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Die packende Fortsetzung der düsteren Fantasy-Trilogie über Macht, Intrigen und Beziehungen - inspiriert von der Welt des mittel- und osteuropäischen Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Statt schwertschwingender Helden oder feuerspeiender Drachen erwarten dich hier komplexe Figuren, tiefe persönliche Dramen und ein erbarmungsloses Ringen um politische Macht. Paulina Nowgoroda, eine Adelige aus der Hauptstadt und erfahrene Anführerin der Handelsgilde, wagt sich mit einer Expedition in die unberechenbaren Sümpfe von Karenina. Ihre Mission: Die Bedrohung durch rätselhafte Manifestationen eindämmen, die das Land heimsuchen. Doch das gefährliche Terrain birgt mehr als nur übernatürliche Gefahren. Die Armeen von Levka, einst Galizinas erbitterter Kriegsgegner, treiben sich in derselben Region herum - und jede Begegnung droht die ohnehin fragilen Beziehungen zwischen den Nationen endgültig zu zerstören. Zur gleichen Zeit kämpft Kaiserin Alessia in der Hauptstadt Goldhafen um den Erhalt der Doppelmonarchie. Zwischen politischen Intrigen, dem Aufstand republikanischer Untergrundbewegungen und diplomatischen Spannungen versucht sie, die Stabilität ihres Reiches zu sichern. Doch hinter den Mauern des Palastes verfolgt sie eine verbotene Liebe, die nicht nur ihre eigenen Schwächen, sondern auch die bröckelnden Fundamente ihrer Herrschaft offenlegt. In einer Zeit, in der der Frieden auf Messers Schneide steht und uralte Mysterien drohen, die Welt aus den Angeln zu heben, müssen Entscheidungen getroffen werden, die über das Schicksal von ganz Galizina bestimmen.
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Weitere Informationen und Kurzgeschichten in der Welt von Galizina unter https://www.galizina.de
Im gesamten Buch wird aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit primär das generische Maskulinum verwendet. Dies schließt kontextbezogen auch andere Geschlechter mit ein.
Besonderer Dank gilt: Anja, für wertvollste Stil- und Coverberatung
"your thorns are the best part of you."
- Marianne Moore
Karte der Unterstadt, gelagert im Archiv der Goldhafener Stadtwachen. Offenbar einmal im Besitz von Lieutnant Zenon Grajev gewesen.
Akt I
Kapitel I: Goldebene
Kapitel II: Manöver
Kapitel III: Elster
Kapitel IV: Abermals
Kapitel V: Fortschritt
Kapitel VI: Kriegsgeplagt
Kapitel VII: Perchtensegen
Kapitel VIII: Dunkle Zeichen
Kapitel IX: Erntedank
Kapitel X: Heublumen
Kapitel XI: Zorn
Kapitel XII: Levka
Kapitel XIII: Zweifel
Kapitel XIV: Hagel
Kapitel XV: Ruß
Akt II
Kapitel XVI: Zusammenbruch
Kapitel XVII: Freundin
Kapitel XVIII: Schwarzer Topf
Kapitel XIX: Sorgen
Kapitel XX: Schattengeschäfte
Kapitel XXI: Informationen
Kapitel XXII: Orangen
Kapitel XXIII: Berührung
Kapitel XXIV: Unlautere Mittel
Kapitel XXV: Für das Reich
Kapitel XXVI: Jagd
Kapitel XXVII: Sprachlos
Kapitel XXVIII: Koleda
Galizina, Ostreich, Nahe dem Dorf Pszenica im Herbst 1271
Paulina Katja Nowgoroda lächelte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, nicht das teure Samtschuhwerk anzuziehen. Stattdessen schlenderte sie mit alten, festen und einfachen Lederstiefeln durch das galizinische Heerlager. Die vielen Pferde, Karren und genagelten Stiefelsohlen hatten den Boden weich werden lassen. Das nasse Herbstwetter hatte dann den Rest erledigt.
„Irgendwie hat das was, oder?“, fragte Zenon Grajev, Lieutnant der Goldhafener Stadtwachen und Freund von Paulina, während er neben ihr herging.
„Was meint Ihr?“, erwiderte Paulina, während sie zwei Soldaten beim Ballspiel beobachtete.
„Nun, das Ganze hier. Das Lagerleben. Ist dem Hafen der Hauptstadt gar nicht so unähnlich.“
Paulina nickte. Er hatte Recht. Es war laut und dreckig, doch auch unheimlich spannend. Zumindest das Trosslager. Kesselflicker, Hufschmiede, Barbiere, Glücksritter, Betrüger, Huren, Tagelöhner, alle boten ihre Dienste an. Und jeder und jede einzelne davon hatte interessante Geschichten zu erzählen. Paulina ärgerte sich über die Kleidung, die sie trug. Ihr blaugoldenes Brokatwams schrie nach Zugehörigkeit zum Adel und das aufgestickte Zeichen der Galizinischen Handelsgilde wies sie zudem noch als Angehörige derselben aus. Die Männer und Frauen im Trosslager waren, genau wie die Soldaten, ihr gegenüber verschlossener, als wenn sie einfach ein schlichtes Lederwams getragen hätte.
Zenon und Paulina gingen weiter durch die Zeltreihen und Verschläge. Kurz blieben sie am Rand des improvisierten Weges stehen, um einen Trupp ostgalizinische schwere Infanterie passieren zu lassen, die ihre massigen Mordäxte schulterten.
„Dass die in den Rüstungen atmen können“, hörte Paulina eine westgalizinische Arkebusierin sagen. „Muss verdammt eng sein.“ Sie scherzte mit ihrem Kameraden darüber. „Nichts für ungut Medame“, fügte sie schnell hinzu, als sie merkte, dass Paulina sie beobachtete.
„Mir würde es auch schwerfallen darin zu atmen“, winkte Paulina lächelnd ab, was ihr ein Grinsen der Soldatin bescherte. „Die Zusammenarbeit klappt gut, oder?“, richtete Paulina das Wort wieder an Zenon, während sie gar nicht aufhören konnte all die Eindrücke des Lagers aufzunehmen.
„Ihr meint zwischen den Ost- und Westarmeen? Ich höre immer wieder kameradschaftliche Sticheleien und ich hörte auch von einigen Soldaten, die Prügeleien und Übergriffe anzettelten. Doch alles in allem…“ Der Lieutnant deutete auf eine ostgalizinische Arbalestenschützin, die sich ein Armdrücken mit einem westgalizinischem Pikenier lieferte. Eine ganze Meute schaute zu und feuerte an. „…scheint es ja zu funktionieren.“ Paulina nickte freudig. Es war gerade acht Jahre her, seit sich die beiden Reichsteile nach einhundertundzwölf Jahren der Trennung und des gegenseitigen Misstrauens wiedervereint hatten. Es war schön zu sehen, wie die Zusammenarbeit und der Zusammenhalt unter einer gemeinsamen Flagge funktionierte. Paulina nahm sich vor unbedingt mit Soldaten und Trossleuten der Westarmeen zu sprechen. Durch ihre Tätigkeit in der Handelsgilde hatte sie zwar öfter als die meisten Menschen aus der Hauptstadt mit Menschen aus dem Westreich zu tun, doch war das immer noch viel weniger, als sie es gerne gehabt hätte. Die lange Trennung hatte für eine ganz unterschiedliche Gesellschaft und Kultur im Westreich gesorgt. Das fing beim architektonischen Stil an und hörte bei der Religion auf. Eine Tatsache, die Paulina ungemein faszinierte.
Das ungeordnete Chaos des Trosslagers verebbte allmählich und wurde durch die weit geordneteren Strukturen des Lagers der 6. Galizinischen Armee ersetzt. Zeltreihe um Zeltreihe erstreckte sich über die sanften Hügel der Goldebene. Paulina und Zenon beobachteten eine Kompanie Landsknechte, die auf einer freien Fläche zwischen den Zelten Liegestütze machten, während ihr Hauptmann sie motivierte. Die sechzig Männer und Frauen ächzten vor Anstrengung.
Das Heerlager, in dem die zwölftausend Soldaten und deren Trosse lebten, trainierten und schliefen, war in der Goldebene um das Dorf Pszenica errichtet worden. Die Zelte standen um die gemütlich und heimelig wirkenden Weiler, Gehöfte und Speicher herum und wirkten wie Fremdkörper, wie Pockennarben auf unreiner Haut. Die Getreidefelder, denen die Goldebene ihren Namen zu verdanken hatte, waren von tausenden Soldatenstiefeln zertrampelt und statt goldenen Ähren wuchsen schmutzige Zelte aus dem Boden. Paulina seufzte. Normalerweise liebte sie die Goldebene. Hügelige Landschaften, ewige Kornfelder, die nur von einigen wenigen zerfallenden Ruinen oder Baumgruppen unterbrochen wurden, riesige Speicher, Windmühlen, Gehöfte, Hofläden, Brauereien und Gewölbekeller. Der Oblast Litaunia, in dem die Goldebene lag, war Hauptlieferant für Getreide, Bier, Honig und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse. Paulina war oft hier gewesen und obwohl sie in Goldhafen geboren und aufgewachsen war, fühlte sie sich hier mindestens genauso daheim. Jedes Mal, wenn sie über die weiten Felder blickte, spürte sie eine tiefe Ruhe und Geborgenheit. Jetzt allerdings, war von all der romantischen Schönheit nichts zu sehen. Auf den Feldern, würden die nächsten Wochen Kriegsgerät und deren Träger wachsen, keine wogenden Ähren. Die Bauern würden das gesamte Frühjahr damit beschäftigt sein den festgestampften Boden wieder zu lockern.
„Oh, jetzt folgt der weniger schöne Teil von Feldlagern“, sagte Zenon scharfzüngig zu Paulina, als sie an den ausgehobenen Latrinen vorbeigingen. Sie beobachteten wie eine Soldatin und ein Soldat des Westreiches mit Schaufeln in Richtung der Grube gingen.
„Wusstest du, dass die Kaiserin ihr eigenes Scheißhaus mitgebracht hat?“, hörte Paulina die Soldatin sagen.
Ihr Kamerad starrte sie an. „Du verarschst mich doch.“
Die Soldatin schüttelte energisch den Kopf. „Nein, es ist wahr. Rafals Kompanie hat geholfen das Lager für die Mitreisenden der Kaiserin aufzubauen. Er hat es gesehen.“
Ihr Kamerad lachte und knuffte ihr gegen die Schulter. „Red‘ keinen Unsinn.“ Sie debattierten weiter, als sie an Paulina und Zenon vorbeigingen.
Die beiden verließen die Zeltreihen und betraten die gepflasterte Straße Richtung Pszenica. „Es stimmt“, sagte Paulina unvermittelt.
„Ich weiß“, grinste Zenon.
„Findest du das witzig?“, fragte Paulina den Lieutnant ungläubig.
„Ja, irgendwie schon. Ist komisch, dass sie ein ganzes… eine ganze Latrine aus Goldhafen hierher karren lässt.“ Zenon kicherte leise. Paulina schüttelte den Kopf, musste aber ebenfalls lächeln. Sie kannte Zenon erst seit wenigen Monaten. Sie hatten gemeinsam zwei der Manifestationen, arkane Ungeheuer, die das Reich seit einigen Monaten heimsuchten, bezwungen. Eine Tat, die sie sofort zu Freunden hatte werden lassen. Ein Ereignis, dass ein Band zwischen ihnen geflochten hatte, dass nur ein derart schreckliches Ereignis flechten konnte. Allein beim Gedanken an das Erlebte wurde es Paulina flau im Magen, doch hatte es sie zusammengeschweißt. Sie, Zenon und die anderen Personen, die daran beteiligt gewesen waren und die sie jetzt Freunde nannte.
Paulina war froh aus ihren Gedanken gerissen zu werden. „Schau mal, das ist Stanislavas Hofladen.“ Sie deutete auf ein hohes Holzgebäude mit Steinfundament. „Dort gibt es das beste Brot überhaupt, so etwas hast du noch nicht gegessen.“
Zenon verzog den Mund. „Das scheint sich herumgesprochen zu haben.“ Vor dem Haus hatte sich eine lange Schlange gebildet.
„Wir besuchen sie mal, wenn weniger los ist. Du wirst es nicht bereuen.“
Zenon nickte. Er konnte sich der Faszination der Goldebene auch nicht gänzlich entziehen, das wusste Paulina, wo es ihm doch eigentlich lieber war, wenn die Schatten von Stadtmauern und Häuserzeilen auf ihn fielen. In dunklen Gassen fand er sich eher zurecht als auf weiten Ebenen.
Pszenica kam in Sicht. Es wirkte weniger wie ein Dorf, vielmehr setzte sich hier die landwirtschaftlich geprägte Bebauung der Goldebene fort und verdichtete sich etwas. In der Dorfmitte stand ein Gasthaus aus Fachwerk, welches normalerweise der Treffpunkt von Bauern, Tagelöhnern und Brauern war. Heute standen Drushinars, die kaiserliche Leibgarde, in ihren gelb-rot-purpurfarbenen Uniformen davor. Kaiserin Alessia Loretta Vyrkov von Goldhafen, Kaiserin des Ostreiches, hatte sich das Gasthaus als Unterkunft für die Dauer der Herbstmanöver ausgesucht. König Alexandr Woikow von Westheim, König des Westreiches, bewohnte das gegenüberliegende Haus des Dorfältesten. Auch davor standen mehrere Drushinars. Mitglieder der östlichen und westlichen Duma, wichtige Höflinge, Marschalls, Generäle, die Oberen des Arkanistenordens und Konfessoren der Kirche des Einen waren in anderen, angrenzenden Gebäuden untergebracht, die in keiner Weise ihrem Stand entsprachen. Paulina hatte erfahren, dass viele sich darüber beschwert hatten, nur gab es in der Goldebene nunmal keine Stadtschlösser, große Bürgerhäuser und Residenzen, die man beziehen konnte. Wenn Kaiserin und König die dörfliche Idylle aushielten, würden die niederen Würdenträger das auch tun müssen.
„Nun, seht mal wer sich blicken lässt“, sagte Zenon schmunzelnd, als sie in Richtung Gasthaus gingen. Vor dem Gebäude, auf der steinernen Straße, stand Maelle Dorn, Apothecaria ersten Grades des Arkanistenordens und Freundin von Paulina und Zenon. Sie zankte sich mit einem Provocateur, einem Angehörigen einer der beiden anderen Divisios des Arkanistenordens. Paulina verstand nicht was gesprochen wurde, allerdings bot allein die Zugehörigkeit zu den beiden verschiedenen Divisios des Arkanistenordens, die gut an den unterschiedlich gefärbten Gewändern zu erkennen waren, genug Futter für Zwist. Apothecarii heilten, Provocatorii sorgten dafür, dass Leute geheilt werden mussten. Sie unterstützten häufig die Armeen des Ostreiches im Kampf. Paulina sah wie Maelle dem Provocateur auf die Brust tippte und auf ihn einredete. Noch bevor Zenon und Paulina ihre Freundin erreichten, nickte der Arkanist resignierend und verschwand die Straße hinab.
„Ihr scheint Euch Freunde zu machen. Wie immer“, eröffnete Zenon als sie vor Maelle standen. Abschätzend betrachtete Maelle seine dargebotene Hand.
„Was soll das denn werden?“, sagte sie, schlug seine Hand beiseite und umarmte den zehn Jahre älteren Lieutnant, der daraufhin lachte.
Maelle löste sich und umarmte auch Paulina. „Maelle. Wir haben Euch auf dem Weg hierher vermisst.“
Maelle zuckte die Schultern. „Ach, der Arkanistenorden hielt es für nötig, getrennt von der Kaiserin und ihrem Hof zu reisen. Ich weiß nicht was der Erzarkanist damit beweisen wollte, aber scheinbar musste es sein.“
Paulina verdrehte die Augen, ob der lächerlichen Machtspiele bei Hof. „Naja, jetzt haben wir es ja geschafft. Wo seid Ihr einquartiert?“
Maelle deutete auf einen hohen Speicher. „Dort. Mir wurde gesagt, es sei eine Ehre so nahe bei Kaiserin und König zu nächtigen. Der Speicher ist wohl das Nobelquartier in Pszenica.“ Paulina und Zenon lachten.
„Ich schlafe auch dort“, sagte Paulina. „Es ist gemütlicher als es von außen aussieht. Die Bürgerinnen und Bürger von Pszenica haben sich wirklich Mühe gegeben.“
Maelle verzog aristokratisch das Gesicht. „Na, wenn es für die hochwohlgeborene Freundin der Kaiserin reicht, reicht es für mich auch.“
Zenon gackerte los, Paulina sah sie genervt an. „Maelle, ich habe mich gefreut Euch zu sehen, doch Ihr sorgt dafür, dass dem so langsam nicht mehr so ist.“
Maelle lachte und Paulina knuffte ihr in die Seite. „Ach kommt schon.“ Die Apothecaria hakte sich bei Paulina ein und führte sie Richtung Gasthaus. Sie hatte Recht, Paulina war gut mit Kaiserin Alessia befreundet. Nun, befreundet gewesen. Die letzten politischen Entscheidungen von der Kaiserin und das Verlieren ihrer politischen Identität, so dachte Paulina zumindest, belasteten ihre Beziehung. Auch die Geheimnistuerei über die Manifestationen, von denen das galizinische Volk auf kaiserlichen Erlass nichts wissen durfte, war nichts, was ihre Freundschaft zum Positiven beeinflusst hatte. „Sie will Euch übrigens sehen.“
„Wie ist ihre… nun, wie ist ihre Laune?“, fragte Paulina vorsichtig.
„Sonnig, wie immer“, grinste Maelle. Sie schob Paulina an den Drushinars, die mit ausdrucksloser Miene in die Luft starrten, vorbei. Paulina öffnete die Tür zum Gasthaus und verschwand darin.
„Suchen wir uns etwas zu trinken und genießen diese wunderbare Gegend, Zenon?“, fragte Maelle.
Zenon grinste. „Ihr meint die von tausenden Füßen zertrampelten Felder, die ausgehobenen Latrinen und die vielen, vielen Pferde und Wagen?“
Maelle grinste zurück. „Genau.“
„Eure Majestät“, begann Paulina und verbeugte sich. Kaiserin Alessia Loretta Vyrkov, Herrscherin über den Ostteil der vereinigten Doppelmonarchie, hatte ihr den Rücken zugekehrt und saß an einem der groben Holztische im Schankraum. Ihre sonst sehr ausladenden Kleider hatte sie diesmal gegen ein enganliegendes, purpurnes Kleid getauscht, welches nicht minder edel aussah. Bei ihr war die Kommandantin ihrer Drushinar, zwei Edelleute und Reichsmarschall Jan Bartoszek.
Die Kaiserin drehte sich um. „Ah, Paulina. Wir sind fertig, Mesers. Der König und ich werden morgen den Manövern beiwohnen.“ Der Reichsmarschall und die beiden Edelleute verbeugten sich und verließen das Gasthaus. Paulina machte einen Knicks als sie an ihr vorübergingen. „Tésarik, Ihr dürft ebenfalls gehen.“ Auch die Drushina verbeugte sich und folgte nach draußen. „Setz dich Paulina. Willst du etwas trinken?“ Eine Antwort zu geben war nicht erforderlich, die Kaiserin grapschte schon nach einem Becher. Paulina setzte sich ihr gegenüber.
„Ist das… Met?“
Alessia nickte. „Pszenicaer Beerenmet.“
Paulina lächelte. „Seit wann trinkst du denn Met? Ich dachte, du magst die lieblicheren Weine.“
Alessia zuckte die Schultern ohne ihr Lächeln zu erwidern und goss Paulina ein. „Die gibt es hier nicht. Und ich komme so selten aus dem Palast, da dachte ich, probiere ich mal etwas Örtliches.“ Sie stieß mit Paulina an. Genüsslich nahm Paulina einen Schluck des kräftigen Getränks. Es schmeckte himmlisch.
Die Kaiserin verzog das Gesicht. „Ich hätte Wein mitnehmen sollen.“
Paulina konnte sich ein Glucksen nicht verkneifen. Die Kaiserin sah sie kurz an. Ihre Miene blieb kalt. „Entschuldige“, sagte Paulina schnell. „Ich wollte dich nicht…“
Alessias Gesichtszüge entspannten sich, sie deutete ein Lächeln an und winkte ab.
Paulina schluckte. Sie wusste nicht, was sie ihrer alten Freundin gegenüber noch sagen durfte und was nicht. Seit langem schon standen sie sich nicht mehr besonders nahe. Und vor allem dieser Tage, mit den erstarkenden Differenzen zwischen Ost und West, dem ewig währenden Zwist mit Levka, auch nach dem Friedensvertrag, und der Krise der arkanen Manifestationen, nahm sie alles sehr persönlich. „Gefällt es dir hier immer noch so gut wie früher?“, fragte Kaiserin Alessia und nahm vorsichtig noch einen Schluck.
„Ja. Ich liebe es, die Häuser, die Landschaft, die Menschen. Es ist alles so einladend und freundlich.“
Alessia legte den Kopf schief. „Naja. Viel passiert hier wohl nicht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Du musst mich mal mitnehmen, wenn keine Manöver sind. Und die Ähren im Sommer zeigen, die dem Landstrich seinen Namen gegeben haben. Vielleicht komme ich ja auf den Geschmack.“
„Das wäre schön“, antwortete Paulina.
Die Kaiserin lächelte traurig. Genau wie Paulina musste sie wissen, dass es wohl nie dazu kommen würde. Die Kaiserin war zu beschäftigt um ohne guten Grund Ausflüge zu machen. Zu beschäftigt und zu wichtig sich diesem Risiko auszusetzen. Und es war nicht das Gleiche mit einer Armee an Drushinars und dem halben Hofstaat hier aufzutauchen.
Alessia stand auf und trat an das milchgläserne Fenster. „König Alexandr und ich werden morgen den Manövern beiwohnen. Deine Anwesenheit wird erwünscht.“
Paulina horchte auf. „Von wem?“
Alessia Augen blitzten, als sie sie ansah. „Von mir.“
Paulina stand ebenfalls auf. Sie senkte den Kopf. „Natürlich. Maelle, Zenon und ich werden…“
Alessia drehte sich zu ihr um. „Nein, das meinte ich nicht. Ich meine du sollst neben mir sein.“ Sie stockte kurz. „Bring Dorn und Grajev ruhig mit.“
Paulina sah sie an. „Aber… ich gehöre nicht zum Militär und…“
Alessia wischte ihre Einwände beiseite. „Darum geht es auch nicht. Ich will dich neben mir haben, sonst halte ich das nicht aus.“
Paulina nickte. „Natürlich.“ Sie hatte keine Lust. Es hatte ihr schon gereicht, dass die Kaiserin ihnen befohlen hatte überhaupt mit zu den Herbstmanövern zu kommen. Dennoch, als sie sich mit dem Gedanken angefreundet hatte, hatte sie sich sogar darauf gefreut mit Maelle und Zenon das Spektakel zu beobachten. Vielleicht mit einer Flasche Met und einigen Süßküchlein von Stanislava. Das ganze neben Kaiserin, König und Hofstaat zu betrachten klang weitaus langweiliger und förmlicher.
„Ich werde dich König Alexandr vorstellen. Er weiß über deine Taten und die von Dorn und Grajev bereits Bescheid. Er freut sich darauf dich kennen zu lernen.“
Paulina schluckte. Wurde ja immer besser. Jetzt hatte sie auch ihre Begründung, weswegen sie mit auf die Manöver kommen sollten. Sie sollten vor dem König vorstellig werden. Alessia wollte mit ihnen prahlen. Mit der Beseitigung der beiden arkanen Manifestationen im Sommer. „Ich… ich verstehe.“
Die Kaiserin ging zurück zum Tisch und trank den Rest ihres Beerenmets in einem Zug. Sie verzog angewidert das Gesicht. „Hervorragend. Dann bringen wir das Ganze hinter uns.“
Galizina, Ostreich, Nahe dem Dorf Pszenica im Herbst 1271
„Eure Majestät.“, begrüßte Lieutnant Zenon Grajev die Kaiserin, als er den Feldherrenhügel betrat und sich verbeugte. Maelle tat es ihm gleich.
„Lieutnant Grajev, Apothecaria Dorn. Willkommen“, sagte die Kaiserin und zwang sich zu einem Lächeln. Ihr war anzusehen, wie müde sie war. Ihre Zofe hatte sich zwar bemüht die Augenringe zu verdecken, doch ganz erfolgreich war sie damit nicht gewesen. Offensichtlich hatte sie nicht gut geschlafen.
„Es ist eine Ehre“, entgegnete Maelle und verbeugte sich erneut. Die Kaiserin nickte ihr zu und widmete sich wieder dem Feld, auf dem sich Massen an Soldaten versammelt hatten. Paulina war überrascht, als Maelle auf sie zusteuerte. Die Apothecaria trug nicht ihre typischen Roben, welche sie als Vertreterin ihrer Zunft auszeichnete. Sie hatte sie durch ein edles, grün-weißes Kleid mit silbernen Bestickungen ausgetauscht.
Spielerisch knickste Maelle vor Paulina. „Guten Morgen, edle Medame.“
Paulina unterdrückte ein Lachen. „Ihr seht fabelhaft aus, Maelle.“ Sie zwinkerte ihrer Freundin zu. „Ihr auch, Lieutnant.“ Der Lieutnant hatte sich ebenfalls herausgeputzt. Kriegerisch trug er eine stählerne Brustplatte mit seiner silbernen Amtskette darüber. Blau-weiße Pluderhosen und -ärmel trugen zu seinem edlen Aussehen bei. Seinen dunkelblonden Bart hatte er fein gestutzt. „Euch fehlt nur der Hut.“
Der Lieutnant winkte ab. „So weit kommt es noch.“
Maelle kicherte, was ihr einen bösen Blick von einer nahestehenden Hofdame einbrachte. Die Apothecaria funkelte böse zurück. „Heilige, hier ist Spaß wohl verboten.“
„Medames, Mesers. König Alexandr Woikow von Westheim, Herrscher des Westreiches unseres heiligen vereinten Reiches von Galizina“, verkündete der Herold der Kaiserin, noch bevor Paulina Maelle an die höfische Etikette erinnern konnte. Sämtliche Augenpaare drehten sich um, als der König, mitsamt Gefolge, den Hügel erklomm. Und auch Paulina reckte den Kopf. Sie kannte den König vor allem aus Beschreibungen von Alessia.
König Alexandr hatte sich eine stählerne Brustplatte mit goldenen Ziselierungen umgeschnallt, die von gold-schwarzen Pluderärmeln ergänzt wurde. Sein fast jugendlich wirkendes Haupt zierte eine schmale, goldene Krone. Neben ihm ging ein Gerüsteter, Alois de Fucík, der Reichsmarschall des Westreiches. Eine etwas weniger prunkvolle Brustplatte sorgte für Schutz, den er hier oben sicher nicht benötigen würde. Zusätzlich trug er stählerne Bein- und Armschienen. In einem breiten goldschwarzen Stoffband steckte eine prunkvolle, silberne Radschlosspistole, die mit goldenen Stilisierungen verziert war. Er ließ sich einen wuchtigen, grauen Bart stehen, dem Reichsmarschall des Ostens gar nicht unähnlich. Zur Rechten des Königs ging ein Erzkonfessor, ein hoher Vertreter der Kirche des Einen, die Staatsreligion im Westen war und deren Abstinenz im Osten der Kirche und seinen Vertretern sauer aufstieß. Es folgten weitere, edel gekleidet und prunkvoll behangene, Personen. Genauso wie Kaiserin Alessia hatte König Alexandr seine eigene Leibwache aus Drushinars und seinen eigenen Hofstaat. Alle Anwesenden verbeugten sich tief. Alle außer Jaegar Raul, der Erzarkanist des Arkanistenordens des Ostreiches, der nur leicht seinen Kopf neigte und Kaiserin Alessia, die ein strahlendes Lächeln aufsetzte.
„Kaiserin Alessia!“, rief König Alexandr freudig und ging auf seine Mitregentin zu.
„König Alexandr. Es ist viel zu lange her.“ Sie ergriff seine Hände mit beiden der ihren. Während Alessia und der König herzliche Worte tauschten, beäugten sich der Erzkonfessor des Westreiches und der Erzarkanist des Ostreiches misstrauisch. „Erzkonfessor Polyák“, brach der Erzarkanist kühl das Schweigen zwischen den Männern.
„Erzarkanist Raul“, antwortete der Konfessor mit kaum wärmerer Stimme.
„Lange ist es her“, stellte Jaegar Raul fest.
„Eine Schande“, meinte der Konfessor.
Lautes Lachen lenkte Paulinas Aufmerksamkeit von dem als Gespräch getarnten Schlagabtausch weg, den sich die beiden Vertreter der rivalisierenden Mächte des vereinten Reiches lieferten. „Bartoszek Ihr alter Hund“, rief Reichsmarschall Alois de Fucík seinem Fachgenossen aus dem Osten zu und klopfte ihm lautstark auf die Rüstung.
Jan Bartoszek schlug grinsend in die angebotene Hand. „Ihr seid wohl hier um Euch die Macht der Ostarmeen anzuschauen, alter Freund?“
Dröhnend lachte der Westmarschall. „Ich bin hier um zu sehen, wie Ihr Euch beim Donner unserer Kartaunen einnässt.“
Die beiden Grüppchen vermischten sich. Hofleute des Westens redeten mit Arkanisten des Ostens, Militärs des Ostens begannen zwanglose Gespräche mit Kirchenleuten aus dem Westen. Der Erzkonfessor stellte sich dem Reichsmarschall des Ostens vor. Bedienstete eilten zwischen den Personen hin und her und verteilten Erfrischungen und kleine Häppchen. Der Feldherrenhügel, wenn man die kleine Erhebung, die von einem eingefallenen Turm, von dem nur noch zwei Mauerseiten übrig geblieben waren so nennen konnte, war mittlerweile sehr voll. Für die beiden Herrscher der Doppelmonarchie waren zwei wuchtige Stühle bereitgestellt worden, die unbenutzt die Mitte der Zusammenkunft einnahmen. Ein Sonnensegel war in der Turmruine, in die Weinfässer hereingekarrt worden war, aufgespannt. Hölzerne Tische mit Karten und Aufstellungen befanden sich ebenfalls auf dem Hügel, vermutlich für taktische Besprechungen. Neben Kaiserin und König, Erzarkanist und Erzkonfessor und den beiden Reichsmarschalls waren etwa zwanzig weitere Personen anwesend.
Maelle, Zenon und Paulina hatten sich etwas deplatziert am Rande des Hügels postiert, bis Kaiserin Alessia sie herwinkte. Zenon ging festen Schrittes voraus, auf die beiden Herrschenden zu. Paulina bewunderte ihn, er war wie ein Fels in der Brandung. Er wirkte, als würde ihn nichts verunsichern können. Maelle nestelte nervös am Kragen ihres Kleides herum und auch Paulina war etwas aufgeregt, trotz, oder gerade wegen, ihrer Nähe zur Kaiserin.
„König Alexandr, Paulina Katja Nowgoroda der Galizinischen Handelsgilde, Apothecaria ersten Grades Maelle Dorn und Lieutnant Zenon Grajev der Goldhafener Stadtwachen.“
Die drei wollten sich gerade auf ihre Knie fallen lassen, doch der König hielt sie davon ab. „Oh bitte, lasst das bleiben. Ihr müsst nicht Eure Garderobe schmutzig machen.“ Der König des Westens hatte eine warme, angenehme Stimme. Paulina schätzte ihn auf Mitte vierzig, doch wirkte er weit jünger. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt. Früher, als sie sich noch nähergestanden hatten, hatte Alessia häufiger von ihm gesprochen. Sie hatte ihn als leicht beeinflussbaren, naiven Mann beschrieben, der zu gleichen Teilen an der Kette des Kardinals der Kirche und an ihren eigenen Rockzipfeln hing. Der Mann, der jetzt vor ihr stand, vermittelte ihr jedoch das Bild eines freundlichen, bedachten Herrschers. Zugegeben, sie kannte König Alexandr nicht, und Eindrücke konnten täuschen, jedoch wusste sie mittlerweile auch nicht mehr wie viel Wert sie dem Urteil ihrer alten Freundin beimessen konnte. „Es freut mich Euch kennen zu lernen. Es ist mir eine Ehre Menschen zu treffen, die sich so im Reich verdient gemacht haben.“
„Wir sind geehrt, Eure Majestät“, antwortete Lieutnant Zenon und senkte das Haupt.
Der König nahm sich eine Karpatka, die ihm von einem Bediensteten angeboten wurde. „Ich freue mich auf die Manöver. Ihr werdet beeindruckt sein von unseren neuen Kartaunen. Entschuldigt mich bitte, ich muss mit meinem Reichsmarschall sprechen.“ Lächelnd zog sich der König zurück. Paulina, Maelle und Zenon verbeugten sich.
Kaiserin Alessia verdrehte die Augen. „Er redet schon die ganze Zeit von seinen neuen Spielzeugen“, raunte sie Paulina zu. Es scherte sie wohl nicht, dass auch Maelle und Zenon in Hörweite waren. Die beiden versuchten angestrengt woanders hin zu sehen. „Und später muss ich noch mit diesem Widerling Theodor Polyák reden. Dorn, geht ihm bloß aus dem Weg, wenn ihr keine Ohrenschmerzen bekommen wollt. Er kann Arkanisten nicht leiden.“
Maelle wusste sichtlich nicht, was sie antworten sollte. „Ja, Majestät“, sagte sie leise.
Das Verhältnis in der Doppelmonarchie, zwischen Ostreich und Westreich war nicht immer einfach. Die beiden Herrschenden waren offiziell gleichberechtigt, doch wurde der Kaiserin des Ostens weit mehr Macht über die Geschehnisse im Reich nachgesagt. Der König des Westreiches hielt sich mit seinen Meinungen und Entscheidungen oft an den Rat der Kaiserin, was nicht zuletzt daran lag, dass Kaiserin Alessia die treibende Kraft der Wiedervereinigung der beiden Reichsteile gewesen war, wofür sie im Osten wie im Westen als ‚Wiedervereinigerin‘ gefeiert wurde. Die Kirche des Einen im Westen stand dem Arkanistenorden im Osten gegenüber. Der Orden war keine religiöse Insitution, er war die Institution, die Arkanisten ausbildete. Arkanisten, deren Macht mitunter aus dem Arkanerz kam, welches in tiefen Minen gefördert wurde. Arkanerz, welches im Westreich vielmehr in Feuerwaffen zum Einsatz kam, als zur Verstärkung arkaner Kräfte, die im Westreich vor der Wiedervereinigung, und vielfach immer noch, als ketzerisch angesehen wurden.
Im Zuge der Wiedervereinigung hatte es auch einen Ausgleich des Glaubens gegeben. Der omnipräsente Glaube an den Einen im Westreich hatte irgendwie mit der Abstinenz eines sakralen Glaubens im Ostreich verbunden werden müssen. Im Ostreich wurden weltliche, längst verstorbene Arkanisten verehrt, denen großartige Taten und Wunder nachgesagt wurden. Während und nach der Wiedervereinigung der beiden Reichsteile war versucht worden, diese säkulare Verehrung mit dem sakralen Glauben des Westreiches in Einklang zu bringen. Die arkanen Heiligen wurden als Personifikation der Eigenschaften des Einen versucht zu interpretieren. Manche der Religiösen sahen sie auch als Aposteln, den Verkündern des Glaubens des Einen. Viele Konfessoren der Kirche, vor allem diejenigen, die der innerkirchlichen Fraktion der Radikalen angehörten, waren jedoch nicht zufrieden mit dieser Entscheidung. Der Arkanistenorden und viele andere Institutionen des Ostreiches verachteten dagegen die Kirche als rückständig und fanatisch.
„Seht, es beginnt“, rief der König auf einmal und stellte sich wieder neben die Kaiserin. Paulina schaute nun erstmals wirklich bewusst auf die Menschenmasse, die sich auf dem Feld unterhalb des Hügels erstreckte. Es war gewaltig. Die 6. und 10. Armee aus dem Ostreich und die 9. und 14. Armee aus dem Westreich hatten sich aufgereiht. Fast zeitgleich setzten sich die dreitausend Männer und Frauen der 6. Armee in Bewegung. Mehrere Karrees aus Arbalestenschützen und mit Hellebarden bewaffnete Landsknechte marschierten vor. Es war beeindruckend.
„Die 6. Armee. Lev hat mit ihr im Sezessionskrieg gekämpft“, raunte Maelle Paulina zu.
Sie hatte Recht, wie Paulina überrascht gewahr wurde. Bevor Lev, der Söldnerführer der Schwarzen Reiter, dazu berufen worden war, mit ihnen die Manifestation von Trocnov zu beseitigen, waren er und die Schwarzen Reiter der 6. Armee angeschlossen worden. Paulina vermisste die ruhige Art des Kommandanten. Gleichzeitig hoffte sie, er würde seine verletzte Gefährtin in den Abteien auf Hel finden, zu denen er aufgebrochen war. In Trocnov war klar geworden, wie viel ihm die Frau bedeutete.
Reichsmarschall Jan Bartoszek drängte sich vor. Er sprach laut genug, dass seine dröhnende Stimme über den ganzen Hügel hallte. „Eure Majestäten. Die ostgalizinische 6. Armee. Eine traditionsreiche Armee, zuletzt errang sie Siege für Euch im Sezessionskrieg. Geführt wird sie von Generalin Krystina Csorba, der Löwin des Nordens.“ Ein Raunen ging durch die Menge. Die Löwin des Nordens war bekannt, sie galt als die beste galizinische Generalin. In beiden Reichsteilen. „Seht Ihr das gelbliche Banner? Das sind die Landsknechte aus Severnitok. Ihrer Standhaftigkeit haben wir die Verteidigung von Luzern zu verdanken.“ Murmeln und Raunen ging durch die Menge. Die Geräusche hunderter, tausender marschierender Stiefel, drang zu ihnen nach oben, gemischt mit dem Brüllen von Befehlen und dem deplatziert fröhlichen Klang von Marschflöten.
„Beeindruckend“, meinte Kaiserin Alessia mit ausdrucksloser Stimme.
„Reichsmarschall, sind das nicht die Katowiczer Gassenhauer?“, fragte König Alexandr aufgeregt.
Der Reichsmarschall wandte sich ihm zu. „So ist es, Eure Majestät, Ihr habt ein gutes Auge. Die Katowiczer Gassenhauer sind eine berüchtigte Kompanie von Bihandkämpfern. Sie kennen keine Furcht.“
„Gassenhauer?“, fragte Maelle Zenon.
„Gassenhauer, Doppelsöldner.“ Er senkte die Stimme. „Je nachdem wen Ihr fragt auch ‚Verlorener Haufen‘. Sie preschen vor der eigentlichen Formation in die Reihen der Feinde und versuchen Lücken zu schlagen, in die die nachfolgende Infanterie oder Kavallerie stoßen kann. Daher Gassenhauer. Sie hauen sprichwörtlich Gassen in die Reihen der Feinde.“ Maelle sah ihn entgeistert an und blickte dann wieder, zunehmend angewidert, auf das Spektakel unter ihnen. Zwei tiefe Linien, bestehend aus sechs Kompanien Arbalestenschützen, formierte sich unter dem fröhlichen Pfeifen von Flöten und dem Klang vom rhythmischen Schlagen der Marschtrommeln. Ihre beiden Flanken wurden von Landsknechten aus je drei Kompanien vor imaginären Angriffen geschützt.
„Spannen!“, drang eine raue, weibliche Stimme entfernt an ihre Ohren. Das sehr laute Surren, das von den Winden verursacht wurde, die die Arbalestensehnen spannten, drang bis zum Feldherrenhügel hinauf. Fast zeitgleich verstummte es. „Feuer!“, hörten sie die Stimme wieder schreien.
Dreihundertundsechzig Arbalesten feuerten zeitgleich ihre befiederten Bolzen in einen Erdwall. Das Klacken der Abzüge und der Geschosse, die die Führungsschienen verließen, war ohrenbetäubend. Auf dem Hügel stießen mehrere der Anwesenden freudige Rufe aus oder klatschten.
„Seht“, nahm Bartoszek das Wort wieder auf und deutete auf das Feld. „Die schwere, flämische Infanterie übernimmt.“ Die Linie der Arbalestenschützen teilte sich geschickt an mehreren Stellen und machte so Platz für die Männer und Frauen in Vollpanzerung, die zielsicher und im Gleichschritt mit vorgestreckten Mordäxten vorrückten. Kurz bevor sie ihr Ziel, den Erdwall, den die Schützen zuvor beschossen hatten, erreichten, hielten sie an und machten Platz für Reiter, die aussahen, als wären sie in glänzende, silberne Spiegel gehüllt.
„Gothische Ritter“, stieß ein Höfling des Westens überraschend aus. Die edlen Kavalleristen waren berühmt, sie verkörperten das Bild einer romantischen, lange verlorenen Ritterschaft. Ausschließlich Adelige aus Gotha, der Oblasthauptstadt von Visigothia, wurden in ihre Reihen aufgenommen. Von Kindesbeinen an lernten diese Reichsritter das Kämpfen. Ihre Erscheinung rührte von den hell polierten, fast silbernen Rüstungen, die durch ihre geschwungenen Spitzen, Ornamente und eingelegte Muster fast an Kathedralen im gothischen Baustil erinnerten. Einem Sturm gleich fegten sie mit vorgereckten Kavalleriehämmern über das Aufmarschfeld. Einer der Reiter reckte ein Banner in die Höhe, auf dem ein schwarzer, galizinischer Doppeladler auf gold-weißem Grund prangte. Patriotisches Raunen ging durch die Menge.
„Äußerst beeindruckend“, meinte König Alexandr anerkennend. Die Armee bildete weiter Formationen, Paulina sah nur mit einem Auge zu. Sie nahm sich einen Beerenmet und Karpatka, auf die sie sich konzentrierte.
„Sind das die Schwarzen Reiter?“, fragte Zenon auf einmal.
Paulinas Blick ruckte wieder auf das Gefechtsfeld. Tatsächlich. Etwa vierzig Reiter, weniger als eine Kompanie der ostgalizinischen Armee, ritten schnell über das Feld. Schneller als die schweren Gothischen Ritter zuvor. Auch wenn sie, im Gegensatz zu den meisten Einheiten, keine Flagge trugen, konnten sie sofort an den mattschwarzen, schlichten Rüstungen, die den kompletten Gegensatz zu den strahlenden Gothischen Rittern bildeten, erkannt werden. Auch sie ritten einen Angriff auf den Erdwall. Kurz bevor sie ihn erreichten, zogen sie ihre Radschlosspistolen aus den Sattelholstern, feuerten eine Salve aus dem Ritt und drehten wieder ab. Wieder raunte die Menge auf dem Hügel. Die Schwarzen Reiter waren berüchtigt, eine Söldnertruppe aus der freien Stadt Arnhem, die einen sehr guten Ruf hatte. Herrscher schmückten sich damit, sie in ihre Dienste zu stellen.
„Meint ihr Lev ist dort unten?“, fragte Paulina.
Kauend winkte Maelle ab. Auch sie hatte sich an der Karpatka bedient. „Nein. Er hätte uns besucht. Außerdem wird er noch seine verletzte Kameradin aufsuchen.“ Sie hob grinsend eine Augenbraue. „Und wir alle wissen, was er mit ‚Kameradin‘ meint. Sein Stellvertreter wird sie anführen. Wie heißt er noch? Lev hat es uns erzählt.“
„Lieven“, antwortete Zenon. „Lieven heißt er.“
„Besuchen wir ihn nachher?“, fragte Maelle. „Vielleicht weiß er ja wo Lev gerade ist.“
„Eure Majestät“, drang die ruhige Stimme von Jaegar Raul an Paulinas Ohren. Sie stand direkt neben der Kaiserin, sie hörte, was für Alessia und den König bestimmt war. Der Erzarkanist hatte nicht in der Mehrzahl gesprochen, er sprach direkt den König an. „Ihr werdet nun eine Demonstration der Macht des Arkanistenordens begutachten können.“
Der König nickte interessiert, als drei Provocatorii aus den Reihen der Kompanien der 6. Armee hervortraten. Alle drei trugen Fackeln und ließen die Arkanerzfläschen, die sie am Gürtel trugen, zerbrechen. Sie griffen in die Flammen der Fackeln, was bei einigen der Hofleute des Westens erschrockene Rufe auslöste. Sie sahen aus wie Töpfer, die aus dem Feuer Bälle formten. Zeitgleich, in perfekter Synchronisation, schleuderten sie die geformten Feuerbälle auf den Erdwall, aus dem durch die Einschläge große Mengen an Erde weit in den Himmel stießen. Ein staunendes Murmeln ging durch die Menge und wieder klatschten einige.
„Beeindruckend“, hauchte König Alexandr. Paulina blickte zu Erzkonfessor Polyák. Er sah zornig aus. Paulina konnte deutlich sehen, wie sein Mund das Wort ‚Ketzer‘ formte, als er mit einem seiner Kirchenbrüder im Gespräch war. Sie fühlte sich ertappt, als er ihren Blick erwiderte. Schnell drehte sie sich weg.
„Pff, dazu muss man kein Provocateur sein“, raunte Maelle leise, sodass es nur Paulina und Zenon hören konnten. Paulina trat ihr auf den Fuß und musste sich ein Lachen verkneifen. Maelle war Apothecaria, ihr Fachgebiet war das Heilen. Dennoch hatte sie bei ihrer Begegnung mit der Manifestation von Trocnov bewiesen, dass auch sie zu weit zerstörerischen Dingen in der Lage war.
„Ich hoffe Euch hat die Demonstration der Ostarmeen gefallen, König Alexandr“, hörte Paulina die Kaiserin zuckersüß sagen.
Der König nickte aufgeregt. „Unbedingt! Diese Stärke, diese Perfektion. Sie passt so gut zu ihrer Kaiserin.“
Alessia senkte den Kopf, was einer leichten, kaiserlichen Verbeugung nahekam. „Ihr seid zu freundlich, König.“
Paulina schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, ob sie sich über den Vergleich mit einer Armee, die Tod und Zerstörung säte, freuen würde.
„Eure Majestäten, Medames, Mesers“, drang nun die kraftvolle Stimme von Alois de Fucík über den Hügel. Schnaufend trat der Reichsmarschall näher an Kaiserin und König heran, wo im Jan Bartoszek einladend Platz machte. „Die 9. Galizinische Armee aus dem Westreich.“ König Alexandr klatschte aufgeregt in die Hände, Kaiserin Alessia nahm genervt einen Schluck des Beerenmets. Die 6. Armee hatte sich zurückgezogen und marschierend, unter Trommeln und Flöten, nahm die 14. Armee ihren Platz ein. Der Unterschied war sofort erkennbar. Bei den westgalizinischen Armeen waren Feuerwaffen wie Arkebusen und Radschlosspistolen bis hin zu den großen Kartaunen viel mehr verbreitet. Schwer gepanzerte Reichsritter gab es gar keine, Paulina sah nur vereinzelt leichte Husarenreiter, die mit Pistolen und Lanzen bewaffnet waren.
„Es ist beeindruckend“, sagte König Alexandr. Er lehnte sich zur Kaiserin hin und deutete auf einen Artilleriezug, der sich gerade formierte. „Seht Ihr diese Kanonen? Das sind unsere neuen Kartaunen. Schwerer, größer, langsamer, doch in der Lage die dicksten Festungsmauern zu durchschlagen.“
Der König war sichtlich stolz auf seine Armee. Doch wirkte das nicht… bedrohlich, erkannte Paulina. Er wollte vor seiner Mitmonarchin nicht protzen oder Machtverhältnisse ändern. Er hatte nur kindlichen Spaß an dem Kriegs- und Tötungsgerät. Anders als Erzkonfessor und Reichsmarschall, dachte Paulina. Die beiden hatten sicherlich Interesse daran, die Macht des Königs im Reich zu mehren und gleichzuziehen mit Kaiserin Alessia.
Die Kaiserin nickte nur und nippte an ihrem Glas. Einzelne Trommelschläge ertönten und es formten sich mehrere quadratische Formationen zu einem großen Rechteck. Außen standen Arkebusiere, innen Pikeniere, bewaffnet mit sechs Schritt langen Spießen. An den Ecken des Rechtecks formierten sich zusätzlich kleinere Quadrate an Soldaten. Drei dieser Formationen standen nun nebeneinander auf dem Manöverfeld. Dahinter waren die großen Kartaunen und die kleinere Kalverinen postiert worden.
„Haltet Euch lieber die Ohren zu, Medames und Mesers“, rief Reichsmarschall de Fucík in die Menge. Paulina wollte gerade Zenon ansprechen, als ein ohrenbetäubender Lärm den Hügel und das Manöverfeld erfüllte. Einige Anwesenden ließen erschrocken ihre Gläser fallen und pressten ihre Hände auf die Ohren. Paulina sah Rauch aus den Läufen der großen Kartaunen kommen. Eine Salve der etwas kleineren, doch immer noch wuchtigen Kalverinen folgte, die nicht weniger laut war.
„Beobachtet die Einschläge“, überschrie König Alexandr den Geschützdonner. Kaiserin Alessia war bleich geworden, sie nickte mit erschrockenem Gesichtsausdruck. Paulina betrachtete eine der Kartaunen genauer. Sie sah, wie Artilleristen die schwere Waffe luden. Ein Stock mit aufgesetzter Bürste wurde eingeführt und mehrfach gedreht. Anschließend steckte ein weiterer Artillerist einen Sack, der matt schimmerte, in das Rohr. Das musste das Arkanerz sein, dass für das Abfeuern des Geschosses verwendet wurde. Die schwere Eisenkugel folgte. Eine mit Zündstock bewaffnete Soldatin hob das glimmende Ende an die Pfanne des Geschützes und die gesamte Lafette wurde ruckartig nach hinten gerissen, als die Kartaune Feuer, Eisen und Rauch spuckte. Mehrere Schritt hoch spritzten Erdfontänen aus dem Wall.
Der Großteil der Anwesenden auf dem Feldherrenhügel hatte sich von seinem Schock erholt. Paulina beobachtete, wie viele der Adeligen begeistert klatschten und jubelten. Der Erzkonfessor grinste süffisant und der Reichsmarschall des Westens stemmte stolz die Hände in die Hüften.
„Ich hoffe die Demonstration hat Euch gefallen, Kaiserin Alessia“, sagte der König freundlich zur Kaiserin, als sich der Geschützdonner langsam legte. Die Armee führte nun unter Trommelschlag mehrere Bewegungsmanöver durch. „Gemeinsam mit den Reichsrittern und der schweren Infanterie des Ostens werden wir eine unschlagbare militärische Macht sein.“ Kaiserin Alessia nickte nur. Sie sah aus, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. Der König hob die Stimme und sprach auch die anderen Anwesenden an „Seht Euch das nur an, liebe Freunde. Die Banner der Westoblaste vereint mit den Bannern der Ostoblaste. Seht, was unsere gemeinsame Stärke ausrichten kann“, rief er träumerisch. Die Anwesenden applaudierten ihm und der König wandte sich Gesprächen mit dem Erzarkanisten und den Reichsmarschalls zu.
„Es ist eine Beleidigung“, spuckte Kaiserin Alessia Paulina leise vor die Füße, während sie weiter angestrengt auf das Manöverfeld starrte. Paulina merkte, wie wütend sie war, sie musste aufpassen was sie sagte.
„Meint Ihr wirklich Eure Majestät?“ In der Öffentlichkeit sprach Paulina ihre alte Freundin immer mit ihrem offiziellen Titel an. „Für mich sah es so aus, als würde König Alexandr vor allem die Gemeinschaft aus Ost und West erfreuen.“
Ruckartig wandte die Kaiserin ihr den Kopf zu. „Natürlich, weil er ein kindischer Trott…“ Alessia atmete genervt aus und massierte sich die Schläfen. „Er ist auch nicht der, der uns beleidigt. Ich rede vom Erzkonfessor und dem Reichsmarschall. Sie wissen genau, welchen Eindruck ihre Armeen auf die Leute haben. Sie wollen die Macht des Königs stärken und das haben sie geschafft. Es ist eine politische Niederlage.“
Paulina sah Alessia an. Natürlich wusste sie, dass es interne Machtkämpfe im Reich gab. Wer war der mächtigere der beiden Herrscher, wer hatte das meiste Vertrauen in der Bevölkerung, wer hatte die schlagkräftigste Armee. Paulina erinnerte sich an die Gespräche, die sie mit Alessia über den König des Westens geführt hatte. Darin hatte die Kaiserin ihn als naiv beschrieben, doch Paulina fand eher, dass er… nun, gutgläubig zu sein schien. Vertrauend. Seine Berater und seine Institutionen waren es aber offensichtlich nicht. Paulina hätte nicht vermutet, dass die Machtkämpfe so weit gingen. Galizina war ein Reich. Die Wiedervereinigung war die größte Errungenschaft seit hunderten von Jahren. Und Kaiserin Alessia, ‚die‘ Kaiserin, die dieses Wunder nach einhundertundzwölf Jahren der Teilung möglich gemacht hatte, wetterte gerade so, dass Paulina denken musste, dass für Alessia die Wiedervereinigung noch immer nicht abgeschlossen war. Sie bewunderte den politischen Erfolg der Kaiserin, ihrer alten Freundin ungemein. Doch wieso war sie so verbittert und… nunja, paranoid? Kam das unausweichlich mit so viel Macht? Und war es möglicherweise sogar berechtigt? Paulina bezweifelte es. „Kaiserin Alessia, das Ostreich und das Westreich sind vereint. Wir stehen doch auf derselben Seite, selbst wenn es Unterschiede gibt.“
Kaiserin Alessia sah sie lange an. „Bist du wirklich so naiv Paulina?“
Bevor sie antworten konnte, wurden sie vom Herold der Kaiserin unterbrochen. „Medames und Mesers“, sagte er laut mit fester Stimme. „Die Generalin der 6. Galizinischen Armee, Krystina Csorba. Die Löwin des Nordens.“
Sämtliche Gespräche verstummten und drehten sich zur legendären Generalin um, die den Hügel in Begleitung eines Gothischen Ritters und des Bannerträgers der 6. Armee betrat. Das Banner zeigte den galizinischen Doppeladler auf safrangelbem Grund. Darunter waren allerlei Insignien der 6. Armee zu sehen. Die Generalin trug die Rüstung eines Gothischen Ritters über einem burgunderfarbenen Wams, welches unter der Rüstung hervorleuchtete. Ihr kurz geschnittenes, dunkles Haar, das ihre aristokratischen Züge einrahmte, lag ihr offen bis zum Hals. Sie musste erst Mitte oder Ende dreißig sein, dachte Paulina. Außer drei Prägungen auf Herzhöhe in ihren Brustpanzer, deutete nicht viel auf ihren Rang hin.
Ohne das Raunen, das durch die Menge ging zu beachten, ging sie geradewegs auf die Kaiserin zu. „Eure Majestät“, sagte sie feierlich und ließ sich auf ein Knie sinken.
Die Kaiserin bedeutete ihr aufzustehen. Sie lächelte die Generalin an und legte ihr schwesterlich eine Hand auf die gepanzerte Schulter. „Löwin.“ Der Blick der Generalin blieb ernst. Pflichtbewusst drehte sie sich zu König Alexandr und beugte auch vor ihm das Knie. „Könnte doch noch ein Sieg werden“, hauchte Alessia Paulina zu und grinste.
Paulina schüttelte den Kopf. Sie sah Maelle an und merkte, dass sie ähnlich schockiert über das Denken und Handeln der Kaiserin war.
„Generalin Csorba, Löwin des Nordens. Es ist eine Ehre Euch kennen zu lernen. Eure Verdienste für das Reich sind legendär und unübertroffen.“
Generalin Csorba erhob sich und senkte den Kopf. „Ihr seid zu gütig Eure Majestät.“
Paulina, Maelle und Zenon beobachteten die nächsten Minuten wie König Alexandr die Löwin mit militärischen und taktischen Fragen beharkte. Csorba musste ausführlich über ihre Siege im Sezessionskrieg berichten. Kaiserin Alessia führte sie vor wie auf einer Parade. Paulina legte den Kopf schief. So wie die Kaiserin sie selbst vorgeführt hatte.
„Maelle, wie steht Ihr zu den Waffen des Westens?“, fragte Zenon unvermittelt die Apothecaria.
Maelle schob sich eine Traube in den Mund und zuckte die Schultern. „Um ehrlich zu sein ist mir das egal. Viele meiner Schwestern und Brüder im Arkanistenorden verteufeln diese Waffen. Aber ob Feuerbälle nun von Arkanisten oder Kartaunen abgefeuert werden, die Wirkung ist doch die Gleiche.“
Zenon blickte sie an. „Aber?“, fragte er.
„Kein Aber“, antwortete Maelle und strich sich eine ihrer braunen Haarsträhnen hinter das Ohr. „Ich verstehe das Argument, dass es bessere Anwendungszwecke für Arkanerz gibt und es nicht dazu verwendet werden sollte… nun, Eisenbälle möglichst weit weg zu schleudern. Doch könnte dasselbe Argument auch für Provocatorii zählen, die ihr Arkanerz ebenfalls für den Kampf einsetzen.“
Zenon fasste sich nachdenklich ans Kinn, Paulina schaltete sich ein. Sie fand die pragmatische und neutrale Haltung von Maelle faszinierend. Sie wusste nicht, ob sie, wenn sie Arkannutzende wäre, so neutral bleiben könnte. „Ich finde Eure Sicht spannend, Maelle. Aber denkt Ihr nicht…“
„Medame Nowgoroda, Medame Dorn, Lieutnant Grajev. Darf ich Euch Generalin Krystina Csorba vorstellen?“, hörte Paulina auf einmal die Stimme des Herolds der Kaiserin. Alessia war scheinbar fertig mit dem Präsentieren ihrer Lieblingsgeneralin und musste sie nun irgendwo abstellen. „Medame Paulina Nowgoroda ist hohes und verdientes Mitglied der Handelsgile von Galizina. Medame Maelle Dorn ist Apothecaria ersten Grades und emsige Arkanistin im Apothecarium der Unterstadt in Goldhafen. Lieutnant Zenon Grajev ist… nun Lieutnant der Goldhafener Stadtwachen. Mit seinen herausragenden Leistungen trug er maßgeblich zur Sicherheit der Goldhafener Bürger bei, allen voran durch die Zerschlagung des Papierkartells im Jahre 1263.“ Der Herold verbeugte sich und ging. Generalin Csorba neigte angemessen tief das Haupt vor ihnen. Paulina war etwas überrascht und erwiderte die Geste. Normalerweise verbeugte sich der Rangniedere zuerst. Natürlich war ihr Stand nicht direkt vergleichbar, Maelle und Paulina waren keine Militärs, und auch Zenon nur bei großzügiger Definition des Begriffs und dennoch hatte Paulina gedacht, dass die Generalin einer renommierten Armee mehr Wert auf so etwas legte. Einen kurzen Moment standen sie wortlos voreinander. Zenon nippte an seinem Krug und Paulina räusperte sich leise. Sie wusste nicht, was sie mit der Löwin zu besprechen hatte. Außerdem hatte sie großen Respekt vor ihr, sie war eine Volksheldin.
Maelle brach schlussendlich das Schweigen. „Emsige Arkanistin? Was soll das denn heißen?“ Paulina sah sie an. Die Mundwinkel von Csorba zuckten.
„Und was heißt da, dass ich maßgeblich zur Sicherheit der Bürger beitrug?“, echauffierte sich Zenon. „Ich tue das immer noch.“ Paulina kicherte und auch die Löwin grinste.
„Mich wundert es, dass er Euch nicht wortreicher angekündigt hat, Generalin“, sagte Maelle unverblümt, immer noch grinsend.
Die Generalin winkte ab. „Ach, das ist immer so. Die Herolde sind der Meinung, dass es einen besseren Effekt hat mich nur mit meinem Namen und als ‚Löwin‘ anzukündigen. Macht wohl mehr Eindruck auf die Leute.“ Sie deutete auf einen kleinen Holztisch, auf dem eine Karaffe mit Beerenmet darauf wartete ausgetrunken zu werden. „Darf ich?“, fragte sie.
„Nur zu“, sagte Zenon. Die Generalin schenkte sich ein Glas ein.
„Gibt es dafür keine Bediensteten? Jetzt sind wir schon mal auf so einer edlen Veranstaltung und müssen uns auch noch selber Met eingießen?“, fragte Maelle in vorgegebener Entrüstung.
Die Generalin lachte. „Ihr würdet Euch gut im Hofstaat eines Herrschers machen, Medame Dorn.“
Maelle winkte lässig ab. „Das fasse ich als Beleidigung auf, Generalin.“ Beide lachten und Zenon und Paulina fielen mit ein. Die Generalin war anders als Paulina es sich vorgestellt hatte. Sie war nahbar. Sie hob ihren Kelch und sie stießen an.
„Es ist wohl angemessen auf das vereinte Reich zu trinken, denke ich“, sagte Paulina feixend.
„Darauf, dass wir das hier alle überstehen“, antwortete die Generalin und deutete heimlich auf die Menge an Adeligen hinter sich.
„Auf das uns der Met nicht ausgeht“, fügte Maelle hinzu. Sie tranken.
„Medame Dorn, Ihr seid im Apothecarium tätig?“ Die Löwin nippte an ihrem Kelch. „Ihr habt meinen tiefsten Respekt. Es muss eine erfüllende und zugleich schwere Aufgabe sein in der Unterstadt den Armen und Kranken zu helfen.“
Maelle nahm noch einen Schluck aus ihrem Kelch und nickte. „Man lernt damit umzugehen. Ich habe das Gefühl, dass meine Hilfe dort am dringendsten gebraucht wird, daher bin ich glücklich dort zu sein. Im Vergleich zu dem was Ihr leistet, ist es aber sicherlich nicht der Rede wert. Ach und bitte, nennt mich Maelle, Generalin.“
Die Löwin nickte ihr zu. „Krystina. Ich denke meine Stellung wird überhöht. Ich bin Generalin einer Armee. Ich habe den größten Respekt vor Leuten die andere heilen. In meinem Beruf sehe ich sonst eher das Gegenteil.“
„Generalin“, hörten sie den Gothischen Ritter rufen, der mit der Löwin auf den Feldherrenhügel gekommen war. „Ihr werdet gebraucht.“
Die Generalin seufzte und trank ihren Kelch aus. „Es hat mich sehr gefreut Euch kennen zu lernen.“ Zenon erwiderte dasselbe.
„Besucht uns doch mal. Gemeinsam ist es einfacher die Hofschranzen zu überleben“, sagte Paulina lächelnd.
Die Löwin lächelte zurück. „Das Angebot nehme ich gerne an.“
Gemeinsam mit dem Ritter verließ sie den Feldherrenhügel. „Sie wirkt sehr… nett. Anders als ich mir die legendäre Generalin vorgestellt habe“, sagte Maelle als die Löwin des Nordens außer Sicht war.
Paulina nickte. Sie dachte das Gleiche.
Die drei wandten die ihren Blick wieder auf das Manöverfeld, auf dem gerade die 14. Galizinische Armee das Feld betrat.
Galizina, Halbinsel Hel, Abtei der heiligen Iulia, Herbst 1271
Lev stand vor dem wuchtigen, grauen Torhaus der Abtei der heiligen Iulia, sein Pferd hielt er am Zügel. Auf seinem Weg über die Halbinsel Hel war er an mehreren dieser Abteien, Prioreien und anderen Niederlassungen des Arkanistenordens vorbeigekommen. Hel war ein Ort des Lernens und des Studierens. Er musste an Maelle Dorn denken. Ob auch sie hier studiert hatte? Er vermisste sie, genau wie Paulina und Zenon, doch hatte er diesen Moment, der sich ihm jetzt eröffnete, jahrelang herbeigesehnt. Er fragte sich, was ihn hinter den Mauern erwarten würde. Hatte sie ihn vermisst? Hatte sie überhaupt an ihn gedacht? Freute sie sich ihn zu sehen?
Zwei Protektoren, Wachen des Arkanistenordens, die vor dem Tor standen, sahen ihn argwöhnisch an, als Lev sein Pferd am Anbindepfosten neben dem Torhaus festmachte und auf die beiden Männer zuging.
„Name und Begehr?“, fragte ihn einer und umklammerte seine Hellebarde fester. Lev wusste, dass seine Erscheinung durch die geschwärzte Rüstung und das geschlossene Visier einschüchternd war.
„Lev van Zanger. Ich hörte, dass sich hier eine verwundete Freundin aufhält.“
Der Soldat sah ihn verwirrt an. „Das ist kein Hospiz, Meser. Hier studieren Novizen des Ordens.“
Lev blinzelte ihn an. „Mir wurde gesagt, dass ich hier Est… nun, dass sich hier eine verwundete Soldatin aufhält.“
Der Protektor schüttelte den Kopf. „Tut mir leid Meser, ich…“
Lev sah, wie im Innenhof der Abtei eine Arkanistin das Tor passierte. Sie blickte beschäftigt aussehend kurz durch die Öffnung und blieb abrupt stehen, als sie ihn sah. Mit eiligen Schritten stürmte sie auf das Tor zu. „Lasst ihn durch“, sagte sie den Protektoren mit fester Stimme. Die beiden Protektoren sahen sich an und fügten sich dann dem Befehl der Frau. Lev schluckte und ging dann hinein, vorsichtig auf die Arkanistin zu. Er war nervös, er war so nahe an seinem Ziel.
Das Tor öffnete sich in einen weiten Innenhof, in dem Lev einige Arkanisten mit schweren Folianten herumeilen sah. Vereinzelt gackerten auch Hühner über den Hof, was auf Lev seltsam wirkte. An einem solchen Ort hatte er keine Farmtiere erwartet. An der dem Tor gegenüberliegenden Seite wuchs ein größeres Gebäude in die Höhe, vermutlich die Versammlungshalle. Den Hof trennte eine dünne, geweißelte Mauer vom Rest der Abtei, wo Lev die Lehrräume, die Küche, die Lagerräume, die Bibliothek, die Übungshallen und die anderen Einrichtungen einer Abtei des Arkanistenordens vermutete. Er blieb vor der Arkanistin stehen und meinte bekannte Gesichtszüge in ihr zu erkennen. Zuordnen konnte er sie jedoch nicht direkt. Unentwegt blickte sie ihm in das behelmte Gesicht.
„Lev van Zanger?“, fragte sie fast zögerlich.
Lev nickte ungläubig. Er erkannte die Stimme. „Rowina Chaekova?“, fragte er. Mit dem Anflug eines Lächelns nickte die Arkanistin. „Ihr seht… anders aus.“ Lev hatte sie zuletzt vor etwa drei Jahren gesehen. Damals hatte sie nur die einfachen Gewänder einer Apothecaria getragen, nicht das wuchtige Gewand, das sie jetzt trug. Den Farben der Apothecarii war sie zwar treu geblieben, weiß und grün, jedoch lag über dem Gewand eine gold-grüne Stola und es sah teuer bestickt aus.
„Ich bin jetzt Magistra. Ich unterrichte die angehenden Arkanisten in dieser Abtei.“
Sie sah älter aus. Reifer. Kleine Fältchen hatten sich um ihre Mundwinkel und auf ihrer Stirn gebildet. Lev meinte sogar einige silberne Strähnen in ihren Haaren zu erkennen. Auch sie hatte wohl entbehrungsreiche Jahre hinter sich. „Wie seid Ihr hier gelandet?“
Rowina seufzte. „Ihr erinnert Euch an den Tag, an dem Ihr uns verlassen habt? Im Sezessionskrieg?“ Lev nickte knapp. Wie würde er diesen Tag jemals vergessen können. An dem Tag war das passiert, weswegen er jetzt hier war. Die Schlacht. Die Verwundung von ‚ihr‘. Und Lev war von Kaiserin Alessia nach Goldhafen kommandiert worden. „Kurz nachdem Ihr uns verlassen hattet, bin ich in die Abtei berufen worden“, fuhr Rowina fort. „Meine Dienstzeit im Feld war zu Ende und die Oberste Apothecaria hat mich zur Magistra ernannt. Ich bilde hier unsere Novizen aus.“
Lev sah sie lange an. Er traute sich fast nicht die Frage zu stellen, die ihm auf den Lippen brannte. „Ist sie… ist sie hier?“, krächzte er.
Die Magistra nickte.
„Ihr seid bis jetzt an ihrer Seite geblieben?“, fragte Lev ungläubig. Als ‚sie‘ verwundet worden war, hatte er Rowina Chaekova dazu gedrängt sie zu behandeln und nicht von ihrer Seite zu weichen. Doch das war, nun, drei Jahre her. Lev hatte gedacht, sie würde sie in wenigen Wochen oder Monaten gesund pflegen und damit wäre ihr Soll erfüllt gewesen.
Die Arkanistin nickte bitter. „Ihr habt mich ja darum… gebeten. Als ich Karenina verließ, habe ich es nicht über das Herz gebracht sie zurückzulassen. Ihr habt selbst gesehen, wie überfüllt die Lazarette waren und wie… nun, nur grundlegend die Verwundeten behandelt werden konnten. Außerdem ist sie uns seither eine große Hilfe in der Abtei.“ Auf der Stirn der Magistra bildeten sich Sorgenfalten. „Meser van Zanger… Ich… Sie wurde schwer verwundet. Sie konnte sich nicht von allen ihren Verwundungen erholen…“
„Wo ist sie?“, fragte Lev ruhig. Jetzt wo er ihr so nahe war, erfüllte ihn eine tiefe Ruhe. Wie ein Summen ging sie durch seinen Körper.
Rowina seufzte und rieb sich mit der Hand die Stirn. „Filip“, rief sie auf einmal einen vorbeieilenden Novizen herbei. „Nimm dir einen weiteren Novizen und bring die Sachen unseres Gastes in ein Gästegemach.“ Der junge Novize schaute Lev mit großen Augen an, als der ihm die wenigen Habseligkeiten überließ, die er am Körper trug. Das meiste befand sich auf dem Pferderücken. „Kommt mit.“ Rowina ging mit festen Schritten durch den Mauerbogen, der den Haupthof von dem länglichen anderen Teil der Abtei trennte. Vor einem kleinen Garten machten sie Halt. Levs Nervosität stieg ins Unermessliche. Er konnte durch Bohnengestänge eine Person ausmachen, die mit einer Tonkanne die Pflanzen goss. „Elster“, rief Rowina. Elster? Lev dachte erst, er hätte sich verhört. Wieso Elster? War das ihr Spitzname in der Abtei?
Die Gießende drehte sich langsam um und trat zwischen den Reihen hervor.
Lev hielt den Atem an. Tränen füllten seine Augen. Das kupferrote Haar von Esther de Vries leuchtete ihm entgegen. Wie eine untergehende Sonne strahlte es über den Abteihof.
Esther verharrte mitten in der Bewegung und starrte ihn an. Rissige Narben durchzogen schräg, über die ganze Länge, ihr Gesicht. Eines ihrer Augen war trüber als das andere.
Lev löste gedankenverloren, ohne den Blick von ihr abzuwenden, die Riemen seines Helmes und zog ihn sich vom Kopf. Das klirrende Geräusch der zerbrechenden Gießkanne, die Esther fallen gelassen hatte, hallte von den weiß getünchten Wänden wider. Als Esther wortlos, mit weit aufgerissenen Augen einige Schritte auf Lev zuging bemerkte er ihren Arm – oder das, was davon übrig war. Die hochgekrempelten Ärmel ihres Wamses offenbarten, dass er dort endete, wo ein Ellbogen hätte sein sollen. Ein stummer Schrei der Verwundung.
Lev riss erschrocken die Augen auf. Lievens Worte schossen ihm in den Kopf. Sein Korporal hatte ihn gewarnt, dass die Verwundung von Esther schwerwiegender war, als er es sich ausmalte. Lev wusste nicht, womit er gerechnet hatte. Damit jedenfalls nicht.
Esther griff sich an den Hals und zog an dem schlichten Lederband, das darum hing. Ein einfacher, schlecht geschmiedeter Rabenanhänger kam zum Vorschein. Sie hatte den Anhänger noch, den er ihr im Verwundetenzelt vor vier Jahren umgebunden hatte. Er wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, so sehr durchfuhr der Schmerz seinen Körper.
„L-L-Lev…?“, fragte Esther vorsichtig. Lev lächelte durch den Tränenschleier und nickte. Ruckartig sprang Esther auf ihn zu und umarmte ihn. Er hörte sie leise schluchzen. Lev erwiderte die Umarmung und vergrub seinen Kopf in ihren Haaren. Er konnte nichts sagen. Er brachte kein Wort heraus. Auch Esther blieb stumm, also standen sie eine Weile lang nur eng umschlungen da. Lev hörte, wie Rowina einige Novizen verscheuchte, die stehen geblieben waren, um das Spektakel zu beobachten. Für sie war es sicher ein Kuriosum, wie ein schwer Gerüsteter die Gärtnerin der Abtei umarmte.
Langsam begann sich Esther aus der Umarmung zu lösen, hielt Lev jedoch fest am Arm fest, als könnte er davonschweben.
„Ich habe jeden Tag an dich gedacht Esther“, brachte Lev mit zitternder Stimme hervor.