Manduchai – Die letzte Kriegerkönigin - Tanja Kinkel - E-Book
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Manduchai – Die letzte Kriegerkönigin E-Book

Tanja Kinkel

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Beschreibung

Asien im 15. Jahrhundert: In einer Zeit der Männer greifen zwei Frauen nach der Macht. Die Geschichte Chinas und der Mongolei wurde durch die geprägt: Manduchai, Königin der Mongolen, Wan, die wahre Herrscherin auf dem Drachenthron. Sie sind die mächtigsten Herrscherinnen ihrer Zeit - zu einem hohen Preis: Manduchai muss sich gegen ungeheure Widerstände bis an die Spitze der Mongolenheere kämpfen. Ihr gefährlichster Rivale dabei ist ausgerechnet ihre große Liebe. Doch es gelingt ihr, und sie kann das Volk Dschingis Khans noch einmal zur alten Größe führen. Wan war zunächst die Kinderfrau des chinesischen Kaisers, dann seine Geliebte, ehe sie in den Rang der kaiserlichen Konkubine Aufstieg und zur wahren Herrscherin Chinas wurde. Trotzdem musste sie tagtäglich um die Gunst des Kaisers gegen Eunuchen, Minister, Kriegsherren und junge schöne Rivalinnen kämpfen. Doch erst in Manduchai erkennt sie die ebenbürtige Gegnerin, die ihr gerade geformtes Reich gefährdet. So gibt sie den Neubau der total verfallenen großen Mauer in Auftrag. Als sich die Frauen nach Jahren der Intrigen und Kriege, nach Jahren des Mordens gegenüberstehen, wissen sie, dass es in ihren Händen liebt, ob das Töten weitergeht ...

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Tanja Kinkel

Manduchai – Die letzte Kriegerkönigin

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Asien im 15. Jahrhundert: In einer Zeit der Männer greifen zwei Frauen nach der Macht.

Die Geschichte Chinas und der Mongolei wurde durch sie geprägt: Manduchai, Königin der Mongolen, Wan, die wahre Herrscherin auf dem Drachenthron.

Sie sind die mächtigsten Herrscherinnen ihrer Zeit - zu einem hohen Preis:

Manduchai muss sich gegen ungeheure Widerstände bis an die Spitze der Mongolenheere kämpfen. Ihr gefährlichster Rivale dabei ist ausgerechnet ihre große Liebe. Doch es gelingt ihr, und sie kann das Volk Dschingis Khans noch einmal zur alten Größe führen.

Wan war zunächst die Kinderfrau des chinesischen Kaisers, dann seine Geliebte, ehe sie in den Rang der kaiserlichen Konkubine aufstieg und zur wahren Herrscherin Chinas wurde. Trotzdem musste sie tagtäglich um die Gunst des Kaisers gegen Eunuchen, Minister, Kriegsherren und junge schöne Rivalinnen kämpfen. Doch erst in Manduchai erkennt sie die ebenbürtige Gegnerin, die ihr gerade geformtes Reich gefährdet. So gibt sie den Neubau der total verfallenen großen Mauer in Auftrag.

Inhaltsübersicht

WidmungPersonenverzeichnisDer Gelbe DracheKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Pfeil und StahlKapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Der Goldene PrinzKapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Auf dem Rücken des TigersKapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Das JadereichKapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34NachwortBibliographie
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Für meinen Vater

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Personenverzeichnis

Choros-Sippe:

Esen Taidschi: einflussreichster Kriegsherr seit der Vertreibung der Mongolen aus China

Tsorokbai-Temur: Esens rechte Hand

Manduchai: Tsorokbai-Temurs Tochter, später Khatun der Mongolen

Bribsun: Manduchais Mutter

 

Bordschin-Sippe:

Samur Gundschi: Esens Großmutter und spätere Gegnerin

Manduul Khan: Manduchais erster Gatte

Önbolod: wichtigster General Manduul Khans

Boroktschin und Ischige: Manduul Khans Ziehtöchter

Bolcho: Manduul Khans Großneffe, der »Goldene Prinz«

Batu Möngke: Bolchos Sohn, letzter überlebender Nachfahre von Dschingis Khan

 

Aus den Oasen des Südens:

Beg-Arslan: Esens Nachfolger als Taidschi

Jeke Chabartu: seine Tochter, Manduul Khans erste Gemahlin

Issama: Beg-Arslans Helfershelfer

Schiker: Bolchos Ehefrau, Mutter von Batu Möngke

 

In der Verbotenen Stadt:

Wan (Zhen’er): Kinderfrau des Kronprinzen, später erste Konkubine des Kaisers von China

Ma Jing: Eunuch, der nach der Schlacht bei Tumu in mongolische Gefangenschaft gerät

Zhi: mit Wan verbündeter Eunuch

Chenghua: (als Prinz noch Zhu Jianshen): Wans Schützling und Schlüssel zur Macht

Li Dongyang: Papierhändler, Freund von Ma Jing

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Teil I

Der Gelbe Drache

(1448)

Kapitel 1

Am Tag, ehe sie zur Welt kam, half ihre Mutter Bribsun noch bei der Geburt eines Kamelfohlens. Das brachte Glück, und im Übrigen war es bedeutungsvoll. Ihr Vater war einer der wichtigsten Männer der Choros-Sippe und der Schwurbruder ihres Anführers. Niemand respektierte einen Mann, dessen Frau seine Herden vernachlässigte. Bribsun und ihre Dienerin gingen mit der Kamelstute auf und ab, streichelten ihr das Fell, murmelten beruhigende Laute und teilten ihre Wärme mit dem Tier. Die Nächte waren kalt in der Wüste, und Bribsun, in dicke Luchspelze gehüllt, die ihr als Frau eines bedeutenden Mannes zustanden, wünschte sich nur, sie hätte selbst ein Fell. »Bah«, sang sie der Kamelstute vor, »bah«, und das Kind in ihrem Bauch, das sie gerade getreten hatte, wurde ruhiger.

Die Kamelstute gebar schnell. Bribsun brauchte am nächsten Tag vier Stunden, in denen sie mit gespreizten Beinen in Hockstellung halb stand, halb saß, den Oberkörper über einen umgedrehten Korb gelegt. Aber es dauerte nicht so lange wie die Geburt ihres Sohnes im vorletzten Jahr, und so war sie zufrieden, als das Kind aus ihr heraus und auf die Filzmatte glitt, die ihre Dienerin bereitgelegt hatte. Bribsun reinigte ihr Neugeborenes mit Schafswolle von Blut und Schleim, wie es der Brauch gebot, und sah, dass es ein Mädchen war. Nach einem lebenden Sohn würde das Geschlecht ihren Gatten nun nicht kümmern; auch Töchter waren wichtig für die Sippe. Das Kleine hatte den kleinen blauen Fleck am Steiß, den alle wahren Kinder des Ewigen Blauen Himmels besaßen, und so war es gut.

»Das Land war dürr und wasserlos«, sagte Bribsun zu dem Säugling, wie sie es auch ihrem Sohn erzählt hatte, wie alle Mütter es ihren Kindern erzählten, »und unser Urvater wurde von einer Wölfin gesäugt. Als das Wasser zurückkehrte, brachte sie ihn zurück zu den Menschen, aber sie biss ihn vorher, damit sie ihn überall wieder erkennen würde. Deswegen hast du diesen blauen Fleck, denn wir sind alle die Kinder der Wölfin.«

Es gab noch keinen Namen für ihr Mädchen. Namen kamen erst, wenn das Kind alt genug war und das Reiten beherrschte. Wenn es nicht vorher starb, dann würde zudem sein Haar geschnitten und allen Freunden und Verwandten davon geschenkt werden. Erst dann würde es einen Namen erhalten, einen richtigen Namen. Bis dahin durfte es keinen Namen geben, um so die bösen Geister in die Irre zu führen und ihnen weiszumachen, es gäbe gar kein neues Kind, dem sie Gewalt antun konnten.

»Krümelchen«, flüsterte Bribsun, spuckte und rieb einen weiteren Blutfleck vom Körper ihres neugeborenen Mädchens, »Krümelchen, mein Kleines.«

Ihr Sohn, der fast zwei Jahre zählte, war noch immer das Filzchen, aber bald schon würde er einen Namen erhalten und auf dem Pferd sitzen, ohne dass er länger festgehalten werden musste. Er war ein gesundes, fröhliches Kind. Er würde leben, um seinem Vater und ihrer gesamten Sippe Ehre zu machen.

Der Säugling schrie ob der ungewohnten Kälte außerhalb von Bribsuns Bauch, und die Dienerin lachte. »Lauter als das Kamelfohlen«, sagte sie, und Bribsun, so erschöpft sie auch war, lachte ebenfalls. Während sich ihre Magd daranmachte, Bribsuns Beine gleichfalls mit Schafswolle zu reinigen, legte Bribsun sich das Kind an die Brust und begann, es zu wiegen.

»Du kannst dem Herrn sagen, er kann den Hammel schlachten lassen.«

Es würde ein alter Hammel sein, wegen des guten, zähen Fleisches. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte sie tagelang nichts als Hammelfleisch gegessen und Hammelbrühe getrunken, um ihre Zähne wieder zu kräftigen. Schließlich musste sie so bald wie möglich wieder auf den Beinen sein. Bei einem Jungen waren ihr drei Tage gegeben worden, aber für dieses Mädchen würde es nur einer sein. Es war Frühling, und der Schwurbruder ihres Gatten hatte große Pläne für die Sippe. Für alle Stämme. Dies war kein Jahr, in dem man sich auf ein langes Sommerlager würde einrichten können.

Es war das Jahr mit dem stärksten aller Tierkreiszeichen: das Jahr des gelben Drachen.

 

»Wie ist die Beute?«, fragte Esen seinen Schwurbruder, denn nur ein Tölpel, der kein Kind des Ewigen Blauen Himmels war, hätte die Bedeutung dieser Frage nicht verstanden und sich plump nach dem Geschlecht des Kindes erkundigt.

»Eine, die Ziegen melkt«, erwiderte Tsorokbai-Temur, was hieß, dass es ein Mädchen war, und strich seinem Sohn über den Kopf. Er musste fast schreien, denn die Schamanen, die er gebeten hatte, die Geburt seines zweiten Kindes zu deuten, machten mit ihren Trommeln immer noch einen solchen Lärm, dass man sein eigenes Wort kaum verstand. Sie waren längst nicht mehr ansprechbar, so hatten sie sich in Ekstase getanzt. Die beiden Männer saßen in Tsorokbai-Temurs Jurte. Eigentlich wäre Tsorokbai-Temurs Platz auf dem Lager an der Nordseite gewesen und Esens zu seiner Rechten auf der Westseite, wie es Ehrengästen gebührte, aber Esen war nicht irgendein Ehrengast. Er war Taidschi. Zwar gab es einen Khan, aber es war über hundert Jahre her, dass die Kinder des Ewigen Blauen Himmels sich der Herrschaft des jeweiligen Großkhans gebeugt hatten. Inzwischen war es fast bedeutungslos, wen man Khan nannte, denn er hielt keine wirkliche Macht mehr in den Händen. Er zeichnete sich einzig dadurch aus, dass in seinen Adern noch das Blut des Urvaters Dschingis floss.

Der Mann, dem andere Männer auf Beutezüge wie in die Schlacht folgten, das war der Taidschi, der Kriegsfürst. Auch der Taidschi war nur Herr über die Sippen von zwei, drei Stämmen gewesen – bis Esen den Titel errungen hatte. Durch Heiratsverbindungen und Machtkämpfe vereinte er mehr und mehr Sippen unter sich, und nach langen Kriegen gegeneinander glaubten die Kinder des Ewigen Blauen Himmels durch ihn wieder an die Zukunft. Esen, der aus der Choros-Sippe stammte, hatte ihnen gezeigt, dass er nicht nur ein besserer Kämpfer als alle anderen Sippenoberhäupter war, sondern auch ein vorausschauender Stratege. Die Einheit der Mongolen, die der Urvater Dschingis ihnen gebracht hatte, war wieder zu etwas Greifbarem geworden. Mittlerweile glaubte sogar Tsorokbai-Temur, dass Esen das Ziel erreichen würde, von dem sein Schwurbruder schon seit ihrer Jugend sprach: alle Sippen, alle Stämme zu vereinen und so wieder das Heer zu schaffen, vor dem die ganze Welt gezittert hatte; erneut das zu tun, was der Urvater vollbracht hatte. Für solch einen Mann war ein Ehrenplatz zu wenig. Ihm musste man den Platz des Hausherrn zugestehen, die Liege an der Nordseite, von der aus die gesamte Jurte überblickt werden konnte.

»Nun, mein Freund, du hast genügend Ziegen, die gemolken werden müssen«, erwiderte Esen gut gelaunt. »Trotzdem ist es ein Jammer, dass es nicht einer ist, der Zieselmäuse mit der Schlinge fängt. Dies ist ein gutes Geburtsjahr für Jungen. Das beste, aber ich glaube ohnehin, ein Wolf wie du zeugt keine Lämmer. Weißt du, was die Schamanen mir erzählen? Er könnte wiederkehren in diesem Jahr.« Esen kniff die Augen zusammen und senkte die Stimme. »Der Urvater.«

Das Gespräch wurde unterbrochen von den zwei bunt gekleideten Schamanen, die immer noch auf ihre Trommel schlugen, als müssten sie damit auf sich aufmerksam machen.

»Was könnt ihr mir aus dem Jenseits berichten?«, wollte Tsorokbai-Temur von ihnen wissen und schaute sie erwartungsvoll an.

»Wir haben ihn getroffen, den Urvater«, antworteten sie in tiefem Ernst, »und er hat versprochen, seine Hand über Euer Kind zu halten. Er erwarte Großartiges aus der Sippe, und Ihr dürft nicht zulassen, dass Eurem Kind etwas geschieht, so hat er gesagt. Aber die Geier, die uns zu ihm in den Ewig Blauen Himmel brachten, die hassen Euch, weil Ihr ihnen nicht genug Beute lasst, davor wollen wir Euch warnen.« Mit diesen Worten und einem großen Schlauch Airag trollten sie sich, begleitet von dem eintönigen Klang ihrer Trommeln.

»Die Schamanen unserer Sippe treffen für meinen Geschmack den Urvater etwas zu häufig. Ich glaube, alle unsere Geisterbetreuer machen sich nur Sorgen darum, dass sie ohne seine Hilfe keinen Einfluss mehr auf dich haben«, sagte Tsorokbai-Temur lächelnd. »Und auf mich.« Seit eine Magd von der glücklichen Geburt berichtet hatte, tranken sie Airag, gegorene Stutenmilch, und das frische, süße Prickeln des Airag verführte ihn dazu, über Esen zu scherzen. »Nachdem du nun ein Moslem bist.«

Esen grinste. Es war ihm gelungen, einige der Mogulenherrscher im Westen wieder zu unterwerfen, die bereits zur Zeit der Söhne des Urvaters Dschingis zum Islam konvertiert waren, so dass sie eigentlich nicht mehr als Kinder des Ewigen Blauen Himmels zählten. Der Sieg brachte ihm die uneingeschränkte Herrschaft über die längsten Strecken der Seidenstraße und den Zugriff auf die Tribute auf Seide, Tee, auf Gewürze und Glas, welche alle Karawanen an ihn leisten mussten. Er hatte dies durch die Heirat mit der Schwester eines der mächtigsten Mogulenherrscher besiegelt. Da es einer Muslimin aber verboten war, einen Nicht-Moslem zu heiraten, war es Esen gewesen, der danach ein anderes Glaubensbekenntnis sprach, obwohl niemand ihn nach der Eheschließung je wieder die fünf Gebete am Tag verrichten sah.

»Allah war ein nützlicher Gott für mich«, sagte Esen. »Die Schamanen können nicht übelnehmen, was nützt. Und sie bleiben wachsam und sind bemüht, mir ebenfalls nützlich zu sein, denn dieser Allah ist eifersüchtig und will nicht, dass man dem Ewigen Blauen Himmel und Mutter Erde mehr Ehre erweist.«

»Ganz wie du«, gab Tsorokbai-Temur zurück. »Ein Gott, der zu dir passt.«

Esen stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite, klatschte in die Hände und befahl einem Knecht, ihm den Reiswein zu bringen, den er Tsorokbai-Temur zur Geburt eines neuen Kindes schenken wollte.

»Aus dem Reich der Mitte«, sagte er, und dieser Ausdruck, sperrig und stolz, den die Chinesen für ihr Land verwandten, wurde in Esens Mund zu Spott. »Lass uns den Krug bis zur Neige leeren, Bruder. Ich habe vor, bald mehr von diesem Wein zu besitzen. Viel mehr.«

In Tsorokbai-Temurs glückliche Benommenheit mischte sich nüchterne Überlegung, Aufregung, Stolz und Sorge zugleich. Er hatte schon seit einiger Zeit geargwöhnt, dass Esens Pläne über die Vereinigung aller Kinder des Ewigen Blauen Himmels hinausgingen. Ihr derzeitiges Lager war nicht weit von der Grenze zu dem Land entfernt, das der Urvater Dschingis, seine Söhne und Enkel unterworfen hatten. Es war von allen Eroberungen die größte gewesen, das Land der Mitte, China, die reichste und die süßeste Beute. Aber seit einem Jahrhundert gehörte es nicht mehr den Kindern des Ewigen Blauen Himmels. Man hatte die Nachfolger Dschingis Khans vertrieben. Von den im Reich der Mitte noch lebenden Sippen und Stämmen waren nur etwa achtzigtausend Familien gegangen, aber über vierhunderttausend waren geblieben. So lebten immer noch viele Mongolen dort und ließen sich Friedfertigkeit und Pferde von den Chinesen mit Reis und anderen Geschenken bezahlen. Die meisten Nachkommen hatten sogar viele Sitten der Chinesen übernommen. Das war eine Schande, aber konnte man ihnen Verkommenheit oder gar Feigheit vorwerfen, wenn es auch im Jadereich, dem Land des Ewigen Blauen Himmels, genügend Mongolen gab, die sich vom großen Nachbarn durch Geschenke kaufen und aufeinander hetzen ließen? Tsorokbai-Temur wusste sehr genau, dass all die kleinen Stammeskriege der Sippen untereinander häufig mit Gaben von jenseits der Grenze angefeuert wurden. Er und Esen hatten so oft darüber gesprochen und manchmal zum Schein das Spiel mitgespielt und sich Seide, Baumwollgewebe, Waffen und Tee dafür geben lassen. Es war das älteste Spiel der Welt, und bis Esen Taidschi wurde, hatte es niemanden gegeben, den die übrigen Sippen so fürchteten, dass sie es trotz chinesischer Gaben nicht wagten, Krieg untereinander zu führen.

»Dann wird endlich Schluss mit den Geschenken aus dem Reich der Mitte sein«, knurrte Tsorokbai-Temur zufrieden. »Schluss damit, dass sie sich ihren Frieden durch unsere Kriege gegeneinander erkaufen!«

Esens Augen funkelten. »Aber ganz im Gegenteil, mein Freund. Ich werde noch mehr Geschenke verlangen. Schließlich wollen ihre Wächter in den Grenzbefestigungen für den ungehinderten Zugang nach drüben auch einen immer größeren Anteil an unserer Beute.«

Tsorokbai-Temurs Sohn, der bisher erstaunlich stillgehalten hatte und auch mit einem Schluck Stutenmilch belohnt worden war, wurde allmählich unruhig und strampelte nun in den Armen des Vaters. Tsorokbai-Temur ließ den Jungen los. Vor ein paar Monaten noch hätte man das Filzchen mit einer Schnur angebunden, damit es nicht ohne Aufsicht herumlief oder gar mit seinen kleinen Händen in die Flammen der Feuerstelle fasste, aber nun, mit fast zwei Jahren, war es allmählich zu alt dafür. Also rannte es ungehindert von der Nordseite zum Ausgang der Jurte auf der Südseite, während Tsorokbai-Temur sich bemühte zu verstehen, worauf sein Schwurbruder und Anführer hinauswollte. Der Junge würde schnell etwas finden, mit dem er sich beschäftigte. Es war ein lebhaftes, neugieriges Kind, das Filzchen, und rannte hinter jeder Ziege und jedem Kamel her, die seinen Weg kreuzten, wenn man es nur ließ.

»Du meinst … die Tribute?«

»Ich habe immer gesagt, dass du ein kluger Kopf bist, Tsorokbai-Temur«, erwiderte Esen.

Die Tribute waren eine chinesische Erfindung, die wie alles Chinesische gleichzeitig nützlich und dumm war. Die Chinesen bemühten sich nicht nur, nach Kräften zu vergessen, dass sie je von den Kindern des Ewigen Blauen Himmels unterworfen und regiert worden waren, nein, sie wollten sich selbst auch ständig bestätigen, dass nunmehr sie die Herren der ganzen Welt waren. Und das ließen sie sich einiges kosten. Im Austausch dafür, dass man eine Gesandtschaft zu ihnen schickte, die sich vor ihrem Kaiser auf den Boden warf und ihn als Sohn des Himmels ansprach, gaben sie der Gesandtschaft für die Zeit ihres Aufenthalts nicht nur Tee und Kost, sondern so reiche Geschenke, dass jeder Mongole dafür den Boden ein weiteres Mal geküsst hätte. Je größer die Gesandtschaft war, desto mehr wurde es für die Chinesen zur Ehrensache, die Zahl und den Wert der Geschenke noch zu steigern.

»Bisher«, sagte Esen, »haben wir ihr Spiel so weit mitgespielt, dass jeder Stamm seine eigenen Gesandten geschickt hat. Aber da wir uns mittlerweile so friedvoller Einheit erfreuen, finde ich, können wir eine Gesandtschaft für alle an ihren Kaiser schicken. Natürlich würde ich niemals die Treue meiner neuen Verbündeten auf die Probe stellen, indem ich nur ein paar wenige schicke, um für alle zu sprechen. Nein, es soll nun jede Sippe aus allen Stämmen ihre eigenen Leute als Teil der Gesandtschaft senden.«

»Alle?«, fragte Tsorokbai-Temur und überschlug im Kopf, wie viele Sippen sich inzwischen Esen beugten. »Aber das – das wären weit über tausend …«

»In der Tat, und wenn das noch nicht die gewünschte Wirkung hat, werden wir zu jedem Mondwechsel diese Leute austauschen.«

Der Reiswein schickte ein warmes Glühen durch Tsorokbai-Temur. »Selbst ihr Kaiser«, sagte er langsam, »wird sich das nicht lange leisten können.«

Esen nickte. »Sie werden mich einen unverschämten Barbaren nennen und die Tribute senken, statt sie zu erhöhen, um mich für meine Anmaßung zu strafen.«

»Und dann?«

»Dann, mein Bruder, sind wir im Krieg. Und noch der bequemste weich gewordene Sippenälteste wird mir zugestehen müssen, dass es meine Ehre verlangt, mich für die Beleidigung durch die Chinesen zu rächen, und keine andere Wahl haben, als mir mit seinen Leuten zu folgen.«

Stille senkte sich zwischen sie. Es war eine Sache, dachte Tsorokbai-Temur, von Krieg gegen das Reich der Mitte zu träumen, und eine ganz andere, dem bereits ganz nahe zu sein. Und es war ein Traum. Der älteste, der liebste. Er lag allen Mongolen im Blut, seit der Urvater Dschingis das Reich erobert hatte und später seine Nachfahren schmählich vom Drachenthron vertrieben worden waren. Es gab Geschichten darüber, dass Dschingis Khans Geist nicht zur Ruhe kommen würde, ehe die Schmach der Vertreibung nicht getilgt wäre. Doch solange die Mongolen in sich uneins gewesen waren, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, mehr zu tun, als nur zu träumen und gelegentlich einen Raubzug über die Grenze zu unternehmen. Esen hatte den Traum durch seine Erfolge wieder erreichbar erscheinen lassen. Kein Wunder, dass die Schamanen Esen Geschichten darüber erzählten, dass dann der Urvater zu seinem Volk zurückkehren und ihn unterstützen würde.

Tsorokbai-Temur fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Sorge inmitten der Erwartung und Freude. Er räusperte sich. »Männer, die keine Wahl haben – sind das Männer, denen du zutraust, das Reich der Mitte für dich zu erobern?«

Es war der vernünftigste Einwand, den er äußern konnte. Was sein Herz jedoch mehr plagte als die Vernunft, war der Zweifel. Der Urvater Dschingis Khan, seine Söhne und Enkel waren von der Kraft des Ewigen Blauen Himmels selbst beseelt gewesen. Immer noch verehrte man die Jurten, in denen sie gelebt hatten, als Schreine. Das Gesetzbuch, das der Urvater geschaffen hatte, die Yassak, galt auch dreihundert Jahre später noch. Dschingis Khan war es gelungen, das gesamte Volk der Mongolen umzugliedern. Er hatte die Sippenführer entmachtet. Dafür gehorchten seine Mongolen den fünfundneunzig von ihm ernannten Kriegsführern, die je eine Tausendschaft stellen mussten. Es waren immer die besten Krieger, die sich ausgezeichnet hatten, und so war es möglich gewesen, dass die Choros-Sippe noch heute, obwohl die Sippenführer wieder an Macht gewonnen hatten, Führer in mehreren Stämmen stellte. Mit nur zehn Tuman, die Dschingis Khan aus seinem Volk geschaffen hatte, war es ihm gelungen, dreißig Völker zu besiegen. Bis zu Dschingis Khans Tod waren es gar zweihundertdreißig Völker geworden.

Esen war Tsorokbai-Temurs Freund, war klug und stark, wusste, wie und wann Städte entvölkert werden mussten, um Furcht und Schrecken zu verbreiten, und wann es sich lohnte, stattdessen ein Bündnis anzubieten. All das konnte er zweifellos, aber würde er auf völlig Neues, Unerwartetes blitzschnell reagieren, wie Dschingis es den Legenden nach konnte? Würde er immer eine Finte mehr im Ärmel haben als all seine Gegner? Nein, Esen brauchte Zeit für jede Entscheidung. Er war eben nur ein Mensch, und das Gleiche galt für jeden, der ihm folgte. Tsorokbai-Temur war kein demütiger Mann. Es war nicht falsche Bescheidenheit, die ihn quälte. Er wusste, dass er ein guter Anführer war, ein guter Sardar für sein Tuman, seine zehntausend Krieger. Er war in der Lage, vorauszudenken, zu planen, vielleicht nicht ganz so gut wie Esen, aber dennoch sehr gut. Aber er würde sich nie anmaßen, sich mit den Helden zu vergleichen, die dem Urvater gefolgt waren.

War Esen ein zweiter Dschingis Khan? Die Zweifel daran würde er seinem Freund nie eingestehen können. Esen war ein großer Mann, daran glaubte Tsorokbai-Temur fest. Aber er konnte nicht glauben, dass der Mann, mit dem er als Junge gespielt hatte, ein zweiter Dschingis Khan war. Esen war noch nicht einmal Teil der Goldenen Erblinie, wie man die direkten männlichen Nachkommen des Urvaters bezeichnete. Nur Esens Großmutter stammte aus der Bordschin-Sippe, der Sippe Dschingis Khans. Eine Verwandtschaft über den Vater konnte Esen nicht für sich beanspruchen. Esen war Teil der Choros-Sippe, die über einige Stämme herrschte, genau wie Tsorokbai-Temur selbst. Du bist nur ein Mensch, mein Freund, dachte Tsorokbai-Temur und kam sich dabei wie ein Verräter vor, aber da war er, der Zweifel an ihrem Führer, der ihn plagte, und er ließ sich nicht verleugnen, selbst in dieser schönen Stunde nicht.

»Ich traue es mir zu«, sagte Esen unterdessen voll Selbstvertrauen. »Tsorokbai-Temur, wir sind gemeinsam nass geworden, als es regnete, wir haben Hitze geteilt und Kälte. Deine Schmerzen sind meine Schmerzen gewesen. Wer wüsste besser als du, zu was ich fähig bin, Schwurbruder?«

Tsorokbai-Temur öffnete den Mund. Er wollte in einer Mischung aus Beschämung und Zuneigung für seinen alten Freund lügen und bedingungsloses Vertrauen in Esens Fähigkeit schwören, die Chinesen zu besiegen. Er kam nicht dazu. Draußen erhob sich Geschrei, das Geschrei von Frauen, die hohen, schrillen Laute ohne Worte, die von Tod und Trauer sprachen.

»Aber die Magd schwor doch, dass mein Kind gesund zur Welt gekommen ist«, sagte Tsorokbai-Temur bestürzt. Gewiss, viele Säuglinge starben bei der Geburt, doch im Allgemeinen konnte man sofort erkennen, welche in Gefahr waren, genau wie bei den Kamel- und den Pferdefohlen. Kränkliche kleine Dinger, die oft genug von den Müttern gar nicht erst angenommen wurden. Er konnte nicht glauben, dass Bribsun ihm die Geburt eines solchen Kindes ohne eine Warnung hätte melden lassen.

Esen legte einen Arm um seine Schultern. »Das Schicksal ist, wie es ist«, sagte er mitfühlend. »Manchmal kommt es so, das weißt du.«

Einer von Tsorokbai-Temurs Knechten huschte herein, die Angst stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Herr«, sagte er zu Tsorokbai-Temur, »Herr, ach Herr, ich schwöre, niemand hat es gesehen. Der Geier muss von einem bösen Geist beseelt gewesen sein.«

»Ein Geier?«, wiederholte Tsorokbai-Temur verständnislos.

»Ein böser Geist, Herr, ganz gewiss. Sonst hätte es nie so schnell geschehen können.«

»Drück dich klarer aus, Bursche«, forderte Esen, der wohl sah, dass Tsorokbai-Temur zu verwirrt war, um den Sinn in den Worten des Knechtes zu erkennen.

»Euer Sohn, Herr, das Filzchen«, sagte der Knecht und warf sich vor Tsorokbai-Temur auf den Boden. »Er muss dem Geier hinterhergerannt sein, vom Lager weg. Dann hat der Geier sich auf das Filzchen gestürzt, wie auf ein junges Schaf.«

Kapitel 2

Als er dem Anführer der Barbaren gegenüberstand, wusste Ma Jing, dass er seinem Tod ins Auge schaute, doch er war erschöpft genug, um froh darüber zu sein.

Ma Jing war ein angenommener Name. Seinen alten hatte er begraben, gemeinsam mit seinen Hoden und seinem alten Selbst. Er war der Sohn eines Bauern, eines von sieben überlebenden Kindern, und hatte seine Eltern und Geschwister an Auszehrung und wegen unbezahlbarer Schulden sterben sehen. Was sie an eigenem Land besessen hatten, war längst den Großgrundbesitzern verpfändet worden, und für keinen seiner Geschwister hatte ein besseres Leben in Aussicht gestanden, als sich von der Morgenröte bis tief in die Nacht auf den Feldern zu plagen und dennoch nur einen winzigen Bruchteil der Ernte ihr Eigen zu nennen. Als kleiner Junge hatte er davon geträumt, Beamter zu werden, denn Beamte waren noch höher angesehen als die Reichen und brauchten nicht Grund und Boden zu besitzen, um Geld und Bewunderung zu erhalten. Doch um ein Beamter werden zu können, musste man nicht nur lesen und schreiben lernen, sondern Jahr um Jahr studieren und eine Prüfung nach der anderen ablegen. Nur die Söhne der wirklich Reichen konnten es sich leisten, so lange als Arbeitskraft für die Eltern auszufallen. Nur sie konnten sich die Lehrer leisten und die Bücher, die einen erst in die Lage versetzten, auch nur die niedrigste Rangstufe eines Beamten zu erklimmen. Angeblich gab es in den großen Städten Schulen, doch selbst diese wollten Geld für die Aufnahme von Schülern, und die Klöster nahmen nur Jungen, die sich für den Rest ihres Lebens als Mönche verpflichteten.

Doch Ma Jing erhielt unerwartet einen Wink des Himmels, der sein ganzes Leben bestimmen sollte. Über seinem Dorf lebte in einer Höhle ein Eremit. Dieser war so krank geworden, dass die Dorfbewohner Ma Jing und andere Kinder schickten, um ihn während seiner letzten Tage zu pflegen und dafür zu sorgen, dass er nicht verhungerte. Wider alle Erwartung blieb der Alte am Leben, obwohl er nicht mehr in der Lage war, seine Höhle zu verlassen. Der Respekt vor seinem Alter und seiner Weisheit ließ es für die Dorfbewohner nicht zu, ihn aufzugeben, doch die meisten Kinder verloren die Geduld, bis nur noch Ma Jing und zwei weitere übrig blieben, die ihn täglich mit Nahrung und Wasser versorgten. Auf diese Weise teilte Ma Jing zwei Jahre lang seine Zeit zwischen der Feldarbeit und der Gesellschaft des Eremiten. Der alte Mann hatte sich zunächst verschlossen gegeben, doch irgendwann begann er zu reden. Anfangs sehnte sich Ma Jing nach den ruhigen ersten Wochen zurück, denn er wollte nicht ständig die Sprüche von Kung Fu Tse oder Laotse oder gar von der kurzen Zeit hören, als der Alte in der Verbotenen Stadt gelebt hatte. Doch als sein Vater sich immer mehr verschuldete, die Arbeit auf den Feldern immer härter wurde und seine Geschwister nach und nach starben, war es tröstlich gewesen, von einer anderen Welt zu erfahren. Er hatte alles aufgesogen, Tag um Tag, Nacht um Nacht.

Womit Ma Jing aber nie gerechnet hatte, war, dass diese Erzählungen ihn verändern, sein ganzes Denken neu formen würden. Plötzlich war er nicht mehr zufrieden mit dem, was das kleine Dorf ihm bieten konnte. Ein Satz seines Eremiten ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: Von Natur aus sind alle Menschen einander ähnlich. Nur durch Erziehung entfernen sie sich voneinander. Er hatte zu träumen begonnen, Träume, in denen er kein Bauer blieb, sondern Heldentaten vollbrachte, Wissen erlangte und nicht nur seine Familie, sondern sein gesamtes Dorf aus der Armut rettete. Die Verwirklichung dieser Träume setzten Mittel voraus, die bei ihm und seinen Eltern nicht vorlagen.

Es gab jedoch eine Möglichkeit, wie man zu Macht und Geld kommen konnte. Eine einzige. Dazu brauchte man keinen reichen Vater und kein jahrelanges Studium. Nein, man musste nur etwas opfern, und der Junge, der seine Familie hatte sterben sehen, einen nach dem anderen, wollte ohnehin keine eigenen Kinder in die Welt setzen. Wie es das Gesetz verlangte, nahm er sich einen Zeugen und überredete den örtlichen Schlachter, ihn zu einem Eunuchen zu machen. Von dieser Tortur genesen, gesellte er sich zu den Hunderten von jungen Männern, die das Land verließen, um ihr Glück in der Hauptstadt zu versuchen, und nicht nur in der Hauptstadt, sondern im Herzen des Reiches: der Verbotenen Stadt selbst.

Sein neuer Name war nicht willkürlich gewählt. Er hatte sich nach einem der wenigen Eunuchen genannt, von dem nicht mit Neid und Hohn, sondern mit Achtung gesprochen wurde, denn der erste Ma Jing, der zur Zeit seines Großvaters gelebt hatte, war ein Held gewesen und vom Kaiser selbst für seinen Dienst mit dem Titel »Großer Verteidiger« ausgezeichnet worden, dem höchsten Orden, den ein Mann in der Armee erringen konnte. Die so oft gehörte Geschichte von Ma Jing hatte dem Jungen Hoffnung gemacht und zu seiner Entscheidung veranlasst. Seine Namenswahl brachte ihm zunächst nur Spott und Tadel ob seiner Anmaßung ein, doch sie errang auch die Aufmerksamkeit eines der Eunuchen aus dem Ministerium für Feuer und Wasser, der nach Novizen suchte, die kräftig waren, und der junge Bauern bevorzugte, weil sie demütig und fleißig waren. Auf diese Weise fand Ma Jing heraus, dass es innerhalb der Verbotenen Stadt nicht nur das Ministerium für Zeremonie gab, dessen Angehörige dem Kaiser selbst und seiner engeren Familie dienten, sondern unendlich viele Abteilungen mehr, angefangen mit denen für die verschiedenen Arten von Nahrung, Kleidung und Schreinerarbeiten, die innerhalb des Palastes gebraucht wurden, denen für die Unterhaltung, Arzneien, Schatzhäuser, Verwaltung, Leibwachen, Siegelverwaltung bis hin zu der Abteilung für Latrinenpapier. Die Abteilung für Feuer und Wasser war zwar nicht die am wenigsten angesehene, aber sie befand sich am weitesten von dem eigentlichen Palastbereich entfernt, in der Nähe des Xian-Tores. Sie war dafür zuständig, die gesamte Verbotene Stadt mit Feuerholz zum Kochen, Öl für die Lampen und Kohle für den Winter zu versorgen und am vierten, vierzehnten und vierundzwanzigsten Tag jedes Monats den Abfall aus der Verbotenen Stadt fortzuschaffen. Während er Körbe voller Unrat, Holz oder Kohle auf seinem Rücken schleppte, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, war sich Ma Jing schmerzhaft bewusst, dass sich an der Härte seines Lebens nicht viel geändert hatte. Er lief zwar nicht mehr Gefahr zu verhungern, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er durch derartige Dienste je vorwärtskommen und mehr als ein bezahlter Sklave sein würde, war äußerst gering.

Immerhin hörte er in den Eunuchenquartieren Neuigkeiten, wirkliche Neuigkeiten, nicht Gerede wie in den Dörfern darüber, dass ein paar alte Weiber im Nachbardorf einen Drachen gesehen haben wollten. Nein, worüber man hier sprach, neben dem Klatsch über die jeweils neueste Konkubine des Kaisers, war auch die Politik. So erfuhr er, dass die Mongolen, die nördlichen Barbaren, immer unverschämter wurden und dass Seine Majestät der Kaiser beschlossen hatte, ihnen eine Lektion zu erteilen. Ma Jings Herz schlug höher. Hier war sie, die Gelegenheit, sich endlich nicht als Lastenträger, sondern als Held zu beweisen, und geboten wurde sie vom Kaiser selbst. Der Kaiser war bereits als Kind auf den Thron gekommen, doch er herrschte erst seit wenigen Jahren ohne Regenten. Er war der Sohn des Himmels und den Göttern so ähnlich, wie nur ein Mensch es sein konnte, aber er und Ma Jing mussten fast gleich alt sein, wenn Ma Jing sein eigenes Alter recht berechnet hatte. Sicher sein konnte er sich nicht. Daheim, in der Armut, hatte sein Alter nie eine Rolle gespielt. Seiner Vermutung nach war er zweiundzwanzig Jahre alt, so wie der Kaiser, und wenn die älteren Eunuchen davon je gesprochen hatten, dass der Kaiser ungeduldig sei und sich nicht mehr von seinen früheren Regenten leiten lassen wolle, dann konnte Ma Jing das nur allzu gut verstehen.

Der Leiter des Ministeriums für Zeremonie, der oberste Eunuch des Palastes, ließ überall verkünden, dass es Ehrensache für alle Eunuchen sei, den Wunsch des Kaisers, die Barbaren in ihre Schranken zu weisen, mit äußerstem Einsatz zu unterstützen, ganz gleich, wie sehr die Generäle und Beamten dagegen zetern mochten. »Uns nennen sie Weiber«, sagte einer von Ma Jings neuen Freunden, »und selbst haben sie Angst vor den nördlichen Barbaren. Ha!«

Man brauchte Freiwillige für den Feldzug, denn der Kaiser, der den Generälen nicht mehr traute, wollte eine Leibgarde aus Eunuchen um sich. Ma Jing meldete sich sofort. Das würde die große Wende in seinem Leben sein, dachte er. Er würde sich im Kampf gegen die Barbaren auszeichnen, einem Eunuchen von Rang auffallen, vielleicht gar dem Sohn des Himmels selbst, und die Tage des Feuerholzschleppens und Abfallschaufelns wären dann vorbei. Er würde wahrlich würdig sein, den Namen Ma Jing zu tragen.

Es war ein wenig enttäuschend gewesen, sich schließlich im Tross mit den Vorräten wiederzufinden, nicht in der direkten Umgebung des Kaisers, aber er hoffte darauf, das bald zu ändern. Und so nahm er an allen Übungen teil, die von den Angehörigen der alten Leibgarde, den einzigen Eunuchen, die mit Waffen vertraut waren, mit den jüngeren Eunuchen durchgeführt wurden. Die gewöhnlichen Soldaten machten sich lustig über die neue Konkurrenz, zumal sie wie jeder Mann, dem Ma Jing außerhalb der Verbotenen Stadt begegnet war, Eunuchen als Krüppel und halbe Weiber verachteten und ihnen misstrauten, ganz zu schweigen von dem Neid, den sie hegten, weil Eunuchen in der Nähe des Kaisers und seiner Familie leben durften und daher nie ohne Brot und Arbeit sein würden. Doch auch die Soldaten brannten darauf, die Barbaren zu besiegen, und je weiter man sich von der Hauptstadt entfernte, desto mehr Gespräche fanden in den Lagern dazu statt. Ma Jing erfuhr, dass man auf dem Weg zu der Stadt Datong war, die von dem Barbaren Esen erobert und besetzt worden war. Der Ausgang der kaiserlichen Strafaktion stand für alle außer Frage. Dieser Esen hatte, wie man sich erzählte, nur etwa zwanzigtausend Mann, während der Sohn des Himmels über fünfhunderttausend Soldaten für den Feldzug aufgeboten hatte.

»Zwanzigtausend Reiter«, sagte einer der älteren Soldaten ernst. »Hat einer von euch Frischlingen je einen Mongolen reiten sehen?«

»Reiter oder nicht, es sind Barbaren«, entgegneten die jüngeren verächtlich.

Ma Jing hatte noch nie ein Pferd gesehen, ehe er in die Verbotene Stadt gekommen war. Der Kaiser verfügte über Pferde und Stallungen, aber die Armee war eine Armee von Fußsoldaten, bis auf eine Truppe, die sich »Die Drei Wachen« nannte und angeblich in Datong zu ihnen stoßen würde. Verwirrenderweise sollte es sich dabei ebenfalls um Mongolen handeln.

»Zahme Mongolen«, erklärte man ihm. »Solche, die wissen, was sich gehört, und sich der Herrschaft des Kaisers gebeugt haben. Als wir das Joch der Barbaren abgeschüttelt haben, sind mehr von ihnen auf unserer Seite der Grenze geblieben, als gegangen sind, und die Kaiser in ihrer Güte haben ihre demütig angebotenen Dienste akzeptiert.«

Ma Jing musste zugeben, dass er neugierig auf die Barbaren war, die zahmen und die wilden gleichermaßen. Wie alle Kinder war er mit den Geschichten aufgewachsen, die von den ewig ruhmreichen Herrschern Hong Wu und Yongle erzählten, Vater und Sohn, welche die Barbaren aus dem Reich der Mitte vertrieben und die Herrschaft der wahren Menschen wiederhergestellt hatten. Wie alle Kinder hatte auch er die Legenden von dem furchtbarsten aller Barbaren gehört, von ihm, mit dem der Sturm begonnen und der die Welt vernichtet hatte, Dschingis Khan. Aber das war vor über zweihundert Jahren geschehen, und die heutigen Barbaren waren nicht länger Dämonen, sondern nur anmaßende Kläffer, räuberische Emporkömmlinge, die ihre Lektionen vergessen hatten. Darin waren sich Eunuchen, Soldaten und Beamte ausnahmsweise einig.

»Wenn sie sehen, wie hoffnungslos unterlegen sie sind, werden sie wahrscheinlich gleich weglaufen«, sagte Ma Jings neuer Freund Deng zuversichtlich, mit dem er in den Eunuchenquartieren ein Zimmer teilte. Deng stammte ursprünglich aus der gleichen Gegend wie Ma Jing, was ihnen anfangs viel Gesprächsstoff gegeben hatte, war jedoch im Gegensatz zu ihm schon als Kind kastriert worden und in der Verbotenen Stadt selbst in der Schule für Eunuchen aufgewachsen. Es war gut, jemanden zu haben, mit dem Ma Jing sich unterhalten konnte und dem zuzuhören Freude bereitete.

Da er sich auszeichnen wollte, hoffte Ma Jing, dass Deng in diesem Punkt irrte. Er hoffte es, bis die Armee des Kaisers in der Stadt Datong eintraf und diese ohne einen einzigen Menschen vorfand. Nur deren Köpfe waren zurückgelassen worden, auf der Stadtmauer aufgereiht wie Dachziegel, einer neben dem anderen. Datong war vollständig verwüstet worden. Es gab nichts, was dem Heer Obdach und Nahrung bieten konnte. Doch nirgendwo waren Barbaren zu sehen. Empörung über die Morde mischte sich mit Beunruhigung, weil niemand verstand, was das für eine Taktik sein sollte.

»Warum haben sie die Stadt zerstört, anstatt sie zu besetzen und unsere Übermacht hinter Mauern zu erwarten?«, fragte Ma Jing den alten Soldaten, der hatte wissen wollen, ob einer von ihnen je einen Mongolen hatte reiten sehen.

»Weil sie wussten, dass eine unbesiegbare Armee kommen würde, Kapaun«, knurrte der Mann. »Ich hoffe nur, der Kaiser hat nicht die Absicht, weiter nach Nordwesten zu gehen. Durch die Wüste zu marschieren ist ein elendes Handwerk, und die Drei Wachen, unsere eigenen Mongolen, die uns Pferde bringen sollten, sind ebenfalls noch nicht eingetroffen.«

Der Geruch nach verbranntem Fleisch und Leichen erinnerte Ma Jing an den Hof daheim und seine tote Familie. »Sollten wir uns nicht um die Toten kümmern, solange wir hier sind, anstatt sie den Geiern zu überlassen?«

»Der Kaiser kann unmöglich hierbleiben«, unterbrach sie ein vorbeieilender Eunuch. »Hier, unter all dem …« Er machte eine weitreichende Handbewegung, und die langen Ärmel seines seidenen Gewandes rutschten von seinen Handgelenken zurück auf seine Ellbogen. »Das wäre ganz und gar unangemessen.«

Schnell waren die mitgebrachten Vorräte aufgebraucht, und selbst unter den Offizieren machte sich Hunger breit. Der Kaiser hörte auf seine Ratgeber, der Sieg wurde erklärt, schließlich waren die Barbaren geflohen, und die Armee erhielt den Befehl, Datong wieder zu verlassen. Doch dann, am Abend, als alle von dem endlosen Marsch erschöpft waren, tauchten die Mongolen auf. Erst war es nur eine Ansammlung kleiner schwarzer Punkte am Horizont, gehüllt in Staub, Hitze und flirrendes Licht. Aus den kleinen Punkten wurde eine Wolke, die sich auf das Heer stürzte wie Tausende Bremsen auf wehrloses Vieh – so erschien es jedenfalls dem Bauernsohn Ma Jing. Er versuchte mit dem ihm überlassenen Spieß zu tun, was ihm kurz zuvor beigebracht worden war, aber die Reiter kamen nie in seine Reichweite. Er kam aus dem Rennen und Stolpern nicht mehr heraus. Die Mongolen auf ihren Pferden näherten sich auch den anderen chinesischen Soldaten nicht, doch ihre fürchterlich heulenden Pfeile waren überall. Die erfahreneren Soldaten behaupteten, das Heulen käme von den Löchern in den Pfeilspitzen, die von den Mongolen so angefertigt worden seien, um Furcht zu erzeugen, aber das machte das Geräusch nicht weniger unheimlich. Sie versuchten, mit Schilden Schildkröten zu formieren. Zunächst schien ihnen ihre zahlenmäßige Überlegenheit noch zu helfen, aber in der Ebene gab es keine Rückzugsmöglichkeiten, und keiner der Befehlshaber hielt die Soldaten zusammen oder von der Flucht ab. Bald war ihr Heer an drei Seiten eingeschlossen. Die einzige freie Seite wies in die Wüste. Entsetzt stellten sie fest, dass die Reiter von den Drei Wachen, die auf Seiten des Kaisers hätten kämpfen sollen, den Sohn des Himmels ganz offensichtlich verraten hatten.

Drei Tage und drei Nächte trieben die Mongolen das Heer des Kaisers in der wasserlosen Ebene vor sich her, und schon bald hatte Ma Jing aufgehört, Verluste zu zählen. Es war nicht mehr möglich, die Übersicht zu behalten. Es gab nur noch Schweiß, Angst, Blut und den verzweifelten Versuch zu überleben.

»Sie werden uns alle umbringen«, schluchzte sein Freund Deng am Abend des zweiten Tages.

»Euch Kapaune ganz gewiss, ihr nutzloses Volk«, knurrte ein Soldat. »Aber nicht uns alle. Sonst hätten sie es schon längst getan, die nördlichen Teufel. Die wollen nur den Kaiser, und sie wollen ihn lebend.«

»Wir müssen uns zum Kaiser durchschlagen«, sagte Ma Jing später zu Deng, nachdem sie vergeblich versucht hatten, zu etwas Wasser zu kommen.

»Um ihn zu schützen? Aber wir sind noch viel zu tief im Rang, um uns in seiner unmittelbaren Gegenwart aufhalten zu dürfen!«

»Glaubst du, das kümmert die Barbaren?«, rief Ma Jing. In Wirklichkeit ging es ihm längst nicht mehr darum, den Kaiser zu schützen oder ihn zu beeindrucken. Er wollte überleben, und wenn die Mongolen tatsächlich den Kaiser lebend haben wollten, dann war die Nähe des Kaisers vielleicht der sicherste Ort auch für seine Soldaten.

Gegen Mittag des dritten Tages traf der Großteil der verbliebenen Armee vor dem Wachposten Tumu ein. Die Nachhut, die sie hätte schützen sollen, kam nicht mehr. Sie war vollständig ausgelöscht worden, wie versprengte Soldaten dieser Einheiten berichteten. Es gab auch den Obersten Zeremonienmeister nicht mehr, wie sie hörten, als es Ma Jing und Deng gelang, auf Sichtweite an die Sänfte des Kaisers heranzukommen. Es herrschte ein einziges Chaos, denn der Oberste Zeremonienmeister, den der Kaiser auch zum Oberbefehlshaber gemacht hatte, war von den übrigen Generälen umgebracht worden.

»Die Eunuchen sind schuld, die haben uns die Mongolen eingebrockt, die verfluchten Eunuchen!«, schrien die Männer, und Ma Jing begriff, dass sie Gefahr liefen, nicht erst durch die Mongolen zu sterben.

»Aber der Kaiser hat doch selbst …«, begann Deng. Ma Jing presste ihm hastig eine Hand auf den Mund. Niemand kümmerte es mehr, dass es der Kaiser gewesen war, der den Feldzug befohlen hatte. Der Kaiser war der Sohn des Himmels, ihn traf keine Schuld.

Unter den Augen der mongolischen Reiter, die das grausige Schauspiel zu belustigen schien, fielen die Soldaten über die Eunuchen her. Jegliche Ordnung im Heer war endgültig verschwunden. Wenn das Morden noch bis zum Abend dauern würde, dachte Ma Jing verzweifelt, würde es nur noch Tote geben, egal ob sie sich gegenseitig umbrachten oder unter den Pfeilen der Mongolen starben. Gab es eine Möglichkeit, dem Grauen ein Ende zu setzen? Ein Spruch seines Eremiten hatte sich wie eine fixe Idee in seinem Kopf festgesetzt. »Ein Mensch ist nichts – die Gemeinschaft ist alles.«

Er würde dabei sterben. Und wenn nicht, dann würde es für ihn nie wieder eine Zukunft in der Verbotenen Stadt geben oder überhaupt im Reich der Mitte. Aber es war die einzige Möglichkeit, die er sah, um das seit Tagen währende Gemetzel zu beenden.

Ma Jing hatte nach dem Verlust seines Spießes einem Toten eine Keule abgenommen, um wieder im Besitz einer Waffe zu sein. Nun drehte er sich abrupt um und schlug Deng mit ihr bewusstlos. Hastig versteckte er seinen Freund unter zwei Leichen, schickte ein Gebet zu seinen Vorfahren und rannte, ohne nach links oder rechts zu sehen, direkt auf eine der am Boden stehenden Sänften zu. Ma Jing war durch seine Kleidung als Eunuch erkennbar, er trug keine Waffe mehr, und die wenigen verbliebenen Leibwächter, die noch bei den Sänften der Befehlshaber standen, waren damit beschäftigt, das gegenseitige Gemetzel und die auf ihren Pferden sitzenden lachenden Mongolen im Auge zu behalten. Ihn trug die Kraft dessen, der nichts mehr zu verlieren hatte. Er brach bis zur Sänfte des Kaisers durch, stürzte in sie hinein und zog den jungen Mann, der dort zusammengekauert und mit hochgezogenen Knien wie ein Kind saß, mit sich auf der anderen Seite hinaus. Der dickliche junge Mann, gekleidet in das kaiserliche Gelb, zitterte wie Espenlaub. Sie rollten gemeinsam durch den Staub, und Ma Jing wusste, dass er nur ein paar Augenblicke hatte, ehe einer der Leibwächter begriff, was geschehen war.

»Mongolen!«, schrie Ma Jing, so laut er konnte. »Mongolen, Ihr wollt den Sohn des Himmels? Hier ist er!«

Inmitten des Chaos breitete sich um ihn herum Stille aus wie im Auge eines Sturms. Dann erhoben die Leibwächter ihre Schwerter. Ma Jing vernahm die Worte eines Mongolen, die er nicht verstand, aber da hörte er auch schon Pfeile schwirren, und es gab keine Leibwächter mehr. »Macht ein Ende«, stieß er hervor, dem Kaiser, den er immer noch im Klammergriff hielt, direkt ins Ohr. »Ich bitte Euch, macht ein Ende, solange noch jemand lebt.«

Es tauchten immer mehr Mongolen auf, die rasch einen Kreis um Ma Jing und den Kaiser bildeten. Sie trugen alle Helme, und Ma Jing konnte kaum ihre Gesichter unter dem Staub und Blut ausmachen. Einer von ihnen schwang sich mit einer Leichtigkeit aus dem Sattel, die Spott mit dem schweren Brustpanzer und dem Armschutz aus Eisen trieb, die er trug.

»Ich ergebe mich«, ächzte der Kaiser in Ma Jings Armen, »ich ergebe mich. Ich bezahle alles, was Ihr wollt, doch lasst mich am Leben. Tötet die Soldaten, aber nicht mich.«

Der Mongole schien unbeeindruckt. Ma Jing hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen und getrunken, jeder Muskel seines Körpers brannte, mehr als selbst an harten Tagen auf dem Feld. »Nun werden wir doch alle sterben«, dachte er enttäuscht und entsetzt über das, was der Kaiser gesagt hatte. Doch Ma Jing war so weit jenseits von Entsetzen, dass ihn die Erschöpfung einholte. Schwärze umfing ihn, und er wurde bewusstlos.

Schaukelnden Bewegungen und der scharfe Geruch von Tierschweiß brachten ihn wieder zu sich. Eine menschliche Stimme sagte etwas, das er nicht verstand, doch Ma Jing wagte nicht, sich zu bewegen, sosehr ihm das Blut auch in den Kopf floss. Nach einer Weile kam das Pferd zum Stehen, und der Mongole, der es ritt, zog ihn in die Höhe und bedeutete ihm mit Gesten, seine Arme um den Bauch des Mannes zu schlingen und sich an seinem Gürtel festzuhalten, wenn sie weiterritten. Benommen gehorchte Ma Jing. Er wusste nicht, warum er noch am Leben war. Vielleicht brauchten die Barbaren jemanden, den sie foltern konnten? Es konnte nicht schlimmer sein als das, was ihm gedroht hätte, wäre er in chinesischen Händen geblieben. Allein für die Sünde, die geheiligte Person des Kaisers ohne Erlaubnis berührt zu haben, hätte er hundert Peitschenhiebe erhalten. Für das, was er mit der geheiligten Person des Kaisers getan hatte, wären ihm die Eingeweide bei lebendigem Leib herausgerissen worden.

Ma Jing dachte unwillkürlich an den Schlächter daheim und den Verlust seiner Hoden, was er selbst gefordert hatte. Die Mongolen sollten nicht glauben, dass Ma Jing nicht bereit war, Schmerzen zu ertragen. Doch was machte er sich vor? Sein Leben war so oder so zu Ende. All seine Träume lagen im Staub. Er hatte seinen Ahnen Schande gemacht, und sein selbstgewählter Name schien ihn nun zu verspotten. Statt ein Held zu werden, hatte er das schlimmste Verbrechen begangen, das es überhaupt gab. Verrat am Herrn über zehntausend Jahre. Aber was hatte Kung Fu Tse zu Verantwortung gesagt: »Ein Mensch ist nichts – die Gemeinschaft ist alles?« Diese Rechtfertigung brodelte wie Luftblasen auf unerträglich heißem Wasser in seinem Kopf.

Zwei Tage später, nachdem sie nur selten Menschen mit einem ihm fremden weißen Zelt begegnet waren, sah er erstmals eine ganze Ansammlung dieser runden Zelte, die den hellen flachen Pilzen glichen, die er von zu Hause kannte. Das mussten, umgeben von zahlreichen Wagen, die Behausungen der Barbaren sein. Doch er konnte keine Herden oder Kinder ausmachen, also handelte es sich wohl nur um ein Kriegslager. Die Männer, mit denen er ritt, lachten und sangen misstönende Lieder, als sie der Zelte ansichtig wurden, der Mongole, dessen Pferd er teilte, so laut wie alle anderen. Ma Jing wurde zu einer der größeren Behausungen gebracht. Es erwies sich als unerwartet schwer, vom Pferd zu rutschen. Seine Knie zitterten. Er verstand es selbst nicht. Hatte er nicht dem Tod bereitwillig ins Auge gesehen?

Sein Wächter stieß ihn vorwärts, hinein in das runde Weiß, und Ma Jing blinzelte, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Auf einer Liege am anderen Ende, genau dem Eingang gegenüber, saß ein Mann, der zwar keinen Helm und Brustpanzer mehr trug, aber wie er kürzlich noch in der Schlacht gewesen war. Ma Jing erkannte ihn sofort wieder. Es war der Mann, der befohlen hatte, die Leibwächter zu erschießen, und vor dem Kaiser von seinem Pferd gesprungen war. Ma Jings Wächter sagte etwas, gab Ma Jing noch einen Stoß und verließ dann ohne ein weiteres Wort das Zelt. Ma Jing stand dem Anführer der Barbaren gegenüber und wusste, dass er seinem Tod ins Auge schaute. Doch er war erschöpft genug, um froh darüber zu sein.

»Wir belohnen keine Verräter«, sagte der sitzende Mann in verständlichem Chinesisch, obwohl man sofort den Akzent des unzivilisierten Barbaren bemerkte. Sein dunkles Haar war an den Schläfen geschoren und hinter seinem Kopf zusammengebunden. »Der Urvater Dschingis Khan hat diejenigen, die versuchten, sich bei ihm durch Verrat einzuschmeicheln, immer ihrer Köpfe beraubt. Sie hatten keine Ehre. Was also erwartest du?«

»Für mich nur den Tod«, sagte Ma Jing ehrlich. Er sah keinen Sinn darin, einen Barbaren um sein Leben zu bitten. »Aber wenn von unserem Heer noch welche leben, und der erhabene Kaiser, dann ist es gut.«

Der Mongole strich sich über seinen dünnen Oberlippenbart. Die Art, wie die Barbaren ihr Gesichtshaar trugen, war der von zivilisierten Menschen nicht unähnlich, doch zweifellos verdankten sie das dem wohltätigen Einfluss des Reiches der Mitte. Es lag Ma Jing auf der Zunge, nach Deng zu fragen, doch er hoffte, dass seine List gelungen war, weil man ihn unter den vielen Leichen kaum hatte entdecken können. Stattdessen fragte Ma Jing, ob der Sohn des Himmels sich wieder wohlauf befinde.

»Die einzigen Kinder des Ewigen Blauen Himmels, die es je geben wird, sind wir«, gab der Mongole kühl zurück. »Deinem Kaiser geht es gut. Er wartet auf die Ankunft unseres Taidschis. Weißt du, deine Tat ist das Einzige, was der Taidschi für diese Schlacht nicht vorausgesagt hat. Deswegen bist du noch am Leben. So, wie ich ihn kenne, wird er neugierig auf dich sein.«

Und wenn ich die Neugier eines Barbaren befriedigt habe,sterbe ich, dachte Ma Jing bitter. Taidschi, das war gewiss der Titel, den der Führer der Mongolen trug. »Dann seid Ihr selbst nur ein Diener?«, fragte er unabsichtlich beleidigend.

Sein Tonfall indessen schien den Mongolen zu belustigen. »Ich bin Tsorokbai-Temur, der Chingsang unseres Taidschis«, entgegnete er und gebrauchte damit zu Ma Jings Überraschung einen chinesischen Titel, der so viel wie Staatssekretär des ersten Ministers bedeutete. »Und sein Schwurbruder. Und was bist du, kleiner Verräter, wenn du deinen Kaiser nicht gerade auslieferst?«

»Ich bin ein Eunuch fünften Grades aus dem Ministerium für Feuer und Wasser«, sagte Ma Jing stolz, wobei er seinen Grad etwas übertrieb. Der Mongole schaute ihn verblüfft an.

»Du meinst, du hast keine Eier mehr?«, fragte er unverblümt. »Aber deine Stimme ist die eines Mannes.«

»Ich bin erst vor zwei Jahren ein Eunuch geworden«, entgegnete Ma Jing steif. Nur ein Barbar konnte nicht wissen, dass die hohe Stimme ein Kennzeichen derer war, die ihre Männlichkeit bereits als Knaben verloren hatten.

»Was hast du getan, um so bestraft zu werden?«, fragte der Mongole neugierig.

»Es war mein selbstgewähltes Schicksal. Ich wollte dem Kaiser dienen, und anders war mir das nicht möglich«, sagte Ma Jing, und der Spott, den sich das Schicksal mit ihm erlaubt hatte, musste selbst ein nördlicher Barbar erkennen, denn der Mongole blickte ihn nachdenklich an. »Du bist ja wie das Murmeltier, das sich einen Finger abbiss, weil es die letzte Sonne nicht erlegen konnte«, sagte er so verwundert wie unverständlich und runzelte die Stirn.

»Wie hast du dir dein Leben gedacht«, fragte er plötzlich, »hättest du deinen Kaiser nach seinem Kampf gegen uns nicht verraten?«

»Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt«, gab Ma Jing mit einer der Weisheiten seines Eremiten zurück.

Sein Gegenüber stutzte, lachte dann aus voller Kehle und sah ihn mit einem Mal mit ganz anderer Miene an. »Gibt es denn wirklich nützliche Dinge, die du tun kannst? Waffengebrauch scheint nicht dazuzugehören. Ihr Chinesen seid doch vom Schreiben wie besessen. Kannst du schreiben?«

Obwohl Ma Jing sich vorgenommen hatte, würdevoll zu sterben und keiner törichten Hoffnung mehr nachzuhängen, sagte ihm sein Verstand, dass er diesen Mann überzeugen konnte, ihn nicht zu töten, wenn er sich nur etwas Mühe gab. Der Mongole hatte sich selbst mit einem chinesischen Titel geschmückt. Barbaren hatten es gerne, wenn Chinesen ihnen dienten. Es gab ihnen die Möglichkeit vorzugeben, wahren Menschen und chinesischen Edelleuten zu gleichen. Das hatten viele in der Verbotenen Stadt behauptet.

Ma Jing hatte von dem Eremiten ein paar Schriftzeichen gelernt, so dass er nun seinen Namen schreiben konnte. Sein Wunsch war es gewesen, noch mehr zu lernen, was nach dem Eremiten der Kern des Lebens war, aber dazu war es nicht mehr gekommen. Insofern konnte er genauso wenig schreiben wie jeder andere Bauernsohn auch. Seine Rechenkünste hatte er in den Auseinandersetzungen mit dem Großgrundbesitzer erworben, der nach der Verpfändung von Jahr zu Jahr mehr von der Ernte hatte haben wollen. Natürlich konnte er dem Barbaren gegenüber behaupten, er könne schreiben und Zeichen in den Staub malen, die ein Mongole gewiss nicht von wahren Schriftzeichen unterscheiden konnte. Aber wenn dieser angemaßte Chingsang das erste Mal eine Botschaft an einen wahren Menschen diktieren würde, würde er auffliegen und er hätte sein Leiden damit nur verlängert.

»Nein, das kann ich nicht«, sagte er daher und wollte es dabei belassen, aber derselbe Kampfgeist, der ihn dazu getrieben hatte, sich von dem Großgrundbesitzer nicht zugrunde richten zu lassen, war offenbar noch in ihm, denn er fügte hinzu: »Aber ich kann eine Kuh schneller als jeder andere melken und mit einem Ochsen das Feld pflügen, denn ich war ein Bauer.«

»Nützlich, aber nicht selten«, sagte der Mongole gelassen. »Sonst kannst du nichts?«

»Ich kann eine Schlacht beenden«, sagte Ma Jing tollkühn, und obwohl der Mongole erneut lachte, war seine Stimme scharf, als er zurückgab: »Wir haben die Schlacht beendet. Du hast das nur etwas beschleunigt. Was kannst du noch? Hättest du denn für deinen Kaiser Kühe gemolken?«

Ma Jing war sich sicher, dass seine Fähigkeit, Feuerholz in die Verbotene Stadt hinein- und Abfall hinauszutragen, keinen Eindruck machen würde. Von seinem Traum, ein großer Held wie sein Namenspatron zu werden, konnte er ohnehin nicht sprechen. Also sagte er das Nächstbeste, was ihm einfiel. »Wenn er mich befördert hätte, dann hätte ich gerne die Haare der kleinen Prinzen und Prinzessinnen geschnitten und die Dämonen von ihnen ferngehalten.«

Durch den Mongolen ging ein kleiner, aber unübersehbarer Ruck. Ma Jing wusste nicht, warum, aber diese letzte Bemerkung, bei der er sich nichts gedacht hatte, schien etwas in dem Barbaren ausgelöst zu haben.

»Du weißt, wie man Kinder beschützt?«, fragte der Mongole langsam.

»Ja«, entgegnete Ma Jing. Er hätte fast hinzugefügt, dass er Geschwister gehabt hatte, doch da seine Geschwister alle tot waren, war das gewiss keine Empfehlung, und so verfiel er stattdessen in Schweigen. Die kaiserlichen Kinder waren in der Halle der Höchsten Etikette untergebracht, östlich des Dongan-Tores und unweit des Ministeriums für Zeremonie. Die meisten Eunuchen träumten davon, dort einmal Dienst zu tun. So war der derzeitige Leiter des Ministeriums für Zeremonie zu Macht und Ansehen gekommen: Er hatte sich um den jetzigen Kaiser gekümmert, als dieser ein Kind gewesen war.

Der Oberste Zeremonienmeister lebte nicht mehr, schoss es Ma Jing durch den Kopf. Er war während der Schlacht von den Offizieren seines eigenen Heeres getötet worden, und der Kaiser hatte es nicht verhindert oder zumindest nicht verhindern können, was auf das Gleiche hinauslief.

Der Mongole runzelte die Stirn. Er sagte etwas auf Mongolisch und fügte dann in Chinesisch hinzu: »Wir werden sehen. Betrachte dich als meine Kriegsbeute, Murmeltier. Wenn wir in das Sommerlager zurückkehren, dann werde ich dich zu meinem Weib bringen, damit du dich um meine Tochter kümmerst. Sie hat eine Amme, aber Böses ist ihrem Bruder geschehen, und ich will, dass noch jemand auf sie aufpasst. Aber sei gewiss: Beim ersten Anzeichen, dass du mir in den Rücken fällst, ziehe ich dir das Fell über die Ohren.«

Kapitel 3

Die Ammen und Kinderfrauen für die kaiserlichen Kinder wurden in der Halle der Höchsten Etikette ausgesucht. Um von den zuständigen Eunuchen ausgewählt zu werden, musste eine Frau reinlich und angenehm anzusehen sein, gut riechen, hübsch, aber keine überragende Schönheit sein, denn sonst, so lehrten die älteren Eunuchen, würde ihre Eitelkeit sie dazu treiben, das ihr anvertraute Kind zu vernachlässigen und sich nach einem Gatten zu sehnen. Sie musste von Adel sein und ihr Blut rein und unverschmutzt von den Mongolen, die während der Zeit der Fremdherrschaft in mehr als eine Familie eingeheiratet hatten, denn ihre Person kam täglich in intimste Berührung mit den Sprösslingen des Sohnes des Himmels. Auf gar keinen Fall durfte sie von einer der großen Adelsfamilien abstammen, denn dann würde sie allein dem Ehrgeiz ihrer Familie dienen statt dem Kaiser. Minderer Adel war ideal, nie würde sie die unglaubliche Ehre vergessen, die ihr erwiesen wurde. Natürlich gab es unter den Töchtern des minderen Adels auch solche, die nicht über die gebotene Bescheidenheit verfügten, doch in der Regel erkannte man sie sehr schnell.

Wan Zhen’er, die seit ein paar Monaten als Kinderfrau des ersten kaiserlichen Sohnes diente, entsprach allen Anforderungen und hatte auch die Billigung der Kaiserin gewonnen, obwohl diese längst nicht so wichtig war wie die der Eunuchen, die täglich mit ihr verkehrten. Niemand erwartete etwas anderes von ihr, als dass sie sich auf vorbildhafte Art und Weise um den zweijährigen Sprössling des Kaisers kümmerte, bis es an der Zeit war, ihn weiseren Lehrern zu übergeben. Dann würde man sie mit einer angemessenen Entlohnung zu ihrer Familie zurückschicken. Für eine angemessene Verheiratung wäre es dann vermutlich zu spät, aber Ehre wie Geld würden für ihre Familie den Verlust einer vorteilhaften Ehe mehr als wettmachen. Sie würde für den Rest ihres Lebens von der Erinnerung zehren dürfen, für ein paar Jahre ihrem Land und ihrem Kaiser einen Dienst erwiesen zu haben.

Niemand hatte Grund zu bezweifeln, dass dies alles war, was sich Wan Zhen’er vom Leben wünschte, was auch daran lag, dass kaum jemand einen Gedanken an die kaiserliche Kinderfrau verschwendete, war sie erst einmal ausgewählt. Als in der Halle der Höchsten Etikette lautbar wurde, dass die in Abwesenheit des Kaisers und des Leiters des Ministeriums für Zeremonie zuständigen Regenten nicht nur den Bruder des Kaisers, sondern auch den Sohn des Kaisers zu sehen wünschten, war es Wan Zhen’ers Aufgabe, ihren Zögling zu dem Regenten und den in der Hauptstadt verbliebenen Ministern zu begleiten. Keiner dieser Männer nahm sie wahr, die Aufmerksamkeit aller war auf das zweijährige Kind gerichtet, das sie im Arm hielt und dann vorsichtig auf den Boden stellte, so dass der Junge neben seinem Onkel vor den Ministern stehen konnte.

»Der Junge macht einen gesunden Eindruck«, sagte einer der Minister, und der Umstand, dass er von dem Sohn des Kaisers als »dem Jungen« sprach, ließ die Kinderfrau Wan sofort aufhorchen.

»Er ist ein kleines Kind«, sagte ein anderer. »Wir können nicht wieder Jahre warten, Jahre, in denen er von Eunuchen erzogen wird.« Das Wort »Eunuchen« spie er beinahe aus. Die Eunuchen, die Wan und ihren Schützling geholt hatten, wurden blass. Einer von ihnen zitterte merklich. »Euer Hoheit«, fuhr der Minister fort, an den Bruder des Kaisers gewandt, der selbst nur ein Jahr jünger als der Kaiser war, »Ihr habt gehört, wie ernst die Lage ist.«

Auch der Bruder des Kaisers war bleich. Er trug gelbe Seide, die Farbe, die der kaiserlichen Familie vorbehalten war, genau wie sein kleiner Neffe, doch wenn Wan sich nicht täuschte, dann waren ein paar braunrote Flecken auf seiner Robe zu sehen. Es war undenkbar, dass der Prinz mit verschmutzten Roben auch nur sein Gemach verlassen konnte, ohne dass ihn ein Eunuch sofort darauf aufmerksam gemacht hätte. Eine solche Schlamperei hätte allen betroffenen Eunuchen eine Tracht Prügel eingebracht, denn es war natürlich ihre Schuld, wenn ein Mitglied der kaiserlichen Familie derart sein Gesicht verlor.

Man hatte Wan nicht in die Halle der Himmlischen Ehrfurcht befohlen, wo der Kaiser oder in seiner Abwesenheit seine Stellvertreter Audienzen gaben, sondern in eines der kleineren Gebäude, doch sie und der Prinz waren auf dem Weg dorthin an dieser größten und schönsten Halle vorbeigekommen und an einer kleinen Armee von Dienern, die mit Wasser und Eimern bewaffnet unterwegs waren.

»Ich bin mir des Ernstes der Lage bewusst«, entgegnete der Onkel von Wans Schützling. Seine Stimme, gewöhnlich ein Bariton, klang ein wenig gebrochen und hoch. Es war der Klang der Angst. Was war es, das den Bruder des Kaisers so in Angst versetzte und zugleich die Eunuchen, die in ihrer Nähe standen, in Furcht und Schrecken hielt?

Für Wan unerwartet, machte der stellvertretende Kriegsminister eine fingerschnipsende Handbewegung in ihre Richtung, als entlasse er sie und den Jungen, doch er sah weder sie noch das Kind dabei an.

»Wir müssen sofort handeln«, sagte er stattdessen, den Blick auf den erwachsenen Prinzen gerichtet.

Alles, was hier geschah, kam Wan unwirklich vor. Es war vollkommen unmöglich, dass sich ein Minister, der bei Hof eine Zukunft haben wollte, vom bisher einzigen Sohn des Kaisers einfach abwandte. Kleinkind oder nicht, vor dem Sohn des Kaisers verbeugte man sich. Passierte dies nicht, dann konnte es dafür nur eine Erklärung geben.