Manifeste des Futurismus - Filippo Tommaso Marinetti - E-Book

Manifeste des Futurismus E-Book

Filippo Tommaso Marinetti

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Beschreibung

Filippo Tommaso Marinettis Manifeste des Futurismus, veröffentlicht am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro, gilt als Initialzündung der europäischen Avantgardebewegungen und hatte eine ungeheure Folgewirkung. Es war der Aufruf zur bedingungslosen Ausrottung des Alten, um dem Neuen Raum zu verschaffen. Noch im selben Jahr legte der Autor, der zu einem Glutkern der fatalen Verflechtung von Politik und Kunst(-theorie) wurde, mit einem weiteren Manifest nach: Tod dem Mondschein. Darin radikalisiert er seinen Aufruf und zeichnet die Vision einer glorreichen Zukunft. Der vorliegende Band versammelt alle weiteren bis 1944 verfassten Manifeste Marinettis. Sie zeugen von seiner Kühnheit und instinktiven Hellsichtigkeit, verweisen im Lichte der Geschichte zugleich auf die fatalen Folgen seiner Forderungen, stellen aber darüber hinaus auch die Frage nach der Kunst in unserer heutigen Gesellschaft.

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Manifeste des Futurismus

Fröhliche Wissenschaft 124

Filippo Tommaso Marinetti

Manifeste des Futurismus

Aus dem Italienischenvon Stefanie Golisch

Inhalt

Vorrede und Manifest des Futurismus – 20. Februar 1909

Tod dem Mondschein! – April 1909

Technisches Manifest der futuristischen Literatur – 11. Mai 1912

Zerstörung der Syntax. Drahtlose Vorstellungskraft. Befreite Wörter. – 11. Mai 1913

Das Varietétheater – 21. November 1913

Nieder mit dem Tango Parzival! – 11. Januar 1914

Lust, ausgepfiffen zu werden – 1915

Gegen die Liebe und den Parlamentarismus – 1915

Der vervielfachte Mensch und das Reich der Maschine – 1915

Die neue Religion-Moral der Geschwindigkeit – 11. Mai 1916

Das futuristische Kino – 11. September 1916

Manifest des futuristischen Tanzes – 8. Juli 1917

Der Taktilismus – 11. Januar 1921

Manifest der futuristischen Küche – 28.12.1930

Die Poesie der Technisierungen – 1938

Viertelstunde Poesie der X Mas – 1944

Übersetzernotiz

Quellen

Manifest des Futurismus

20. Februar 1909

Vorrede

Die ganze Nacht hatten meine Freunde und ich im Lichtschein der Moscheen gewacht, deren durchbrochene Messingkuppeln gestirnt waren wie unsere Seelen und ebenso wie diese vom geschlossenen Glanz eines elektrischen Herzens zum Strahlen gebracht wurden. Lange genug hatten wir unsere atavistische Trägheit in opulente Orientteppiche getreten, während wir an den äußersten Grenzen der Logik disputierten und dabei jede Menge Papierbögen mit unserer frenetischen Schrift schwärzten.

Ein ungeheurer Stolz füllte uns die Brust, denn in dieser Stunde fühlten wir uns allein, hellwach und aufrecht, wie ein stolzes Fanal oder eine aufgestellte Schildwache im Angesicht eines Heeres feindlicher Sterne, die uns von ihrem himmlischen Feldlager aus zublinzelten. Allein mit den Heizern, die sich nervös vor den Höllenöfen der großen Schiffe zu schaffen machen, allein mit den schwarzen Gespenstern, die in den glühenden Bäuchen rasender Lokomotiven stochern, allein mit den gestrandeten Betrunkenen, die sich mit unsicherem Flügelschlag an die Mauern der Stadt drücken.

Mit einem Schlage fuhren wir in die Höhe, als wir die herrlichen Geräusche der enormen, zweistöckigen Straßenbahnen vernahmen, glänzend in vielfarbigem Licht wie festliche Dörfer, die der über die Ufer tretende Po urplötzlich durchschüttelt und entwurzelt, um sie zum Meer zu schwemmen, zu den Wasserfällen und durch die Strudel hindurch mitten hinein in die Flut.

Dann verdüsterte sich die Stille. Doch während wir dem erschöpften Gebetsgemurmel des alten Kanals lauschten und dem Knochenknarren der moribunden Gebäude auf ihren Bärten aus feuchtem Gemüse, erschallte unversehens unter den Fenstern das Gebrüll der gierigen Automobile.

»Lasst uns fahren«, sagte ich; lasst uns fahren, Freunde! Lasst uns aufbrechen! Endlich haben sich die Mythologie und die mystischen Ideale als überholt erwiesen. Wir sind gerade dabei, der Geburt eines Zentauren beizuwohnen, und schon bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen! … Wir werden an den Türen des Lebens rütteln müssen, um ihre Riegel und Angeln zu überprüfen! … Lasst uns aufbrechen! Endlich, die allererste Morgenröte auf Erden! Nichts sonst gleicht der Pracht des roten Schwertes der Sonne, das sich zum ersten Male in unseren tausendjährigen Finsternissen zum Kampf rüstet.

Wir näherten uns den drei schnaubenden Bestien, um ihnen liebevoll die heiße Brust zu tätscheln. Ich legte mich auf meinen Wagen wie eine Leiche in den Sarg, doch unverzüglich wurde ich unter dem Lenkrad, dieser Klinge einer Guillotine, die meinen Magen bedrohte, wieder zum Leben erweckt.

Der wütende Besen der Verrücktheit entriss uns unser Selbst und trieb uns durch die Straßen, die steil und tief waren wie die Läufe von Wildbächen. Hier und dort lehrte uns hinter Fensterscheiben eine kranke Lampe, die irreführende Mathematik unserer vergänglichen Augen zu verachten.

Ich erhob meine Stimme: »Die Witterung, die Witterung allein genügt den Raubtieren!«

Und jungen Löwen gleich hetzten wir dem Tod hintendrein, mit seinem schwarzen, von blassen Kreuzen gefleckten Fell, dem Tod, der am weiten violetten lebendig pochenden Himmel auf und davon lief.

Und doch trugen wir keineswegs das Bild eines idealen Geliebten in uns, dessen sublime Gestalt sich bis zu den Wolken emporerhoben hätte, noch jenes einer grausamen Königin, der wir unsere wie byzantinische Ringe gewundenen Leichname hätten opfern können. Es gab keinen Grund zu sterben, außer dem Wunsch, uns endlich von unserem allzu schweren Mut zu befreien!

Bei voller Fahrt zerschmetterten wir auf den Türschwellen die Wachhunde, die sich unter unseren brennenden Reifen wie Hemdkragen unterm Bügeleisen aufrollten. Der domestizierte Tod überholte mich in jeder Kurve, um mir graziös seine Pfote zu reichen; dann und wann legte er sich nieder, wobei das Geräusch seines mahlenden Kiefers hörbar wurde, und aus jeder Pfütze schickte er mir streichelnde Blicke aus Samt.

»Lasst uns aus der Weisheit heraustreten wie aus einem grauenvollen Panzer und werfen wir uns wie vom Stolz pigmentierte Früchte in den enormen gewundenen Mund des Windes! … Überlassen wir uns dem Unbekannten zum Fraße, nicht bereits aus Verzweiflung, sondern einzig und allein, um die tiefen Brunnen des Absurden zu füllen.«

Gerade eben hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich mich plötzlich in dem gleichen trunkenen Wahn, mit dem Hunde versuchen, sich selbst in den Schwanz zu beißen, überschlug. Da kamen mir zwei Fahrradfahrer entgegen, die mir die Schuld zuweisen wollten, zögerlich wie zwei Überlegungen, beide gleichermaßen überzeugend und widersprüchlich. Ihr törichtes Dilemma wurde auf meinem Terrain ausgefochten …! Ich war entnervt, verabschiedete mich kurz angebunden und schleuderte mich mit den Rädern in der Luft in einen Graben …

Oh! mütterlicher Graben, fast zur Gänze angefüllt mit schlammigem Wasser! Schöner Graben einer Werkstatt! Gierig sog ich deinen kräftigenden Schlamm in mir auf, der mich an die heilige schwarze Brustwarze meiner sudanesischen Amme erinnerte … Als ich als dreckiger stinkender Putzlappen unter dem auf dem Kopf stehenden Wagen hervorkroch, fühlte ich, wie sich mein Herz köstlich mit dem glühenden Eisen der Freude füllte!

Ein Haufen mit Angelschnüren bewaffneter Fischer und fußkranker Naturfreunde umstanden bereits das Wunderding. Geduldig und mit großer Hingabe setzten diese Leute mit ihren Gerätschaften und Netzen aus Eisen alles daran, meinen Wagen gleich einem enormen gestrandeten Haifisch zu bergen. Langsam stieg der Wagen aus der Tiefe in die Höhe wie Fischschuppen: seine schwere Karosserie aus gesundem Menschenverstand und seine weiche Polsterung aus Gemütlichkeit.

Sie glaubten, dass mein schöner Haifisch tot sei, aber eine einzige Liebkosung meinerseits genügte, um ihn zu neuem Leben zu erwecken. Wiederauferstanden von den Toten, endlich wieder in Fahrt auf seinen mächtigen Flossen!

Und nun, mit vom guten Schlamm der Werkstätten verhüllten Gesicht – beschmutzt von Metallabfällen, nutzlosem Schweiß, himmlischem Ruß – mit verletzten und verbundenen Armen und dennoch unerschrocken, diktieren wir allen lebendigen Menschen dieser Erde unseren ersten Willen:

Manifest des Futurismus

1.Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.

2.Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die wesentlichen Elemente unserer Dichtung sein.

3.Bis heute hat die Literatur die nachdenkliche Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen die angriffslustige Beweglichkeit, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag preisen.

4.Wir erklären, dass die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert worden ist: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre zieren, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Automobil, das auf Feuersalven dahinzugleiten scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

5.Wir wollen jenen Mann besingen, der am Steuer sitzt, dessen ideale Achse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer eigenen Bahn dahinjagt.

6.Der Dichter muss bereit sein, sich selbst glühend, glanzvoll und freigebig zu verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.

7.Schönheit kann es nur noch im Kampf geben. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Dichtung muss als gewaltiger Angriff auf die unbekannten Kräfte aufgefasst werden, die nur dazu bestimmt sind, sich vor dem Menschen zu beugen.

8.Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Weshalb sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, haben wir doch die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit längst erschaffen.

9.Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung der Frau.

10. Wir wollen alle nur denkbaren Museen, Bibliotheken und Akademien zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.

11. Wir werden die Menschenaufläufe besingen, welche die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr in Erregung versetzt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der von grellen elektrischen Monden erleuchteten Arsenale und Werften; die gefräßigen, rauchende Schlangen verschlingenden Bahnhöfe; die an den Wolken hängenden Fabriken mit ihren sich in die Höhe windenden Rauchfäden; die in der Sonne wie Messer aufblitzenden Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen; die abenteuerlustigen Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse stampfen, und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und dabei zusammen mit der begeisterten Menge Beifall zu klatschen scheint.

Von Italien aus schleudern wir das mitreißende Manifest, mit dem wir heute den »Futurismus« begründen, voller entflammter Heftigkeit in die Welt, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.

Bereits viel zu lange schon ist Italien zu einem Trödelmarkt verkommen. Wir wollen das Land von den unzähligen Museen befreien, die es als zahllose Friedhöfe über und über bedecken.

Museen: Friedhöfe! … Wahrlich identisch in der abgründigen Promiskuität von Körpern, die einander nicht kennen. Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer neben verhassten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich an den heiß umkämpften Wänden gegenseitig wild mit Schlägen aus Farben und Linien abschlachten!

Einmal im Jahr möget ihr dahin pilgern, wie man zu Allerseelen auf den Friedhof geht…das gestatte ich euch. Einmal im Jahr möget ihr einen Blumenstrauß vor der Mona Lisa niederlegen, das gestatte ich euch … Aber ich lasse es nicht zu, dass man täglich in den Museen unsere Traurigkeiten, unseren gebrechlichen Mut und unsere krankhafte Unruhe spazieren führt. Weshalb sollte man sich vergiften wollen? Weshalb verfaulen wollen?

Was kann man auf einem alten Bilde schon anderes erkennen als die mühseligen Verrenkungen eines Künstlers, der sich abmühte, die unüberwindbaren Schranken zu durchbrechen, die sich seinem Wunsch entgegenstellen, seinen Traum voll und ganz zu verwirklichen? … Ein altes Bild zu bewundern, heißt, unsere Wahrnehmungsfähigkeit in eine Urne zu schütten, statt sie in gewaltigen Stößen aus Schöpfung und Tat in die Ferne zu projizieren.

Wollt ihr eure besten Kräfte wirklich in dieser unnützen Bewunderung der Vergangenheit vergeuden, aus der ihr schließlich erschöpft, ärmer und geschlagen hervorgehen werdet?

Wahrlich, ich sage euch, dass der tägliche Besuch von Museen, Bibliotheken und Akademien (diesen Friedhöfen vergeblicher Anstrengungen, diesen Kalvarienbergen gekreuzigter Träume, diesen Registern gebrochenen Schwunges! …) für einen Künstler ebenso schädlich ist wie eine zu lange elterliche Vormundschaft für einen jungen Mann, der danach trachtet, sein Genie und seinen ehrgeizigen Willen auszuleben. Für Sterbende, Kranke und Gefangene mag das angehen: – da ihnen die Zukunft versperrt ist, mag die bewundernswürdige Vergangenheit tatsächlich ein Balsam für ihre Leiden sein … Wir aber wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen!

Mögen also die fröhlichen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern nur kommen! Seht! Da sind sie! … Los! Entzündet das Feuer in den Regalen der Bibliotheken! … Leitet den Lauf der Kanäle um, auf dass die Museen überschwemmt werden! … Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen! … Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!

Die Ältesten von uns sind jetzt dreißig Jahre alt; es bleibt uns also mindestens ein Jahrzehnt, um unser Werk zu vollbringen. Wenn wir vierzig sind, mögen andere, jüngere und tüchtigere Männer uns ruhig wie nutzlose Manuskripte in den Papierkorb werfen. Wir wünschen es so!

Unsere Nachfolger werden uns entgegentreten; von weither werden sie kommen, von allen Seiten, sie werden auf dem beflügelten Rhythmus ihrer ersten Gesänge tanzen, ihre gebogenen Raubvögelkrallen werden sie ausstrecken, und an den Türen der Akademien werden sie wie Hunde den guten Geruch unseres verwesenden Geistes wittern, der bereits den Katakomben der Bibliotheken geweiht ist.

Doch wir werden nicht da sein! … Sie werden uns schließlich finden – in einer Winternacht – auf offenem Feld, unter einem traurigen Obdach, auf dem eintönig der Regen trommelt, sie werden uns neben unseren Flugzeugen hocken sehen, während wir versuchen, unsere Hände an dem kümmerlichen kleinen Feuer zu wärmen, in dem unsere Bücher von heute unter dem Flug unserer Bilder auflodern.

Lärmend werden sie uns umringen, vor Angst und Bosheit keuchend, und sie werden sich, durch unsere stolze, unermüdliche Kühnheit erbittert, auf uns stürzen, um uns zu töten, und der Hass, der sie antreibt, wird unversöhnlich sein, weil ihre Herzen voll von Liebe und Bewunderung für uns sind.

Die starke und gesunde Ungerechtigkeit wird hell aus ihren Augen strahlen. Denn Kunst kann nur Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sein.

Die Ältesten von uns sind dreißig Jahre alt: Dennoch haben wir bereits Schätze verschleudert, tausend Schätze aus Kraft, Liebe, Kühnheit, List und rauem Willen; ungeduldig haben wir sie fortgeworfen, hastig, ohne zu zählen, ohne zu zögern, ohne uns je auszuruhen, ohne Atem zu schöpfen…Schaut uns an! Noch sind wir nicht außer Atem! Unsere Herzen kennen noch keine Müdigkeit, denn Feuer, Hass und Geschwindigkeit nähren sie! … Das wundert euch? … Logisch, denn ihr erinnert euch ja nicht einmal mehr daran, gelebt zu haben! Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!

Ihr habt Einwände? … Genug! Genug! Wir kennen sie längst … Wir haben es begriffen! … Unsere schöne, verlogene Intelligenz lässt uns begreifen, dass wir der Abschluss und der Neubeginn unserer Ahnen sind. – Vielleicht! … Also sei es so! … Welche Bedeutung hat das schon? Wir wollen nicht begreifen! … Wehe dem, der uns diese infamen Worte noch einmal vorhält! …

Kopf hoch! …

Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu! …

Tod dem Mondschein

April 1909

1.

− He! Ihr großen Poeten Brandstifter, meine Futuristenbrüder! … He! Paolo Buzzi, Palazzeschi, Cavacchioli, Govoni, Altomare, Folgore, Boccioni, Carrà, Russsolo, Balla, Severini, Pratella, D’Alba, Mazza! Verlassen wir Paralisi zerstören wir Podagra* und legen wir einen großen militärischen Schienenstrang um die Hüften des Gorisankar, des Gipfels der Welt!

Wir verließen die Stadt mit geschmeidigen, sicheren Schritten, die, so schien es, tanzen wollten und dabei überall nach Hindernissen suchten, die es zu überwinden galt. In uns und in unseren Herzen die gewaltige Trunkenheit der alten europäischen Sonne, die inmitten weinfarbener Wolken taumelte … Diese Sonne schlug uns ihre große purpurn glühende Fackel mitten ins Gesicht, dann krepierte sie, indem sie sich bis aufs Letzte in die Unendlichkeit auskotzte.

Wirbel aggressiven Staubs; blendende Verschmelzung von Schwefel, Kali und Salzen für die Glasfenster des Ideals! … Verschmelzung eines neuen Sonnenglobus, den wir schon bald leuchten sehen werden!

− Feiglinge! − schrie ich und wandte mich an die Einwohner von Paralisi, die sich unter uns als Masse irisierender Haubitzen zusammendrängten, bereit für unsere Zukunftskanonen.

»Feiglinge! Feiglinge! … Was schreit ihr wie lebendig gehäutete Katzen? … Fürchtet ihr vielleicht, dass wir eure Hütten in Brand stecken? … Noch nicht! … Wir werden im nächsten Winter schließlich noch ein warmes Plätzchen brauchen! Fürs Erste wollen wir uns damit begnügen, alle Traditionen in die Luft zu jagen wie brüchige Brücken! … Der Krieg? … Ja, der Krieg! Gegen euch, die ihr viel zu langsam sterbt und gegen all die Toten, die unsere Straßen verstopfen! …

»Ja, unsere Nerven fordern den Krieg und verachten die Frau, denn wir fürchten, dass sich in der Stunde des Abschieds flehende Arme um unsere Knie schlingen könnten. Was bilden sich die Frauen, die Stubenhocker, die Invaliden, die Kranken und all die bedächtigen Ratgeber eigentlich ein? Ihrem schlotternden, von trauriger Agonie, angstvoll zitterndem Schlaf und schweren Alpträumen heimgesuchten Leben ziehen wir den gewaltsamen Tod vor und verherrlichen ihn als den einzigen, welcher der Raubtiernatur des Menschen würdig ist.

»Wir wollen, dass unsere Kinder fröhlich ihren Launen nachgeben und sich den Alten brutal verweigern und auf alles pfeifen, was die Zeit geheiligt hat!

»Das empört euch? Ihr pfeift mich aus? … Ihr erhebt eure Stimmen! … Ich habe die Beleidigung nicht gehört! Lauter! Was? Ehrgeizig? … Klar! Wir sind ehrgeizig, weil wir uns nicht an euren erbärmlichen Fellen reiben wollen, ihr stinkende, schlammfarbene Herde, die auf den alten Straßen der Welt dahintrottet! … Doch eigentlich ist »ehrgeizig« nicht das richtige Wort! Wir sind eher ein ausgelassener Haufen junger Artilleristen … Und so bleibt euch keine andere Wahl, als euch an den Lärm unserer Kanonen zu gewöhnen! Was sagt ihr?… Seid ihr verrückt geworden? … Hurra! Da ist endlich das Wort, auf das ich gewartet habe! … Ah! Ah! Toller Fund! … Seid sorgfältig im Umgang mit diesem Wort aus purem Gold und kehrt mit ihm zu eurer Prozession zurück, um es sodann eifersüchtig in einem eurer Keller zu verschließen! … Mit diesem Wort in den Fingern und auf den Lippen, könnt ihr noch zwanzig Jahrhunderte leben … Was mich betrifft, so verkünde ich euch, dass die Welt mürbe ist vor lauter Weisheit! …

»Dies ist der Grund, weshalb wir euch heute das methodische Heldentum des Alltags lehren; den Geschmack der Verzweiflung, für die das Herz sein Bestes gibt, die Gewöhnung an Begeisterung, Hingabe und Rausch …

»Unter den festen weißen Blicken des Ideals lehren wir den Sprung in den düsteren Tod … Dabei wollen wir selbst als Beispiel dienen, indem wir uns dem rasenden Schlachtenschneider hingeben, der, nachdemer uns eine schöne scharlachrote, in der Sonne farbenprächtig glänzende Uniform auf den Leib geschneidert hat, unser von Projektilen gekämmtes Haar mit Flammen salben wird, ebenso wie die Hitze eines Sommerabends die Felder mit einem glitzernden Meer von Glühwürmchen bestreicht.

»Jeden Tag müssen die Menschen ihre Nerven mit tollkühnem Stolz elektrisieren! … Die Menschen müssen ihr Leben auf eine Karte setzen, ohne sich um die Falschspieler zu scheren und ohne das Roulette unter ihre Kontrolle bringen zu wollen, während sie sich, ausgebrütet von einer glücklichen Sonnenlampe, über die grünen Teppiche des Krieges beugen. Die Seele muss – wollt ihr das endlich kapieren? – den Körper in Flammen setzen wie ein Brandschiff den Feind, den ewigen Feind, den man erfinden müsste, wenn er nicht bereits existieren würde! …

»Seht ihr dort in der Ferne die Getreideähren, die sich millionenfach zur Schlacht aufgestellt haben … Diese Ähren, geschmeidige Soldaten mit scharfen Bajonetten, verherrlichen die Macht des Brotes, das sich in Blut verwandelt, um in die Höhe zu spritzen, bis zum Zenit. Das Blut, merkt euch das, hat nur Wert und Glanz, wenn es mit Eisen und Feuer aus dem Gefängnis der Arterien befreit wird … Doch zuvor muss die große Kaserne gereinigt werden, in der ihr Insekten kriecht! …

Das wird nicht lange brauchen… In der Zwischenzeit könnt ihr Wanzen heute Abend noch einmal auf euer dreckiges altes Lager zurück, auf dem wir nicht mehr schlafen wollen!«

Während ich mich von ihnen abwandte, fühlte ich durch einen Schmerz in meinem Rücken, dass ich dieses moribunde Volk mit seinem lächerlichen Flackern zusammengedrängter Fische bereits viel zu lange mitgeschleppt hatte in dem riesigen schwarzen Netz meines Wortes, unter der letzten Lichtwelle, die der Abend gegen die Klippen meiner Stirn trieb.

2.

Die Stadt Paralisi, mit ihrem Hühnergackern, ihrem ohnmächtigen Stolz abgebrochener Säulen, ihren großspurigen, jämmerliche Statuen gebärenden Kuppeln, der Launenhaftigkeit ihres Zigarettenrauchs über kindischen Bollwerken … verschwand hinter uns im tanzenden Rhythmus unserer schnellen Schritte.

Vor mir, in einigen Kilometern Entfernung, tauchte in der Höhe, auf dem Buckel eines eleganten Hügels, plötzlich ein Irrenhaus auf, das wie ein Fohlen zu traben schien.

− Brüder, sagte ich − ruhen wir uns zum letzten Male aus, bevor wir mit dem Bau des großen futuristischen Schienenstranges beginnen.

Eingewickelt in den ungeheuren Wahnsinn der Milchstraße legten wir uns im Schatten des Palastes der Lebenden schlafen und unverzüglich verstummte der Krach der großen quadratischen Hämmer von Zeit und Raum … Doch Paolo Buzzi, dessen erschöpfter Körper in jedem Augenblick hochfuhr von den Stichen der giftigen Sterne, die von allen Seiten über ihn herfielen, fand keine Ruhe.

− Bruder! − murmelte ich, verscheuch mir diese Bienen, die um die purpurne Rose meines Willens herumschwirren.