Mann umständehalber abzugeben - Hanne-Vibeke Holst - E-Book

Mann umständehalber abzugeben E-Book

Hanne-Vibeke Holst

3,9

Beschreibung

Die erfolgreiche Therese-Buchreihe der 90er Jahre ist jetzt als eBook erschienen! Immer noch wunderbar und aktueller denn je! Die engagierte Fernsehjournalistin Therese Skårup steht vor einem gewaltigen Karrieresprung, als sie feststellen mus, dass sie schwanger ist. - Und alle sind begeistert: Ihre Mutter wollte ohnehin schon lange Oma werden, und der Vater in spe ist überzeugt, den perfekten Hausmann abzugeben. Nur Therese ahnt, daß Worte die eine Sache sind, diesen aber Taten folgen zu lassen, eine völlig andere ... Ein erfrischend frecher Frauenroman der dänischen Bestsellerautorin Hanne-Vibeke Holst. "Mann umständehalber abzugeben" ist der erste Band der Therese-Reihe. REZENSION "Empfehlenswert" - hexenschnattarinchen, amazon.de "Das Buch ist viel mehr als nur ein weiteres, nettes, leicht zu lesendes Frauenbuch. Es ist eine Mischung aus einer Beziehungsgeschichte (die letztlich anders endet, als zumindest ich am Anfang vermute), Weltpolitik und gut beschriebenen Details aus der Arbeit einer Nachrichtenagentur." - Sentiero, amazon.de AUTORENPORTRÄT Hanne-Vibeke Holst, Jahrgang 1959 und älteste Tochter des Schriftstellerpaars Knud Holst Andersen und Kirsten Holst, ist in Dänemark eine sehr populäre Autorin. Sie lebt und arbeitet in Kopenhagen.

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HANNE-VIBEKE HOLST

MANN UMSTÄNDEHALBER ABZUGEBEN

Roman

Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt

 

Lindhardt und Ringhof

Erster Teil

Erst als wir rechter Hand Riga überfliegen und ich weiß, daß ich auf dem Heimweg bin, spüre ich seine Nähe. Die Sehnsucht überfällt mich wie der völlig überraschende Biß eines Raubtiers – schockierend und ohne Vorwarnung, so daß ich die Augen schließen und dagegen ankämpfen muß.

»Ist Ihnen nicht gut?« Eine Stewardeß beugt sich über mich, und ich versichere ihr, daß ich okay bin, nehme aber doch das Glas Wasser, das mir routinemäßig angeboten wird.

Paul. Ein Sommer und eine Revolution liegen zwischen uns, und ich habe in diesen Wochen, in denen ein Imperium zusammenbrach und eine Demokratie geboren wurde, an ihn weder denken können noch wollen. Oder doch. Manchmal, ganz plötzlich, in kurzen, aufflackernden Momenten, spürte ich ihn – in der Nacht, als die Panzer kamen und ich das erste Mal in meinem Leben bereit war, für eine Sache zu sterben, aber mit ansehen mußte, wie das andere für mich taten. Und als sie das Feliks-Dzieržyński-Denkmal umstürzten, da war es Pauls Hand, nach der ich griff, und erst hinterher, als wir wieder Luft holen konnten, wurde mir bewußt, daß es eine fremde, schwere Hand war, die ich so fest drückte.

Das Ironische dabei ist, daß niemand den ganzen Ereignissen gegenüber mehr Abstand haben könnte als gerade Paul. Paul ist ein Kindskopf, ein frankophiler Liebhaber und ein verdammt guter Fernsehreporter. Er gehört zu der Sorte, der ich inzwischen entwachsen bin, aber nichtsdestotrotz war es sein Bett, in dem ich an dem Morgen aufwachte, als ich losfahren sollte, vor fast einem Jahrhundert. Irgendwo sagte es Klick in dieser Nacht, die erfüllt war mit Flüstern und Rufen, und zum ersten Mal ahnte ich eine Messerspitze Verdruß darüber, daß ich wegfahren mußte. Wegfahren von der Möglichkeit, ihn laut diskutierend in der Kantine oder auf dem Redaktionsflur zu treffen, wie es so oft geschehen war. Wegfahren von einem Sommer, der vielleicht noch etwas anderes als nur Arbeit, Zufälle und die übliche Reise Richtung Süden beinhaltet hätte.

»Kommst du wieder?« fragte er, als ich mich im Morgengrauen verabschiedete.

Ich ließ eine zweideutige Antwort in der Luft hängen und flog nach Moskau. Ich plazierte ihn in die Kategorie der one-night-stands, wohin er nach der üblichen Definition auch gehörte. Dachte ich.

Je näher wir Skandinavien kommen, desto deutlicher zeichnet er sich ab und verdeckt das Gefühl der Souveränität und Euphorie, das ich hatte, als ich es mir in der business class gemütlich machte und mit mir selbst mit Champagner anstieß. I made it. Das waren drei Tage, in denen die Welt und auch ich erschüttert worden waren, aber ich habe es geschafft. Ich bekam meine Reportage fertig, blieb dem Lauf der Dinge immer eine Nasenlänge voraus und arbeitete tagelang, ernährte mich von Kaffee, Zigaretten und Toblerone, um auch nicht eine dieser atemlosen weltgeschichtlichen Sekunden zu verpassen. Und auch wenn ich nicht mit CNN oder BBC konkurrieren kann, so weiß ich doch, daß unter den gegebenen Bedingungen unsere Berichterstattung nicht viel besser hätte ausfallen können.

Ich bestelle einen GinTonic bei der Stewardeß und nehme ihn mit, als ich nach hinten gehe, um zu rauchen und das Phantom zu verjagen. Ich bin müde. Wenn diese romantische Vorstellung von Paul, einem Kollegen, den ich kaum kenne, ein Ausdruck der Erschöpfung ist, so ist das entschuldbar. Jedenfalls flog ich am ersten Juli nach Moskau als Sommervertretung, weil Ferdinand, der feste Korrespondent, zu Hause wegen kombinierter Ferien und Entbindungsurlaub unabkömmlich war. Alle – mich eingeschlossen – glaubten, es würde alles still und friedlich sein, reine Routine. Und dann begann es tatsächlich, obwohl jeder ein gewisses Zittern schon gespürt hatte und meine russische Freundin Swetlana den ganzen Sommer mit einem abgehärmten Gesichtsausdruck herumlief und immer wieder murmelte: »Soon everything will be over! Finish!« Die Botschaften richteten Telefonketten ein und fertigten Evakuierungspläne an, und der kleine bleiche Brite vom Independent, der aussieht wie ein Internatsschüler, aber mit sicherer Autorität schreibt, vertraute mir an, daß »something is rotten in the KGB«. Das war keine wirkliche Neuigkeit, so daß ich sie nicht ernsthaft nachprüfte, sondern mich an die hielt, die der Meinung waren, daß ein eventueller Putsch nicht vor dem Spätsommer stattfinden würde. Oder wenn wieder ein Herbst ins Land zog und die Aussicht auf einen weiteren endlosen Winter ohne alles die Massen so weit aufwiegeln würde, daß die Forderung nach Recht und Ordnung und Lebensmitteln in den Regalen es den Erzkonservativen leichtmachen würde, die Macht zu übernehmen.

Aber so kam er dann doch eher, der Putsch. Swetlana rief mich um zwei Uhr nachts an und bat mich weinend, »to tell the whole world, while there’s still time!«. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Das, was ich sah, hatte ich mir zwar hin und wieder schon mal vorgestellt, aber trotzdem wollte ich nicht glauben, daß es jetzt zur Realität geworden war. Panzer rollten die Sadowaja hinauf. Ich rief zu Hause an und weckte den General, den Nachrichtenchef, der nicht umsonst ein alter Kriegsberichterstatter ist und in weniger als zehn Sekunden bereit war, den gesamten Apparat in Gang zu setzen.

»Wir sind um sechs Uhr dänischer Zeit auf Sendung, okay?« Und das waren wir, und bereits in diesen allerersten Stunden, in denen niemand ahnte, was wirklich geschehen war oder geschehen würde und in der jede Angst begründet erschien, hatte ich das ganz klare, ekstatische Bewußtsein, daß ich niemals etwas Größeres als das hier erleben würde. Während ich also mein Kamerateam mobilisierte und meinen Zigarettenvorrat überprüfte, dankte ich Lenin, Ferdinand und dem General, die dafür gesorgt hatten, daß ich mich dieses Mal zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle befand. Und dann machte ich mich an die Arbeit – oder genauer gesagt, ich begab mich in diesen kollektiven Schwebezustand, in dem die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben keine Bedeutung mehr haben. Die Studenten errichteten Barrikaden, die alten Babuschki gaben den Kindersoldaten Brot, und dann waren noch wir da, die die Geschichte erzählten. Und in den intensivsten Augenblicken hatten wir das Gefühl, daß wir die Geschichte waren. Die Weltgeschichte. Ihr verpflichtet – koste es, was es wolle. Ich nippe an meinem GinTonic und inhaliere tief den Rauch meiner Zigarette. Mehrere Wochen lang hatte ich kein Privatleben mehr. Das gab mir ein Gefühl der Erleichterung, ein Gefühl der Größe allein dadurch, daß ich einfach die üblichen Familienbanalitäten ignorieren konnte, mit denen man sich sonst herumschlagen muß. Aber was ist mit Paul? Was ist mit dieser undefinierbaren Sehnsucht, die mich den ganzen Weg über verfolgt hat und mich manchmal in einem Gefühl tiefer Melancholie hat aufwachen lassen? I don’t know. Vielleicht ist es was Hormonelles. Vielleicht ist es ein Ausdruck sexueller Unterernährung. Vielleicht ist es mein Unterbewußtsein, überlege ich, das versucht, sich durch die feste Porzellanhülle zu bohren ... Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist er wirklich ein guter Liebhaber, und wer kann das nicht gebrauchen, wenn er aus dem Krieg heimkehrt?

Ich schlage die Herald Tribune auf und beginne zu lesen. Und als wir im Anflug auf Kopenhagen-Kastrup sind, bin ich cool, beherrscht, und meine Hände zittern nur noch leicht.

Ich habe außer der Produktionsassistentin keinem erzählt, daß ich mit dieser Maschine komme, deshalb ist auch niemand da, um mich abzuholen. Im Prinzip gefällt mir das – ich war immer froh, daß nicht ich diejenige war, die von einem Empfangskomitee mit Flaggen und Transparenten und dem ganzen rührseligen Drumherum abgeholt wurde. Aber heute abend wäre es dennoch schön gewesen, wenn ein Mensch dagewesen wäre – Birgitte oder Kiki –, um mich zu begrüßen. Und auch wenn es sinnlos und lächerlich ist, kann ich nicht umhin, ich muß nach einem bekannten Gesicht Ausschau halten, als ich an der Glasscheibe vorbei zur Gepäckausgabe gehe.

Aber unter den anonymen, leicht bekleideten, suchend um sich blickenden Sommerdänen ist niemand, den ich kenne – und wenn nicht der redselige, junge Taxifahrer gewesen wäre, der mich nach Østerbro fuhr, dann wäre meine Ankunft ein ziemlich trauriges Erlebnis geworden. Doch er erkennt mich sofort wieder und fragt, ob ich nicht die und die sei, und tröstet mich und schmeichelt mir gleichzeitig und läßt mich generös aufrunden, als ich den Taxischeck ausschreibe. Dafür schleppt er meine Koffer bis zur Haustür, wo ich frech übers Türtelefon meine Nachbarn über mir, die Obertunten Simon und Frank, um Gepäckträgerdienste bitte. Sie eilen die Treppe herunter, beide in schwarzen Radlerhosen und enganliegenden Boxerunterhemden – »Indian Summer, du, ist das nicht toll?« –, so daß auch eine irrelevante Heterofrau den Anblick ihrer olivgoldenen Bizeps und Trizeps genießen kann, als sie unaufhörlich plappernd das Gepäck in den vierten Stock tragen.

»Nun, und wie war es in Moskau? Mein Gott, ist das spannend! Ja, weißt du, wir waren dafür auf einer entzückenden kleinen griechischen Insel, fast keine Touristen, deshalb hatten wir keine Ahnung, als wir nach Athen kamen! Und zuerst haben wir gedacht, sie hätten Gorbi umgebracht. Und was soll ich dir sagen? Da haben wir uns einfach hingesetzt und geheult! Wie die Schloßhunde haben wir um die Wette geheult!«

Wir lachen, die beiden stellen die Koffer vor meiner Tür ab, und ich stecke meinen Schlüssel ins Schloß, schaffe es aber nicht, sie einzuladen. Statt dessen sage ich, daß ich ihnen ein Glas Pfefferwodka in den nächsten Tagen schulde. O ja, der Essensclub muß so bald wie möglich wieder ins Leben gerufen werden.

»Wie wär’s mit griechisch am Donnerstag?« schlägt Simon vor.

»Das klingt gut!« entgegnet Frank und greift ihm an den Po. Ich muß wieder lachen. Simon und Frank garantieren immer Unterhaltung erster Klasse.

»Dann gibt’s russisch am nächsten Donnerstag bei mir!« rufe ich ihnen nach, als sie schon die Treppe hinauflaufen.

»Ja? Und was ist das?« fragt Frank lüstern.

»Rote-Beete-Suppe!« grinse ich und schließe auf.

Ich mache die Tür hinter mir zu und bin allein. Ich gehe durch die Wohnung; sie wirkt verlassen, aber auch vertraut. Ich bin es, die hier wohnt. Das ist mein Territorium. Meine Bilder an der Wand, meine Bücher im Regal, meine Kissen auf dem ausgeblichenen blauen Sofa. Meine Pinwand mit alten Schnappschüssen, Restaurantquittungen, Presse-IDs von erinnerungswürdigen Begebenheiten. Mein Eineinhalbpersonenbett im Schlafzimmer.

Kiki, meine kleine Schwester, ist hiergewesen. Die Topfpflanzen sind ins Badezimmer gebracht und in der Duschwanne plaziert worden, die Post ist heraufgeholt und auf meinen Schreibtisch gelegt worden, auf dem auch ein sonnenvergilbtes Exemplar vom Ekstra Bladet liegt. Als ich es in die Hand nehme, entdecke ich einen kleinen handgemalten Stern und ein »Viel Glück« am Fernsehprogramm. Eine Vorschau handelt von mir. Von meiner Moskau-Berichterstattung. »Thereses Revolution« heißt der Artikel, und meine Ohren werden rot, als ich weiterlese: »Therese Skårup, die Urlaubsvertretung von Kanal 1, hat anscheinend alles. Einen nie enttäuschenden professionellen Überblick, ein wohlfundiertes Wissen und einen offenbar natürlichen Sinn für das Medium. Und es schadet auf keinen Fall, daß sie eine schier unglaubliche Ausstrahlung hinter der seriösen Fassade verbirgt. Wenn ich Nachrichtenchef mit Problemen wäre, würde ich auf Therese setzen, auch nach der Revolution ...«

»Ganz meine Meinung«, murmle ich und muß auf eine Art lächeln, daß ich froh bin, allein zu sein. Meine Erziehung hat mir eine gesunde, natürliche Abneigung gegen die Boulevardpresse eingeimpft, aber manchmal haben sie ja doch recht ... Und jedenfalls kann man, trotz aller gegenseitigen Beteuerungen, sicher sein, daß sie in der Chefetage gelesen wird. Ich blättere die Post durch – Kontoauszüge, Einladungen zu einer Vernissage und zur Versammlung der Baugenossenschaft, ein Brief von Sabine aus Köln und das Angebot eines schnellen Verlags, einen Beitrag zu einem Buch über »Die drei Tage« zu schreiben.

Und ganz unten im Haufen eine Ansichtskarte aus Skagen mit Meeresmotiv.

»Liebe Therese, ich habe gerade den Sonnenuntergang geschwänzt, um dich auf den Barrikaden zu sehen. Bis bald! Paul.«

Poststempel von vor einer Woche, stelle ich fest und lese den Text noch einmal mit stärker klopfendem Herzen. Was soll ich davon halten. Kameradschaftliches, kollegiales Lob oder eine Aufforderung zum Tanz?

Ich lege die Karte hin und ziehe die Jalousien hoch, so daß die Abendsonne durch die streifigen Fensterscheiben einfallen kann. Habe wie immer sofort Blickkontakt mit einer jungen Frau, die im Haus gegenüber wohnt. Gott allein weiß, ob sie den ganzen Sommer über so dagestanden hat, aus dem Fenster schauend, den großen, teigartigen Busen auf den gekreuzten Unterarmen ruhend. Ich sehe als erste weg und ziehe mich ins Zimmer zurück. Dann höre ich sie irgendwas in den Straßenschacht hinunterrufen. Ein Hund bellt ein paarmal, und eine heisere Männerstimme antwortet. Er sagt was von »Halben« und »im Gange sein«.

Dann gehe ich in die Küche und trinke ein Glas Wasser. Ein Korb mit verwelkter Kresse steht auf dem Fensterbrett, und eine dicke Fliege brummt verzweifelt gegen die Fensterscheibe. Ich öffne das Fenster und schmeiße sie raus, atme tief die Luft ein und gehe unruhig wieder ins Wohnzimmer. Lese Sabines Brief. Ob ich mal bei Gelegenheit anrufe?

Ich versuche es sofort, erreiche aber nur ihren Anrufbeantworter: »Hinterlassen Sie bitte einfach eine Nachricht.« Das mache ich, wonach ich sofort meine Mutter anrufe.

»Liebste Therese, ich bin ja so froh, daß du wieder zu Hause bist. Wenn du wüßtest, wie unruhig ich war!« zwitschert sie und klingt aufrichtig froh. Aber wie üblich, wenn sie weiß, daß ihre Nachkommenschaft sicher im Stall ist, verliert sie schnell das Interesse an uns und spricht nur noch von sich selbst und der Rolle, an der sie momentan arbeitet.

»Schatz, in vierzehn Tagen soll ich die Lady Macbeth spielen, und ich sage dir, dieses Mal sterbe ich! Nein, wirklich! Die bringen mich um! Entweder wird Blut fließen, oder sie lassen mich in aller Stille sterben! Und das wäre das schlimmste. Übrigens, herzlichen Glückwunsch, mein Schatz, alle sagen, daß du deine Sache ganz phantastisch gemacht hast!«

Wir verabreden uns zum Brunch am nächsten Vormittag, und ich lege mit einer leichten Irritation und einem Seufzer darüber auf, daß unsere Beziehung niemals intensiver werden wird. Sie ist enger mit ihren Kritikern als mit ihren Kindern verbunden. Aber ich hasse sie dafür nicht mehr.

Ich trinke noch einen Schluck Wasser, nehme ein Bad und gehe ins Schlafzimmer, um CNN einzuschalten. In Kroatien wird gekämpft; unter den sechzehn Toten sind auch Mitarbeiter eines österreichischen Fernsehteams. Während des ersten Werbeblocks – in dem sie erzählen, in welchem Hotel in Luleå ich CNN sehen kann – gehe ich wieder in mein Arbeitszimmer und suche seine Nummer auf meiner Telefonliste, in die ich ihn einmal aus irgendeinem Grund eingetragen habe.

Ich tippe schnell die Ziffern ein, und bevor ich es mir noch anders überlegen kann, höre ich seine Stimme.

»Hier ist Paul.«

Vielleicht ist es die Hitze, die wie eine Wand in dem von Menschen überfüllten Boltens Gård steht. Vielleicht ist es der Kulturschock, sich innerhalb so kurzer Zeit wieder mitten in der westlichen Dekadenz zu befinden. Vielleicht ist es einfach nur Müdigkeit. Jedenfalls löst das Wiedersehen mit ihm eine so starke physische Reaktion aus, daß ich unwillkürlich stehenbleibe und nach Luft schnappe, bevor ich mich die letzten Meter zum Cafétisch durchdrängle.

Dann entdeckt er mich, winkt kurz mit zwei Fingern und steht auf, um mich zu begrüßen. Er ist dunkel, sonnengebräunt und ganz in Weiß gekleidet, weiße Levis, weißes Hanes-Hemd und weiße Converse; irgendwie erinnert er mich an einen französischen Rot-Kreuz-Mitarbeiter – einen jungen, idealistischen Arzt –, und ganz gegen meine Gewohnheit umarme ich ihn unverhältnismäßig innig. Als bräuchte ich Trost, jemanden, der auf die Wunde an meinem Knie pustet.

Ich lasse ihn unvermittelt los und setze mich, bemühe mich angestrengt um einen neutralen Gesichtsausdruck, als ich seinem Blick über den Tisch hinweg begegne.

»Es ist heiß«, sage ich, und in dem Lächeln, von dem ich dachte, ich hätte es vergessen, erkenne ich, daß ich durchschaut worden bin.

»Glühend heiß!« bestätigt er. »Was willst du trinken?«

Normalerweise bestehe ich darauf, selbst zu bestellen und zu bezahlen, aber heute abend schaffe ich es nicht zu zeigen, was ich für ein Kerl bin. Also verhalte ich mich wie ein feminines Wesen. Passiv und empfangend.

»Das gleiche wie du!« sage ich und nicke zu seinem Glas.

»Kir Royal? Wie wär’s mit ‘nem Wodka?«

»Hatte ich zur Genüge!« sage ich nachdrücklich.

»Du siehst ein wenig müde aus«, sagt er, während er versucht, einen Kellner zu erwischen.

»Ja, ich sehe schrecklich aus!« stelle ich fest und fasse mir an meine bleichen Wangen.

»Nein, wunderbar. Sophisticated. Du siehst aus wie Meryl Streep in ›Sophies Entscheidung‹!« Er umfaßt mein Handgelenk, läßt es aber gleich wieder los, als er wunderbarerweise Kontakt zu einem der ungewöhnlich arroganten Kellner bekommt, der offensichtlich seine Bestellung akzeptiert und notiert.

»Werdet ihr eigentlich dafür bezahlt, daß ihr so unverschämt seid?« fragt er den jungen Typen. Ganz freundlich.

»Nein, wir werden überhaupt nicht bezahlt«, zischt der Kellner und entfernt ein paar leere Biergläser von unserem Tisch. Ich suche in meiner Tasche nach Zigaretten, gucke verstohlen nach Brandmarken am Handgelenk, wo die Haut immer noch brodelt. Paul raucht Gitanes und lehnt meine Marlboro Light dankend ab, die ich eingetauscht habe gegen meine früheren Camel in einem Versuch, die Teereinnahme zu reduzieren. Wenn ich schon nicht aufhören kann.

»Warst du in Frankreich?« frage ich mit einem Blick auf die Zollmarke der blau-weißen Zigarettenpackung.

Er nickt.

»Drei Wochen in Nizza. Wir haben ein Appartement gemietet.«

»Und was war mit Skagen?« frage ich, während das Wort ›wir‹ blinkend in mir kreist. Das geht mich nichts an, und außerdem möchte ich gar nicht wissen, wer sie war.

»Arbeit. Ich habe da oben einen Artikel über deren Touristikkonzept geschrieben.«

»War’s gut?« frage ich und bin froh, diesen Ton der Sachlichkeit zwischen uns legen zu können Er ist zu überwältigend, und ich bin zu müde. Ich sollte mich entschuldigen, sagen, daß mir nicht gut ist, und nach Hause gehen. Jetzt sofort. Bevor ich verbrenne.

»Routine. Aber es war in Ordnung, mal in Skagen gewesen zu sein. Auch wenn ich ziemlich viel vorm Fernseher gehangen habe.« Der Kellner kommt mit unseren Kir Royal. Natürlich bezahlt Paul, und ich mische mich nicht ein.

»Es war einfach saugut, was du da zustande gebracht hast. Laß uns darauf anstoßen!« Er stößt sein Glas leicht gegen meines.

»Findest du?«

»Das finden wir alle. Mal abgesehen von Ferdinand. Es heißt, er fühle sich ausgetrickst.«

»Aber das ist doch nun wirklich nicht meine Schuld, daß er Zwillinge gekriegt hat!« protestiere ich. »Und jetzt hat er es ja überstanden!«

»Und der Champagner ist auch schon schal geworden!« Paul lächelt. »Wollen wir nun anstoßen oder nicht? Herzlichen Glückwunsch!«

Ich bedanke mich hocherfreut über seine Anerkennung, und nach seiner Aufforderung – »Wir beschränkten Inlandsjournalisten sind doch süchtig zu hören, was ihr Korrespondenten dort draußen in der großen weiten Welt treibt« – fange ich an zu erzählen. Offenbar habe ich ein ausgeprägtes Bedürfnis gehabt, alles zu erzählen, denn ich rattere wie eine Kalaschnikow, und Paul hört zu, lächelt und bestellt aufs neue. Um alles mitzubekommen, was ich in dem ansteigenden Summen von immer mehr Menschenstimmen an einem Samstag abend in Kopenhagen sage, muß er sich weit über den Tisch beugen. Schließlich, nachdem ich alles losgeworden bin – von den Kakerlaken in der Küche bis zu Jelzin im Panzer, Puschkins Poesie und die beeindruckende Trauerdemonstration auf dem Manegenplatz –, bin ich so heiser, daß ich die Musik aus der angrenzenden Diskothek nicht mehr übertönen kann. Wir sehen die Musiker von hinten durch eine riesige Glasfront, und Paul schlägt vor, hinüberzugehen und ein wenig neue Musik zu hören, »if you can’t beat them, join them«, wie er sagt.

Und das tun wir. Die Band, wie auch das Publikum, ist sehr jung und mir vollkommen unbekannt. »Trains & Boats & Planes« nennen sie sich, und Paul behauptet, es sei mit die originellste Popmusik, die momentan überhaupt gespielt werde. Es gibt keine Sitzplätze mehr, also stehen wir dicht beieinander und wiegen uns sanft zu der melodiösen, melancholischen Musik, die von einem dunklen Cello und einem spröden, charismatischen Leadsänger bestimmt wird. Ich werde langsam betrunken, das ist mir nur zu klar, deshalb geht mir die Musik direkt ins Blut. Aber Paul wirkt kein bißchen überrascht, als ich mich ihm zuwende und ihn küsse. Gierig und lange.

»Soll ich dich jetzt nach Hause bringen?« fragt er nur.

Danke. Das darf er gern.

Ich beiße ihm in die Schulter und bohre meine Nägel in seinen Rücken, während er sich an meinem Hals festsaugt. Wir wimmern und schreien, stöhnen und seufzen, bis plötzlich alles in Rot explodiert ...

»Du bist herrlich«, flüstert er irgendwann in der Stille, die folgt, und legt mir eine Hand auf die Hüfte.

»Mmh«, grunze ich mit geschlossenen Augen und fühle, wie sich die Welle langsam zurückzieht und zu einem berauschenden Prickeln wird.

»Ich habe dich vermißt«, sagt er und legt seinen Kopf zwischen meine Brüste.

»Das brauchst du nicht zu sagen!« Ich öffne meine Augen nur einen Schlitz, so daß ich gerade in seine sehen kann, in denen der Rand der Kontaktlinsen als ein Kreis um die Iris zu erahnen ist. Schweißtropfen hängen in seinen Wimpern, und ich erinnere mich vom letzten Mal daran, daß das sein postkoitales Merkmal ist. Daß er hinterher so unglaublich schwitzt. Als würde er alles ausschütten. Meines besteht in glühenden Wangen und einer Sanftheit, die ich nicht beherrschen kann.

»Aber es ist so!« beharrt er. »Das war eine absolut außergewöhnliche Nacht, als wir letztes Mal ...«

»Das stimmt«, gebe ich zu. »Wirklich außergewöhnlich.«

»Hör auf zu spotten!«

»Ich spotte nicht!« versichere ich ihm und streichle seinen Rücken, bis er eine Gänsehaut bekommt. »Ich habe dich auch vermißt.«

Womit das gesagt und akzeptiert ist. Mit Hilfe des Alkohols, aber ohne Einschränkungen. Ich habe Paul vermißt.

Er stützt sich auf seine Ellbogen und sucht skeptisch die Wahrheit in meinem Gesicht.

»Wirklich?«

Ich nicke, und er rollt neben mich, meine Hand in seiner.

»Tes«, fängt er an und benutzt wie viele Kollegen mein Redaktionskürzel. »Ich habe ja nie geglaubt, daß du wirklich so ein kalter Fisch bist.«

»Vielleicht bin ich es ja morgen«, sage ich gedämpft und lasse meine Augenlider wieder ganz zufallen. Das Bett dreht sich wie ein Karussell, und Paul stopft die Decke um mich fest. Gibt mir einen Gute-Nacht-Kuß und läßt mich einschlafen, mit seiner Hand auf meinem Venusberg.

Wir wachen an einem Sonntagmorgen mit Regen, Donner und einem jähen Temperaturabfall auf. Ich bin wahnsinnig durstig und habe einen schweren Kopf, bin jedoch erleichtert, daß ich keine Reue spüre und es überhaupt nicht als verkehrt empfinde, neben Paul in meinem Bett aufzuwachen. Auch er hat offensichtlich keine unguten Gefühle – gibt mir nur einen lieben Guten-Morgen-Kuß und zieht mich an sich.

Wir bedanken uns gegenseitig für die Nacht. Reden über dies und das, necken uns, kuscheln aneinander. Dann stehen wir träge auf, gehen gemeinsam ins Bad und machen unter der Dusche Schaumliebe – eine Disziplin, die Paul souverän beherrscht. Aber das wußte ich ja schon – er ist wirklich ein guter Liebhaber. Hinterher, als wir endlich etwas angezogen und uns einen Liter Pepsi Light geteilt haben, der glücklicherweise im Küchenschrank übersommert hat, möchte Paul Frühstück und die Morgenzeitung haben.

»Das kannst du hier nicht kriegen«, sage ich, und mir fällt meine Brunch-Verabredung mit meiner Mutter ein. Die Uhr zeigt Viertel vor elf, ich muß los.

»Darf ich mitkommen?« fragt er, und ich stoße nur ein verwundertes »Was?« aus.

»Warum nicht?« fragt er und will mich an sich ziehen.

»Darum!« antworte ich und gestatte mir für einen Augenblick, die Berührung seiner Hände auf meinem Rücken zu genießen. Normalerweise kann ich es nicht ertragen, am Tag danach angefaßt zu werden.

»Weil du kalt bist heute?« ärgert er mich und gibt mir einen Kuß auf den Knutschfleck, mit dem er mich rücksichtslos markiert hat.

»Genau!« erwidere ich, mache mich frei und rufe ein Taxi. Übertriebener Luxus, aber das Fahrrad jetzt aus dem Keller heraufzuholen, das ist mir im Augenblick zu kompliziert, und außerdem gießt es draußen zu sehr, um auch nur trocken zur Bushaltestelle zu kommen. Und schließlich – wenn wir das Taxi zusammen nehmen, können wir auf dem Rücksitz noch Händchen halten ...

Wir verabschieden uns vor seiner Haustür in der Nørre Søgade.

»Wann sehen wir uns wieder?« fragt er und hält meine Hand fest, nachdem er aus dem Wagen gestiegen ist.

»Früher oder später«, antworte ich.

»Dann aber lieber früher! Ich bin den ganzen Tag zu Hause.« Er drückt meine Hand, bevor er die Tür zuwirft, bleibt dann im Regen stehen und winkt mir nach. Immer noch in seiner weißen – sofort durchnäßten – Kleidung. Ich lehne mich im Sitz zurück und schnuppere den geheimnisvollen Duft, der aus meinem Schoß aufsteigt.

»Und jetzt zur Havnegade!« sage ich dem Fahrer im Spiegel und habe Lust, laut loszulachen.

»Mein Gott!« ruft meine Mutter aus, als sie mich umarmt hat. »Ist der russisch?«

»Was?« frage ich desorientiert.

»Der da!« lächelt sie und legt ihren Finger genau dorthin, wo Paul sich letzte Nacht festgesogen hat.

»Ist der russisch?« wiederholt sie, als handle es sich um ein besonderes Schmuckstück in Silberfiligran.

»Das ist ein Vampirbiß!« erwidere ich und hänge meinen Mantel auf.

»Ja, ja, die sind wild, die Russen!« Mutter kichert und überprüft automatisch ihr Aussehen, als sie am Garderobenspiegel vorbeikommt, um in die Küche zu gehen. Sie ist im Morgenmantel, aber ihr Make-up ist sorgfältig aufgetragen. Wie ein Zahnloser, der als erstes morgens nach seinem Gebiß greift, sucht sie ihre Kosmetiktasche. Seit ich von daheim ausgezogen bin, habe ich sie nie ohne Rouge und Wimperntusche gesehen. In der Küche ist hübsch für vier gedeckt, und es duftet verführerisch nach Kaffee. Vermutlich hat sie bereits einen halben Eimer getrunken.

»Kiki kommt auch – mit ihrem neuen Macker. Wie hieß er noch? Morten oder Martin oder so«, erzählt sie, während sie die Marmelade auf den Tisch stellt.

»Und was ist mit deinem Macker?« frage ich und schenke mir eine Tasse Kaffee ein.

»Der gute alte Freddy?« fragt sie und verzieht das Gesicht. »Er ist auf dem Land. Er hat mir feierlich erklärt, daß er sich NIEMALS wieder vor einer Premiere in meiner Nähe aufhalten wird. Er behauptet, ich wäre dann unausstehlich.«

»Das bist du doch auch!« Ich lasse mich mit der Tasse in der Hand auf einen Stuhl fallen. Ich habe das Gefühl, mich während eines Erdbebens in einem schwankenden Hochhaus zu befinden.

»Ich bin nur so verdammt nervös! Diesmal müssen sie mich auf die Bühne zerren!« Mutter zupft an ihrem Mundwinkel, ein Zeichen dafür, daß sie wieder Herpes bekommt. Ihre Premierennervosität zeigt sich immer in Herpesbläschen. »Sie werden mich umbringen!«

»Das sagst du jedesmal!« Ich nippe an dem Kaffee, er schmeckt scheußlich, bringt mich aber näher an die physische Realität heran.

»Ja, aber diesmal ist es ernst!« Mutter braust auf. »Wenn ich einen König hätte, der mit einem spielt und nicht gegen einen, dann ginge es ja noch ... Wenn nicht der süße Viktor dabei wäre, hätte ich schon lange einen Nervenzusammenbruch gehabt!«

Mutter greift nach ihren Zigaretten auf dem Dunstabzug, zündet eine an und inhaliert nervös.

»Viktor ist genial. Er macht etwas mit mir. Er holt etwas in mir hervor, von dem ich selbst nicht gedacht habe, daß ich es kann ...«

»Ist er jetzt wieder dein Liebhaber?« falle ich ihr schroff ins Wort und rutsche auf meinen alten Platz an der Wand. Mutter hat ihr festes Repertoire an Liebhabern, die sie in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder aufnimmt. Regisseure, die immer unmittelbar Zugang zu ihr haben, Schauspieler oder Back-stage-Leute, obwohl letzteres nun schon ein paar Jahre zurückliegt. Dafür, denke ich, hat sich jetzt wohl ein Theaterdirektor eingeschlichen, von dem sie letztlich auch mehr hat.

»Also, Therese, du klingst wie Freddy!« Mutter verdreht die Augen. »Er ist so unglaublich eifersüchtig. Er versteht einfach nicht, was es heißt, eine künstlerische Symbiose mit einem anderen Menschen einzugehen!«

»Nun mal ehrlich, Mutter, was kann man denn von einem Zahnarzt erwarten!«

»Ein bißchen Verständnis! Großzügigkeit!« Mutter streift die Asche von ihrer Zigarette ab, und ich kann ihr nur noch einen Blick zuwerfen, bevor wir Kikis drei kurze Klingelzeichen hören.

»Ich mache auf!« sage ich, und Mutter nickt.

Kiki ist auch keine Schauspielerin geworden. Sie hat zwei, drei angefangene Ausbildungen hinter sich und arbeitet jetzt als Croupier in einem der großen Hotels. Aber auch wenn ihr Mutters elektrische Nervosität fehlt, ist sie ansonsten diejenige von uns beiden, die Mutter am meisten ähnelt. Sowohl vom Aussehen – rotblond, mit Sommersprossen und Kurven, während ich dunkel und knochig bin wie Vater – wie vom Gemüt her. Genau wie Mutter hat Kiki eine Art ewiger Kindlichkeit, eine unzensierte Unmittelbarkeit, die sie immer gesund, aufbrausend und direkt reagieren läßt.

Als Kinder hatten wir Probleme miteinander, weil der Altersunterschied zwischen uns nur gering ist, wir uns viel zu oft selbst überlassen wurden, aber so unterschiedlich waren, daß wir kaum etwas miteinander anfangen konnten. Ich war die Ältere und die Klügere, während sie die Stärkere und Robustere war, und deshalb gewann fast immer sie.

Ich habe es mir nie eingestanden, aber ich glaube, eigentlich fürchtete ich mich vor ihr. Sie machte mir angst. Kiki wütete und fluchte, warf sich hysterisch schreiend auf den Boden, fiel von Bäumen und brach sich Arme und Beine, steckte ihr Zimmer in Brand oder lief davon, während ich mich still und erhaben durch meine Kindheit bewegt habe, nur das einzige Ziel vor Augen: groß zu werden, um Anerkennung von meinem abwesenden Vater zu erlangen.

»Hallo, Superstar!« Kiki drückt mich begeistert an sich. »Spitze, dich wiederzusehen!«

Sie sieht aus, als meine sie das wirklich, und es erfüllt mich wie immer mit einer sonderbaren Form von guter Laune, daß ich von ihr akzeptiert werde. Und einer gewissen Erleichterung, denn sie hat sich nie, auch nicht, seit wir erwachsen sind, mit ihrer Kritik zurückgehalten.

»Das ist Marvin«, sagt sie und zieht den langhaarigen Typen nach vorn.

»Marvin?« Ich gebe ihm die Hand, und er beantwortet meine unausgesprochene Frage.

»Meine Mutter war Marvin Gaye-Fan. Nenn mich einfach Spunk.«

»Wie die Lakritzpastillen!« wirft Kiki ein und legt dabei einen Finger auf meinen Hals. »Nana?«

»Vampirbiß«, sage ich kurz.

Kiki grinst.

»Heißt er Paul? Und schickt Postkarten aus Skagen?«

»Du bist schrecklich, du Rotzgöre!« Ich schubse sie leicht, und Kiki legt ihren Kopf nach hinten und schüttelt grinsend die Regentropfen aus ihrem lockigen Haar. »Ja, aber ich habe doch recht, oder?«

Kiki und Spunk waren am Abend zuvor auf einem Fest, sind davon noch angeschlagen und knabbern an ihren Brotscheiben, die sie selbst mitgebracht haben. Und ich habe es mir aus praktischen Gründen in Moskau fast abgewöhnt zu essen – die humanste Lösung für einen Korrespondenten ohne Korrespondentenfrau –, und eine Nacht mit Paul ist, nach normalen Kriterien zu urteilen, auch nicht gerade appetitfördernd. Das einzige, wozu ich Lust habe, ist, zu rauchen und zu trinken. Und als Mutter und Kiki sich Blicke zuwerfen und zu einem Verhör ansetzen wollen, komme ich ihnen zuvor. Ich schlage vor, daß Mutter die Flasche armenischen Cognac öffnen soll, die ich ihr mitgebracht habe.

»So früh am Morgen?« fragt Mutter rhetorisch, während sie schon kleine Gläser aus dem Schrank holt.

»Wir schaffen es locker bis zum Mittag«, erklärt Kiki. »Übrigens habe ich einen Brief von ihm gekriegt«, fügt sie ohne Übergang hinzu.

»Wie geht es ihm?« fragt Mutter neutral, aber mit einer Stimme, die ein paar Oktaven höher liegt als sonst.

Spunk schaut verwirrt von einer zur anderen.

»Keine Ahnung. Als ich sah, daß er von ihm ist, habe ich ihn zerrissen, ins Klo geschmissen, mich hingesetzt und drauf geschissen!«

Wir starren sie alle drei wie gelähmt an.

Mutter steht der Mund offen, und ich schließe meinen erst, als Spunk seine Neugier nicht mehr länger bremsen kann. Oder seine Eifersucht.

»Wovon zum Teufel redest du, Weib!«

»Von meinem Vater«, lächelt sie beruhigend. »Oder genauer gesagt, von meinem verstorbenen Vater.«

»Kiki!« protestiert Mutter. »Mußt du so hart sein?«

»Yes, mam!« erwidert Kiki. »Wollen wir anstoßen?«

Warum nicht? Es gibt sowieso nichts anderes zu greifen, und nach ein paar Gläsern hat das Gespenst sich aufgelöst. Jedenfalls fast. Denn ich spüre, daß mich ein kalter Wind durchfährt und die Türen aufspringen, die ich sonst sorgsam geschlossen halte. ›Warum schreibst du ihr und nicht mir?‹ hallt das Echo nach, aber es dreht sich nicht um. Und dann ist es fort.

»Hallo! Träumst du von deinem Traumprinzen?« Kiki knipst mich zurück in die Küche, wo die Stimmung inzwischen ziemlich angeheitert ist. Und auch wenn Mutter die ganze Zeit mit ihrem Rollenheft wedelt und erklärt, daß sie jetzt unbedingt ihre Rolle lernen muß, ist sie andererseits doch froh, eine Entschuldigung zu haben, nicht damit anfangen zu müssen. Sie erscheint mir angespannter als normal, darum halte ich sie nicht zurück, als sie nach der Flasche greift, auch wenn ich weiß, daß sie manchmal etwas zuviel trinkt. Anscheinend hat sie Entspannung dringend nötig. Vielleicht ist es ja doch keine Lüge, daß sie diesmal nervöser ist als sonst. Vielleicht ist es das Alter, das früher oder später auch zu der bestkonservierten Diva kommt, sich über Nacht bei ihr einschleicht und sich als Leberflecken auf den Handrücken niederläßt.

»Theresekind, erzähl uns doch von Moskau!« fordert Mutter mich auf, als sie meinen prüfenden Blick bemerkt. »Hattest du nicht schreckliche Angst?«

Das ist lieb von ihr, und ich belohne sie mit einem Lächeln. Einem echten.

»Ich wäre fast vor Angst gestorben!« lüge ich und präsentiere eine Auswahl an spektakulären Details und Anekdoten von der Front, während ich mich selbst darüber wundere, warum die bewegendsten Begebenheiten in Rußland seit 1917 sich wie ein Märchen mit Helden, Schurken und einem glücklichen Ende anhören, wenn man sicher in einer dänischen Küche sitzt vor einem Publikum, das es gewohnt ist, alles im Fernsehen präsentiert zu bekommen.

»Wollen wir nicht auch dorthin!« ruft Spunk aufgeregt und stößt Kiki einen Ellbogen in die Seite, als ich von den Schlangen vor McDonald’s und PizzaHut erzähle.

»Was zum Teufel sollen wir da?« Kiki bricht eine Ecke von einem Kopenhagener ab.

»Ein Fast-food-Restaurant eröffnen natürlich! Schließlich bin ich Koch«, erklärt er mir. »Hier gibt es kaum was für mich zu tun. Aber dort – in Rußland! Das ist doch fast wie Amerika neunzehnhundertzehn!«

Spunk ist hellauf begeistert und entwirft bereits eine Speisekarte mit Pastagerichten, Frikadellen und warmen Sandwiches.

»Siehst du es nicht vor dir?« fragt er mich, weil Kiki es einfach nicht will, und ich nicke und schlucke langweilige, wichtige Informationen hinunter, die seiner Begeisterung einen ziemlichen Dämpfer versetzen würden.

»Wir könnten steinreich werden!« Das ist ein Argument, das für einen Augenblick sticht, bis Kiki auch das locker pulverisiert hat.

»Und was sollen wir mit den vielen Rubeln machen?«

Ich grinse und unterstütze Spunk, indem ich erkläre, daß irgendwann auch der Rubel konvertierbar werden wird.

»Okay!« Kiki gibt ihm einen Kuß auf die Wange. »Aber dann will ich mein eigenes Kasino haben!«

Spät am Nachmittag, als Kikis und Mutters Fragen immer aufdringlicher werden, breche ich auf. Ich verweigere jede Antwort, aber Kiki bringt mich dennoch unter lautem, siegreichem Gejohle zum Erröten, als sie mit ihrer exakten Beschreibung den Nagel auf den Kopf trifft.

»Ist es der Windbeutel aus den Nachrichten? Dieser feuchte Dunkelhaarige?«

Als ich schließlich heimkomme, duftet mein Bettzeug immer noch nach ihm, dem Feuchten. Ich ziehe mich aus und gehe mit einem Stapel Zeitungen und einer Tasse Beuteltee in die Federn. Es regnet ununterbrochen, ich bin leicht beschwipst und müde und stöpsle das Telefon aus, bevor vielleicht jemand auf die Idee kommen könnte, mich anzurufen. Bevor er vielleicht auf die Idee kommen könnte ... Morgens hatte ich den Anrufbeantworter nicht mehr einschalten können, also weiß ich nicht einmal, ob er es nicht schon versucht hat. Ich schlafe über einem Auszug aus Raissas Autobiographie ein, die in der Sunday Times veröffentlicht ist – entweder sie ist vollkommen vernarrt in Michail, oder sie ist einfach gut erzogen –, und wache plötzlich ganz verwirrt von dem eindringlichen Summen der Türklingel auf. Einen Augenblick glaube ich, ich bin immer noch in Moskau und habe eine wichtige Deadline verschlafen ...

Natürlich ist er es. Ich bin nicht einmal richtig überrascht. Lasse ihn nur herein und versuche aufzuwachen.

Die Kälte aus dem Hausflur zieht meine nackten Beine hinauf; ich lasse die Tür offenstehen und krieche wieder ins Bett.

»Ist das eine Einladung?« fragt er in der Türöffnung, die er mit nassem Staubmantel und breitkrempigem Borsalino ausfüllt. Er sieht aus wie Humphrey Bogart, und das ist wohl auch der Sinn der Sache.

»Play it again, Sam!« sage ich mit tiefer Ingrid-Bergman-Stimme, und bevor ich die Konsequenzen abwägen kann, hat er den Hut abgenommen, sich aus dem Mantel geschält und landet mitten in den Zeitungen.

»Sunday Times? Bist du immer so seriös?« Er fegt die Seiten zu Boden, von denen mich ein junger Gorbi mit einem sensiblen Mund anguckt, während ich Paul aus seinen Klamotten schäle, um an seine warme, büschelweise behaarte Brust zu kommen.

»Scharf«, murmelt er hinterher wie ein erschöpfter Boxer. »Scharf ...«

»Und gefährlich«, füge ich hinzu, ohne sicher zu sein, daß er mich versteht.

Er nickt nachdenklich. Läßt eine Locke meines Haars durch seine Finger laufen.

»Lebensgefährlich.«

Später, als es dunkel geworden ist und wir mit einem leicht genierten Kichern Simons und Franks lautem Sonntagsbumsen zuhören mußten – wie sie es vorher bei uns mußten –, bestellen wir Pizza, die wir im Bett essen, während wir CNN leise laufen lassen. Der Montag wirft bereits seine Schatten, und wir möchten beide gern ordentlich angezogen antreten und die Situation wenigstens einigermaßen im Griff haben. Deshalb halten wir uns mit dem Alkoholkonsum zurück und verkorken bereits nach einem Glas den Chianti wieder.

»Kaffee?« frage ich.

»Aber du hast doch gar keinen, oder?«

»Nescafé?«

Paul schüttelt den Kopf.

»Nein, danke. Ich denke, ich sollte mich schleunigst auf den Nachhauseweg machen.«

Dann steigt er aus dem Bett, während ich liegenbleibe und die Verwandlung beobachte, die ich auch schon bei anderen Männern gesehen habe. Die Verwandlung von dem süßen, albernen Liebhaber zum seriösen, fernen Reporter. Vom Jungen zum Mann. Zum Glück muß er keinen Schlips umbinden. Ich fände es unerträglich, ihm dabei zuzusehen, wie er sich mit flinken, routinierten Fingern den Knoten bindet, beinahe ohne jede Ähnlichkeit mit dem, der vor kurzem noch mit meinem Körper gespielt hat. Ich sag’s doch immer: Sex macht mich übersensibel. Erst als er vollständig angezogen ist, kommt er zu mir, setzt sich auf die Bettkante und nimmt meine Hand in seine.

»Ich bin froh, daß du wieder zurück bist.«

»Ich auch«, sage ich und lege einen Moment lang meine Wange an seine, wo der Zwei-Tage-Bart pikst. Dann lasse ich ihn gehen. »Hallo!« rufe ich ihm nach, als er schon an der Tür ist. »Den hier hast du vergessen!«

Ich werfe den Borsalino wie eine Frisbeescheibe durch das Zimmer. Er schnappt ihn im Flug und setzt ihn auf. Verzieht seinen Mund wie Bogart und ist fort.

»Ja«, sage ich zu mir selbst mit einem Seufzer wie eine alte Frau. »Jaja, soso, jaja ...«

Dann stehe ich auf und wasche ab. Packe meinen Koffer aus. Es regnet immer noch.

Ich habe mich am Montag morgen nach der Morgenkonferenz gerade beim Tagesdienst gemeldet, als der General mich schon zu sich ruft. Kirsten, die Producerassistentin, reckt den Daumen aufmunternd in die Luft.

»Keine Angst. He loves you!«

Es heißt, er ist gut zu Kindern und Tieren, aber ansonsten ist Freundlichkeit nicht gerade das, wofür unser Chef bekannt ist. Er ist eine harte Nuß, und es ist nicht ungewöhnlich, daß selbst sturmerprobte Kollegen schluchzend sein Büro verlassen. Deshalb schiebe ich die halboffene Tür mit einem gewissen Beben auf, obwohl ich ein absolut reines Gewissen habe.

»Therese Skårup!« ruft er laut und erhebt sich zu seiner ganzen imposanten Größe. Zwei Meter groß und hundertzwanzig Kilo schwer – und mit einem Ego versehen, das genauso überdimensioniert ist wie sein Körper. Wirklich ein Mann mit Stärke.

Er kommt mir mit ausgebreiteten Armen entgegen, um mich zu umarmen; bei seiner Flügelspannweite und überhaupt ist es unmöglich, die Umarmung zu parieren.

»Herzlichen Glückwunsch, ich bin stolz auf dich! Das hast du wirklich gut gemacht! Hast du das schon gesehen?« fragt er und fischt eine Fotokopie des Fernsehkommentars aus den Stapeln auf seinem Schreibtisch.

Ich lächle ironisch und antworte, daß ich es gesehen habe, aber bekanntermaßen haben diese Boulevardblätter ja Probleme mit der Wahrheit.

»Ganz deiner Meinung«, nickt er, schließlich ist er Lieblingsopfer der Seite zwei der Zeitung. »Aber die anderen Zeitungen sind auch auf dich aufmerksam geworden – positiv –, und hier im Haus sind wir sehr zufrieden!«

Und als wenn das nicht schon genug wäre, bekomme ich den wahren Ritterschlag, als er mir eine seiner starken griechischen Zigaretten anbietet. Ich bedanke mich, und er selbst schafft es, während der Audienz, die wie immer schnell vom General selbst handelt, zwei, drei Stück zu rauchen. Er erzählt von seiner Zeit als Kriegskorrespondent in Nahost und Südostasien. Nam, natürlich, das war sein Krieg, und »irgendwann muß ich doch mal ein Buch darüber schreiben, denn bislang hat es ja noch niemand beschrieben, wie es wirklich war!«.

Ich unterdrücke hinter dem dunklen Rauch ein Lächeln, als mir Paul in den Sinn kommt; er ist berühmt für seine Fähigkeit, den General bis ins Detail parodieren zu können, mit wortwörtlichen Zitaten.

Moskau kennt er natürlich auch in- und auswendig, der General – o ja! –, deshalb können meine Augenzeugenschilderungen und Analysen des Putsches ihn nicht wirklich vom Stuhl reißen. Sie dienen höchstens als Stichworte für seine eigene wortreiche Interpretation der Geschehnisse, die er als »Dilettantencoup« beschreibt.

Der Monolog wird schließlich von seiner Sekretärin unterbrochen, die ihn an eine Besprechung mit dem Fernsehdirektor um zehn Uhr dreißig erinnert. Der General sieht resigniert auf seine Uhr.

»All diese verfluchten Besprechungen. Tes, es macht viel mehr Spaß, Indianer zu spielen, als Häuptling zu sein!«

Ich habe große Lust zu fragen, ob ich ihn mit dieser Bemerkung zitieren darf, aber so sicher sitze ich nun auch nicht im Sattel. Er ist launisch und leicht zu provozieren, und ich habe keine Lust, einer der Mitarbeiter zu werden, die demonstrativ aufs tote Gleis geschoben wurden, weil sie den Gott geärgert haben. Als ich deshalb lieber untertänig lächle, statt garstig zu sein, bringt er mich noch bis zur Tür. »Nun ja, also willkommen im Club, Tes! Schön, ein Mädchen dabeizuhaben, das Haare auf der Brust hat!«

»Die Eier nicht zu vergessen!« pariere ich über die Schulter hinweg.

Er bricht in krächzendes Tabaksgelächter aus, das in Husten umschlägt.

»Eier! Hast du die auch noch? Das muß ich bei Gelegenheit mal überprüfen!«

Fast der ganze Vormittag vergeht damit, daß ich die Post durchsehe, mich aufs laufende bringe und mit den anderen rede. Ich liebe meine Arbeit, es ist schön, wieder in meinem Handtuch-großen Büro zu sitzen, und auch schön, die Kollegen wiederzusehen.

Aber meine Seele hängt immer noch irgendwo zwischen den Zwiebeltürmen des Kremls und dem Weißen Haus, und ich weiß aus Erfahrung, daß es ein paar Tage dauern wird, bis ich den unerträglichen Gesichtsausdruck abgelegt habe, mit dem wir Auslandskorrespondenten nach Hause zu kommen pflegen. Das hassen sie im Inland, wo sie sowieso der Meinung sind, wir wären alle nur eingebildete Angeber. Deshalb sind gemischte Ehen auch nicht so üblich ...

»Hallo! Willkommen daheim!« Lea, eine etwas ältere Kollegin, kommt, um mich zu begrüßen. Sie ist gerade mit einem Rot-Kreuz-Flugzeug aus dem Sudan zurückgekommen. Offensichtlich hat sie den Drang zu reden, denn sie schiebt den Papierstapel vom Besucherstuhl und läßt sich darauf nieder.

»Skelette!« sagt sie nur. »Und wenn sie nicht verhungern, dann werden sie im Bürgerkrieg umgebracht. Merkwürdig«, sie schüttelt langsam den Kopf und steckt sich geistesabwesend ein Stück Nikotinkaugummi in den Mund. »Ich bin jetzt so oft in der Dritten Welt gewesen und habe alles schon gesehen. Normalerweise kann ich das wegstecken ... auch die ausgetrockneten Säuglinge und die Fliegen. Aber diesmal ...«

Lea kaut und sinkt in sich zusammen, während ich die Gelegenheit nutze, einen verstohlenen Blick auf den laufenden Fernseher zu werfen, der neben dem Gästestuhl steht. CNN sendet direkt aus dem Parlament, und auch wenn es jetzt Ferdinand ist, der den Laden dort drüben schmeißt, muß ich mit Bildern und Nachrichten auf dem laufenden sein und bereit, etwas zusammenzufassen oder zu kommentieren.

»Das ist so, seit ich Matthias bekommen habe«, fährt Lea grübelnd fort. »Seitdem geht es mir so nahe.«

Ich nicke verständnisvoll, während ich nebenbei registriere, daß Jelzin einen beunruhigten, scheißwichtigen Gesichtsausdruck aufgesetzt hat, und gleichzeitig überlege, warum Paul wohl nicht auf der Morgenkonferenz war.

Lea durchschaut mich und steht mit leicht geschürztem Mund auf.

»Na ja, das verstehst du erst, wenn du selbst Kinder hast.«

Ich verdrehe die Augen und greife nach dem Telefon. Lea ist ein abschreckendes Beispiel dafür, was aus einem eigentlich vernünftigen Menschen werden kann, der plötzlich darauf besteht, Mutter werden zu wollen – mit vierzig! Und dann noch alleinerziehende Mutter. Sie, die der tough Cookie der Redaktion war, bekannt für ihr Engagement und ihre Furchtlosigkeit, interessiert sich jetzt vor allem für Matthias’ letztes Bäuerchen, ist ewig und drei Tage krank geschrieben und fährt nur noch auf Befehl fort, und auch dann möglichst nur in ›sichere‹ Gebiete. Und sie war einmal mein Vorbild.

Paul ist in die Kantine gegangen, erklärt mir die Sekretärin vom Inland, ich lege auf und beschließe blitzschnell, daß ja eigentlich Mittagspause ist.

Zu behaupten, ich hätte den ganzen Sommer über gehungert, ist übertrieben, aber sicher bin ich etwas unterernährt – ich habe vier Kilo abgenommen und spüre, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft, als mir der vertraute Geruch von Soße und Kartoffeln aus der Großküche entgegenschlägt. Deshalb kann ich es trotz des beunruhigenden Fahrstuhlgefühls im Zwerchfell nicht lassen. Ich muß Schweinebraten mit Rotkohl haben! »Das ist gut! Du brauchst ein bißchen Fleisch auf den Knochen«, murmelt er plötzlich hinter mir, als ich in der Kassenschlange stehe. »Und danke für den gestrigen Tag!«

Er pustet mir in den Nacken, und ich kann mich nur kurz nach ihm umwenden, bevor ich das Essen bezahlen muß, von dem ich mit einem Mal ganz sicher bin, daß ich es nicht hinunterbekommen werde.

Paul hat bereits gegessen – er ist nur hier, um Kaffee zu holen. Zwei Tassen. Ich gehe auf die Tische zu, die wie immer um diese Zeit von den Nachrichtenleuten besetzt sind. Sie erlösen mich, indem sie schnell und aufmerksam Platz für mich und mein Tablett machen und mich anschließend mit interessierten, freundlichen Fragen überschütten. Paul hat sich auf seinen Platz gesetzt, schräg gegenüber von Henriette, einer flinken Parlaments-Reporterin mit hochgestecktem Haar und einem Blitzen in den Augen. Sie ist es also, für die er Kaffee geholt hat, und sie nimmt ihn so entspannt und zurückgelehnt entgegen, daß kein Zweifel möglich ist.

Es gelingt mir, ihn vollkommen zu übersehen, während ich Fragen beantworte, Geschichten erzähle und den General preisgebe – das mit dem Häuptling und den Indianern ruft ungeteilte Begeisterung hervor –, und mit einer teuflischen Schadenfreude bemerke ich, daß sie diejenige von uns ist, die am meisten reingelegt wurde. Nicht der Schatten eines Mißtrauens ist in ihrem aufmerksamen Zuhören zu bemerken.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung und einem fast unberührten Teller breche ich noch vor Paul auf und stelle mein Tablett auf das Stativ, ohne daß jemand von meinem Rücken irgend etwas ablesen könnte. Und da Paul – obwohl doch alle wissen, daß er der größte Herzensbrecher des Senders ist – diskret mit seinen Eroberungen umgeht, muß ich auch nicht befürchten, öffentlich vorgeführt zu werden.

Auf dem Weg zurück durch die labyrinthartigen Flure bis zum Ausland versuche ich mir selbst einzureden, daß ich überreagiere. Er hat mich weder angelogen, noch hat er mir etwas versprochen, und ich habe weder gefragt noch etwas gefordert. Dennoch sitzt eine eisige Enttäuschung in meinen Eingeweiden, was mich wiederum wütend macht.

Den ganzen Sommer über bis zu diesem Augenblick habe ich – ob eingestanden oder nicht – von ihm geträumt. Davon, zu ihm zurückzukommen. Aber Paul ist kein junger Prinz, der durch die Dornenhecke bricht und Dornröschen aus der Verzauberung befreit. Ich habe mich geirrt. Paul Weber ist Paul Weber – ein Mann, vor dem jede Mutter ihre Tochter warnen sollte. Schade, denn sie konnte ihn wirklich gut leiden. Den Auserwählten. Den Einzigen. Den Mann.

Sonst bin ich nicht so. Ich bin nicht so eine, die sich gleich nach dem ersten Kuß im Lilly-Modell-Hochzeitskleid sieht. Ganz im Gegenteil, ich habe noch nie so weit gedacht. Doch, einmal habe ich das. Aber da war ich so jung und wurde so enttäuscht, daß das Psychoanalyse für Doofe ist, warum ich seitdem ein gebranntes Kind bin. Das muß mir keine Quacksalberseele erklären, und ich denke, ich habe gelernt, mit der Wunde zu leben. Zumindest habe ich gelernt, mich soweit zu schützen, daß nur äußerst selten Salz in die Wunde gelangen kann.

Als ich aber schließlich im Auslandsflur angekommen bin, brennt sie so stark, daß ich schnurstracks in mein Büro trample und die Tür hinter mir schließe. Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und stütze die Ellbogen auf die ausgediente IBM-Schreibmaschine, während ich auf die roten Vogelbeerbäume im Hinterhof schaue. Dann versuche ich die Situation kalt und ruhig zu analysieren, wie ich es immer tue. Und das einzige, was dabei herauskommt, nachdem ich den Baum nur noch wie durch einen Nebel sehe, ist, daß ich mich selbst nicht mehr wiedererkenne. Ich habe mich verändert.

Dem Putsch die Schuld zu geben, wäre zu pathetisch, obwohl jeder, der so einen Umsturz miterlebt hat, sich einbildet, nie wieder der gleiche zu sein. Nein, wenn ich ehrlich sein soll, kann ich alles nicht beantworten, weder warum, seit wann noch wie. Widerstrebend muß ich erkennen, daß ich irgendwo in mir einen vagen Traum von – believe it or not – Liebe hege. Was ich damit anfangen soll, weiß ich nicht. Noch weniger, was ich mit Paul anfangen soll. Abgesehen von dem Nächstliegenden – ihn zu exekutieren.

Als es an die Tür klopft, zucke ich zusammen und sage mit klopfendem Herzen »Ja?«

»Störe ich?« Es ist Ras, der Auslandsredakteur, der seinen kahlen Kopf hereinsteckt.

»Nein, nein!« versichere ich hektisch, als wäre ich auf frischer Tat ertappt worden, obwohl ich bezweifle, daß seine Sensibilität weit genug entwickelt ist, um zu begreifen, in was für einem Sturm ich mich gerade befinde. Wäre sie es, hätte er sicher nicht drei Exfrauen, sieben Wochenendkinder und katastrophale Finanzen. »Setz dich!«

»Wie geht’s?« fragt er mit einem Blick auf meinen sonderbar leeren Schreibtisch.

»Gut. Ich akklimatisiere mich«, lächle ich beruhigend.

»Bist du müde?« fragt er.

Ich zucke mit den Achseln.

»Vielleicht eine Spur.«

»Wie wäre es mit Urlaub? Hast du noch welchen zu kriegen?« Er lehnt sich im Stuhl zurück, stopft seine Pfeife. Signalisiert ›viel Zeit‹.

»Noch zwei Wochen, aber der General hat mich gebeten, sie noch aufzusparen, bis die Situation sich stabilisiert hat.«

»Ja«, nickt Ras. »Er setzt große Stücke auf dich. Aber paß trotzdem auf, daß du nicht aufgerieben wirst.«

Unsere Blicke treffen sich bei der gleichen Gedankenassoziation, und wir lächeln beide verständnisvoll.

»Und zwar in jeder Beziehung!« Ras lächelt und zeigt dann auf den Bildschirm, der immer noch die CNN-Übertragung aus dem Parlament zeigt. »Darum kümmert sich Ferdinand, wenn du dich um die Republiken kümmern könntest. Visnews will gegen fünf neue Bilder aus Georgien und dem Baltikum haben.«

»Okay«, nicke ich und greife nach einem Kugelschreiber.

»Bist du inzwischen mit deiner Akklimatisation fertig«, fragt Ras, »oder soll ich die Tür wieder schließen?«

»Nein, laß sie nur offen!« sage ich und greife nach einem Stapel Tickermeldungen.

Wie immer am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub oder einer Reise geht alles langsamer. Ich brauche viel Energie für Routinearbeiten, die normalerweise eben nur Routinearbeiten sind, für die ich mich jetzt jedoch richtig anstrengen muß. Aber alle sind nett und hilfsbereit, und ob ich nun ins Bänderarchiv, zur Graphik oder zu den Textern komme, die mal wieder einen russischkundigen Übersetzer brauchen, überall scheine ich mit neuem Respekt betrachtet zu werden. Und alle wollen Originaläußerungen direkt von der Quelle haben. Bis ich endlich wieder zurück in meinem Stall bin und bereit, einen Artikel zu schreiben, ist es schon spätnachmittags, und der Redaktionsschluß rückt mit rasender Geschwindigkeit näher.

Irgend jemand hat einen braunen Umschlag auf meinen Schreibtisch gelegt, und wenn ich schlau wäre, würde ich ihn dort liegenlassen. Aber ich reiße ihn auf, als würde mein gesamtes künftiges Schicksal von dem Inhalt abhängen. »Tes, ein spätes Essen heute abend? P.«

»No way!« murmle ich und knülle den Zettel zu einer Kugel zusammen, die ich in den Papierkorb schmeiße. Dann malträtiere ich die Schreibmaschinentastatur, vertippe mich und rege mich darüber auf, daß mein Computer immer noch nicht on line ist, rufe unten an und bestelle Aufnahmezeit in zwanzig Minuten.

Zum Glück ist es Søren, mit dem ich meinen Beitrag redigieren soll. Ein alter Hippie mit Lederweste und Pferdeschwanz, humorvoll und geduldig. Außerdem kann er einfach einen Kommentar gestalten. Was gerade heute Gold wert ist, denn mein eigener Überblick ist, gelinde gesagt, etwas verschleiert. Es ist schon nach sieben, als er mich ins Tonstudio schickt, aber er bleibt gelassen, nichts kann ihn aus der Ruhe bringen, weder die Ermahnungen der Redaktionssekretärin noch meine wiederholten Huster und Versprecher.

»Noch einmal«, sagt er nur. »Wir haben genug Zeit.« Die Nachrichten sind bereits auf Sendung, als wir unseren Beitrag endlich abliefern, ins Sekretariat gehen und ihn uns noch einmal ansehen. Ich kann nicht anders, ich muß mich einfach im Raum umschauen, nach ihm Ausschau halten. Aber er ist nicht da. Dafür jedoch Lea, die den Kopf wegdreht, als ihr Beitrag über den Sudan dran ist.

»Ist das nicht entsetzlich«, murmelt sie und beißt sich auf die Finger.

»Starke Geschichte«, nickt Søren mit soviel sozialer Entrüstung, wie er sympathischerweise noch besitzt.

Mein Beitrag geht unbemerkt durch – falls er kritisiert wird, wird das erst morgen früh bei der Redaktionskonferenz geschehen –, und gleich danach stehe ich auf und packe meine Sachen zusammen.

Als ich in unsere Abteilung komme, sitzt Ras immer noch in seinem Büro. Er telefoniert, beeilt sich jedoch, das ziemlich privat klingende Gespräch zu beenden, und winkt mich zu sich, als ich vorbeigehe.

»Zwei Dinge«, sagt er, als er aufgelegt hat. »Punkt eins: Ich gebe dir morgen unabhängig vom Dienstplan frei. Ich habe genug Leute, und falls etwas passiert, rufe ich dich einfach an. Punkt zwei: Soll ich dich in die Stadt mitnehmen?«

»In die Stadt? Wohnst du nicht in Farum?«

»Ich habe eine Verabredung!« grinst er und schiebt seine Pfeife zwischen die Zähne.

»Na, so was!« kommentiere ich mit einem vielsagenden Blick zum Telefon. Wenn es mir doch auch so ginge.

Obwohl Ras nur zehn Jahre älter ist als ich, hat er mich immer leicht väterlich behandelt. Und als wir in seiner alten Rostlaube, einem alten Postauto und beliebten Thema in den Spottliedern bei der Weihnachtsfeier, in die Stadt fahren, zeigt es sich schnell, daß er auch diesmal ein paar väterliche Worte auf Lager hat. ›Sich nicht aufreiben lassen‹, ›sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen‹ und mehr in der Art. Vielleicht ist es in Wirklichkeit auch eine Art andersartigen Lobs, auf jeden Fall ist es freundschaftlich gemeint. Und als das erst einmal überstanden ist und ich entsprechend andächtig gelauscht habe, wird es eine angenehme Fahrt mit genau der richtigen Mischung aus Klatsch und Sachlichkeit. Ich necke ihn ein wenig mit seiner Mätresse und muß mir auf die Zunge beißen, um nichts zu der amourösen Verbindung zwischen Paul und seiner Christiansborg-Schnalle beizusteuern, als Ras irritierenderweise selbst auf sie zu sprechen kommt und sie als ein ›wahres Naturtalent‹ beschreibt.

»Sie ist mit dem Paul aus dem Inland zusammen«, erklärt er und fragt mich, wo ich aussteigen möchte. »Weber!« fügt er hinzu. Vollkommen überflüssigerweise.

»Ach, laß mich einfach hier raus! Ich kann den Bus im Jagtvej nehmen!« versichere ich, als ich am Åboulevard aussteige.

»Du mußt entschuldigen. Ich würde dich natürlich gern nach Hause fahren, aber ...« Ras sieht mich verzweifelt an. Für eine mittlere Führungskraft kann er nicht besonders gut unangenehme Beschlüsse fassen.

»Das ist schon in Ordnung!« lächle ich und bedanke mich fürs Mitnehmen.

Am nächstgelegenen Kiosk hole ich mir einen Hot dog mit gerösteten Zwiebeln. Ein Fettwanst mit tätowierten Händen rülpst laut und vernehmlich neben mir. Es ist mir ganz gleich. Ich stopfe nur in mich hinein. Versuche nicht an ihn zu denken, mir nicht vorzustellen, wie nah von hier er wohnt. Ich könnte in zehn Minuten bei ihm sein.

Der Fette rülpst erneut.

»Mahlzeit!« sage ich und gönne ihm einen Blick aus Schlafzimmeraugen. Er grinst träge, ich gehe zur Bushaltestelle.

Der Anrufbeantworter blinkt rot, als ich heimkomme. Drei Nachrichten. Die erste von dem Verlagslektor, der möchte, daß ich etwas schreibe. Die zweite ist ein wortloses Stöhnen, was alles von einem Psychopath bis zu Tante Mo aus der Provence sein kann – sie kommt mit Anrufbeantwortern nicht zurecht. Die dritte ist von Paul.

»Hallo, ich bin’s. Es ist jetzt fünf nach acht. Rufst du mich mal an?«