Meerjungfrau sucht Mann fürs Leben - Hanne-Vibeke Holst - E-Book

Meerjungfrau sucht Mann fürs Leben E-Book

Hanne-Vibeke Holst

3,8

Beschreibung

Der zweite Band der bejubelten Therese-Reihe aus Dänemark: Die erfolgreiche Journalistin Therese erwartet bald ihr erstes Kind und ist stolz darauf, Kind und Karriere meistern zu können, da ihr Lebensgefährte Paul sich als Hausmann angeboten hat. Doch dann bekommt Paul ein unglaublich gutes Jobangebot, das er es nicht ausschlagen kann, und auf einmal zerfällt Thereses Kartenhaus. Doch Träume können trotzdem in Erfüllung gehen!-

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Hanne-Vibeke Holst

Meerjungfrau sucht Mann fürs Leben

Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt

Saga

Meerjungfrau sucht Mann fürs Leben ÜbersetztChristel Hildebrandt OriginalDet virkelige livCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1994, 2020 Hanne-Vibeke Holst und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569575

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Für die Frauen in meinem Leben

Meine Mutter bekam ihre Wehen im ersten Akt von »Nora oder Ein Puppenheim«, sie spielte unbeeindruckt weiter und hätte fast einen Monat zu früh auf offener Bühne ein Kind geboren.

Birgitte, meine Busenfreundin, wachte eines Morgens in einem Meer auf und fuhr in erhabener Ruhe mit Jens, dem Zeichendreieck, der sich an sein Mobiltelefon klammerte, ins Krankenhaus und ich – ich gebäre überhaupt nicht.

Wenn man die ganze Geschichte betrachtet, schon reichlich ironisch, daß ich jetzt die 41. Woche hinter mir habe, ohne, wie es so schön nüchtern auf Englisch heißt, delivered zu haben. Rein klinisch gesehen bin ich ansonsten als reif beurteilt worden. Der Gebärmutterhals ist auf dem Weg, sich zu verwischen, der Schleimpfropfen ist abgegangen und das Fleisch weich und gefügig. Das Kind hat sich schon seit langem gedreht, sein Kopf steht wie ein eingeschraubter Baseball fest zwischen meinen Schenkeln, und sein Gewicht scheint um die 3400 g zu liegen. »Das fühlt sich da einfach nur wohl!« erklärte Birgitte fröhlich, und Paul erinnert mich daran, daß ich ein Wunder in mir trage. »Wir hätten es ebensogut verlieren können!«

Ja, und ich bin die erste, die dieses Wunder preist. Auf einer Bahre nach Hause geflogen, auf der Landebahn mit einem Krankenwagen abgeholt und im Krankenhaus von einem instruierten Team mit finsteren Mienen empfangen zu werden und danach mit der Diagnose »vorzeitige Wehen« zwischen weißen Wänden und ergreifenden Schicksalen auf einer gynäkologischen Abteilung für Wochen eingesperrt zu werden verändert dich. Du wirst demütig. Das Leben ist nichts Selbstverständliches mehr. Weder das eigene noch das, welches du hervorbringst. Deshalb ist es nicht Undankbarkeit oder kindische Ungeduld, die mich den Gynäkologen immer wieder fragen läßt, wann zu erwarten ist, daß die Geburt beginnt, und warum ich nicht schon längst geboren habe. Im Gegenteil, es ist die Angst, daß sich das Drama wiederholen könnte. Daß ich doch noch für mein unbedachtes Moskau-Abenteuer bestraft werde, daß ich nur nicht glauben soll, ich könnte so einfach davonkommen. Ich bin ja mit dem Schrecken davongekommen, habe die Krise überstanden und bin mit einem Urin, klar wie Wasser, gesund geschrieben worden, mit einem Blutdruck wie eine keusche Jungfrau und einem Fötus, der nach allen Untersuchungen, Ultraschallbildern und den Zeichen von Sonne und Mond, von denen sich kein moderner Mediziner gänzlich loszusagen traut, vollkommen unbeschadet und normal sein soll.

Aber wie damals, als ich als junges Mädchen von einem Lastwagen auf dem Rad angefahren wurde und mir einen Fuß gebrochen hatte und danach viel mehr damit beschäftigt war, den schockierten Fahrer zu trösten, als mich um mein eigenes Unglück zu kümmern, kam die Reaktion auch jetzt erst später. Damals traute ich mich ein halbes Jahr lang nicht, mich auf mein neues Rennrad mit zehn Gängen zu setzen, das ich als Ersatz für mein lädiertes bekommen hatte. Und als die Phobie endlich überstanden war, hatte meine Schwester Kiki das Rad geklaut und nach Christiania geschleppt, wo es spurlos verschwand.

Während ich auf der Station lag, war ich auch diejenige, die die ganze Situation am entspanntesten ertrug. Ich, die Paul lautstark versicherte, daß alles gutgehen würde. Ich, die unter keinen Umständen zulassen wollte, daß Mutter ihren und Freddys Toskana-Urlaub abbrach und ich, die Seelsorgerfunktionen für die urlaubsreifen Krankenschwestern übernahm, welche kollektiv vom schlechten Gewissen geplagt waren, weil sie mit tiefem, menschlichem Leid gezwungenermaßen oberflächlich und zeitweise sogar brutal umgehen mußten. Sie schimpften, als sie im Bett meiner Zimmernachbarin Agnes Kaffeesatz fanden, da diese in einem verzweifelten Versuch, zum vierten Mal ein Kind zu behalten, den Anweisungen einer westjütländischen Quacksalberin gefolgt war und ihren Bauch mit Gevalia Kaffeepulver eingerieben hatte. Aber sie heulten, wie der ganze Rest der Station, als sie recht behielten. Auch dieses Mittel war wirkungslos.

Mit Agnes mußte man einfach Mitleid haben. Wie auch mit den Drogenmüttern, einige von ihnen mit Aids im akuten Stadium. Mit den Diabetikerinnen und den Herztransplantierten, die, koste es, was es wolle, darauf bestanden, ihre Schwangerschaft auszutragen. Aber als sogar der General himself, mein schroffer Chef, im Krankenhaus auftauchte, zur Hälfte hinter einem riesigen Korb mit Rotwein, Schokolade und exotischen Früchten verborgen, und mich teilnahmsvoll nach meinem Zustand fragte, hatte ich wirklich das Gefühl, daß die Gerüchte über meinen kurz bevorstehenden Tod reichlich übertrieben waren. Das antwortete ich ihm, dekoriert mit einem schiefen John-Wayne-Lächeln, das ihm beweisen sollte, daß good old Tes ihre Power nicht verloren hatte, und bald wieder im Sattel sitzen würde. Er lächelte anerkennend über den Versuch, Tränenhasser, der er war, tätschelte mir aber dennoch den Handrücken und forderte mich auf, es ruhig angehen zu lassen.

»Es kann ja sein, daß du nur noch eine Kugel im Lauf hast, Missie!«

Ungefähr das war auch der Inhalt der Entlassungspredigt, die ich vom Professor mit auf den Weg bekam.

»Ich erlaube Ihnen nur, hier wegzugehen, wenn Sie mir versprechen, sich zu pflegen! Und damit meine ich absolute Ruhe! Unsere gemeinsamen Anstrengungen sollen doch nicht vergebens gewesen sein, oder?« sagte er und überreichte mir eine Krankschreibung mit einem Blick, der von mir zu Paul und zurück zu mir wanderte. Und mir war in der Zwischenzeit klargeworden, daß dieser ziemlich einzigartig gewesen war. Paul meine ich. Nicht jeder Typ steht drei Wochen lang jeden Tag, ohne zu mucken, in der gynäkologischen Abteilung habacht in dem heißesten Sommer der letzten fünfzig Jahre, um aufzumuntern und die schwüle Langeweile zu vertreiben, in der wir ansonsten dahindösten. Aber Paul bedeutete, wie meine Mitpatientinnen mir anvertrauten, für »uns alle zusammen« ein erfrischendes Ereignis. »Und außerdem ist er ja ein scharfer Typ. Mit ihm könnte ich es mir sogar noch mal vorstellen, einfach zum Vergnügen«, bemerkte Agnes, während sie ständig brütete. Selbst die Ärzteschaft lebte auf, wenn Paul kam und vor den Europameisterschaften, bei denen Dänemark wegen Jugoslawiens Unglück plötzlich ohne jede Erwartung mitspielen durfte, Wetten organisierte.

Deshalb war ich in der Hitze ziemlich scharf darauf, genau mit diesem Paul und einem immer noch relativ großen Happen an Sommer voller Farben, Duft und Freiheit, aus der Isolation entlassen zu werden, mit Geburtstermin Mitte September. Mir zuliebe hatte er sogar seinen Stolz gegenüber seinem großen Bruder beiseite geschoben und dessen Angebot angenommen, sein hübsches, neu erworbenes Ferienhaus in Hornbaek zu bewohnen, während er mit Marianne und ihrem widerlichen Sproß auf Kreuzfahrt im Mittelmeer war. Zum Glück war das Haus – Phillips »Osterei« für Marianne – immer noch in dem Zustand, in dem der frühere Besitzer es verlassen hatte, das heißt nüchtern und einfach mit Rauhfasertapete, zwei Gasflammen in der Küche, durchgelegenen Matratzen und einem unberührten, wild zugewachsenen Gelände. Paul machte sich sofort daran, das mannshohe Gras mit einer scharfen Sense zu mähen, und in einem Liegestuhl ruhend seinen nackten Oberkörper in der Sonne in kraftvollen, regelmäßigen Schwüngen arbeiten zu sehen machte mich so trocken im Mund und naß im Schritt, daß ich den Liegestuhl verlassen und ihn bitten mußte, mich gleich hier zwischen Geißblatt, Brennesseln und hartem, geschnittenem Gras zu nehmen.

Es war eine neue, sozusagen eher natürliche Art, ihn zu erleben, eine tiefere, innerliche Form des Zusammenschmelzens, wie er zuerst zurückwich aus Angst, dem Kind zu schaden, ich ihn dann aber davon überzeugen konnte, daß das nur gesund wäre ... Worauf er grinste und sich mit einem erdigen Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte – »Wie du willst, Geliebte!« –, und dann waren wir Kuh und Stier mit dem Himmel, der wie ein blaues Viereck auf und ab wippte. So verliefen die Wochen auf dem Land – einfach, unverstellt, wie die Kartoffeln, die wir aus einem überwucherten Beet in einer Ecke des Gartens ausgruben und mit Butter, Dill und geräuchertem Hering aus dem Hafen von Gilleleje aßen. Wir wuschen einander die Haare mit kaltem Wasser, tauchten Erdbeeren in Schokolade und vermieden sorgfältig die Kopenhagener Herde in Hornbaek-Stadt, indem wir uns einfach fernhielten. Mit anderen Worten: Wir waren zum ersten Mal laut Pauls präziser Formulierung Mann & Frau, die Tag und Nacht in intimer Zweisamkeit verbrachten, was wir zuvor stets vermieden hatten, bewußt oder unbewußt. Wir furzten und rülpsten, schnarchten und sabberten, waren morgenmuffelig und mittagsschläfrig, abends geil und konnten nachts nicht schlafen, und in allererster Linie der Gesellschaft des anderen überlassen. Angenehme Gesellschaft, sollte ich hinzufügen, denn das stellten wir auch fest. Daß es uns gut zusammen ging, daß wir auf einer Wellenlänge waren, uns schieflachen konnten, uns nie die Worte fehlten, wir aber andererseits auch keine Angst vor der Stille hatten, wenn wir abends an der Küste entlanggingen und dem Geräusch der Wellen lauschten und sahen, wie die Lichter an der schwedischen Küste angezündet wurden, wenn die Nacht einen Ton dunkler wurde. Und dann eine elementare Sache, die für mich normalerweise der peinliche, kritische Punkt ist: der Körper. Mein heimlicher Ekel vor dem Körper des Geliebten. Schlaffe Pobacken, eine hängende Schulter, zu plumpe Figur oder ein unschöner Schwanz. Aber Pauls Körper liebte ich. Ihn anzusehen, an ihm zu schnüffeln, ihn zu berühren. Er ist auf eine fast feminine Art und Weise schmackhaft, perfekt proportioniert und federnd wie bei einem Jüngling. Und ihn so um mich zu haben, moschusduftend, mit nackten Zehen in den Espadrilles, war genau eines dieser sensuellen Sommervergnügen, denen mich zu öffnen er mich lehrte. Er versuchte auch, mir ein zusammenhängendes Grundwissen über die französischen Philosophen beizubringen, während ich tastend die Tiefen der russischen Volksseele beschrieb. Und während Paul mir Victor Hugos »Die Elenden« auslieh – starkes Buch! –, lieh ich ihm Tschechows Briefe und machte ihn ein wenig eifersüchtig mit meiner Äußerung, daß ich für ihn, Tschechow, immer schon eine Schwäche gehabt hätte. Anton war sanft und fern zugleich, und außerdem fühlte er die Rastlosigkeit und das Zögern, sich an seine geliebte Olga zu binden, das auch ich in diesen Tagen gesättigter Leibesfülle als Unruhe im Blut wiedererkannte, ein plötzliches Kitzeln unter den Fußsohlen, ein Ausspähen nach etwas anderem. Aber Tschechow war nie schwanger, er hatte nie dieses Kind gehabt, das ihn wie ein Sandsack zur Erde ziehen konnte. Und auch nicht diese Erwartung von etwas Großem, das seinem Leben endlich eine Richtung geben konnte.

Denn das Kind war natürlich der Himmelskörper, um den wir uns die ganze Zeit drehten. Unser Lieblingsthema, auf das wir immer wieder zurückkamen. Dort in diesem übersichtlichen Idyll, das Paul als medienfreie Zone bestimmte, erschien es so einfach und selbstverständlich, sich zu reproduzieren. No problem! Wir hatten Ferien, der Preis für Windeln und der Mangel an Krippenplätzen segelten wie Schäfchenwolken an dem ewig blauen Himmel an uns vorbei. Und meine Angst, mich selbst zu verlieren, meine Verteidigung der heiligen Integrität und mein professionelles Über-Ich kamen mir ehrlich gesagt ein wenig übertrieben vor. Warum alles so komplizieren? Paul war ja auch da, ich würde nie im Stich gelassen werden. Ganz im Gegenteil, versicherte er mir. Jeden Tag. Mehrmals am Tag. Zum Schluß fühlte ich mich so apathisch oder wie nach einer Gehirnwäsche, daß ich mein Mißtrauen gegenüber seinem wirklichen commitment zusammen mit den Wolkenformationen wegwehen ließ. Auf den Sand hinaus, wo sich der Zweifel auflöste und zu Luft wurde.

»Es ist ja nun ganz klar, daß das hier nicht das wirkliche Leben ist«, sinnierte ich eines Mittags, während die Hummeln in den Heckenrosen summten und Paul eine Wassermelone zerteilte.

»Wer sagt das?« bemerkte er und legte vier Stücke rotgrüne Melone auf einen angeschlagenen Tonteller. »Du bist jedenfalls nie zuvor so wirklich für mich gewesen, Tes! So nahe, so fruchtbar, liebenswert ohne Abstand ...«

»Oh, wie lyrisch!« richtete ich mich auf, immer empfänglich für jeden Anflug manierierter Gefühlsduselei.

Er reichte mir den Teller.

»Tes, hast du jemals überlegt, wieviel Lärm um uns herum ist? In der Stadt, jeden Tag? Bevor wir hierhergekommen sind, waren wir nie zusammen einfach nur still! In all dem Lärm habe ich dich faktisch gar nicht hören können! Wenn wir nicht hierhergekommen wären, hätten wir nie die Ruhe gehabt, uns kennenzulernen! Ich habe dich gespürt, aber es könnte doch sein, daß ich mich geirrt habe ...«

»You win some, you lose some!« lächelte ich.

Paul biß in die Melone, daß der Saft ihm das Kinn herunterrann. Dann bestand er ernsthaft darauf, sich vor mir in die Hocke zu setzen.

»Du warst ganz genau so schön, wie ich es mir erträumt hatte: Ich liebe dich. Laß uns hierbleiben!«

»Hierbleiben?« fragte ich und gab ihm seine kleinen, bekräftigenden Küsse zurück.

»Hier in diesem Leben. Laß uns aussteigen, bevor es richtig angefangen hat, laß uns einfach und gut leben, das Kind aufziehen, ordentliche Kartoffeln anpflanzen, hier und da ein bißchen schreiben ...«

»Nullwachstumsromantiker!« spottete ich, die selbst einmal davon geträumt hatte, spartanisch in einem südamerikanischen Landwirtschaftskollektiv zu leben. »Wir werden unruhig werden, im Winter einschneien und einander auf die Nerven gehen! Das Kleine wird Bronchitis kriegen und wir in Thermoklamotten herumrennen und meckern, warum kein Geld für Heizöl da ist.«

»Ich bin kein Romantiker, ich bin Realist. Das läßt sich problemlos machen. Wir verkaufen die Wohnung. Du wirst Freelancer, und ich werde Schriftsteller. Wenn du willst ...«

»Das will ich vielleicht in dreißig Jahren! Ich habe keine Lust, mich pensionieren zu lassen, Paul!« sagte ich ärgerlich über das Idyll, das von dieser trivialen Unterhaltung zerstört wurde, die doch im Endeffekt von dem ewig zwischen uns gärenden Konflikt handelte: meinem Verhältnis zu meiner Arbeit.

»Ich finde es schön auf dem Land, aber ich freue mich auch, wieder zurück in die Stadt zu kommen! Denn ganz gleich, was du hoffst oder glaubst, werde ich nie diejenige werden, der es reicht, Rhabarber einzukochen!«

»Okay, du hast recht. Wir gehen zurück und leben unser Surrogatleben in der Metropole. Meine geliebte, geliebte Tes! Aber sage nie, daß es meine Schuld ist!«

Das versprach ich.

»Ich werde schon die Verantwortung für meine Handlungen übernehmen. Und zwar zu jeder Zeit!«

Kurz darauf gingen wir zu einer Telefonzelle und riefen daheim an, um Pauls Anrufbeantworter abzuhören. Auf ihm war ein Anruf von einer Sekretärin von TV 2. Betreffend die Bewerbung, die er vor ein paar Monaten eingesandt hatte. Am nächsten Tag rief er zurück und wurde gebeten, am gleichen Nachmittag zu einem Gespräch nach Kopenhagen zu kommen. Am Abend hatte er das Angebot bekommen, zu Weihnachten als Allroundreporter bei der Kopenhagen-Redaktion eingestellt zu werden.

»Erster Dezember wahrscheinlich. Also haben wir nur ein paar Monate zusammen mit dem Baby«, überlegte Paul, als er aus der Stadt zurückgekommen war und wir mit Weißwein an unserem Lieblingsplatz im Garten anstießen. Es war schwül, der süße Duft von Kamille und herbstreifem Getreide hing schwer in meinen angeschwollenen Nasenlöchern.

»Wir können das Geld gut gebrauchen«, sagte ich vernünftig. »Und wenn du als Freier einen anständigen Monatslohn nach Hause bringen willst, wird es sowieso verdammt hart!«

Paul wippte mit seinem Glas in meine Richtung.

»Sag es nur, Tes. Wenn’s soweit ist, willst du mich sowieso am liebsten aus dem Haus haben.«

»Aber das wäre doch nur schön!« wich ich aus, und mir fiel ein, daß der Sommer im nächsten Moment vorbei sein würde. Dann fielen die ersten Regentropfen seit drei Monaten. Paul runzelte die Stirn, und mehr war nicht notwendig, damit auch mein Launebarometer drastisch sank. So leicht gebaut war mein innerer Deich gegen die seit Monaten aufgestaute Angst, daß er in der gleichen Nacht brach, in der ich mit weit aufgerissenen Augen schlaflos dalag und die Unruhe in mir aufsteigen fühlte, Meter um Meter, um mich schließlich mit eiskaltem Grauen zu überspülen.

»Aber, mein Schatz, wovor hast du denn Angst?« fragte Paul, als ich ihn weckte, um in seiner Armbeuge Trost zu suchen.

»Vor allem«, jammerte ich und schmiegte mich an ihn.

»So, so«, tröstete er, stand auf und kochte mir warme Milch mit Honig. Die trank ich und kam zur Ruhe, und am nächsten Morgen war das Gespenst in die Erde verbannt. Aber in der nächsten Nacht kam sie zurück, die Angst, die vielleicht eine neue Angst vorm Sterben war, eine Verletzlichkeit, die ich nie zuvor gekannt hatte. Und seitdem sind die Nächte voller Furcht, voller Alpträume mit deformierten Geschöpfen, siamesischen Zwillingen, mit Katzenkörpern geboren, einbalsamierten Föten in Schuhkartons. Ich werde von Krämpfen in den Beinen geweckt, muß aufstehen, Wasser trinken, pinkeln und zu mir selbst kommen. Mich zur Vernunft bringen, spüren, wie das Kind den Rücken bewegt und den Fuß streckt, ein lebendes Dementi, das mich im Morgengrauen aus dem Totenreich zurückholt.

Paul meint, es sei Moskau, das mich einholt. Daß ich gezwungen sei, mich der Angst zu stellen, die ich fühlte, als ich kurz davor gewesen war, von meinem ganz besonderen Mafiafreund, Alexander Kuznetsow, umgebracht zu werden. Sascha, unter Freunden.

»Du mußt deine Angst zulassen!« forderte er mich auf, als wäre er in einem Seelenklempnerkurs gewesen. »Du warst kurz vorm Sterben, Lady! Und dann gib doch endlich zu, daß der Krankenhausaufenthalt kein Picknickausflug war! Du mußt nicht immer die starke Frau sein!«

Ich gebe zu, daß ich neben den hormonal bedingten Gemütsschwankungen an den Nachwirkungen eines Schocks leide, wie damals, als ich vom Fahrrad geholt wurde. Ich gebe auch zu, daß die Wochen im Krankenhaus retrospektiv mit einer Reise durch den Vorhof der Hölle zu vergleichen sind. Aber ich bin, was die Strategie angeht, ganz anderer Meinung. Meiner Meinung nach gehört der Urschrei auf den Therapiemarkt, wo die Leute sich herzlich gerne auf dem Boden wälzen und brüllen sollen, wenn sie meinen, das gäbe ihnen einen Kick. Ich persönlich kenne eine sehr viel effektivere und wirksamere Kur: Arbeit.

»Müßiggang ist die Wurzel allen Übels«, antwortete ich auf seine Diagnose, als wir Ende August das Ferienhaus verschlossen, um in die Stadt zurückzukehren. »Ich habe einfach zuviel Zeit. Ich muß was zu tun haben. Ich kann nicht so herumlaufen und warten und von morgens bis abends in meinen Eingeweiden herumwühlen.

»Du hast was zu tun!« beharrte er. »Du mußt ein Nest bauen!«

»I prefer intellectual work!« Ich verdrehte die Augen wie meine russische Freundin Swetlana, die dieses Argument als Entschuldigung für ihre praktische Faulheit zu verwenden pflegt. Übrigens hat sie gerade überglücklich aus Moskau angerufen. Sie hat einen Job als Übersetzerin und Sekretärin in einer amerikanischen Beratungsfirma bekommen, »so soon I’ll be living in New York!«.

Aber ich weiß nur zu gut, daß ich mich nicht weigern kann. Ich muß ein Nest bauen. Während ich im Krankenhaus war, bekam Paul endlich die Carte blanche, um meine Wohnung zu räumen und zu vermieten. Ich war matt und geschwächt und unterschrieb den Mietvertrag mit dem fatalistischen Gefühl, entmündigt zu werden. Und jetzt, hinterher, wo ich eigentlich damit einverstanden bin, daß Paul und ich mit unserem Kind zusammen in seiner Wohnung leben werden, weil sie größer und schöner ist als meine, bin ich dennoch nicht ganz frei davon, mich hintergangen zu fühlen. Wenn es also schon schwierig war, mich zu überwinden, auszuziehen, so ist es noch schwieriger, einzuziehen. Paul hingegen hat den Weg dazu bereitet, indem er rigoros seine eigenen Sachen aussortiert hat, damit Platz für mich ist. Regalplatz, Schrankplatz, Schubladenplatz. Sogar Wandplatz für meine Pinnwand, als ob das einen Unterschied machen würde. Mein Leben als Single ist vorbei, ganz gleich, wie wir die Tatsache auch beschönigen. Als wir auf dem Land waren, war es nur ein undramatischer Entwicklungsschritt, aber hier in der Stadt, wo ich die ganze Zeit mit den Kulissen meines alten Lebens konfrontiert bin, scheue ich vor dem Neuen wie vor einem Hindernis. Ich kann mich nicht zu dem endgültigen Sprung, der Kapitulation, überwinden, wie sinnlos es auch in diesem Stadium erscheint. Also ist mein Leben immer noch in Umzugskartons verpackt, unästhetisch in Pauls hübschen Zimmern aufgestapelt. Irgendwie tue ich, als wäre ich nur zu Besuch und könnte, wann immer ich wollte, mich aus dem Terrain zurückziehen. Zu mir.

Dem Kind gegenüber kann ich mich jedoch merkwürdigerweise einfacher verhalten. Ich kann akzeptieren, daß es vernünftig ist, rechtzeitig einen Kinderwagen zu kaufen, und aufgrund meiner Initiative fahren wir zu einem Babyausstattungsgeschäft am Roskildevej. Ich bin es auch, die Paul unter Druck setzt, den »Gründungskredit« anzunehmen, den Ernst, sein reicher Vater, uns großzügig anbietet. »Zins- und gebührenfrei«, so daß hier von einem regulären Sponsoring die Rede ist, auch wenn Paul sich etwas anderes einbildet. Ich persönlich habe keine Skrupel, im Gegenteil: Ich wüßte nicht, wie wir sonst eine Investition in die Zukunft hätten bewerkstelligen können.

»Weißt du, daß wir uns dieses Projekt eigentlich gar nicht leisten können?« warf ich ein, als wir im Geschäft standen und auf einen Kurier warteten, der Kinderwagen, Wiege, Wickeltisch, Badewanne, Wipper und Babyphone in die Nørre Søgade bringen sollte.

»Natürlich können wir das«, sagte er. »Wenn nicht wir, wer dann?«

»Eine Packung Pampers kostet fast hundert Kronen! Wir werden kaum noch Geld fürs Kino haben!«

Paul lächelte satanisch.

»Wir werden keine Zeit fürs Kino haben!«

Das machen wir dafür im voraus. Und gehen ins Café und in die Galerien, in Geschäfte und in den Wald – und zur Beerdigung eines lieben, pensionierten Kollegen. Er war einer der Grand Old Men der Auslandskorrespondenten, gerecht, humorvoll und so großzügig, daß er gern sein Wissen mit den Jungen teilte, wenn er beim Sender »mal reinschaute«. Ich war eine derjenigen, die er aufgrund ihres Mutes respektierte, aber aufgrund meines Übermutes ermahnte, wie er selbst sagte. Als ich also in der vollen Kirche saß, fiel mir auf, daß ich den feinen, älteren Herrn gern gemocht hatte, und an dem gebeugten Kopf des Generals ein paar Reihen vor mir sah ich, daß auch er gerührt war. Die Witwe dankte hinterher gerührt, daß ich gekommen war und sie an den »Lebenskreis« erinnert hatte, und ihre warme Rede über die Freude nach der Trauer war so unerwartet bewegend, daß ich Paul am Arm packte und ihm sagte, wir müßten sofort gehen.

»Und was ist mit dem Leichenschmaus?« fragte er flüsternd.

»Ich halte es nicht aus. Es ist zu traurig«, brachte ich heraus und entschuldigte meine Unpäßlichkeit. »Das sage ich dir – die Wartezeit geht mir auf die Nerven. Ich muß was zu tun haben! Warum geht es nicht endlich los? Ich bin schon sechs Tage überfällig!«

»Weil du dich nicht traust!« sagte Paul und lotste mich zum Alfa auf dem Parkplatz. Von meinem Platz auf dem Beifahrersitz aus erwiderte ich ein Winken des Generals, der aus seinem heruntergekurbelten Fenster fragte, ob es denn ein Mammut wäre, mit dem ich niederkommen sollte.

»Zwei!« rief ich zurück, während Paul schäumte. »Mußt du mit ihm auf diese Art und Weise flirten?«

»Flirten? Nun mal ehrlich, Paul, du hast doch gehört, was ich gesagt habe. Das war nicht just sexchikane!«

»Er soll mein Kind nicht ein Mammut nennen!« schnaubte Paul daraufhin, während ich lachte.

»Warum schlägst du ihn dann nicht nieder? Ein für allemal?«

»Irgendwann werde ich das auch tun!« sagte er unheilschwanger und trat aufs Gas, daß der Kies unter den Reifen wegspritzte. Paul, sonst die Geduld in Person, gleich, ob ich fettige Haare oder geschwollene Knöchel hatte, unleidlich und empfindlich war, beginnt, mich jetzt auch erwartungsvoll anzusehen, wenn ich eine der langen Vorwehen bekomme, die wir inzwischen »Narrenwehen« nennen. Aber es passierte nichts, so die niederschmetternde Mitteilung, wenn Kiki, meine Schwester, mindestens zweimal am Tag anruft und Mutter überraschend aus den Proben vorbeischaut, um zu hören, ob es etwas Neues gibt. Birgitte hat vorgeschlagen, wir sollten »es losbumsen«, die Prostaglandine im Samen des Mannes wirkten wehenfördernd, was die Ärztin zögernd bestätigte. Aber das erste Mal, seit wir uns kennen, kann Paul nicht. Ganz gleich, welche Verführungskünste ich auftische, er bleibt schlaff wie ausgekochte Spaghetti.

»Nicht, daß du nicht wahnsinnig süß bist«, entschuldigt er sich. »Aber ich habe irgendwie das Gefühl, als wäre das Kleine dabei und würde zugucken.«

Birgitte schnalzt bedauernd mit der Zunge, als sie von seiner Impotenz hört.

»Ihr solltet es aber trotzdem genießen, denn hinterher ist es nie wieder das gleiche!«

Sie begleitet mich ins Kaufhaus, wo wir Strampelanzüge und Unterwäsche in Größe 50 kaufen. Was ich schon lange hätte tun sollen, aber weil ich mich irgendwie immer noch nicht richtig freuen kann, traute ich mich nicht, so vermessen zu sein, mich meinem Kind so stofflich zu nähern. Kinderwagen und die andere Ausstattung würde ich immer wieder verkaufen können, falls ... Aber so ein winzig kleines Unterhemdchen mit Bindeband ...

»Wie süß!« murmele ich mit einem wohligen Schaudern.

»Ja, es ist furchtbar«, sagt Birgitte. »Man vergißt ganz, wie hart es ist!«

Ich ermuntere sie nicht, ihre Behauptungen zu veranschaulichen. Ich weiß, was sie sagen will, und mag nichts mehr von »Vorher« und »Hinterher« hören und all die anderen zum Himmel gerichteten Prophezeiungen, mit denen unter anderem auch sie glänzt. Aber sie fährt unerschütterlich fort. Malerisch, so daß ich gegen meinen Willen grinsen muß.

»Goodbye, Nachtschlaf! Auf Wiedersehen, Sexualleben! Adios, Candlelight-Dinner! Au revoir, Karriere!«

Es nützt nichts, aber ich protestiere dennoch mit dem Hinweis auf die Unterschiede bei den Vätern. Jens befindet sich so oft beim Bau der Brücke über den Großen Belt, daß Birgitte eigentlich als alleinstehende Mutter zu betrachten ist.

»Liebste Birgitte, mein Kind hat auch einen Vater! Einen äußerst präsenten Vater!«

»Das kann schon sein. Aber ganz gleich, wie ihr es euch vorstellt, du bist und bleibst die Mutter!«

Ich schüttle den Kopf.

»Diese neue Mütterlichkeit kannst du dir gern ...«

Im gleichen Moment stoße ich ein Stöhnen aus, klappe zusammen und greife nach ihr.

»Was ist? Geht es los?« fragt sie aufgeregt.

»Nein, das ist nur eine Vorwehe! Manchmal ist es, als schössen sie bis in die Schenkel!« keuche ich.

Birgitte nickt verständnisvoll.

»Glaubst du, Paul hat auch Vorwehen?«

»Phantomwehen!« entgegne ich und frage, ob wir jetzt nicht genug haben. Ich möchte lieber ins Café.

Sie schüttelt erfahren den Kopf und greift nach Unterhosen. »Nein, du brauchst mindestens jeweils fünf Stück. Du machst dir einfach keinen Begriff davon, wieviel diese Neugeborenen scheißen! Die reinste Remoulade, das läuft einfach so raus!«

»Bitte, Birgitte!« verdrehe ich die Augen.

»Aber das stimmt doch! Aber keine Sorge, das wird erst später eklig.«

Wir gehen ins Café Europa – dem einzigen Café in Kopenhagen mit einem Samowar auf dem Bartresen –, und auch wenn es nur ein paar hundert Meter vom Kaufhaus zum Højbro Plads sind, bekomme ich Seitenstiche und Atemnot bei meinem Versuch, mich in einem normalen Tempo zu bewegen. Birgitte senkt das Tempo und schiebt eine Hand unter meinen Arm, so daß wir das letzte Stück wie ein paar ehrwürdige ältere Schwestern meistern. Sie hilft mir auch, mich zwischen den Cafétischen durchzumanövrieren, so daß mein Bauch nicht gerade die Tassen zu Boden fegt, sondern nur den Lederjackenrücken eines jungen Typen streift.

»Toll!« bemerkt der spontan, als er sich umdreht. »Wann ist es soweit?«

»Schon vor hundert Jahren!« sage ich und sinke erschöpft auf einem Stuhl nieder. Ich muß eigentlich pinkeln, aber allein der Gedanke, das ganze Café zu durchqueren und mich eine steile Kellertreppe hinunterzuwinden, um ein Spiegelkabinett von einem Damen-WC zu erreichen, läßt mich lieber darauf verzichten.

Birgitte hat mich der kollektiven Besichtigung überlassen, während sie die Bestellung an der Bar übernimmt. Unglaublich, wie so ein Bauch die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zieht. Von allen Seiten wird hemmungslos geglotzt – auch in der Redaktion, an meinem Arbeitsplatz, wo ich trotz Pauls Gemaule ein paarmal hingegangen bin, um Post zu holen und an Mitarbeiterkonferenzen teilzunehmen. Die Leitung hat Pläne, die Nachrichtensendung auf 21 Uhr zu verschieben, was der General ablehnt und die Vertrauensleute befürworten. Die Mitarbeitergruppe ist gespalten, und ich selbst habe mir keine definitive Meinung bilden können. War dazu irgendwie nicht in der Lage. Was mich selbst beunruhigt: Mein Arbeitsplatz kommt mir schon jetzt fern und nicht mehr mich betreffend vor, und prinzipiell zeugt es von schlechtem Stil, zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hereinzurauschen und der Vertretung über die Schulter zu gucken. Ras, der Auslandsredakteur und mein direkter Vorgesetzter, sagte auch einmal direkt, daß er sich einer Tes mit dickem Bauch gegenüber »einfach nicht verhalten könnte«, und der General sah aus, als würde er in Gesellschaft einer so provozierenden Weiblichkeit nahezu unpäßlich. Dazu würde das Gerücht passen, es läge ein inoffizielles Dekret vor, wonach der General keine hochschwangeren Reporterinnen um sich haben will, wie die Produktionsassistentin Kirsten behauptet, die einzige, die sich offen gegenüber meinem Zustand verhalten konnte, indem sie mir auf den Bauch klopfte und »hallo, du da!« sagte.

Aber dem General blieb gar nichts anderes übrig, solange es notwendig war, die erforderlichen Fellow-up-Treffen hinsichtlich meines Moskau-Abenteuers zu veranstalten. Um mich zu schonen, bin ich rücksichtsvollerweise in Unwissenheit darüber gehalten worden, was weiter passierte. Aber wie der General es beschrieb, kann die Situation so zusammengefaßt werden, daß mein Mafiafreund Sascha geschworen hat, seinen belfernden, sich jetzt ziemlich im Ruhestand befindlichen Köter zu rächen, daß mein Kollege Ferdinand äußerst passend Moskau verließ, um nach Jütland heimzufahren und sich dort mit Frau und Kindern wiederzuvereinigen, daß der tapfere Kameramann Sergej in der Datscha seines Onkels in Sibirien untergetaucht ist, und daß der General witzigerweise reichlich paranoid wurde, sein Auto zweimal auf Bomben hat untersuchen lassen und sich weigert, nicht angekündigte Pakete anzunehmen. Schließlich hat der General dafür gesorgt, daß in Moskau Gerüchte verbreitet wurden, wir hätten nichts anderes in den Kasten gekriegt als die absolute Finsternis und einen bellenden Hund, und ich glaube einfach nicht, daß Sascha nur um des Exempels willen das nicht unbedeutende geschäftsmäßige Risiko auf sich nehmen wird, das darin liegt, westliche Fernsehleute zu liquidieren. Aber trotzdem mag mein Chef ja recht damit haben, wenn ich in nächster Zeit nicht wieder nach Moskau geschickt werden soll. Mein Baby soll trotzdem nicht mutterlos aufwachsen. Deshalb mußte ich zustimmend nicken, als er mir mitteilte, daß »die junge Miriam« ausersehen war, Ferdinands Nachfolgerin zu werden. Auf dem Korrespondentenposten, der eigentlich meiner sein sollte.

»Bin ich jetzt zum Backbencher degradiert?«, fragte ich während einer Audienz, bei der ich wie üblich auf dem Gästestuhl vor dem Schreibtisch saß, während er allmächtig dahinter thronte, unaufhörlich seine griechischen Glimmstengel paffend. Sie stinken nach Lungenkrebs, aber ich inhalierte den Rauch ganz nostalgisch und wurde an die Zeit erinnert, als ich eine toughe Reporterin voller Power war.

»Das liegt jetzt bei dir«, sagte er und öffnete die Lippen zu einem tabakgelben Lächeln. »Ich habe immer Bedarf an Angreifern.« Dann griff er hinter sich und holte aus dem überquellenden Regal eine Videokassette. Es war das Band mit den Aufnahmen aus Moskau.

»Hier. Ich habe es auf VHS überspielen lassen.«

»Hast du es angeguckt?« fragte ich atemlos. Denn wenn es etwas gibt, was ich in diesen Monaten zu verdrängen versucht habe, dann ist es dieses Band. Wenn Sergejs Mut und mein Wagemut wirklich nichts anderes als neblige Schatten zum Ereignis hätten, das wäre kaum zu ertragen. Andererseits – wen interessiert es eigentlich, wenn wir die Geschichte wirklich im Kasten haben und damit beweisen können, daß es einen Handel mit angereichertem Uran aus Moskaus Industrieviertel zwischen einem georgischen Mafiaboß und einem arabischen Kunden gab – mit Sascha als Mittelsmann? Selbst die surrealistischen Sensationen aus dem alten Mutterland werden über Nacht zu alten Nachrichten.

»Nein«, sagte er. »Und ebensowenig bin ich der Ansicht, daß du damit öffentliche Screenings veranstalten solltest. Aber du kannst dich ja bis zu deiner Geburt damit vergnügen. Wer weiß, vielleicht steckt da Gold drin!«

Ich nahm das Band und bedankte mich für seine Umsicht. Dann ging ich in den kleinen Kaninchenstall von Büro, in dem Miriam saß. Und obwohl es nicht ihre Schuld war, ich mich gut mit Miriam verstehe und ihr eine schnelle Karriere wünsche, hatte ich doch einen bitteren Nachgeschmack, als ich ihr viel Glück wünschte.

»Wenn sie die Beste nicht kriegen, müssen sie sich eben mit der Zweitbesten begnügen!« sagte sie ganz lieb und bat mich, »den Kindsvater« zu grüßen. Das versprach ich und war darüber hinaus noch so großzügig, sie zu einem Briefing zu mir nach Hause einzuladen.

»Spasiba!« bedankte sie sich und benutzte damit das einzige russische Idiom, das sie bisher gelernt hatte. Wohingegen ich halbherzig versuchte, meine eigenen Sprachkenntnisse damit frisch zu halten, daß ich mit mir selbst Russisch rede, aber ich fürchte, es wird Rost ansetzen, wenn ich weiterhin in dieser fachlichen Vorhölle bleibe. Schon seltsam, wie schnell man an Höhe verliert.

 

»Bitteschön!« sagt Birgitte und stellt Cappuccino und Rüblitorte vor mich hin.

»Das ist ganz lieb von dir«, sage ich, »aber ich esse keinen Kuchen!«

»Ach, scheiß auf die Kalorien!« sagt sie locker.

»Das sind nicht nur die Kalorien!« entgegne ich und mache meine Beine breit, um besser Platz für den Bauch zu haben. Ich habe zuviel zugenommen. Vierzehn Kilo. Zwölf wären auch genug gewesen. Das ist dieser ganze Müßiggang.

»Bekommst du Sodbrennen?« fragt sie, und ich nicke verwundert. »Weißt du eigentlich alles?«

»Alles! Deshalb hör gut zu und halte dich dran!«

Ich schütte Rohrzucker in den Kaffee, schlürfe den Milchschaum und sage nichts. Unsere Freundschaft ist ziemlich zerbrechlich, seit sie Jens getroffen hat, und ernsthaft gefährdet, nachdem sie Maxi bekommen hat, der jedenfalls inzwischen halbtags schwarz bei einer Tagesmutter untergebracht ist. Ich habe ziemliche Schwierigkeiten damit, daß sie sich so verändert hat. Daß sie sich zuerst von der Ehe und dann von der Mutterschaft so hat aussaugen lassen. Ich hatte eine größere Kapazität bei ihr erwartet, eine größere Fähigkeit, sie selbst zu bleiben. Ja, ihr spezielles kreatives Talent zu entfalten, das alle anderen außer ihr selbst so schätzen. Und dann ist es mir peinlich, daß sie sich rein physisch so hat gehenlassen. Nicht, daß sie gebaut ist, als könnte sie eine von Tom Wolfes krankhaften »X-rays« sein, aber warum sie üppig wie eine Revuesängerin erscheinen muß, begreife ich nicht.

Birgitte war jedoch seit der Pubertät die engste Beziehung, die ich hatte, meine Rettungsleine zu anderen Menschen. Und auch nach Pauls Erscheinen weiß ich sehr genau, daß ich es mir nicht leisten kann, sie zu verlieren. Deshalb passe ich auf sie und uns auf und schlucke meinen sarkastischen Kommentar runter, den ich bereits auf den Lippen habe, als sie erst ihr eigenes und dann mein Stück Rüblitorte in sich hineinschaufelt. Aber Birgitte mit ihrer visuellen Begabung und ihrer Fähigkeit, mich zu durchschauen, läßt plötzlich die Kuchengabel sinken.

»Weightwatcher!« stößt sie aus. »Hör auf, mich so anzusehen!«

»Warst du nicht auf Diät?« weiche ich aus.

»Doch! Und gerade deshalb bin ich ja so hungrig!« lacht sie. »Warte nur, bis du auch mit Schlankheits-Pulver und Fieberpillen anfängst. Das ist überhaupt nicht witzig!«

»Soweit ich weiß, ist es überhaupt nicht besonders witzig, ein Kind zu kriegen!« bemerke ich säuerlich.

»Nein, dann hast du mich eben mißverstanden!« ruft sie abwehrend aus. »Ein Kind in die Welt zu setzen, ist das Tollste, was man überhaupt tun kann. Aber danach wirst du niemals wieder dieselbe sein!«

Ich zucke mit den Achseln. Was soll ich dazu sagen? Nein! Doch! Ich weiß nicht?

Kurz danach huscht sie davon – sie muß Maxi bei der Tagesmutter abholen – und fragt mich, ob ich bis Nørreport mit will. Aber ich möchte lieber noch ein bißchen allein hier sitzen, noch eine Tasse Kaffee trinken und drücke fest ihre Hand zum Abschied.

»Heute nacht ist Vollmond, dann geht es bestimmt bald los!« sagt sie. »Ruf mich an, wenn das Fruchtwasser abgeht!«

Das verspreche ich, auch wenn es mir inzwischen unwahrscheinlich vorkommt, daß ich jemals so weit kommen werde. Das Gefühl, das ich heute habe, unterscheidet sich nicht von dem, das ich an den anderen Tagen hatte, an denen ich wirklich glaubte, daß es jetzt losgehen würde.

Mir gelingt es, eine Mulattenkellnerin im Minirock dazu zu bewegen, mir nachzuschenken, zünde mir die eine Zigarette an, die meine heimlich festgesetzte Tagesration ausmacht, und greife in meine Kaufhausplastiktüte nach dem »Spiegel«, den ich in deren gut sortiertem Kiosk auf dem Weg hierher gekauft habe. Die Titelstory der Zeitschrift handelt vom Rohstoff- und Waffenschmuggel aus der Ex-UdSSR und bestätigt meine eigene These über alle Maßen: Mittels aufgeputzter Kaufleute der Mafia, zu denen auch mein Freund Sascha gehört, verkaufen korrupte Offiziere alles aus den alten Lagern, so daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann jeder Mullah, jede Terroristenzelle oder jede Partisaneneinheit daheim in der Garage die eigene Atomwaffe zusammenbasteln kann. Äußerst bedrohlich, und mit jeder Zeile werde ich von neuem Feuereifer erfaßt. Denen muß Einhalt geboten werden! Jemand muß etwas tun, und deshalb muß ich die Geschichte fertigkriegen! Als ich die Zeitschrift umblättere, entdecke ich, daß der Lederjackentyp mich anstarrt. Er lächelt ungeniert und prostet mir mit seiner Tasse zu. Er sieht mit dem zurückgekämmten Haar, seinem Zopf und dem kunterbunten Bandana um den Hals aus wie ein Pirat. Ich hebe meine Tasse und erwidere den Gruß, senke aber gleich wieder meinen Blick und versuche, meine zuvor so engagierte Lektüre auf deutsch fortzusetzen: In Moskau wird eingeräumt, die Kontrolle über die Atomsprengköpfe sei während der Zeit des Machtwechsels in den GUS-Republiken für einige Monate verlorengegangen ... Aber die Worte flimmern im Bewußtsein dessen, daß der Pirat mich unverwandt anstarrt. Ich schiele über die Zeitschriftenkante zu ihm hinüber. Kenne ich ihn? Habe ich mit ihm in einer meiner wilden Phantasien gebumst? Bin ich mit ihm zur Schule gegangen? Habe ich ihn in einer Kneipe verärgert?

Er steht auf, wie ich feststelle, und ich spüre gleichzeitig, daß mein Herz bei dem Wissen, daß er auf dem Weg zu mir ist, heftig pocht. Aber ich schaue erst auf, als er an meinem Tisch steht und mich anspricht.

»Du«, sagt er. »Darf ich dich was fragen?«

»Ja« antworte ich entgegenkommend, aber kurz angebunden, und erfasse in einem kurzen Augenblick das, was ich wissen will. Breit gebaut, nicht besonders groß. Dunkle Augen und ein Schönheitsfleck ungefähr dort, wo Robert de Niro seinen hat. Ich habe den Typen noch nie gesehen.

»Du hast wohl einen Vater zu dem Kind, oder?«

Ich lächle spontan.

»Und wie!«

Er nickt und legt eine Hand auf den Cafétisch. Sie ist kräftig und sonnenverbrannt, mit Silberringen mit eingefaßten Türkisen auf mehreren der breiten Finger.

»Denn sonst«, hebt er an und stockt dann, als hätte er plötzlich den Mut verloren.

»Sonst?« ermuntere ich ihn mit schräg geneigtem Kopf.

»Sonst würde ich dich mit auf See nehmen! In die Südsee!«

»Was für ein Angebot!« stoße ich lachend aus. Er ist wirklich ein Pirat!

»Ich heuere in drei Tagen auf einem Schiff nach Tahiti an. Du kannst mich hier morgen zur gleichen Zeit finden, wenn du es dir anders überlegst.«

»Das werde ich sicher nicht«, sage ich.

»Man kann nie wissen«, sagt er, streift meine Hand mit einem Finger, wünscht mir »viel Glück« und dreht mir den Rücken zu, als er sich hinausbewegt. Er hat einen Hängearsch in der Hose, und an seinem rechten Stiefel fehlt der Absatz.

Ich muß mich einen Moment lang fassen. Die Südsee! Ich habe Seeleute und Segler noch nie verstanden. Noch nie den Drang verstanden, auf allen Seiten Wasser um sich haben zu wollen. Vielleicht hatte ich immer schon zu viel Angst vor der Tiefe. Obwohl wir ja gerade daher kommen. Aus dem Wasser. Wie mein kleiner Fisch, an den ich jetzt wie an einen nassen Delphin denke, in seinem eigenen Ozean tauchend. Einen Augenblick lang verliere ich mich in meiner Sehnsucht, das Wasser vom Rücken des Delphins abstreifen zu können. Ich gebe weitere Fachlektüre auf und leere meine Kaffeetasse. Lege die Zeitschrift zurück in die Plastiktüte, wo mir die Einkäufe aus der Babyabteilung ins Auge fallen. So handfest und dennoch so fern. Ich sollte lieber zusehen, daß ich nach Hause komme. Statistisch gesehen steigt das Risiko, daß die Geburt losgeht, schließlich mit jeder Sekunde. Und ich kann mir nichts Schlimmeres als eine Geburt im öffentlichen Bus vorstellen. Ich sammle meine Tüten zusammen, stehe auf und gebe mir alle Mühe, nicht zu watscheln, als ich an der Fotogalerie an der Schmalseite vorbeigehe und darauf Coco Chanel, die kinderlose Verführerin, entdecke. Dann gehe ich zum Taxistand und winke einen Wagen heran.

 

Paul ist nicht zu Hause, was mich etwas enttäuscht. Dafür wundert es mich, daß er nach dem Frühstück nicht abgewaschen hat. Er ist doch sonst immer so penibel. Auf dem Küchentisch finde ich die Erklärung – ein schnell hingekritzelter Bescheid: »Bin von TV 2 für ein Gespräch angerufen worden. Bis bald. P.« Es ist etwas Dringendes an diesem Satz, das mich beunruhigt. Warum hat das plötzlich so eine Eile, wenn er doch schon zum Gespräch da war? Und außerdem hat er den Vertrag für seine Einstellung bekommen, und auch wenn ich vom ersten Dezember an mit dem Kind allein zurechtkommen muß und mir gar keine Hoffnungen zu machen brauche, vor Ende der Erziehungszeit wieder zur Arbeit zu kommen, so sind wir immerhin in den ersten paar Monaten zwei Erwachsene. Jedenfalls, wenn ich mich endlich dazu bequemen könnte, zu gebären.

»Wenn du mich im Stich läßt, raste ich aus!« flüstere ich in einer bösen Vorahnung und gehe erst mal pinkeln. In meinem Slip ist Blut. Nicht viel, aber genug, daß sich auf der weißen Baumwolle ein roter Strich abzeichnet.

»O nein«, murmle ich und werde auf das Gemeinschaftsklo bei Sergej zurückgewirbelt, wo meine blutende Vagina eine schreiende Warnung von Tod und Unglück war. Aber dann fällt mir der Abschnitt über die bevorstehende Geburt in der mir ausgehändigten Broschüre ein, und ich kann sogar beim Namen nennen, was ich sehe: Eingangsblutungen. Also ist es nur noch eine Frage von Tagen oder Stunden, bis es passiert. Ich spüle und laufe planlos in Pauls Wohnung umher. Bei den Konsultationen im Krankenhaus war ich ungeduldig und insistierend, tief frustriert darüber, in diese Wartehaltung versetzt zu werden und äußerst unzufrieden mit der unerträglich religiösen Attitüde der Ärzte gegenüber meiner verspäteten Geburt.

»Wenn Gott will!« antworten die Ärzte immer nur, wenn ich sie um einen Termin bitte.

Während ich Patina angesetzt und vergeblich versucht habe, sie dazu zu bringen, die Geburt einzuleiten – »die Geburt wird komplizierter, wenn wir die Natur stören!« –, ist Paul ganz auf einer Linie mit dieser geburtshilflichen Methode.

»Dein Problem, Tes, ist«, dozierte er vor ein paar Tagen, während wir in scharfem Trab um die Seen herumliefen – ein weiterer Versuch, der heiligen Natur auf die Sprünge zu helfen –, »daß du wie die meisten modernen Menschen alles kontrollieren willst. Du kannst einfach nicht damit zurechtkommen, daß es Dinge gibt, die du nicht lenken kannst. Aber in der Ungewißheit findest du das Mysterium der Schöpfung, das Grauen und die Schönheit, und meiner Meinung nach zeugt es von absoluter Weisheit, daß die größte Geburtsstätte des Landes ihre Demut und Grenzen erkannt hat!«

»Schreib doch ’nen Feuilletonartikel darüber!« forderte ich ihn trocken auf. Worauf er tatsächlich nach Hause ging und das tat! An dem Vormittag, als ich mich mit Birgitte traf, saß er übrigens an dem Text und überarbeitete ihn, und er muß es wirklich eilig gehabt haben, denn der leuchtet immer noch auf dem Farbbildschirm seines Macs, wie ich sehe, als ich in meinem rastlosen Herumstreunen unseren gemeinsamen Schreibtisch umkreise.

Etwas deutet darauf hin, daß er lieber zusehen sollte, zu Potte zu kommen, wenn der Artikel nicht veralten soll, denn auch wenn ich nicht gerade die große physische Veränderung spüre, bin ich doch mit einem Mal überzeugt davon, daß es heute sein wird. Oder zumindest kommende Nacht. Und vielleicht ist es ja auch eine Bestärkung, daß ich wie eine Schülerin, die während der unterrichtsfreien Zeit gefaulenzt hat, mit einem Mal von einer entschlossenen Betriebsamkeit ergriffen werde. Das ist jetzt die letzte Chance, wenn etwas aufgeholt werden soll.

Zunächst lege ich meine Einkäufe auf ihren Platz in die Schubladen in der Ecke des Schlafzimmers, die Paul mit Hilfe pastellfarbener Bemalung und Teddy-Schablonen zu einer richtigen Heititei-Babyecke gemacht hat. Dann mache ich den Kinderwageneinsatz mit dem Bettzeug mit der Lochstickerei fertig, das ich von Birgitte geliehen habe. Ich rede mit dem Baby, wobei mir auffällt, daß es seit einem halben Tag schon auffallend still war. Die Ruhe vor dem Sturm vielleicht?

Danach wasche ich in der Küche ab, fege den Boden und wische ihn auf allen vieren liegend, was anstrengend ist, aber laut Geburtsvorbereitungskurs sehr gut für das Kreuz sein soll, das angefangen hat, ab und zu zu mucksen. Schließlich trinke ich am Küchentisch eine Tasse Tee, kaue eine Alkaselzer gegen das Sodbrennen und esse in kleinen Löffelchen einen Joghurt, während ich auf den Fahrstuhl oder leise Schritte die Treppe herauf lausche, die davon künden, daß Paul auf dem Weg ist. Ich gehe auch ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob ich vielleicht den Telefonhörer falsch herum aufgelegt habe, und ich spule den Anrufbeantworter noch einmal zurück, um ganz sicher zu sein, daß es keinen Bandsalat gab. Aber merkwürdigerweise gibt es keine Nachricht.

Spät am Nachmittag ist mir kalt, ich bin verschwitzt und schon müde, aber nichtsdestotrotz beginne ich mit einem gigantischen Projekt: Ich fange an, meine Umzugskartons auszupacken. Irgendwie bekomme ich den obersten heruntergehievt – das ist derjenige, in dem Kleidung in Größe 38 ist, von der ich gar nicht begreife, wie ich mich jemals dort habe hineinschrauben können. Ich lege sie in Pauls Schrank, hänge meine Blusen und Jacken zwischen seine und mache meine Slips zu Nachbarn seiner Boxershorts. Das ist die definitive Kapitulation, aber es erscheint sinnlos, noch Widerstand leisten zu wollen, jetzt, wo die Konturen der ersten Wehe wie eine Staubwolke am Horizont zu erahnen sind. Ich muß mich beeilen, wenn ich es schaffen will, deshalb mache ich in hohem Tempo weiter, obwohl ich kurz vorm Auf geben bin, als nach den Kartons mit Haushaltgeräten, undefinierbarem Nippes und den schweren mit Büchern und Bändern immer noch der mit den A4-Mappen, Papieren, vergilbten Zeitungsausschnitten, alten Briefen, Aufgaben aus der Journalistenschule, dem Fotoalbum und den Mappen mit Vaters zurückgelassenen Zeichnungen übrig ist. Mit äußerster Kraftanstrengung gelingt es mir, das meiste einigermaßen vernünftig unterzubringen, nur für Vaters Mappe kann ich keinen sicheren Platz finden. Das Format ist zu groß und unhandlich. Deshalb stelle ich sie vorläufig an die Wand – ohne sie zu öffnen und anzugucken –, während ich mich umschaue und mit einer gewissen Zufriedenheit feststellen kann, daß ich jetzt auch hier wohne.

Ich spüre wieder dieses Grummeln in der Ferne, gehe unter die Dusche, seife meinen Ballon ein und rede beruhigend auf ihn wie auch auf mich ein, während ich versuche, mich darauf einzustellen, daß ich, aus welchem unbekannten Grund auch immer, wohl allein werde losgehen müssen.

»Wieder mal im Stich gelassen«, singe ich an der Grenze zwischen Hysterie und Ausgelassenheit, werde aber jäh unterbrochen, als das, was wohl die erste richtige Wehe sein muß, wie der Vorbote des Orkans heranstürmt. Ich beginne zu spät mit kontrolliertem Atmen, und als ich endlich meinen Rhythmus gefunden habe, ist die Wehe schon vorbei. Nachdem ich mich schnell mit Bodylotion eingerieben und Leggins und Sweatshirt angezogen habe, rufe ich die Information an, die mir mit nasaler Stime die Nummer von TV 2 Kopenhagen gibt. Dort bitte ich, mit Paul Weber sprechen zu können, den niemand kennt, aber als ich mich nicht abwimmeln lasse, kann die Zentrale herausfinden, daß die Redakteure »zum Essen sind«. Nein, leider ist keine Nachricht hinterlassen worden, in welchem Restaurant das Essen eingenommen werden soll.

Ich beiße mir auf die Fingerknöchel und gebe die weitere Jagd auf, beeile mich statt dessen, Birgittes Nummer einzutippen. Vogelgezwitscher und Anrufbeantworter – »Wir sind leider im Augenblick nicht zu Hause ...«. Nach dem Piepton hinterlasse ich die lakonische Nachricht, daß ich Wehen bekommen habe, und dann gehe ich in der Reihe weiter zu meiner Mutter, mit der zu reden ich jetzt einen unbändigen Drang verspüre. Sie ist auch nicht zu Hause, und im Theater wird mir gesagt, daß Frau Skårup im Probenraum ist und nicht vor sechs Uhr gestört werden darf. Es ist halb sechs, seit der ersten Wehe sind zehn Minuten vergangen, und jetzt kommt die zweite angebraust und zwingt mich in die Knie. Ich stütze mich auf die Tischplatte, finde schließlich die Atemstöße, die mir helfen, auf den Wehen zu reiten. Also ist doch noch was bei der Geburtsvorbereitung herausgekommen, die ich ansonsten als vergeudete Zeit angesehen habe. Kiki, die letzte auf meiner Liste, ist natürlich auch nicht zu Hause. Aber ihr ulkiger Geliebter Spunk fragt, ob er ihr etwas ausrichten soll.

»Sage ihr, daß ihre Schwester goddammit endlich ihr Kind kriegt! Sie kann gern zurückrufen!« entgegne ich obercool und wühle auf dem Tisch nach dem Mutterpaß, in dem die Nummer vom Kreißsaal abgedruckt ist.

Die wachhabende Hebamme fragte mich, ob ich Erstgebärende sei und wie lang der Zeitraum zwischen den Wehen ist, und als ich antworte, neun bis zehn Minuten, bittet sie mich, doch zu warten, bis es nur noch fünf Minuten sind.

»Aber ich bin allein«, piepse ich benommen, und so erbarmt sie sich und erlaubt mir zu kommen, wenn es »für mich am besten so ist«.

»Dann werden wir uns schon darum kümmern«, sagt sie beruhigend, und erst hinterher wird mir klar, daß sie glaubt, ich sei vollkommen allein. Daß es überhaupt keinen Mann gibt. Aber vielleicht gibt es ihn ja auch nicht ...

Wir wohnen nur einen Zeitungswurf vom Krankenhaus entfernt, und da ich es verabscheue, als Jammerlappen dazustehen, entschließe ich mich, zu Fuß zu gehen. Paul hat offensichtlich den Alfa genommen, der sowieso ausschließlich für kleine italienische Männer designed ist. Ich nehme den Fahrstuhl nach unten und steuere dann mit der Tasche in der Hand verwegen den Zebrastreifen an, erreiche ihn aber nur mit Mühe und Not, bevor ich erneut nach Luft schnappen muß und krampfhaft den Mast mit dem Signalknopf umklammere. Der Verkehr rauscht vorbei, es ist mitten in der Rushhour, ein rasanter Fahrradbote fährt mir fast über die Zehen, und ein blindes Mädchen mit Blindenhund fragt mich, ob es jetzt grün sei. »Ja«, murmele ich und habe dabei keine Ahnung, wie ich selbst jemals über die Straße kommen soll, deshalb bleibe ich einsam und verlassen stehen, zusammengekrümmt am Randstein. Da hält ein Taxi neben mir, das Seitenfenster gleitet nach unten, und der Fahrer fragt, ob etwas nicht in Ordnung sei?

»Können Sie mich rüber ins Krankenhaus fahren? In die Geburtsabteilung?« frage ich und falle dem pakistanisch aussehenden Fahrer fast um den Hals, als er »’türlich« nickt und mir auf den Rücksitz hilft. Im Autoradio hat er irgendeine Art bengalischer Katzenjammermusik, die er rücksichtsvoll leiser dreht, als wir losfahren.

»Sie gleich Kind kriegen – auf mein Rücksitz?« lächelt er begeistert in den Rückspiegel, und während er überholt und fast einen Radfahrer in einer rechten Kurve mitnimmt, erzählt er stolz, daß er selbst fünf Kinder und eine Frau habe, die eine »richtige Gebärmaschine« sei.

Ich nicke höflich und erleichtert auf, als wir auf den Blegdamsvej abbiegen und das Rigshospital in Sicht kommt. Routiniert findet er den Eingang zur Geburtsstation, hilft mir aufmerksam aus dem Auto, aber nachdem ich bezahlt habe und meine Tasche greifen will, schaut er mich mit einem Mal nachdenklich an.

»Kein Mann?« fragt er.

»Scheint nicht so«, lächle ich schwach.

»Soll ich mitkommen?« bietet er mir daraufhin an, als wäre er bereits dabei, die praktischen Probleme, die eine derartige Hilfe mit sich bringen würde, zu lösen.

Ich lehne dankend ab und versichere ihm, daß ich schon zurechtkommen werde, dann reiße ich mich zusammen, um kompetent und ganz normal auszusehen, als ich mit der Tasche über der Schulter die Tür aufschiebe. Was für Angebote ich heute schon bekommen habe. Sie wiegen fast meine Wut auf das Männervolk auf, die ich im Fahrstuhl bedrohlich gären fühle. Paul, du Arschloch!

»Unbefugte haben keinen Zutritt« steht mahnend an der Glastür zur Geburtsstation, und ich zögere, bevor ich auf die Klingel drücke. Ich fühle mich unbehaglich, empfinde die ganze Situation als unwirklich und bin mir nicht mehr sicher, ob ich nicht einfach nur hysterisch bin. Hysterisch schwanger. Ich klingle trotzdem. Was sonst?

»Hallo«, sagt die diensthabende Hebamme und läßt mich in das Allerheiligste ein. »Sind Sie es, die allein ist?«

Ich nicke und korrigiere sie matt, während ich ihr meinen Mutterpaß gebe.

»Mein Freund kommt vielleicht später.«

Sie nickt kurz, bittet mich Platz zu nehmen und zu warten, bis ein Untersuchungszimmer frei ist.

»Heute abend ist es ein bißchen stürmisch hier«, fügt sie erklärend hinzu und will sich schon wieder entfernen.

»Aber, aber, ich glaube, es eilt!« kann ich ihr noch hinterherrufen. »Jetzt sind sieben, acht Minuten dazwischen, oder?« fragt sie.

»Dann haben wir noch massenhaft Zeit! Sie sind ja Erstgebärende...«

»Anfängerin!« hätte sie mich ebensogut titulieren können. Ich betrachte wütend ihren gebügelten Kittelrücken, schon angespannt, weil ich mich in die Gewalt dieser besserwissenden Menschen begeben soll. Warum habe ich mich nicht dazu entschieden, mein Kind zu Hause zu bekommen, dann könnte ich mich jetzt wie eine der gebärenden Katzen zusammenrollen, die Kiki und ich im Heu auf Læsø fanden, als wir im Sommer Großvater auf seinem Hof besuchten. Ich bin so aufgebracht, als ich mich auf einen der Laminatstühle setze, daß ich ein sehr junges Mädchen, das mir gegenübersitzt, fast nicht bemerkt hätte. Aber kaum sitze ich, spricht sie mich an.

»Bist du auch allein?« fragt sie und beugt sich zu mir vor.

»Nicht ganz«, sage ich und stemme die Hacken in den Boden, als ich die Welle heranrollen spüre. »Aber du?« frage ich, als ich wieder zu Atem gekommen bin.

»Na ja, sozusagen. René ist in Nyborg, weißt du? Und eigentlich dürfen die dabeisein, aber jetzt ist das Fruchtwasser drei Wochen zu früh abgegangen, und ich habe angerufen, aber es ist nicht sicher, ob er es schafft.«

»Ach so«, erwidere ich, bevor mir klar wird, wovon das Mädchen eigentlich spricht.

»Sonst ist er immer schnell bei der Sache!« erklärt sie und holt eine Rolle Schokoladenkekse aus einer Plastiktüte. »Willst du einen?«

Ich nehme einen, um ihr eine Freude zu machen, an ihr ist etwas äußerst Verletzliches, als wäre sie zeit ihres Lebens gezwungen gewesen, gelassen zu bleiben.

»Wie heißt du?« fragt sie, den Mund voller Keks.

»Therese«, antworte ich und beuge mich vor, um mit einer Hand mein Kreuz zu massieren.

»Ich heiße Heidi«, erklärt sie und schaut mich aufmerksam an. »Hast du Wehen?«

Ich nicke und spähe den Flur entlang nach der Hebamme. Im gleichen Moment zerreißt ein Schrei, gefolgt von einem laut klagenden Jammern den ansonsten so stillen Flur. Wir erstarren alle beide und tauschen in gleicher Beunruhigung Blicke.

»Ach was«, platzt Heidi heraus und streckt die Hand nach einem weiteren Keks aus. »Die stellt sich sicher reichlich an, oder? Also SO weh wird es doch wohl nicht tun, was?«

Ich schüttle tröstend den Kopf. Nein, so weh kann es unmöglich tun. Dann wird Heidi geholt, sie gibt mir mit dem Daumen ein Siegerzeichen und verschwindet mit der gelben Plastiktüte und einem Bauch, der wie ein grotesker Vorbau wirkt, der an den zarten Körper geheftet wurde. Das arme Mädchen. Schließlich erlischt eine weitere rote Lampe über einem der Untersuchungszimmer, und ein werdendes Elternpaar kommt heraus, während ich hineingerufen werde.

»Eine ziemlich verworrene Geschichte, was?« sagt die untersuchende Hebamme mit Blick in den Mutterpaß. »Nun ist es aber Zeit, das Kind herauszukriegen!«

Ich gebe ihr innerlich recht und habe bereits jetzt viel mehr Vertrauen zu der älteren Else Jakobsen, wie ich auf ihrem Schild lese, als ich es zu ihrer jüngeren Kollegin kurz zuvor hatte. Und dann befaßt sie sich erfahren und vor sich hinredend mit mir, die ich bereitwillig auf der Pritsche liege, die Beine in den Bügeln.

»Wollen wir ihm mal ’nen kleinen Schubs geben!« sagt sie und »räumt Hindernisse aus dem Weg«, daß mir der kalte Schweiß ausbricht.

»Sie bekommen gleich einen Einlauf, und dann werden Sie sehen, dann werden es richtig gute Wehen!«

»Aber ich habe ausgezeichnete Wehen!« protestiere ich gekränkt.

»Ja, ja, meine Liebe. Gut sind sie, aber nicht gut genug! Sie sind erst zwei Zentimeter offen, und wir müssen schließlich auf zehn kommen!«

»Soll das heißen, daß es schlimmer wird?« frage ich unruhig.

»Schlimmer, aber gleichzeitig besser! Kommt denn da niemand, um Ihnen die Hand zu halten?« fragt sie, während sie ein Klistier einführt. Es kitzelt, ist aber nicht unangenehm, wie ich befürchtet hatte.

»Doch«, antworte ich und klemme die Pobacken zusammen. »Mein Freund kommt bald ...«

Und als ob es sich um eine Opera buffa handeln würde, tritt Paul genau in dem Moment zur Tür herein, als ich wehrlos daliege und meinen Schließmuskel bezwinge. Mindestens drei Minuten sollen vergehen, bis ich mich entleere. Ein heftiger Wutanfall ist bis auf weiteres nicht möglich, ich kann nichts weiter als heiser ein kurzes »hallo!« zischen, mit einem leisen »Wo zum Teufel bist du gewesen!« drangehängt.

»Entschuldige, Tes!« murmelt er schuldbewußt und kommt näher, um mich auf die Stirn zu küssen. Er stinkt nach Knoblauch, Wein und Rauch, und ich würde ihn am liebsten bitten, sich zum Teufel zu scheren. Die Hebamme läßt uns weise mit der Bemerkung allein, daß sie gleich zurückkomme.

»Es tut mir wahnsinnig leid!« wiederholt er und geht in die Hocke, so daß wir auf einer Augenhöhe sind. »Die Zeit ist mir einfach davongelaufen ...«

Er hat wirklich ein schlechtes Gewissen. Sein Blick ist verschleiert, sein Mund ist angespannt, wie er nur ist, wenn Paul verletzt ist oder unter Druck steht. Es muß etwas passiert sein. Etwas außerordentlich Schreckliches.

»Bist du mir untreu gewesen?« frage ich spontan.

Paul bricht in ein überwältigendes Lachen aus.

»Nein! Aber ich bin tatsächlich mit einer fremden Dame essen gewesen.«

»Mit der Kopenhagener Redakteurin von TV 2?« frage ich mit einem steifen Blick auf die Zeiger der Wanduhr. Zwei und eine halbe Minute. Noch dreißig Sekunden. »Und was wollte sie?«

»Mich angucken!«

»Das hat sie ja wohl verdammt gründlich gemacht, was? Mit drei Gängen, Kaffee und avec! Tut sie das mit allen zukünftigen Mitarbeitern? Dann kann ich aber verflucht noch mal gut verstehen, warum die Sender ökonomische Probleme haben!« spucke ich hitzig aus und schlage die Decke zur Seite. »Geh mal zur Seite!« kommandiere ich dann und schwinge meine Beine herüber.

»Was willst du denn?« fragt Paul verwirrt.

»Raus zum Scheißen!« zische ich und schaffe es gerade noch, das Schloß zu drehen und die Hosen herunterzuziehen, bevor der Darminhalt herausschießt.

 

Der Einlauf hat offensichtlich wirklich etwas in Gang gesetzt, denn ich habe mich kaum von den furchtbaren peristaltischen Krämpfen erholt und brause mich gerade ab, als sie angejagt kommt. Die erste gute Wehe. Wie ein Gürtel aus glühendem Eisen umklammert sie meinen Unterleib mit dem Höhepunkt um den Nabel, der herausgepreßt ist und wie ein zitternder Knopf auf dem aufgeblähten Bauchbogen sitzt. Von Schmerzen, die jenseits jeder Vorstellungskraft liegen, aufgespießt, klammere ich mich an den Brausekopf, die kurze Minute, die es dauert, bis die Wehe vorbei ist, leise stöhnend.

»Tes? Bist du okay?«

Pauls Knöchel an der Tür.

»Ja!« sage ich und schüttele den Kopf. Ich hatte ihn fast vergessen.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?« fragt er dumm und kommt heran, um den Arm fürsorglich um mich zu legen, als ich ruhig mit bloßen Beinen und nackten Füßen aus der Toilette komme. Ich weiß, daß es sich nicht lohnt, die Leggins wieder anzuziehen.

»Paul, es geht los«, antworte ich matt, als befände er sich auf einem Planeten in einem anderen Sonnensystem. »Vielleicht ist es am besten, wenn du gehst!«

»Ich soll gehen?« ruft er fassungslos aus. »Tes, so hart darfst du mich nicht bestrafen!«

»Ich will dich nicht bestrafen«, sage ich und spüre, wie ein neuer Angriff auf den Weg geschickt wird. »Ich möchte nur am liebsten allein sein!«

Ich schließe die Augen, atme tief ein, damit die Lungenflügel mit Luft gefüllt sind und ich dieses Mal der Wehe schwebend begegnen kann, um dem freien Fall der Schmerzen zu entgehen. Als ich die Augen wieder öffne, steht Pauls Mund ungläubig offen. Meine Fingernägel haben auf seinem Handrücken Abdrücke hinterlassen.

»Ich bleibe!« entscheidet er heiser.

Ich zucke mit den Schultern. Wie er will. Eigentlich ist es ja gleich. Er kann bleiben oder gehen. Ich bin sowieso allein. Das weiß ich jetzt schon.

Mitten in der dritten Wehe kommt die Hebamme, um nach mir zu schauen. Sie bugsiert mich wieder auf die Liege, schaut, tastet und horcht mit ihrem altmodischen Holzstethoskop.

»Jetzt ist es losgegangen, was?« sagt sie anerkennend. »Schon fünf Zentimeter! Besser, wir bringen Sie in den Kreißsaal!«

»Können wir den grünen haben?« fragt Paul, als wäre es von allergrößter Bedeutung, daß Vorhänge vor den Instrumenten hängen.

»Ich werde mal schauen!« meint die Hebamme entgegenkommend und verschwindet, um bald wieder zurückzukommen und zu melden, daß der Raum frei ist.