Nächsten Sommer - Jugendbuch - Hanne-Vibeke Holst - E-Book

Nächsten Sommer - Jugendbuch E-Book

Hanne-Vibeke Holst

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Beschreibung

Ein Roman über das Erwachsenwerden, Liebe und Freundschaft: Louise und Stine sind beste Freundinnen und leben in einer dänischen Kleinstadt. Louise kommt mit Anders zusammen, und gemeinsamen planen sie den nächsten Sommer, wenn sie ihr Abitur hinter sich hat. Doch dann taucht Stine mit ihrem neuen Freund auf, dem fast doppelt so alten Greger, und auf einmal ist nichts wie vorher...-

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Han­ne-­Vi­be­ke Holst

Nächsten Som­mer

 

 

SAGA Egmont

Ebook-Kolophon

Hanne-Vibeke Holst: Nächsten Sommer. Aus dem Dänischen übertragen von Gabriele Haefs. Titel der dänischen Originalausgabe: Til sommer © 1985 Hanne-Vibeke Holst. Die Originalausgabe erschien 1985 bei Gyldendal, Kopenhagen. Deutsche Erstausgabe: © 1992 KeRLE im Verlagd Herder Freiburg, Wien. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2020 SAGA Egmont, All rights reserved.

ISBN: 978-87-26-56959-9

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Erstes Kapitel

»Ach, Louise, darf ich dir eine Rose in die Haare stecken?«

»Eine Rose? Du spinnst! Natürlich nicht.«

»Eine gelbe. Du würdest aussehen wie eine Prinzessin.«

Stine griff mit einer Hand in Louises lange blonde Haare.

»Stine, wir haben keine Zeit. In einer halben Stunde kommen sie angetobt und du sitzt hier rum und faselst von Rosen.« Louise knetete genervt das Hackfleisch. »Und du musst doch langsam kapiert haben, dass Rosen in den Haaren und Ringe in der Nase nichts für uns hier oben in Jütland sind, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen«, fügte sie hinzu und gab Salz und Pfeffer in die Schüssel.

»Wenn man sich so aufführen müsste, wie das hier üblich ist, würde man vor Langeweile bald krepieren«, sagte Stine und kippte lässig ein halbes Glas Thymian dazu.

»Das soll wohl nach irgendwas schmecken, ja?«, meinte Louise trocken und versuchte den Gewürzberg mit einem Teelöffel zu entfernen.

Stine seufzte resigniert.

»Dann lass mich wenigstens deine Nägel schwarz lackieren.«

»Nix«, sagte Louise abweisend. »Und wie wär’s, wenn du mir kurz mal hilfst diese Frikadellen zu braten? Es ist immerhin dein Fest. Wo habt ihr eine große Pfanne?«

»Keine Ahnung. Schau doch mal im Fach unter dem Herd nach.«

Stine schüttelte eine Flasche Nagellack, die sie aus dem Kühlschrank geholt hatte. »Nur die Zehennägel. Das sieht ja doch keiner«, schmeichelte sie.

»Quälgeist! Aber es muss ganz schnell gehen, sonst schaffen wir das nie.« Louise ging in die Hocke und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als sie eine große, schwarze schmiedeeiserne Pfanne aus dem Schrank zerrte.

»Habt ihr hier eine Volksküche gehabt?«, fragte sie und knallte die Pfanne auf den Herd.

»Ne, die hat meine Mutter irgendwann mal gekauft, als sie in eine Wohngemeinschaft ziehen wollte. Jetzt komm her und setz dich, Baby.«

Louise stieg resignierend aus ihren Sandalen und setzte sich an den großen Kiefernholztisch, der von Salatköpfen, Tomaten, zwei Schüsseln Kartoffelsalat unter Plastikfolie und zwei älteren Zeitungen geradezu überquoll.

Stine schob ihren Stuhl ganz dicht an sie heran und nahm Louises Füße auf ihre Knie.

»Du hast so elegante Füße. Du solltest zum Ballett gehen.« Stine beugte sich über Louises Füße und achtete sorgfältig darauf, dass sich der schwarze Lack gleichmäßig auf den kleinen Nägeln verteilte und nicht an den Zehen kleben blieb.

»Jaja. Und Einrad fahren und Feuer fressen. Du hast immer so viele gute Ideen.« Louise lächelte und steckte sich eine Zigarette an.

»Ach, ist das vielleicht nicht lustiger als deine Jazzgymnastik für Fortgeschrittene und Porzellanmalerei an der Volkshochschule? Kann ich mal ziehen?« Stine blickte von Louises linkem Fuß auf und öffnete den Mund, damit Louise ihr die Zigarette zwischen ihre knallroten Lippen stecken konnte.

Louise erwiderte das Lächeln, während sie Stine betrachtete, die sich wieder mit zusammengekniffenen Augen ganz darauf konzentrierte, ihre Nägel zu lackieren.

Manchmal überlegte sie sich, wie öde alles gewesen war, ehe Stine vor zwei Jahren an einem Augustmorgen in die Stadt gekommen war. Dieses todtraurige Erdloch, in dem Louise ihr ganzes Leben verbracht hatte, bekam plötzlich einen Hauch von großstädtischer Schrillheit. Es konnte sogar witzig sein, in die Schule zu gehen.

Stine kam aus Kopenhagen und war nur unter Protest mit ihren Eltern hergezogen. Ihre Mutter war Keramikerin und ihr Vater unterrichtete am Lehrerseminar und plötzlich waren sie auf die Idee verfallen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren oder so ähnlich.

Louise vergaß nie, wie sie Stine zum ersten Mal gesehen hatte. Am allerersten Schultag in der ersten Gymnasiumsklassea, wo alle mit frisch gewaschenen Haaren und sauberen Fingernägeln dasaßen, völlig verwirrt registrierten, dass sie jetzt aufs Gymnasium gingen, und niemand etwas zu sagen wagte aus Angst sich zu blamieren, kam Stine eine Viertelstunde zu spät.

»Hallo, ich heiße Stine. Ist das hier, wo die 1 g sich anöden soll?«, fragte sie frech, als sie den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Wenn du das so formulieren möchtest, dann ja«, hatte der Lehrer geantwortet. »Ansonsten kommst du eine Viertelstunde zu spät.«

»Ach? Das mach ich immer«, hatte Stine mit flachem Kopenhagener Akzent erwidert und der Name des Lehrers, der in Blockschrift an der Tafel stand, wäre fast herabgerieselt.

Alle starrten diesen exotischen Vogel, der sich in einem Schwarm von grauen Spatzen niedergelassen hatte, mit offenem Mund an.

Stines Haare waren leuchtend hennarot gefärbt, ihr ärmelloses T-Shirt war neongrün, ihr Tüllrock schenkelkurz und ihre spitzen Stilettopumps aus imitiertem Schlangenleder. Aber das Faszinierendste war die herzförmige Sonnenbrille, die sie nicht abnahm.

Louise war genauso gelähmt wie der Rest der Klasse, aber sie musste sich trotzdem auf die Lippen beißen, um nicht laut loszuprusten. Stine war die witzigste Frau, die sie je gesehen hatte. Und als Stine sich ohne zu zögern neben Louise setzte, stand einfach fest, dass sie Freundinnen werden würden.

»Jetzt hast du wirklich verdammt fetzige Zehen.« Stine betrachtete ihr Werk voller Bewunderung, nachdem sie die Zehen zweimal mit Lack überzogen hatte.

»Und was soll ich damit anfangen?«, fragte Louise und öffnete eine Flasche Wein. »Du weißt doch genau, dass in der Klasse nichts Lohnendes sitzt. Carsten ist entweder blau oder bekifft und außerdem traut er sich nicht mit Frauen über zwölf zusammen zu sein. Und Hans ist noch nicht in die Pubertät gekommen und interessiert sich ohnehin nur für Tut.«

»Du hast wohl Anders vergessen.« Stine streckte ihren linken kleinen Finger aus, der auch eine Lackschicht bekommen hatte.

»Anders! Hast du den eingeladen? Der kommt doch sonst nie?«, fragte Louise überrascht.

»Dann wird’s aber höchste Zeit, dass er mal ins Warme kommt. Wir brauchen frisches Blut hier in der 3 g, wir haben doch den ganzen Markt schon durchgekämmt. Außerdem ist er absolut nicht so prüde, wie wir uns einbilden. In diesem Sommer haben sich seine Augen irgendwie verändert. Es sind so richtige Schlafzimmeraugen geworden«, sagte Stine und hob mit viel sagendem Gesicht ihr Glas.

»Meinst du, er war mit der Kuhmagd im Heu?«, kicherte Louise.

»Mmm. Der Knabe hat jedenfalls verborgene Talente . . .«

Stine hatte offenbar vor, sich genauer mit ihrer Theorie zu befassen. Jedenfalls sorgte sie dafür, dass sie beim Essen neben Anders sitzen konnte. Je mehr sie trank, desto schamloser flirtete sie.

Sie zog sämtliche Register und ließ Kopenhagener Sprüche los, lehnte sich an ihn und legte sogar kokett eine Hand auf seinen Arm.

Anders ließ sich alles gefallen, nickte und sagte an den richtigen Stellen ja und nein und schob sich ansonsten eine Portion Frikadellen mit Kartoffelsalat nach der anderen ein. Er wirkte weder besonders verlegen noch besonders interessiert.

Louise saß den beiden gegenüber und amüsierte sich, während sie Stines Charme-offensive beobachtete. Sie musterte Anders eingehend und fragte sich, ob Stine Recht haben könnte. Vielleicht hatte er sich verändert? Sah er nicht irgendwie männlicher aus? Mit breiten Schultern, richtigen Pranken und einem markanteren Gesicht?

Oder vielleicht sah er ja auch schon länger so aus? Plötzlich ging Louise auf, dass er ihr vorher noch nie besonders aufgefallen war. Er gehörte zu diesen stillen Typen vom Land, die jeden Tag früh mit dem Bus kamen und gleich nach Schulschluss nach Hause fuhren. In den zwei Jahren, die sie zusammen in die Klasse gingen, war Anders nie auf ein Bier mit ins Café gekommen oder abends mit ins Kino gegangen.

Er schien ganz nett zu sein, das war es nicht. Er sah nur so aus, als ob er am liebsten seine Ruhe hätte. Und er musste wohl auch zu Hause seinem Vater auf dem Hof helfen.

»Was glotzt du so?«, fragte Stine halblaut quer über den Tisch. »Ich hab ihn zuerst gesehen.«

Anders musste das gehört haben, aber er ließ sich nichts anmerken und aß weiter.

»Prost!«, sagte Louise und bemerkte zu ihrem großen Ärger, dass sie rot wurde, als Anders sein Glas hob und ihr zuprostete. Sonst wurde sie nie rot. Sie wurde mit jeder Situation fertig und war einfach cool. Dafür war sie bekannt und deshalb war sie auch im letzten Jahr zur Schulsprecherin gewählt worden. Sie konnte einfach so ein Podium betreten und fünfhundert Menschen erzählen, wie die Weltsituation heute aussah und dass sie am nächsten Tag gegen Einsparungen im Bildungsbereich demonstrieren sollten.

In den ersten beiden Gymnasiumsklassen hatte sie sich in allen Fragen des Schülerrates sehr engagiert und sich total für die Politik interessiert. Jeden Nachmittag studierte sie die Zeitungen und lernte eine Menge Fremdwörter, die sie bei den Beratungen des Schülerrates und im Sozialkundeunterricht abfeuern konnte. Alle, außer Stine, waren zutiefst beeindruckt von ihr. Stine konnte nicht begreifen, dass Louise ihre Zeit mit solchem Unfug vergeudete.

Und jetzt tat sie das auch nicht mehr. Die endlosen Verhandlungen mit dem Rektor über die Farbe des Toilettenpapiers, über die Mensapreise und über den Zeitpunkt, an dem die Schulfeste aufhören mussten, ödeten sie an. Im Grunde durfte sie ja doch keinen Pups selber bestimmen.

Nein, in der 3 g wollte sie sich auf die Schule konzentrieren und einen guten Notendurchschnitt erzielen, um sich nicht mit irgendeiner zweit- oder drittklassigen Ausbildung begnügen zu müssen. Vielleicht würde sie auch Zeit finden, mehr zu zeichnen und mit Stine zu quatschen.

Dass sie sich etwas zurückhielt, konnte vielleicht auch ihr Image verbessern. Die anderen hielten sie ja für einen kalten Fisch, sie trauten sich kaum mit ihr zu reden.

Sie war aber kein kalter Fisch. Wenn sie selber Zweifel hatte, fragte sie Stine und die bezeichnete sie immer als Powerfrau. Stine hatte selbst teuflisch viel Power, vielleicht waren sie deshalb so gute Freundinnen.

»Louise, möchtest du eine rauchen?« Stine schob eine schwarze Zigarettenpackung zu ihr hinüber. Louise lächelte und nahm sich einen der schwarzen Glimmstängel mit dem Goldmundstück. Stine hatte also wirklich etwas vor. Die Marke ›Sobranie‹ kaufte sie nur zu bestimmten Gelegenheiten, wenn sie irgendeinem Typen imponieren und als Dame von Welt auftreten wollte.

Während Louise rauchte und wie üblich versuchte Ringe zu blasen, saß sie still da und betrachtete die anderen am Tisch. Sie hatten fertig gegessen und die Teller weggeschoben, sie rauchten und tranken und redeten alle durcheinander. Alle Feste waren gleich, immer lief dasselbe Spiel ab. Hans begrapschte wie immer Tuts Oberschenkel und sie entfernte wie üblich seine dünne, sommersprossige Hand von ihren Jeans.

Tut war die Puppe der ganzen Schule. Eine süße, kleine Maus mit weichen Locken und großen braunen Augen mit dichten, langen Wimpern. Louise war immer noch ganz hingerissen, wenn sie sah, wie diese Wimpern sich öffneten und schlossen. Hans war in sie verliebt, seit sie aufs Gymnasium gekommen waren, und ebenso lange hatte Tut ihn abgewiesen. Sie wollte nur große, starke Männer, die sie beschützen konnten, wie ihre Brüder das immer gemacht hatten. Bis auf weiteres wartete sie darauf, dass der Prinz auf seinem Schimmel am Horizont auftauchte. Louise und Stine machten sich ziemliche Sorgen, wer wohl kommen und diese kleine Kirsche pflücken würde.

»Kannst du dir sparen, Hans, ich hab dir doch gesagt, dass das alles nichts bringt«, sagte Carsten und öffnete mit dem Gabelstiel sein fünftes Bier. Das Bier schäumte über und spritzte auf den Teller, auf dem Carsten vorher schon seine Asche über den Kartoffelsalatresten abgeschlagen hatte.

»Schwein!«, rief Lene und warf ihm einen ihrer mörderischen Blicke zu, die exklusiv für ihn reserviert waren. Die beiden konnten sich einfach nicht ausstehen. Lene wohnte mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder zusammen und fühlte sich von der Gesellschaft überaus ungerecht behandelt. Carsten war der Sohn eines Oberarztes und wurde pausenlos von vorn bis hinten von seiner frustrierten Mutter bedient. Sie stritten sich immer wieder, wer von ihnen am übelsten dran war.

Auch Louise hatte sich schon hundertundsiebzehnmal mit ihm gestritten. Er konnte so provozierend sein, dass sie vor Wut losheulte. Einmal auf einem Fest hatte er im Suff behauptet, in sie verliebt zu sein. Seither benahm er sich ihr gegenüber nur noch übler, während sie versöhnlich geworden war, weil es ihm so schlecht ging. Er war so selbstzerstörerisch, schwänzte die Schule und trank und rauchte ununterbrochen. Während er mit seiner Igelfrisur dasaß und negative Wellen durch den ganzen Raum sendete, konnte sie trotz ihrer Gereiztheit Mitleid mit ihm haben. Er war tierisch begabt und hatte so viele Chancen, aber jetzt zerstörte er langsam alles.

Im Vergleich zu Carsten war Anders die reinste Milchreklame. Kerngesund. Und dänisch.

Er sammelte jetzt die Teller ein und auf dem Weg zur Küche flatterte Stine um ihn herum. Louise stand auf, um Maja und Anne beim Spülen zu helfen. Aus irgendeinem Grund blieb diese Arbeit immer an den beiden hängen. Sie waren zwei etwas zurückhaltende Mädchen, die Louise lange für strohlangweilige Hausmütterchen gehalten hatte. Aber sie waren wirklich witzig, wenn sie erst wagten sich ein bisschen gehen zu lassen.

Stine war blau. Knatschbesoffen. Später, als sie zu den uralten Jazz- und Rockplatten von Stines Vater tanzten, kam sie zu Louise, die am Regal stand, herübergetorkelt.

»Kannst du mir nicht helfen?«, fragte sie und legte Louise die Arme um den Hals.

»Wobei?«, fragte Louise und stützte sie.

»Bei ihm! Ich komm bei ihm einfach nicht weiter. Alles, was ich gelernt habe, kann ich mir sonst wohin stecken. Aber ich weiß, ich weiß, er ist der reinste Vulkan!« Stine blickte sie aus verhangenen Augen an.

Louise drückte sie liebevoll an sich und lehnte sie gegen das Lexikon der dänischen Sprache in achtundzwanzig Bänden.

»Ach, Louise, was soll ich mit Männern, wenn ich dich habe!«, sagte Stine, glitt langsam am Regal hinab und ging mit einem Plumpsen zu Boden.

Tut setzte sich neben sie und Louise ging zur Toilette. Sie bürstete sich die Haare und klaute einen Tropfen vom Parfüm von Stines Mutter. Sie wollte mit Anders tanzen. Er war der Einzige, mit dem sie überhaupt tanzen wollte.

Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, saß er zwischen Maja und Anne auf dem Sofa und lachte und quatschte. Sie kannten sich schon lange, waren zusammen zur Grundschule gegangen und schienen sich köstlich zu amüsieren.

Louise nahm einen tiefen Schluck Wein und wollte zu ihm hinübergehen. Aber plötzlich schien die Entfernung zwischen ihnen größer und größer zu werden. Es war einfach unmöglich, das Sofa zu erreichen. Was sollte sie ihm sagen? Und warum wollte sie unbedingt mit ihm tanzen?

Stattdessen tanzte sie mit Hans und Lene, behielt Anders aber die ganze Zeit im Auge. Sie konnte ihn ja immerhin nach der Ernte fragen. Sie trank etwas mehr, ihr wurde schwindlig und sie sank in einen tiefen Ledersessel. Mit geschlossenen Augen nahm sie sich vor einfach zu ihm zu gehen und zu fragen: »Na, was macht die Ernte? Willst du tanzen?« – Nein, dann würde er sie ja für restlos verblödet halten.

»Wollen wir tanzen?« Louise fuhr zusammen, als Anders plötzlich vor ihr stand.

»Was macht die Ernte?«, fragte Louise und glotzte ihn blöd an.

»Die Ernte?« Er sah überrascht aus. »Die läuft sehr gut. Interessierst du dich für Landwirtschaft?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln.

»Na ja, nicht besonders«, murmelte sie. »Ach, ich hab sicher einen Schwips«, fügte sie hinzu und nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte.

Ehrlich gesagt, war sie ganz schön beschwipst, das merkte sie, als sie tanzten und ihre komplizierten Schritte sich verhedderten. Sie und Stine hatten sich nämlich einige Serien ausgedacht, mit der sie samstagabends in der Disko auf der Tanzfläche die Schau abrissen. Sie endeten immer mit einem heißen, nassen Kuss, der sämtliche Zuschauer verärgern konnte. Stine liebte Provokationen.

Louise gab die wilden Schritte auf und lehnte sich stattdessen an Anders. Er war warm und roch gut. Frisch gewaschen und frisch gebügelt. Sein Körper war muskulös und knochig, es war schön, seine Hände auf den Hüften zu fühlen.

»Dann nimm ihn doch, zum Teufel!« Stine kam an ihnen vorbei, als sie schon lange tanzten. Louise zwinkerte ihr hinter Anders’ Rücken zu. Das ließ sich wirklich als gute Freundschaft bezeichnen.

»Wo du dich doch so für Landwirtschaft interessierst, kommst du vielleicht mit raus, das Korn ansehen?«, fragte Anders, während sie darauf warteten, dass Stine und Carsten sich über die nächste Platte einig wurden.

Louise nickte und ging mit ihm durch das verschachtelte Haus von Stines Eltern. Es war ein stillgelegter Hof, dessen Wohngebäude umgebaut und erweitert worden war. Hier hatte eine WG gewohnt und in einem der Flügel, in dem Stines Mutter jetzt ihr Atelier hatte, eine Druckerei betrieben.

»Ich hab noch eine Flasche oben im Wagen, wollen wir die holen?«, fragte Anders, als sie auf dem kiesbestreuten Hofplatz standen.

Louise nickte. Sie hatte zwar schon gut getankt, aber es reichte noch lange nicht aus.

»Was für ein Straßenkreuzer!«, kicherte sie, als sie das Auto, einen alten Opel Rekord, erreicht hatten.

»Aber der kann noch fahren und ich kann das nicht, deshalb kann ich heute keinen Ausflug mit dir machen«, sagte Anders. Er schloss das Auto auf und nahm die Flasche vom Vordersitz.

»Ein andermal also?«, fragte Louise und legte den Kopf schräg wie ein affektiertes Schulmädchen.

»Das weiß man nie«, antwortete er und schlug die Wagentür zu.

Sie gingen ein wenig den Weg hoch und über ein abgesengtes Kornfeld. Es war so neblig, dass sie einander kaum sehen konnten. Louise stolperte über einen Stein und Anders packte sie und ließ ihre Hand nicht los, als sie weitergingen. Anders trug die Flasche und ab und zu reichte er sie ihr und sagte »Prost!« und davon abgesehen sagten sie lange Zeit nichts.

»Ist es nicht seltsam, dass wir noch nie miteinander geredet haben?«, fragte Louise schließlich leise im Nebel, der sie einzuhüllen schien wie ein beschützender Teppich. Man konnte so viel sagen, weil man unsichtbar war.

»Nö, ist es sicher nicht. Du bist ja immer so beschäftigt und ich habe meine eigenen Angelegenheiten und deshalb weiß ich eigentlich nicht, wann wir uns hätten unterhalten sollen«, antwortete er und reichte ihr die Flasche, nachdem er selbst einen Schluck genommen hatte.

»Andererseits wundert es mich gar nicht, dass wir jetzt herumwandern«, fügte er nach einer Weile hinzu und drückte Louises Hand. »Ich mag dich sehr gern.«

»Danke, gleichfalls«, antwortete Louise. »Du bist nett.«

Sie machten kehrt. Es war kalt, Louise fror in ihrem dünnen T-Shirt und Anders legte den Arm um sie.

Als sie das Haus erreicht hatten, stiegen die anderen gerade in ein Gruppentaxi. So kam es immer. Zuerst betrank man sich auf einem Fest, dann zog man in die Stadt.

»Kommt schon, ihr könnt’s noch schaffen!« Tut und Stine hingen aus den Fenstern und brüllten ihnen entgegen.

»Willst du mit?«, fragte Louise.

Anders schüttelte den Kopf und Louise rief, die anderen sollten einfach fahren. Sie würden nachkommen.

»Vergiss es, das kennen wir schon!«, rief Stine und winkte, als das Taxi vom Hof fuhr.

»Warum wolltest du nicht mit?«, fragte Louise, als sie allein vor dem Haus standen.

»Ich muss bald nach Hause. Ich muss morgen doch früh aufstehen. Die Ernte, du weißt schon«, sagte er mit schiefem Lächeln.

»Aber du kannst doch jetzt nicht fahren!«, meinte Louise.

»Können wir nicht einen Kaffee kochen? Dann bin ich sicher bald wieder nüchtern.«

Sie gingen in die warme Küche. Louise setzte Wasser auf und Anders nahm sich eine Frikadelle aus dem Kühlschrank.

Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, stellte Louise sich zum Aufwärmen an den Herd. Sie lächelte Anders verlegen an, sie waren so plötzlich in dieses grelle Licht gekommen.

Anders ging zu ihr, nahm still ihr Gesicht zwischen seine Hände, schob die Haare beiseite und küsste sie. O ja. Darauf hatte sie den ganzen Abend gewartet.

Das Wasser fing an zu kochen. Louise trat beiseite, um ihren Rücken vor dem Dampf zu schützen.

»Willst du unbedingt Kaffee?«, flüsterte sie und zupfte mit den Lippen an seinem Ohrläppchen. Er schüttelte den Kopf, Louise drehte die Platte hinter sich ab und zusammen gingen sie die Treppe zu Stines Zimmer hinauf. Louise war sicher, dass Stine ihr verzeihen würde, als sie das Licht einschaltete, die Bettdecke zur Seite schlug und sich, mit Anders über sich, aufs Bett fallen ließ.

Zwei Stunden später wurden sie von Carsten, Hans, Lene und Stine geweckt, die am Fußende lachten und johlten.

»Ihr habt’s euch ja gemütlich gemacht! Und das in meinem Bett!«, sagte Stine und versuchte verärgert zu klingen.

»Mmm.« Louise hatte die Decke ans Kinn gezogen und betrachtete sie schläfrig aus zusammengekniffenen Augen.

»Seht mal, was ich gefunden habe!« Hans richtete sich vom Boden auf und ließ triumphierend Louises Unterhose an einem Finger durch die Luft wirbeln.

Louise war das peinlich und sie verbarg ihr Gesicht in Anders’ Armhöhle. Er lächelte sie an und zwinkerte Hans zu.

»Da hast du uns ja wirklich die Tour vermasselt, alter Junge. Also ist sie vielleicht doch nicht frigide?«, fragte Carsten sarkastisch.

Lene stürzte sich augenblicklich auf ihn und Stine meinte, sie müsste jetzt aber wirklich nach unten gehen und Kaffee trinken, ehe sie alles bereute und sie hinausschmiss. Louise warf ihr eine dankbare Kusshand zu, als sie sich davonmachten.

»Danke für heute Nacht«, flüsterte Anders und drückte sie an sich, als sie wieder allein waren.

»Ebenfalls«, lächelte Louise und streichelte seine Brust. Die war glatt, aber es breitete sich langsam eine Kolonie lockiger Haare aus.

»Ich muss jetzt nach Hause.« Er gähnte und reckte sich träge.

»Wann sehen wir uns?«, fragte Louise. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass er gehen wollte. Es war lange her, dass sie das Gefühl gehabt hatte, so eng mit jemandem zusammen zu sein. Meistens war der erste Abend eine triste Angelegenheit. Manchmal hatte sie sich vor sich selber geekelt und sich einfach so schnell wie möglich verdrückt.

»Morgen um 8 Uhr 15, falls du nicht wie üblich zu spät kommst.« Er stand auf dem Boden und suchte im Kleiderhaufen nach seiner Unterhose.

»Du hast aber wirklich fetzige Zehen«, bemerkte er, als er ihren Fuß mit den schwarz lackierten Nägeln sah, der unter der Decke hervorlugte.

»Gott, die hatte ich ganz vergessen!«, rief Louise, hob den Kopf vom Kissen und musterte Stines Werk. »Hast du was dagegen?«

»Nein, du bist spitze. Wir sehen uns«, sagte er und beugte sich über sie. Er küsste sie hastig, aber zärtlich, dann ging er und schloss leise die Tür hinter sich.

Louise blieb liegen und lauschte ihm nach, als er die Treppe hinunterging, sich von den anderen verabschiedete, den Rekord anließ und durch den knirschenden Kies den Weg hinauffuhr.

Als er gefahren war, kam Stine zurück und kroch neben ihr ins Bett. »Hier riecht’s ja himmlisch«, sagte sie und machte es sich dort gemütlich, wo vorhin Anders gelegen hatte. »Hab ich nicht Recht gehabt, er ist ein Spitzenfang?«

»