opak und weiß, das Glück, das zersetzt.

*

Er war ein begnadeter Schauspieler. Er war in der Lage, für sich, um sich herum Häute herbeizuzaubern, Häutungen, Schicht um Schicht und niemals künstlich. Stets er, vielfach. Er hatte diese Stufe erreicht, diese Gewandtheit, in jeder neuen Rolle er selbst zu sein, wie George oder Nicole oder Isabelle. Aber er hatte es nie zum Status eines Stars gebracht. Dabei löste er, wie sie später feststellte, durchaus Vergötterung aus, und Furcht, und Entzugserscheinungen.

Zunächst hat sie ihn für einen Amerikaner gehalten. Sein Tonfall, sein Gang. Ein exzentrischer Amerikaner, das schon, aber auf den Höhen Hollywoods kann man anziehen, was man will. Bei ihr hingegen wussten alle, dass sie Französin war. Sie konnte an ihrer Aussprache feilen, um die Amerikanerin zu spielen, aber meistens sollte sie die Französin geben: die schrille Schlampe, die kühle Elegante, das romantische Opfer. In Chanel und Louboutin, die sie nach dem Dreh behalten durfte.

Er musste den Dealer oder den Boxer geben, manchmal den Cop oder den Priester oder den besten Freund des toleranten Helden. In einer Episode von Star Wars hatte er einen unauffälligen Jedi verkörpert. Im wahren Leben spielte er den Amerikaner wie alles andere, wie er als Anfänger Hamlet gespielt hatte. Mit derselben gelassenen Intensität. Derselben konzentrierten Gleichgültigkeit. Am Théâtre des Bouffes du Nord, in Paris, wo sie die Schauspielschule besucht hatte, das musste er gewesen sein. Seine Stimme war dunkel und tief; ein massiger Torso, breite Schultern an einem sehr langen Körper, den sie unter seinem eigenartigen Umhang bisher nur erahnen konnte. Seine Stimme schien aus dem tiefsten Grund seiner Kehle zu kommen, unterhalb dieser weichen Vertiefung am Halsansatz, die sie später so gern küssen würde, mit der Frage, ob ihre Zärtlichkeit ihn störe, und seiner Antwort: »Warum sollte sie mich stören?«

Seine ts waren weich und feucht, unterschieden sich kaum von seinen ds, was sie zunächst für die eitle Marotte eines schönen Manns und Schauspielers hielt (wie bei manchen Aristokraten in Frankreich), dabei zeugten sie von seiner Herkunft. Sie hingegen bekam oft im Scherz zu hören, sie wäre sogar von einem Satelliten aus als Französin zu erkennen. An der Figur? Der Kieferkante? Oder am Fimmel, jeden Satz mit einem skeptischen Schmollen einzuleiten? Angeblich modellieren Sprachen die Gesichter. Der Logopäde, mit dem sie in Los Angeles verschiedene Aussprachen übte, führte das auf die Beanspruchung bestimmter Muskeln zurück.

Ja, Französin. Er sei schon in Paris gewesen. Er liebe Paris, die Monumente. Ja, eine schöne Stadt. Seit wann sei sie in Los Angeles? Vier Jahre (sie gab vor, nachzudenken), ein zwei drei vier, seit 2003. Seit ihr Sohn beschlossen hatte, bei ihrem Vater zu leben – das hätte sie ihm gern erzählt, aber die hohe Gestalt, der wuchtige Kopf, das fehlende Lächeln ermutigten nicht im Geringsten zu Vertraulichkeiten. Los Angeles, das war eine ganz beliebige Frage gewesen. Im Grunde ging es darum, über seine und ihre Karriere zu reden. Er war schweigsam, sie blieb schweigsam. Sie gehorchte ihm, jetzt schon. Sie hatte soeben begriffen, dass er kein Amerikaner war. Als er hörte, dass sie tatsächlich Französin war, hatte er einen anderen Akzent anklingen, vielleicht eine andere Haltung aufblitzen lassen. Er war Kanadier. Womit sie sich nicht ganz zufriedengab. Aber sie bohrte nicht weiter. Nicht sofort. Lieber wäre sie auf der Stelle zu Asche zerfallen, wie die Vampire, die vom Tageslicht überrascht werden, als ihm das Gefühl zu geben, sie reduziere ihn auf seine Abstammung. Sie waren beide Ausländer, beide von Amerika adoptiert. Zwei Ausländer, die einander auch noch merkwürdig vertraut waren. Als kennten sie sich bereits über Mittelsländer. Als wäre die Intensität dieses Tages auch die logische, elektrisierende Folge historischer Verheerungen gewesen.

Ganz in der Nähe kläfften in den Hügeln die Kojoten. Zum Trinken kommen sie zu den Swimmingpools. Ihr Heulen ist ein Winseln, ganz anders als beim Wolf, eher wie bei einem seltsamen Baby. Schließlich ist George gekommen, um sie zu holen, mit einer Flasche Cristal in der Hand. Er hatte gerade einen Science-Fiction-Film abgedreht, und bei diesem Fest wurden Teile der Ausstattung wiederverwendet, darunter kosmisch weiße Sessel. Er schien wie immer vom Himmel gefallen zu sein, makelloser Anzug, das Gesicht gebräunt und frisch, sein Lächeln galaktisch. Er stellte sie einander vor, nur mit Vornamen, ganz selbstverständlich, als wären sie genauso berühmt wie er. Das ist die George eigene Eleganz. Mit ihm wurde alles wieder normal: der gigantische türkisblaue Pool, die rund hundertköpfige Gästeschar, die rauchende Nacht über den Hügeln und der unmögliche, knochig tönende Vorname des unverhofft erschienenen Mannes. Und zwei Tage später sollte ihr bewusst werden, dass er ihren Vornamen gar nicht mitbekommen hatte.

Eine Gruppe von Leuten nahm sie in Beschlag, die zu Georges Gravitationsfeld gehörten. Da gab es Kate und Mary, und Jen, und Colin, und Lloyd, und Ted, sowie zwei, drei Freunde von Steven und auch dieses Mädchen, das in Collateral Damage mitspielte. Eine rassige Schönheit, wie man in Frankreich sagt; vielleicht eine Puerto Ricanerin. Die Köpfe tanzten, die Schatten schwebten. Sie suchte ihn mit den Augen, in der Dunkelheit. Sie traute sich nicht, sein Gesicht zu mustern, seine unbewegte Jedi-Visage. Zuvor hatte sie sich bemüht, ihren Blick auf anderes zu richten, wie er, auf die Hügel, auf die Flamme des Feuerzeugs in unmittelbarer Nähe oder auf den Großen Bären in weiter Ferne. Und die Augen dieser Schauspielerin, der Puerto Ricanerin, hatten etwas Seltsames an sich, eine Art Silberblick – sie gaffte ihn an, ja, das war es, sie ließ ihn nicht aus den Augen, anstatt wie alle anderen auf Georges weiße Gestalt mitten im Licht zu starren.

Die Puerto Ricanerin rückt zu ihm auf. Und da lacht er schallend, die Köpfe tanzen, die Schatten trennen sie. Da kommt Steven auf sie zu, Solange, sie deutet ein Telefon an, hält zwei Finger vor ihr Ohr: Sie wird ihn anrufen. Sie will nicht mit Steven reden, sie will mit Ihm reden. Sein Lachen ist das einzige, was im Lärm zu vernehmen ist. Sein Gesicht teilt sich in zwei Hälften, gibt blendende Zähne frei – alle haben blendende Zähne, undenkbar, dass hier nicht jeder blendende Zähne hat, aber dieses Lachen wirbelt die Nacht auf, zerfetzt den Nebel, das Lachen, das für die Puerto Ricanerin bestimmt ist, hat dem Prinzen der Milchstraße den Schmollmund aufgerissen, und sie – Solange – sieht nur das blendende Weiß ihrer vierundsechzig Zähne.

»You are from Porto Rico?« Die vermeintliche Puerto Ricanerin wendet sich Solange zu. Blickt sie prüfend an. »I am from Los Angeles«, antwortet sie strahlend. »Wir sind doch alle aus L. A., oder nicht?« L. A., sie dehnt den langen Vokal, Älleehj … und Solange weiß plötzlich, wer sie ist, Lola Nochwas, ein aufstrebendes Starlet, in Surinam geboren; sie hat in Lost mitgespielt – wer weiß, welches Schicksal die Drehbuchautoren ihr zugedacht haben, ob sie von einem Bären gefressen oder von einer kosmischen Spalte zermalmt wird, jedenfalls hat sie den Grad von Berühmtheit erlangt, bei dem inzwischen alle Welt wissen müsste, dass sie sich den Weg von ihrem heimatlichen Dschungel zu den Hügeln Hollywoods mit der Machete gebahnt hat.

Cristal-Flaschen werden auf Silbertabletts hin und her getragen. Der Prinz im langen Umhang betrachtet Los Angeles, oder die Nacht, oder das, was ihn, den Mann mit dem wuchtigen Kopf, ausschließlich beschäftigt und was sie so gern in Erfahrung bringen möchte.

Eine allgemeine Kehrtwendung lässt sie zum Pool zurückströmen, der über dem Canyon hängt. Das Meer ist ein langer, undurchdringlicher Streifen. Er dreht ihr den Kopf zu. Langsam. Zunächst fast unmerklich. Am Ende fängt er ihre Augen mit den seinen ein. Dann taucht sein Blick – mit einem vollkommen horizontalen Schwenk – wieder ins Meer hinab. Das Ganze so knapp, so präzise, dass sie nicht ganz sicher ist, ob es wirklich stattgefunden hat.

Floria und Lilian kommen und grüßen Ted und umarmen Solange. Sie murmelt drei-vier Silben, um ihn vorzustellen. Ted sieht den drei-viersilbigen Mann an, dann sie. Wieder taucht eine Cristal-Flasche auf. Das Fest wogt, die Kreise öffnen und schließen sich, sie kämpft gegen Strömungen an. Wieder hat sich ein Inselchen gebildet, und sie ist mit ihm allein, an das Geländer über dem Canyon gelehnt.

EIN TIGER, DER DEN GESETZEN DER SCHWERKRAFT TROTZT

Beide sagen nichts. Die Stille ist herrlich. Sollten Sie sich jemals in einem stabilen Haus befunden haben, auf einer Anhöhe, vor dem Meer geschützt, aber mit offenem Ausblick, sollten Sie in den Genuss dieser Stille und dieser Geborgenheit gekommen sein, dann wissen Sie, wie ungeheuer erholsam … dann wissen Sie, wie Los Angeles … und sie beide, klein und riesig, hoch über dem Canyon, und die Stadt, ausgreifend und hingekauert, zornig und leuchtend …

Er war geblieben, unter dem Vorwand, die Flasche mit ihr zu teilen. Anstatt der Gruppe zu folgen, die sich um George und Lola scharte. Anstatt Steven oder Ted oder sonst jemandem zu folgen, der einem Rollen und Reichtümer und Ruhm beschaffte. Oder zumindest für aufregende Gespräche sorgte. Oder anständiges Kokain. Er bleibt bei ihr. Sie kennt ihn von jeher und entdeckt ihn Sekunde um Sekunde: Jetzt ist es so weit, die Steilwand des Lebens, die riskante Erkundung und die Süße der Tage, die Verbindung von Gegenwart und bis-in-alle-Ewigkeit. Sie ist berauscht. Zusammen stellen sie gemeinsame Vorlieben fest.

Er liest gern. Sie wird kühner, lacht ihr richtiges Lachen. »Nichts ist so sexy wie ein Mann, der liest.« Das möchte sie gern vertiefen. Sie möchte es ihm erklären – dem Gebeugten, Einzelgänger, Selbstgenügsamen, in einer eigenen Welt Gefangenen, der aber den wuchtigen Kopf hebt und ihren Auftritt, die willkommene Störung, mit einem Lächeln erhellt, bonjour, bonjour mon amour. Sie hätte ihm so viel zu sagen. So viel zu erklären. Er liest, um sich auf ein bestimmtes Projekt vorzubereiten. Er liest viel am Set. »Diese Schauspieler, die zwischen zwei Aufnahmen konzentriert bleiben wollen, dieses ganze Actor’s-Studio-Getue ist doch ein Witz.« Er lacht kurz auf. Sie sind keine Amerikaner. Er liest nachts. Sie sieht ihn vor ihrem inneren Auge, in ein weißes Laken gewickelt, mit freiem Oberkörper und vorgebeugt, sein langes Haar gleitet über ein Buch. Er nennt Autoren, von denen sie noch nie gehört hat, sie schnappt die beiden Silben Conrads auf und pariert mit französischen Namen. Er geht nicht darauf ein. Aber er bleibt bei ihr. Die Stille wandelt sich, beschreibt eine andere Kurve. Er riecht gut. Sie hat Lust, ihn zu berühren. Er riecht wie eine Kirche, wie ein indischer Tempel. Der Mond ist aufgegangen. Das Meer ist weiter geworden, schwarz und sternenlos, ein zweiter Himmel. Sie überlegt sich eine Bemerkung. Sie würde gern sagen, sie sei des Meers wegen nach Los Angeles gekommen. In Paris sei das Meer zu weit weg gewesen; und schon als kleines Mädchen habe ihr das Meer gefehlt. Aber er wird ihr nicht glauben. Vor allem nicht, wenn das eine Schauspielerin sagt. Er steht mit dem Profil zum kohlengrauen Himmel. Zwischen ihr und dem Meer gibt es nur ihn. Sie kann einfach den Blick heben, um ihn zu betrachten. Eine hohe, gewölbte Stirn. Die Haut irgendwie eingedellt, sie kann es nicht richtig erkennen, womöglich Narben? Die Augen unsichtbar, zwei Schlitze. Eine lange, schmale Adlernase. Breite Lippen, fest geschlossen, sehr plastisch. Wie kann es sein, warum ergeben diese Elemente in ihrer Summe eine solche Schönheit?

Ihr fallen die Zeichnungen im Schulunterricht wieder ein: 2, und 4, und 6, wenn man diese Zahlen in einer Kolonne untereinander schrieb, ergab das ein merkwürdiges, verbeultes Profil. Sie hört ihn in der Stille atmen. Er mag wohl keine Schwatzliesen. Oder Erklärungen. Er folgt gern seinem Rhythmus. Oder das Ganze spielt sich in ihrem Kopf ab, und die Stadt ist nur eine Projektion, sie glaubt, seit vier Jahren dort zu leben, aber sie treibt nur an der Oberfläche, sie versucht, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass sie festen Boden unter den Füßen hat, dass die Anziehung zwischen dem Körper von Los Angeles und ihrem auch für die Stadt spürbar ist. Sie würde ihm gern von der Woche erzählen, als ihr Gesicht im Großformat an der Kreuzung Sunset Boulevard und La Cienega prangte, zum Filmstart von Musette. Darüber hätte sie so viel Verblüffendes und Geistreiches zu sagen, ihm zu sagen. Keineswegs das, was er vermutet, keineswegs die typische Schauspielerin. Sie bittet ihn, ihr nachzuschenken.

»I like the way you say champââgne«, sagt er, »this is so chic, so French.« Sie lacht. Er macht sich über den amerikanischen Akzent lustig, »sie sprechen champayne aus wie John Wayne«. Wieder lacht sie. Jeder Satz von ihm ist kostbar, gibt ihr ein bisschen Zugang zu seinem wuchtigen Kopf. Seine Augen sprechen nicht. Vielleicht hat er sie in Musette gesehen. Vielleicht ist das sein Ding, vielleicht macht er das immer so mit Französinnen.

Eine kleine Gruppe kommt wieder zu ihnen herauf. Unter diesen Zweibeinern sind nur George und er in der Lage, das Los, das uns die aufrechte Haltung beschieden hat, mit Eleganz zu meistern. Alle benutzen Zigaretten, Gläser oder einstudierte Gesten, um ihre Hände links und rechts vom Körper zu halten. Sie hingegen stehen einfach auf dieser Erde. Er erinnert sie an jemanden, aber nicht an George, der Eleganz zum Trotz. Sie versucht es mit Mnemotechnik, vergleicht die Nase, den Mund, aber es liegt eher am Blick, oder an der Statur … oder was auch immer, einem kraftvollen Selbstbewusstsein, einer Aufwärtsbewegung, die das Kreuz erfasst, den hellenischen Hals – eine antike Statue, in einem Wurf die Menschheit schlechthin.

*

Man begibt sich zu den Autos, George nimmt ihr den Schlüssel aus der Hand, angeblich dürfe sie sich auf keinen Fall ans Steuer setzen, Georges Limousine verwandelt sich in einen luxuriösen Kleinbus. Er ist in ihrer Nähe, zwei Sitze, zwei Körper entfernt, George spricht mit dem Chauffeur, sie sind noch nicht losgefahren, Ted setzt sich neben sie, ein Joint macht die Runde, das rassige Starlet plaudert mit Steven (was wird Solanges Agent für ein Gesicht machen, wenn er erfährt, dass sie Steven, dem Giganten Steven Soderbergh mitgeteilt hat, sie werde sich bei ihm melden). Eigentlich müsste sie früh ins Bett. Man fährt einen Boulevard entlang, vier Jahre sind es schon, aber sie verwechselt die immer noch, wahrscheinlich Hollywood Boulevard, ganz einfach. Man passiert das Chinese Theatre, das rassige Starlet kennt einen Club, die Montmartre Lounge, unfassbar, sie spricht das Montt-martt-re aus, fügt lauter ts ein. Solange möchte den Joint weiterreichen, aber niemand reagiert, und so raucht sie ihn mit Ted. George ist nicht mehr da. Steven auch nicht. Danach gibt es gleißend weißes Licht und eine große Menschenmenge und einen alten Hit von Queen und die schneidende Stimme von Freddie Mercury, die singt don’t stop me now – just give me a call – und dass er ein Stern sei, quer über den Himmel springe wie ein Tiger, der den Gesetzen der Schwerkraft trotzt.

like a tiger defying the laws oft gravity

Der Joint bewirkt die Trennung aller Silben, löst das Schlagzeug vom Klavier und das Klavier von der Gitarre und die Gitarre von der Stimme, die Klangkurven streben auseinander und kommen wieder zusammen: Harmonie der Sterne. Sie hatte für Queen nie viel übrig, aber jetzt fällt ihr eine Anekdote ein, besser gesagt eine interessante Tatsache, nun schreit sie ihm ins Ohr – er ist groß, aber sie trägt sehr hohe Absätze –, sie schreit, dass Freddie Mercury ein Farse war, ein was, ein Farse – wie sagt man Farse auf Englisch, sie findet keine andere Lösung als Farse –, und jetzt ist sie ohnehin in Fahrt: eine faszinierende Religion, Sonnenanbeter, streng vegan, begraben ihre Toten nicht – ja echt: begraben ihre Toten nicht, sondern vollziehen ein überaus zivilisiertes Ritual – er bittet sie, das zu wiederholen, sie schreit sich heiser: legen die Toten auf einem Turm ab, die Türme des Schweigens – sie brüllt –, dann kommen Geier und fressen sie, rund zwanzig Geier, nach zehn Minuten sind nur noch die Knochen übrig, schön weiß, hinterher werden sie im Turm gesammelt, kreisförmig angeordnet, ein unglaublich ausgeklügeltes System, mit Abflussrinnen für die Körpersäfte, sehr reinlich, ja echt, eigentlich viel hygienischer als die Erdbestattung. Das Problem ist nur, in Bombay gibt es fast keine Geier mehr, wegen der Umweltverschmutzung, darum beklagen sich die hinduistischen Nachbarn über die Belästigung.

»Interesting«, sagt er.

Er meint es offenbar ernst. Das Gespräch ist vielleicht nicht ideal, aber er blickt ihr in die Augen. Sie haben beide diesen Impuls und weichen zurück, um der Musik zu entkommen, die überall ist, sie hört kein Wort von dem, was er sagt, das Bild der verwesenden Körper schwebt noch ein wenig zwischen ihnen – »ich habe gehört« – sie wechselt das Thema nur unwesentlich – »dass Elefanten – dass Elefanten – die einzigen Tiere sind, die für ihre Toten ein Trauerritual abhalten«. Sie ist voller Hoffnung. Hoffnung, dass er mit ihr spricht. Die Elefanten wiegen sich und wiegen mit ihrem Rüssel die weißen Knochen ihrer Gefährten. Hoffnung, dass er sie aufklärt, dass er sie mitnimmt, sie fortträgt wie ein Elefant. Aber sein Gesicht ist wieder ungerührt. Fast steinern.

»Mit Elefanten kenne ich mich nicht aus.« Seine Antwort ist etwas brüsk.

»Mit Farsen kenne ich mich gut aus.« Sie lacht, kaum merklich.

Er hat seinen unmöglichen Jedi-Mantel anbehalten, und an seinem Haaransatz perlen Schweißtropfen, wegen der Hitze in diesem Club oder einer Art Gereiztheit, die sie nicht einordnen kann, einer gewissen Müdigkeit, einem Anflug von Ungeduld und Verdruss ihretwegen. Das hätte sie nicht erwartet, aber vielleicht gehört er zu diesen Männern, bei denen man den ersten Schritt machen muss.

Etwas verrutscht in Raum und Zeit, ein Sturz nach vorn, und nun tanzt sie mit Ted. Donna Summer haucht und stöhnt und säuselt ooooohhh I feel love I feel love. Ted tut nichts zur Sache, aber er verhält sich wenigstens normal, normal für jemanden, der sich eine weiße Nase gepudert hat, er lässt die Hüften schwingen, reicht ihr die Hand, streichelt ihr die Schulter und formt mit den Lippen I feel love, und sie dreht sich um die eigene Achse. Der kanadische Jedi steht an der Bar, reglos, den Blick ins Leere gerichtet. Im zuckenden Licht sieht sie, wie er sich in Bewegung setzt und quer über die Tanzfläche auf den Ausgang zustrebt – und sie muss ihm einfach folgen, sie hat keine Wahl. Das duftende Flattern seines weiten Mantels hüllt sie ein, sie hört Teds Stimme, in der Enttäuschung durchklingt: »You’re heading for trouble«, sie wird sich Ärger einhandeln.

TROUBLE

Sie rennt. Er ist drei Meter hinter ihr, und der Kugellärm bringt sie irgendwie aus der Fassung. Ihre sehr hohen Absätze hallen in ihrem Kopf wider, tam tam tam tam, als würde sie unter der eigenen Schädeldecke rennen. Die Schminke klebt ihr wie ein trockener Pfannkuchen an den Wangen, und sie hat den schier unwiderstehlichen Drang, sich die Augen zu reiben. Er rennt zu schnell, die Markierung links ist bald erreicht, er ist zu nah an ihr dran, Achtung Markierung rechts, eine Kurve, die Gleise. Ihr platzt gleich die Lunge. Sie wirft sich vor den Greenscreen, sie schreit, Matt Damon stürzt sich auf sie und das Blut spritzt, sie ringt nach Luft, stirbt – Aus.

Er war zu nah dran! Natürlich war der Komparse zu nah dran, vermutlich hat er keine Ahnung, dass man für die Kameras rennt und nicht für das Team drum herum. Sechste Aufnahme, eine Form von Sklaventreiberei, nicht mehr und nicht weniger, auf Gedeih und Verderb dem Digitalen ausgeliefert, seit der Normalfilm ausgedient hat. You were great Solange you were superb I love you. Der Regisseur trägt ein bisschen zu dick auf. Die Maskenbildnerin wischt einen Großteil des Bluts weg, bevor es wieder in die Garderobe geht, und die Requisiteurin motzt und reißt ihr die Haut unter dem Hemd ab. Dafür ist die Kostümbildnerin ein Engel, sie hat ihr dämpfende Sohlen in die Pumps gelegt, trotzdem hat sie anstelle der Beine zwei Schlagbohrer. Zwischen den Aufnahmen bräuchte sie eine Massage. Matt bekommt garantiert eine Massage. Und dabei hat ihr Agent ihr die Rolle mit der Behauptung schmackhaft gemacht, sie werde in den Armen von Matt Damon sterben, obwohl ihr Zusammenspiel sich auf einen Kniestoß (von ihm) in die Brust (ihre) beschränkt. Bei der ersten Aufnahme wollte dieser verfluchte Blutbeutel einfach nicht platzen, sie ist eine leidgeprüfte Schauspielerin.

Ihr Telefon zeigt nach wie vor keinerlei Nachrichten an.

Die Kostümbildnerin zerschneidet das Hemd mit einer Schere, um die Perücke nicht zu verschieben, der Friseur sprüht die Perücke mit Haarlack ein, die Maskenbildnerin legt ihr einen Augenschutz auf und bessert die Foundation nach – sie sieht grauenhaft aus. Zum Fürchten. Und sie hat Abdrücke im Gesicht, die Maskenbildnerin trägt tüchtig Concealer auf. Die Requisiteurin kommt mit dem sechsten Blutbeutel an. Der Büstenhalter muss auch gewechselt werden, aber Olga, die Kostümbildnerin, hat dieses Modell nicht mehr vorrätig. Ein sechstes Hemd wird ausgepackt, Olga bügelt es kurz auf, während Natsumi, die Assistentin, davoneilt, um einen BH zu kaufen, schließlich sind wir hier nicht bei Baywatch, sie wird bestimmt nicht ohne herumrennen. An allen Ecken und Enden klingeln die Telefone. Nur ihres nicht.

Vielleicht hat er das Post-it mit ihrer Telefonnummer nicht gefunden, das sie ihm dagelassen hat? Oder schläft er womöglich noch, um diese Uhrzeit? Es geht das Gerücht um, Kamera 2 sei nicht rechtzeitig zurückgefahren. Die Telefone vibrieren so stark, dass sie von den Tischen zu fallen drohen. Sie macht ihres aus und wieder an: Es funktioniert. Natsumi kommt mit leeren Händen wieder, rot und verschwitzt. Keine BHs mit B-Körbchen: Offenbar ist sie die einzige in dieser Stadt, die sich ihre normale Größe bewahrt hat. Draußen wird herumgeschrien. Sie haben alle noch nichts gegessen. Sie überlegt, ob sie bei sich zu Hause anrufen soll, den Festnetzanschluss. Ob er wohl rangeht, wenn er noch da ist? Er schlief tief und fest, und sie dachte über die richtige Formulierung nach, mit dem Post-it-Block in der Hand: Es gibt Kaffee, Honig und Cornflakes, ich lasse Dir die Schlüssel hier, damit Du absperren kannst, gib sie dem Portier oder ruf mich an, wegen der Übergabe, meine Nummer ist … Sie hat ihn beim Schlafen betrachtet. Im Neonlicht der Straßenbeleuchtung. Wegen der Übergabe hat sie durchgestrichen.

Gib sie dem Portier oder ruf mich an, wenn du magst, unter …

»Wenn du magst« kam ihr vor wie eine flehentliche Bitte. Schließlich hat sie einfach ihre Telefonnummer an die Kaffeekanne geheftet, mit den Schlüsseln und dem Honig davor.

»Olga, rufst du mich bitte an?« Olga macht es: Das Telefon funktioniert einwandfrei.

Man hat ihnen Grünkohlsalat geliefert. Lässt sich schwer kauen. Die Maskenbildnerin meint, Grünkohl enthalte deutlich mehr Raphanin als Brokkoli, das sorge für eine wunderbare Haut.

Sie könnte George anrufen, um an seine Nummer heranzukommen, nichts leichter als das. Aber völlig ausgeschlossen. Außerdem wäre sie nicht einmal in der Lage, seinen Namen auszusprechen.

Wieder denkt sie an Bob Evans, den Produzenten, der seine Haushälterin bat, ihm jeweils ein Memo mit dem Namen des Mädchens in seinem Bett unter den Morgenkaffee zu schieben. Und wieder denkt sie an Michelle Pfeiffer, wie sie in Catwoman vergeblich ihren Anrufbeantworter abfragt, in der einsamen kleinen Wohnung.

Olga wedelt mit einem BH vor ihrer Nase herum. Es ist Natsumis BH, Marke Princesse Tam Tam in ihrer Größe, warm und ein bisschen feucht. Sie hat noch etwas Zeit, sich mit einem Plaid hinzulegen, bevor man sie aufruft, pass auf die Frisur auf. Das Hemd wird ganz zuletzt angezogen. Es gibt ein Problem mit dem Greenscreen, dort, wo später der Tunnel zum interstellaren Raum eingeblendet wird, das stellt die Einstellungsachse komplett in Frage. Ob er morgens Kaffee oder Tee trinkt? Sie hätte das Post-it lieber an den Wasserkessel kleben sollen. Oder auf den Nachttisch.

Sie hätten zu ihm fahren sollen. Nach Topanga, wie er ihr erzählt hat. Aber es war so weit weg. Kann auch sein, dass er auf sie wartet. Er hat sich Kaffee gekocht. Er hat die Fotos im Bücherregal betrachtet, ein paar Bücher aufgeschlagen. Er hat sich wieder ins Bett gelegt. Er schmökert. Ob er das Foto ihres Sohns bemerkt hat? Sie hatte noch überlegt, ob sie es wegnehmen soll. Er findet das Haus sehr angenehm. Er geht nicht an den Festnetzanschluss, er ist nicht zu Hause.