Unser Leben in den Wäldern - Marie Darrieussecq - E-Book

Unser Leben in den Wäldern E-Book

Marie Darrieussecq

0,0

Beschreibung

Unser Leben in den Wäldern führt uns in eine gar nicht so ferne Zukunft, wo wir es vermutlich ganz normal finden werden, dank implantierter Technik ständig "online" zu sein, smart vernetzt mit Wohnung, Verkehrsmitteln, Arbeit und den staatlichen Autoritäten. Was aber geschieht mit uns, wenn wir in einer Gesell- schaft leben, in welcher der technische Fortschritt und Turbo-Kapitalismus auf die Spitze getrieben sind? In der Klone uns als lebende Ersatzteillager für Organe dienen? In der Roboter den Großteil der Arbeit übernehmen? In der die Unter- scheidungslinie zwischen KI-Affen und Menschen zu verschwinden droht? Die wenigen Rebellen, denen dämmert, was für eine Realität tatsächlich hinter dem System steckt, flüchten sich in die Offline-Welt der Wälder. Und dort schreibt Marie, ehemalige Psychiaterin, mit Bleistift und Papier ihre Aufzeichnungen: ein in aller Eile verfasster Bericht vom Leben, von der Liebe, vom langsamen Be- greifen einer fast undurchschaubaren Überwachungsdiktatur, wo eliminiert wird, wer – wie sie – zu viel fragt. Sie schreibt ins Ungewisse hinein, voller Hoffnung, irgendwer könnte irgendwann ihren Mahnruf lesen, der den letzten glühenden Funken freien menschlichen Willens bezeugt. Ein fulminanter Text, verzweifelt, wütend, geprägt von schwarzem Humor – aus einer Zukunft, die sich erschreckend logisch aus unserer Gegenwart speist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 152

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Darrieussecq

Unser Leben in den Wäldern

Roman

Die Originalausgabe erschien

unter dem Titel Notre vie dans les forêts.

© 2017 P.O.L Éditeur, PARIS

Das Motto entstammt dem Gedicht Guljaka (1922) von Sergej Jessenin, auf Deutsch nach der Übersetzung von Annemarie Bostroem.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. herzlich für die Förderung seiner Arbeit.

Erste Auflage

© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Frank Heibert

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.secession-verlag.com

Einbandentwurf unter Verwendung einer Grafik von Tomas Clarkson und typografische Gestaltung: Ferdinand Ulrich, Berlin

ISBN 978-3-906910-59-8

eISBN 978-3-906910-60-4

»Ich habe keinen Unglücklichen in irgendeinem Loch erschossen.«

SERGEJ JESSENIN

Ich tat das Auge auf und peng, alles trat zutage. Es war sonnenklar. Wir hatten fast alle unsere Hälften dabei. Meine Hälfte, die war so dermaßen unselbstständig, zum Fürchten. Eine Zimperliese. So nannte ich sie: die Zimperliese. Ich hatte jeglichen Sinn für Psychologie verloren. Mit ihr funktionierte nur eins, sie herumzuschubsen. Ein bisschen.

Nur Mut. Ich muss diese Geschichte erzählen. Ich muss versuchen, mir alles zusammenzusetzen, damit ich es verstehe. Alle Einzelteile aufklauben. Weil es nicht läuft. Das ist alles nicht gut. Überhaupt nicht gut.

Sie war unreif, aber das ist normal. Wenn man sich das Leben anschaut, das sie gelebt hatte. Das man ihr bereitet hatte. Gut. Aber ich mag nicht mit meiner Hälfte beginnen. Die ermüdet mich. Ich könnte mit meinem Patienten beginnen, dem Klicker. Meinem Patient Zero, sozusagen. Dass ich alles durchschaute, habe ich ihm zu verdanken, glaube ich. Er wurde verrückt, da war er nicht der Einzige. Wegen seiner Arbeit, jedenfalls kam er anfangs deshalb. Anfangs kommt keiner aus den wahren Gründen, oder? Ich spreche aus Erfahrung.

Als Erstes will ich Ihnen meine derzeitige Situation schildern, jetzt gleich: weil ich das Gefühl habe, ich muss schnell machen. Ich habe wenig Zeit. Das spüre ich in den Knochen, den Muskeln. In dem Auge, das mir geblieben ist. Ich bin schlecht beieinander. Ich werde keine Zeit haben, das noch mal durchzulesen. Oder einen Plan zu machen. Es kommt, wie’s kommt. Also:

Ringsum sehe ich ein Lager im Wald. Zelte und Planen. Löcher. Kohlenbecken in Ölfässern. Das Dach der Bäume, das uns vor den Drohnen schützt. Ein gehackter Internetzugang und ein paar zusammengebastelte Roboter. Trockenklos und eine Führung mit eiserner Hand. Eine Rückkehr zu den Anfangsgründen.

Der große Vorteil der Hälften ist ihre Flexibilität. Sie passen sich allem an. Ihr größter Mangel ist, sie kapieren nichts. Meiner musste ich alles beibringen. Wirklich alles. Ich sag’s Ihnen: Sie konnte nicht mal laufen. Und das war erst der Anfang. Nehmen Sie einen großen schlaffen Körper von fast vierzig Jahren, auch wenn sie höchstens wie fünfundzwanzig aussah, ein hübsches Ding, und stellen Sie ihn hin, vertikalisieren Sie ihn: Kaum tat sie die Augen auf, peng, fiel sie hin. Sah schon lustig aus, dieses schöne Geschöpf schlagartig am Boden.

Ich hatte bei meinem Baby-Praktikum gelernt, wie man vertikalisiert. Das funktioniert bis ungefähr vier oder fünf Wochen. Danach sind sie schon zu weit entwickelt. Sie packen einen Säugling an Kopf und Hintern, der liegt da in seiner Wiege und ist praktisch zu gar nichts zu gebrauchen, und dann, zack, wird er vertikalisiert: und steht aufrecht wie Sie. Wie der Homo sapiens sapiens, der er ist. Und er tut die Augen auf. Das ist magisch. Wo er eben noch tief zu schlafen schien. Er sieht Sie an. Er sieht sich um. Er stellt sich Fragen. Klappt jedes Mal.

Das brachte uns Praktikanten zum Lachen. Also, auf die zärtliche, die nette Weise. Das Vertikalisieren meiner Hälfte, ich wollte schon sagen, meiner Praktikantin, war eine Sache für sich, schließlich ist sie so groß wie ich, exakt 1,67 und einen halben Zentimeter, auf meinem halben Zentimeter Nachschlag hab ich immer bestanden (dabei ist sie in Wahrheit gut 1,68 groß: weil sie nicht vom Leben gestutzt wurde wie ich). Gut. Ich kam einigermaßen zurecht, zusammen mit den anderen Flüchtlingen. Wir vertikalisierten unsere Hälften gemeinsam, zu mehreren. Wir hielten sie an Beinen und Schultern fest und lehnten sie an einen Baum. Und überhaupt, was haben wir nicht alles mit denen gemacht. Tja, und meine tat die Augen auf. Regelmäßig. Und dann stellte sie mir Fragen mit ihren Blicken. Das war berührend, aber auch hart. Die Leere ihrer Augen. Die Angst, nichts anderes. Wo beginnen? Ich sagte ihr meinen Namen, Viviane, und dann ihren: Marie. Ich heiße natürlich auch Marie, aber ich hatte Viviane als Fluchtnamen angenommen. Man muss schon mitziehen.

Und dann das Gehen. Wie ein Baby. Es ging schnell, so als hätte ihre Art von Leben sie schon über gewisse menschliche Data informiert, den aufrechten Gang und später das Sprechen. Ihre Muskulatur musste aufgebaut werden, auch an Zunge und Kiefer, das war das A und O, um sie im Gehen und Sprechen zu trainieren. Da im Wald machten wir Logopädie und Orthopädie, nicht mehr und nicht weniger. Wir modellierten ihre Menschengestalt und halfen ihnen, ihre Stimme zu entdecken. Meine Ausbildung war dabei nützlich. Nun haben wir, muss man sagen, im Wald auch nicht viel zu tun. Derzeit ist unser Handlungsspielraum sehr begrenzt. Es geht darum, gut organisiert zu flüchten, aber die Flucht ist etwas sehr Aktives, vertun Sie sich da nicht. Wir können uns nicht erlauben, die Hälften auf Tragen zu transportieren wie zu Anfang. Dafür sind es zu viele geworden. Und sie müssen laufen, schnell laufen. Sie mussten lernen zu rennen. Beim Kochen, beim Wasserholen, beim Ausheben der Tunnel, beim Aufbau der Zelte usw., da haben sie sich als nützlich erwiesen. Wenn ich »sie« sage, meine ich natürlich Männer und Frauen, allerdings eine deutliche Mehrheit an Männern.

Gut. Womit fang ich an. Ich glaube, die elementaren Vorsichtsmaßnahmen, an die wir uns halten, muss ich nicht erläutern, die liegen auf der Hand: das Verwischen unserer Datenspuren, unserer Identitäten usw. Das Organisieren unseres Verschwindens. Wenn jemand verschwindet, und zwar, ohne dass die es entschieden haben, das stört sie am meisten. Wir sind alle verschwunden. Wobei sie schon wissen, wir sind da, in einer Art verkehrten Welt.

Der Planet ist klein. Das haben wir schnell gemerkt. Ich meine, seit den Reisen von Kolumbus und Magellan und Cook und so weiter und so fort (Kolumbus, Magellan und Cook waren Entdecker). Seit wir in die Tiefsee tauchen, Mond und Mars anfliegen und die Jupitermonde und bald auch bewohnbare Planeten, gibt es nicht mehr richtig viele Orte auf der Erde, wo man sich verstecken könnte. Das versteht sich von selbst. Komisch ist nur, man kriegt es doch hin. Es ist sehr unbequem. Man muss auf alles verzichten, was selbst Haustieren zusteht: Trockenfutter, leichten Zugang zu Nahrung, Zuwendung. Wenn man akzeptiert, ständig nasse Füße zu haben, nie mehr Kaffee zu trinken und heiße Duschen zu vergessen (ich rede nur von dem, was mir am meisten fehlt), kann man sich schon verstecken. Verschwinden. Solange es noch Wälder gibt.

Es wäre ja nur logisch, wenn sie die Wälder abfackeln würden. Oder wenn sie den kompletten Naturwald auf Halde legen und auf dem frei gewordenen Boden große Baumfelder anpflanzen würden, die Baumkronen in Planquadraten: kein Unterholz mehr, alles einsehbar. Das wird derzeit geprüft. Aber ich habe keine Zeit, mich hier über Dinge auszulassen, die Sie schon wissen und gegen die Sie vielleicht (die Hoffnung stirbt zuletzt) kämpfen. Ich schreibe, um zu verstehen und um Zeugnis abzulegen, in ein Heft selbstverständlich, mit einem Holzbleistift mit Grafitmine, das gibt es noch: nichts, womit man online gehen könnte. So wenig technologisch wie die gigantischen körperlichen Anstrengungen, die in Lascaux oder in der Sixtinischen Kapelle unternommen wurden, na ja, ich will mich natürlich nicht damit vergleichen (Lascaux ist eine berühmte Höhle mit Malereien und das andere eine berühmte Kirche, auch ausgemalt). Irgendwann wird mein Heft wahrscheinlich in einem Ölfass irgendwo verscharrt. Vielleicht zusammen mit mir, schon bald. Meine Hälfte wird mir viel später und ganz friedlich nachfolgen. Von uns beiden wird die Zimperliese das bessere Leben gehabt haben. Das bestmögliche Leben. Manchmal sag ich mir, dass unser höchstes Ziel, im Grunde unser Edelstes, darin besteht, unsere Hälften zu beschützen.

Ich bin hier der Dinosaurier. Ich habe sehr lange durchgehalten. Ich werde – das ist selten – in dem Ritus, den wir uns gegeben haben, auf unseren Friedhof kommen. Hoffe ich jedenfalls. Die überwältigende Mehrheit von uns ist gestorben, ohne etwas zu durchschauen. Manchmal steigt mir das zu Kopf: durchschaut zu haben. Auch wenn ich noch nicht alles durchschaut habe.

Also weiter. Nur Mut. Mir ist kalt. Der Patient Zero, der Klicker. Sie wissen, was das für ein Beruf ist, Klicker? Der muss Robotern all unsere geistigen Assoziationen beibringen, damit sie sie eines Tages an unserer Stelle hinkriegen. Das soll sie in die Lage versetzen, empathisch vorzugehen usw. Die unendliche Wiederholung seiner Aufgabe brachte den Klicker zu mir. Man geht davon aus, dass das noch etwa fünfzig Jahre dauern wird. Aber bis dahin besteht der Job daraus, vor seinem vernetzten Arbeitsblock zu hocken und mit einem Klick Wörter und Bilder oder Wörter und Klänge oder Klänge und Bilder zu verbinden, oder Farben mit Emotionen, so was alles. Das kann man sogar im Kopf machen, wenn man bereit war, sich seinen Block implantieren zu lassen. Dann kann man es im Gehen machen oder unter der Dusche, nur dass man – so hat es mir der Klicker erklärt – dafür seine komplette Aufmerksamkeit mobilisieren muss. Das klingt mechanisch, aber es erfordert Konzentration und Tempo. Man tut ad infinitum, was der menschliche Geist beherrscht und wo der Roboter ins Schwimmen gerät. Und was auch sehr schwierig auf eine Formel zu bringen ist. Man muss die Links vervielfachen, das ist die einzige Lösung, klick klick klick, so liefert man den Robotern alles, woran man bis dahin gedacht, was man gefühlt, was die Menschheit erlebt hat.

Klick klick klick klick klick.

Ich stelle mir vor, dass der letzte Wald verschwunden sein wird, wenn der erste Menschenroboter fertiggestellt ist. Berührung der Ziellinie. Fünfzig Jahre. Das werde ich nicht erleben. Ich bin vorher kaputt. Ein Glück, dass ich keine Kinder habe.

Also. Der Klicker. Mein Klicker, wenn ich ihn so nennen darf, musste in irgendeiner engen Nische den ganzen Tag lang Begriffe wie »traurig«, »schrecklich« oder »eklig« mit Attentatsbildern verbinden. Zerstückelte Körper usw. Mit der Zeit ließen ihn die Bilder erstarren, aber er schaffte es nicht, sich eine andere Arbeit zuteilen zu lassen. Er hätte zum Beispiel gern im künstlerischen Bereich gearbeitet, etwa Beethoven (einen Komponisten des 19. Jahrhunderts) mit »schön« oder »musikalisch« assoziiert, so die Richtung. Aber die Klicker werden bei ihrer Arbeit von ziemlich rudimentären Robotern gesteuert: ein bisschen wie Onlineshopping, wenn man Schuhe angeboten kriegt, weil man gerade welche gekauft hat, oder einen Hals-Nasen-Ohrenarzt, weil man geschrieben hat, dass man an der Nase herumgeführt worden ist. Muss der Anblick von Blut immer etwas Negatives sein, immer mit Entsetzen assoziiert werden? Diese Art Fragen stellte sich der Klicker, all das für zwei Dollar die Stunde. Vielleicht wurde er subversiv. Klicker langweilen sich dermaßen, dass sie ihre ganze Zeit in Chats verbringen, sie werden übrigens ungewollt zu echten Spitzeln (manche wollen das auch). Als er zu mir kam, bat er mich als Erstes darum, den Mund zu halten. Das überraschte mich. Das ist nicht gut, sagte ich mir. Der bringt mich noch in Schwierigkeiten. Ich bin dazu ausgebildet, eine Diagnose zu stellen, das ist nicht besonders kompliziert, und die Leute dann der Behandlung zuzuführen, die am besten zu ihnen passt – ich sage es so: die ihnen am wenigsten schadet. Das ist anscheinend schon eine Meinung. Ich soll aber vollkommen neutral sein und zugewandt. Zugewandt kriege ich hin, weil ich meinen Patienten im Allgemeinen mit Nachsicht begegne. Wenn ich spüre, dass etwas nicht gut ist, verweise ich sie an meinen Controller (der ist stark, er behandelt sogar Perverse). Gut, sobald ich also meine Diagnose erstellt habe, hysterisch mit paranoiden Tendenzen oder dramatischer Zwängler (ich habe da meine eigenen Kriterien, nach denen ich die Formulare ankreuze), höre ich ein Weilchen zu, wie sie reden, dann dirigiere ich sie zu den jeweiligen Methoden. Aber dieser Patient, der Klicker, wollte nicht berührt werden, wollte nichts gesagt bekommen, er wollte nicht mal, dass ich ihn einordne. Er wollte es sich in seinem Sessel bequem machen und, sagte er mir, sich erholen.

Ich sagte: »Erholen, haben Sie einen Todestrieb?« Und er sagte zu mir: »Haben Sie Erbarmen, bitte schweigen Sie.« Da nahm ich das Wort »Erbarmen« auf und bemerkte, dass der Tod und das Erbarmen vermutlich die Begriffe waren, mit denen er in seinem Beruf am häufigsten zu tun hatte. Aber er meinte, er hätte keine Lust, von seinem Beruf zu reden, das sei kein Beruf, bloß ein Job, eine harte Arbeit, ein Broterwerb, Sklaverei, und wenn er die halbe Stunde bei mir, die ihm die Arbeitsmedizin aufzwang, mit Nichtstun und Nichtssagen verbringen dürfte, Erholen und Träumen, sonst nichts, das wäre schön, vielen Dank.

Er hatte zwei Sitzungen pro Woche verordnet bekommen seit meiner Diagnose »Depression mit suizidalen Tendenzen, Burn-out möglich«. Wenn ich ihn empfing, ruhte ich mich auch aus. Nachdem ich mich erst mal an das Schweigen gewöhnt hatte. Seines, aber vor allem auch meines. Meistens rede ich viel, muss ich sagen, vielleicht zu viel. Ich schnattere, sagt mein Controller. Die wirksamste Methode heißt EMDR, alle 30 Sekunden zäsiert von beruhigenden Sätzen. Klar, dass mich dieser ataktile Aphasiker verstörte. Mein Controller meinte bloß, ich solle ihn kommen lassen. Wortwörtlich. Treu auf dem Posten bleiben. »Der Patient soll wissen«, sagte mein Controller, »dass er kommen kann, das ist das Wesentliche. Das ist die grundlegende Erwartung an seinen Therapeuten: dass er da ist.« Also war ich das. Der Patient kam, er kam zurück, er machte es sich im Sessel bequem, und manchmal fragte ich mich, ob er nicht mit offenen Augen schlief. Mein Controller war alt, er kannte noch die alte Zeit und hatte die neue überlebt, mit anderen Worten, er hatte Erfahrung. Dank ihm hielt ich die Angst aus, die dieses Schweigen und diese Reglosigkeit in mir auslösten. Ich fragte nicht mal mehr: »Woran denken Sie?« Worauf der Klicker unweigerlich geantwortet hatte: »Ich denke, ich könnte mich zu Hause besser erholen als hier«, und unweigerlich hatte ich darauf geantwortet, dass er genau das ja nicht könnte, sich erholen, und dann bat er mich, Erbarmen zu haben und zu schweigen, und wenn ich meinem Controller über die Sitzung Bericht erstattete, sagte auch er, ich solle schweigen; also fügte ich mich.

Ich hatte meinen Controller zunächst als Therapeuten kennengelernt, als meinen Psychotherapeuten. Ich führte ein normales Leben, ich arbeitete, ich ging mit meinem Hund raus (ich hatte einen Hundeschein), ich besuchte alle zwei Wochen Marie. Aber glauben Sie bloß nicht, das wäre leicht gewesen. Sie hatten mir zwei Therapiesitzungen gratis pro Woche verordnet, darauf hatte man mit unserem Status Anspruch. Die Besuchserlaubnis bei Marie hatte ich bekommen, weil meine Mutter so hartnäckig war. Und schließlich stellten sie fest, dass uns die Besuche bei unseren Hälften unterm Strich eher guttaten als schlecht. Es gab sogar eine Zeit, wissen Sie das noch, da liefen Werbespots im Radio: Zwischen den Empfehlungen, sich die Hände zu waschen, viel zu trinken, wenn es heiß war, sich warm anzuziehen, wenn es kalt war, und zu Hause zu bleiben, wurde Die Generation dazu aufgefordert, Kontakt mit den Erholungszentren aufzunehmen /

/ plötzlich fällt mir ein, dass das so hieß, Erholungszentren; es bringt schon was, wenn man schreibt, das sorgt für Klärung: Zentren der Erholung, wie das Lieblingswort meines Patient Zero /

/ Gut. Die Erholungszentren. Da wurden die Körper zwischengelagert. Die Körper unserer Hälften. Das macht man immer noch so, aber ich mag davon nicht im Präsens sprechen. Wenn ich in der Vergangenheitsform davon spreche, kommt es mir vor, als hätten wir gewonnen. Da wurden die Körper zwischengelagert. Damals nannten wir sie noch nicht Hälften. Ich hatte noch keinen Kontakt mit jemandem aus Der Generation oder jemandem, der von Der Generation betroffen war. Damals ging ich mit einem gewissen Romero aus.

Als ich Marie zum ersten Mal sah, war das natürlich sehr seltsam. Ich war, was, vierzehn? Also fing ich eine Therapie an. Zwei Sitzungen pro Woche, in denen ich von Marie redete, von nichts anderem als Marie. Die meisten Leute gehen ja da hin, um von ihren Eltern zu reden, ganz platt. Oder, wenn’s hochkommt, von ihren Partnern. Von ihren Kindern, ihrer Arbeit, ihrer Arbeitslosigkeit. Und ich von diesem Mädchen, das da ausgestreckt lag. Die haben uns echt in ein riesiges Chaos gestürzt. Höflich ausgedrückt.

Ich wusste nicht, dass ich so hübsch war. Da reagierte mein Narzissmus. So faszinierend, genauer gesagt. Dann wurde mir klar, dass Marie viel hübscher war als ich. Sie war kein genaues Spiegelbild von mir. Faszinierend war sie, nicht ich. Ich versuchte, richtig zu begreifen, dass sie nicht ich war. Aber wenn man eine vor sich hat, die die ganze Zeit schläft, ist das gar nicht so einfach. Ein Gespräch hätte es gebraucht. Eine Begegnung hätte es gebraucht. So nannten sie das, »Begegnung«, aber es passierte nichts. Wobei es durchaus eine Möglichkeit gab, sie aufzuwecken. Unter den Besuchern wurden Tricks ausgetauscht: ihnen sehr bestimmt ins Ohr zu sprechen, nicht laut, aber autoritär, ein autoritäres Murmeln. Dann taten sie die Augen auf. Sie taten ganz kurz die Augen auf, in einem riesigen Flash, ganz weit sperrten sie die Augen auf und (das muss man schon sagen) furchtbar erschrocken: Man hatte gerade mal Zeit, zurückzuweichen und in die große erschrockene Leere ihrer Augen zu schauen. Dann schlossen sie sich wieder. Und ihr Gesicht sank zurück in seine schreckliche Gelassenheit.