Sag jetzt nichts, Liebling - Hanne-Vibeke Holst - E-Book

Sag jetzt nichts, Liebling E-Book

Hanne-Vibeke Holst

4,6

Beschreibung

Der dritte Band der beliebten dänischen Therese-Reihe der 90er: Die erfolgreiche Fernsehjournalistin Therese hatte jahrelang keinen Kontakt zu ihrem Vater. Nun, als er im Sterben liegt, bittet er sie, sich auf die Suche nach ihrem Halbbruder zu machen, von dem sie bisher nichts wusste. Doch sehr zum Missfallen ihres Mannes trifft Therese bei dieser Suche auf die Liebe ihres Lebens...-

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Hanne-Vibeke Holst

Sag jetzt nichts, Liebling

Aus dem Dänischen von Christel Hildebrandt

Saga

Sag jetzt nichts, Liebling ÜbersetztChristel Hildebrandt OriginalEn lykkelig kvindeCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1998, 2020 Hanne-Vibeke Holst und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569582

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Sibiu (Hermannstadt), Rumänien

 

»Sie haben in Sarajewo eine Granate abgefeuert auf eine Schlange von Menschen, die nach Brot anstanden!« jammere ich im Halbschlaf. Die Träume halten mich fest, sie sind voller Schrecken. »Verstümmelte Frauen und Kinder ...«

»Ja«, flüstert er, streift mir die Bluse ab, findet meine Brust. »Verstümmelte Frauen und Kinder. Es war schrecklich. Ich war dort. Gleich hinter ihnen.«

»Aber Geliebte, du warst doch nicht da ...«

»Doch! Habe ich Brot geholt? Oder war ich es, die die Granate abgefeuert hat?« frage ich und möchte am liebsten wieder weinen, als er in mich eindringt. Vielleicht weine ich tatsächlich, während ich meine Schenkel um seine Lenden schlinge. Da klingelt das Telefon. Das ist Paul. Ich weiß es.

Erster Teil

Zarinas dritter Geburtstag fällt auf einen Sonntag, und sie bekommt die Geburtstagsfeier, die sie sich gewünscht hat. Mit Torte, Kakao und einer Kuchenfrau, die gerade auf der mittleren Schiene des Backofens zu zerfließen droht. Die Gäste kommen in einer halben Stunde, so daß ich wieder einmal feststellen muß, daß Paul recht hat, wenn er sich darüber beschwert, daß mein Sinn für gutes Timing sehr zu wünschen übrig läßt. »Man kann eben nicht den halben Vormittag im Bademantel herumrennen und englische Sonntagszeitungen lesen, wenn man zehn Leute zum Kaffee eingeladen hat!«

Die Gästeliste hat das Geburtstagskind selbst aufgestellt. »Es sollen alle kommen!« hatte sie schon vor langer Zeit mit ihrem hartnäckigen drop-dead-Blick beschlossen, der in auffallendem Kontrast zu ihren Prinzessinnenlocken und den Samtund Seidenkleidchen steht, für die sie eine Vorliebe hat. Und die auch ohne viel Nachdenken von ihrem Vater erstanden werden, der sie verwöhnt, als wäre sie Rhett Butlers vergötterte Tochter – und der sie deshalb selbstverständlich darin unterstützt, daß solide Overalls von H&M nichts für ein Mädchen sind. Er flechtet ihr die Haare, lackiert ihre Zehennägel und läßt sich willig und mit sichtlichem Vergnügen um ihren pummeligen kleinen Finger wickeln.

Ihr Bündnis ist fast unerträglich, aber ich finde mich mit der mir zugewiesenen Rolle der Madame mit verschränkten Armen ab, da mein frauensüchtiger Liebster seinen Drang nach Verführung nunmehr in eine hemmungslose Vaterliebe sublimiert hat. Er ist uns treu, kann gar nicht anders, will gar nicht anders. Das ist ein Versprechen und eine Beteuerung zugleich, die anzuzweifeln ich weder Grund noch Lust habe. Der Schreck über meine Flucht Hals über Kopf nach Læsø vor ein paar Jahren steckt ihm immer noch in den Knochen. Er glaubte – und glaubt heute noch –, daß die Reise übers Meer ein Racheakt und eine Strafmaßnahme war. Daß ich geplant hatte, ihn zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Vielleicht ist das nicht besonders nett von mir, aber ich habe ihn in diesem Glauben gelassen, habe ihm nie erklärt, daß meine Wut über seine Promiskuität nur der Anlaß war, damit ich das tun konnte, was ich mußte: meinen Vater wiederfinden.

Vielleicht habe ich es ihm auch nicht erzählt, weil die Reise in gewisser Weise ein Fiasko war. Wie bei Columbus, der auszog, um den Weg nach Indien zu finden, und statt dessen Amerika entdeckte. Ich zog aus, um den Vater zu finden, den ich verloren hatte, und fand einen Menschen, der zwar mein genetischer Ursprung war, der aber nicht mehr imstande war, das Vakuum auszufüllen. Trotz langer, intensiver Gespräche unter dem Strohdach in den kühlen Zimmern meines Großvaters, trotz des Versuchs, die verlorenen Jahre zu rekonstruieren, trotz eines durch das gleiche Blut erzeugten Einverständnisses zwischen uns, wenn wir am Strand der Insel in der Dämmerung spazierengingen, wurde mir schmerzlich klar, daß ich ihn nicht in meine Kindheit zurück reden konnte. Er war nicht dort gewesen und würde sich – es sei denn durch ein Wunder – auch niemals dorthin versetzen lassen. Ein Familienbild ohne Vater. So war es, und so würde es immer sein und immer bleiben. Punkt. Ende.

Für mich war diese Erkenntnis nur schwer in Worte zu fassen, für ihn war es möglicherweise nur eine Art Kompromiß, mit dem zu leben er schon seit langem gelernt hatte: Er hatte seine Töchter verlassen, als sie noch klein waren, und sie dadurch verloren. Ich weiß nicht, ob das stimmt, denn auch wenn es uns gelang, lange Gespräche zu führen, bevor ich die Fähre nach Frederikshavn nahm, so ließen wir doch die Schlußfolgerungen wie Strandgut in der Brandung zwischen uns schwimmen. Und da schaukeln sie immer noch. Aber ich weiß, und er weiß, daß wir, auch wenn wir einander verbunden sind, nur ein schmales Brett haben, auf dem wir balancieren, wenn wir ab und zu die Schlucht überqueren, um die Welt des anderen zu besuchen. Seltene Besuche auf neutralem Boden, heimliche Treffen an wechselnden Orten, denn mein Alleingang wurde von meiner unversöhnlichen Truppe nicht gutgeheißen. Ich hatte mir ganz naiv vorgestellt, daß ich als Parlamentär auftreten könnte, der die diplomatischen Beziehungen wiederaufnehmen und die Erde für eine fruchtbare Zukunft bereiten würde. »Mir i drusjba!«, Frieden und Freundschaft, wie es immer bei den Toasts in der seligen Sowjetunion geheißen hatte. Aber Kiki, meine kleine Schwester, vergibt nie. Sie wollte ihm nicht vergeben und war kurz davor, auch mich zu verstoßen, als ich als besudelte Verräterin heimkehrte. Meine Mutter, die Primadonna des Nationaltheaters mit einer Vorliebe für tragische Rollen, leidet witzigerweise in ihrem Privatleben an einer panischen Angst vor Dramen, weshalb sie sich ganz einfach in Schweigen geflüchtet hat. Sie schließt die Ohren und redet vom Wetter, wenn ich versuche, sie zu einer Stellungnahme dazu zu bringen, daß ihr Exmann, unser Vater, sich nach fast fünfundzwanzig Jahren im spanischen Exil wieder auf dänischem Boden befindet. Ihre Verbitterung kann ich zur Not noch verstehen, auch wenn die Dimension mir etwas übertrieben erscheint. Still crazy, after all these years ...

Aber Paul ... Warum Paul nicht in der Lage ist, den Großvater seiner Tochter ganz einfach anzunehmen, indem er ihm sein Haus – unser Haus! – öffnet, ist eines der Mysterien, die zeitweise unser Zusammenleben verschleiern. Paul selbst meint, daß er sich da »bombensicher« ist – warum sollte er sich mit einem Mann an einen Tisch setzen, der seiner Geliebten das Leben schwergemacht hat. Und wie könnte er es zulassen, daß seine eigene Tochter vielleicht der gleichen Enttäuschung ausgesetzt wäre. Als mir zum ersten Mal diese Monstertheorie präsentiert wurde, war ich vollkommen sprachlos. Beim zweiten Mal schmiß ich einen Florentinischen Fayenceteller auf die Küchenfliesen, und beim dritten Mal nahm ich die Autoschlüssel und haute ab. Brauste zum Strandvej und manövrierte den Wagen an einen Sandstreifen bei Snekkersten, wo ich auf einem Stein sitzen und auf den Sund starren konnte, während ich eine Zigarette rauchte und wieder zur Ruhe kam. Ich ließ die Asche in den Sand fallen und beschloß, ihn da nicht mit hineinzuziehen. Er würde ja doch nichts verstehen.

Vielleicht mache ich es mir also zu leicht, aber seitdem habe ich seine Weigerung mit Nachsicht zur Kenntnis genommen und meinen Vater nur in Nebensätzen erwähnt. Was ihn irgendwie unruhig macht, denn eine Ahnung ist schlimmer als Gewißheit. Er weiß, daß wir in Kontakt stehen, aber nicht, wo und wann. Natürlich abgesehen von dem einen Mal im Sommer, als ich Zarina ihren Großvater im Zoo treffen ließ. Zur gegenseitigen Faszination und Begeisterung. Zarina, die ansonsten nicht gerade schüchtern ist, klammerte sich lange Zeit an mich, und ich mußte ihr eine lange, geflüsterte Erklärung darüber geben, wer dieser ältere, graumelierte Mann da war. Daß es mein Vater war und daß er früher einmal Großmutters Mann gewesen war, so wie Freddy jetzt. Zarina sah mich stirnrunzelnd an – aber, wenn sie doch Mama und Papa waren, wieso waren sie dann nicht zusammen? Ich ließ mich auf eine gleichzeitig schonende und komplizierte Erklärung über die Wege und Irrwege der Liebe ein, sagte ihr, daß die Liebe manchmal aufhört und daß die Erwachsenen, die einander geliebt haben, dann gezwungen sind, allein zu leben und so weiter und so weiter. Ein ziemlich blumiges Drumherumgerede, das sie aber ganz einfach abschnitt, indem sie fragte: »Papa und du, werdet ihr euch auch mal scheiden lassen?« Ich hatte keine Ahnung, daß sie das Wort »Scheidung« kannte, aber natürlich kannte sie es, denn die Eltern ihrer Freundin aus dem Kindergarten, Marias Mama und Papa, die wollten sich doch scheiden lassen ...

Ich antwortete, daß wir ja nicht einmal verheiratet seien, Paul und ich, und ungefähr bei diesem Stand der Diskussion kam mein Vater mir zu Hilfe, indem er sich einen Skizzenblock auf die Knie legte und anfing, die turnenden Schimpansen auf dem Affenfelsen zu zeichnen. Damit war der Bann gebrochen, und Zarina warf ihm eine gnädige Kußhand zu, als wir uns ein paar Minuten nach Schließung des Zoos trennten.

»Du mußt auch zu meinem Geburtstag kommen!« erklärte sie, und mein Vater lachte und sagte, das würde er schrecklich gern. Zu Hause hängten wir die Zeichnungen über ihr Bett. Glücklicherweise hatte Paul gerade Dienst in Odense, so daß das Erlebnis zu einer Anmerkung geschrumpft war, die neben anderen Ereignissen in ihrem wortreichen Referat Platz fand, mit dem sie ihn immer begeisterte, wenn er nach einer Dienstwoche auf Fünen zurückkam und auf den neuesten Stand der Dinge gebracht werden mußte. Ich kam mit einer fragend gehobenen Augenbraue davon und machte aus dem Ausflug eine Kurzmeldung, die ihn eigentlich nichts anging. Ja, wir hatten einen Nachmittag mit meinem Vater, der aus anderen Gründen gerade in der Stadt war, im Zoologischen Garten verbracht. Paul war nicht gerade begeistert, gab sich jedoch damit zufrieden, auch wenn ich sehen konnte, wie ihm der Protest auf der Zunge brannte. Erst als ich darauf beharrte, daß Zarina ihren »neuen Opa« bei ihrer Geburtstagsfeier dabeihaben wolle, schlug er zurück. No way. Ich verzichtete auf eine Diskussion, aber als Zarina ihre Einladungen verteilte, schickten wir auch eine nach Læsø. Der große Familienskandal wurde verhindert, da er absagte – er wäre sehr, sehr gern gekommen, schrieb er, aber er habe in letzter Zeit ein paar »Zipperlein« und müsse deshalb gerade jetzt zur Untersuchung ins Krankenhaus von Frederikshavn. Er hatte ihr eine Silberkette mit einem Bernsteinherz geschickt: »Der Stein wurde nach einem Sturm in den Algen gefunden und an Großvaters Tisch zurechtgeschliffen.« Er hatte ein kleines »Z« hineingeritzt, so daß es ein ganz besonderes Unikat geworden war, von dem ich mir nur wünschte, ich hätte es einst bekommen.

»Wie aufmerksam!« kommentierte Paul sarkastisch, als er Zarina die Kette um den Hals band. Sie selbst war begeistert. Echter Schmuck!

»Paß auf, daß du sie nicht verlierst!« ermahnte ich sie und erinnerte uns beide daran, daß wir im Krankenhaus anrufen und uns bedanken mußten. Paul schnaufte und lenkte sie damit ab, daß er anbot, ihr beizubringen, mit dem Dreirad, dem Geschenk von uns, zu fahren. Ich überlegte kurz, was »Zipperlein« wohl zu bedeuten hatten. Aber dann war ich auf den Guardian gestoßen und hatte mich von einem Feature über die tschetschenischen Aufstände fesseln lassen. Die Redaktion will mich für eine Reportage nach Grosnyj schicken. Meine Kollegin braucht Entlastung, und die gönne ich ihr von ganzem Herzen. Dennoch muß ich zugeben, daß es nicht gerade mein Traumjob ist. Ich bin nicht so scharf darauf, mit den Jungs zu spielen. Ein 28jähriger deutscher Fotograf vom Stern wurde erst vor kurzem bei einem Granatenangriff getötet. Anna, meine schwedische Kollegin, rief neulich aus Moskau an und erzählte es mir. Sie war tief getroffen, nicht nur, weil er ihr Freund und noch so unglaublich jung gewesen war, sondern auch, weil »alles hier so verroht ist – man kann sich nicht mal mehr in ein Taxi setzen, ohne Angst haben zu müssen, daß einem das Gehirn rausgepustet wird!«

»Anna«, erwiderte ich, »du bist schon zu lange da. Fahr nach Hause!«

»Ja«, seufzte sie. »Es ist nur ... Moskau ist der einzige Ort, an dem es sich für mich zu leben lohnt. Du weißt, was ich meine. Die Weltgeschichte liegt hier auf der Straße. Was soll ich denn in Schweden? Da ist es so schrecklich langweilig!«

Ich weiß sehr gut, was sie meint, und vielleicht verweile ich deshalb etwas zu lange in den tschetschenischen Bunkern der Reportage, so daß ich erst bei der Glasur bin, als die Gäste in einem fröhlichen Haufen eintreffen. Die Küche sieht aus wie ein Bombenkrater, die Kuchenfrau hat eine erschreckende Ähnlichkeit mit einer amputierten Mißgeburt, und ich spüre, wie mir die Hausfrauenpanik den Rücken hinaufkriecht. Hilfe! Die Dunstabzugshaube bläst über mir, und deshalb höre ich Birgitte nicht, als sie herkommt und mich mit beiden Händen in die Taille kneift, so daß ich zusammenzucke und fast den Teller fallen lasse.

»Was machst du da?« fragt sie.

»Meine Mutterrolle ausfüllen!« antworte ich. »Und wie geht’s dir?«

»Zum Teufel! Hast du eine Schürze?« fragt sie, löst mich ab und übernimmt das Projekt »Rettet das Kind«, während ich die Tüten mit den Süßigkeiten mit den Zähnen aufreiße.

»Wieso zum Teufel?«

»Ach, nur so. – Soll sie lange oder kurze Haare kriegen?«

»Lange! Wo sind die Kinder?« frage ich und mache mich daran, die Glasur mit dem Schaber zu verteilen, damit die Katastrophe nicht ganz so offensichtlich ist.

»Maxi läßt sich von deiner Tochter einschüchtern, und die Zwillinge schlafen im Auto. Hoffentlich recht lange. Sie haben sich gegenseitig die ganze Nacht wachgehalten ...«

»Und Jens?« frage ich mit einem schrägen Blick und kenne bereits die Antwort.

»Bei der Arbeit«, sagt sie und zieht die Lakritzfäden gerade. »Hast du eine Schere? Für den Pony?«

Sie streicht sich mit einer Hand den eigenen aus dem Gesicht. Ich richte mich auf und habe nicht übel Lust, einfach auf sie zuzugehen und sie in den Arm zu nehmen. Seit den Zwillingen ist sie fast durchsichtig vor Müdigkeit. Transparent, wie Paul es nennt.

»Wollen wir nicht draußen im Garten sitzen?« schlägt sie vor und weicht instinktiv meinem Blick aus. »Es ist verdammt warm heute. Indian summer.«

»Ja, wenn noch Sonne auf der Terrasse ist«, sage ich und tauche den Schaber wieder in die Glasur.

»Wir können ja immer noch reingehen. Und du? Geht es dir gut?«

»Mir? Und wie!« antworte ich und muß unwillkürlich lächeln. Birgittes unerwartete Schmetterbälle überrumpeln mich jedesmal. »Schließlich bin ich eine glückliche Frau! Wieviel Liter Milch soll ich für den Kakao nehmen?«

 

Paul hat sich einen neuen hypermodernen Fotoapparat gekauft, als er auf Reportagereise in Hongkong war, um Alexandra Manley zu interviewen, die Zukünftige des dänischen Prinzen und Liebling der Presse. An diesem Nachmittag gelingt es ihm, einen ganzen Film mit 36 Bildern zu verknipsen, bevor die Sonne hinter dem Dach des Nachbarhauses untergeht. Alles ist mit drauf – Mutter hinter der Sonnenbrille mit Marlboro Light, Freddy an ihrer Seite, in den Schatten zurückgezogen, Ernst im Profil mit dem Ausdruck sanfter Melancholie, die nach seiner Scheidung von der Kulturperle aufgetreten ist, Kiki und Spunk mit Birgittes Zwillingen auf dem Schoß, Zarina im Mittelpunkt, Maxi auf dem Weg aus dem Bild hinaus und Birgitte, die Hand allzu fest um eine Kaffeetasse gepreßt und die Absätze fest auf dem Boden, wie immer bereit, einem Kind zu Hilfe zu eilen. Jeder ist in einer typischen Geste festgehalten, die uns später ausrufen lassen wird: »Mein Gott, genau! So sahen wir damals aus! So war es!« So sah das Glück aus: eine Kuchenfrau mit drei Kerzen, ein Kind mit Augen, groß wie Teetassen, in dem konzentrierten Eifer, die Kerzen auszupusten und sich dabei die größte Mühe zu geben, während die Aufmerksamkeit einer ganzen Familie, ihrer Familie, auf sie, das Goldkind, gerichtet ist.

»Lach doch mal, mein Schatz!« ruft Paul und richtet das Objektiv auf mich.

»Hör auf!« erwidere ich und fliehe. »Du weißt doch, daß ich es hasse, fotografiert zu werden!«

»Aber warum?« fragt er und verfolgt mich in die hinterste Ecke des Gartens, genau dorthin, wo nach seiner Vorstellung ein Rhododendronbusch gepflanzt werden soll. »Dabei siehst du so gut aus!«

»Fuck!« erwidere ich und werde gegen den Jägerzaun gepreßt.

»Ja, gern!« antwortet er und knipst trotzdem. »Gestern war Samstag!«

Er senkt den Fotoapparat und küßt mich.

»So kriegen wir nie mehr Kinder!«

»Das kann auch noch warten«, entgegne ich und fange Birgittes Blick über seine Schulter hinweg auf. Sie hält eine Hand schützend über ihre Augen, um uns besser sehen zu können. Ich weiß, sie beneidet mich um die Leidenschaft. Um Pauls Leidenschaft.

»Aber warum denn, Tes?« fragt er und hält mich fest. »Wir haben doch alles! Haus und Garten, festes Einkommen und das richtige Alter. Und Zarina braucht eine kleine Schwester!«

»Eine Schwester?«

»Ich stehe nur auf Mädchen!« erklärt er und küßt mich gierig.

»Das ist ja gut zu wissen«, sage ich und mache mich frei. Mir gefiel es noch nie, mein Liebesleben öffentlich vorzuführen. Und jetzt kommt Zarina angestürmt. Sie zwängt sich empört zwischen unsere Beine.

»He! Hört auf mit der Küsserei!«

Die Gesellschaft lacht, Paul hebt sie hoch und reibt seine Nasenspitze an ihrer.

»Möchtest du nicht auch gern eine kleine Schwester?« fragt er sie.

»Nein!« erklärt sie kategorisch. Da muß ich lachen.

»Hexe!« grinst Paul.

»Kluges Mädchen!« erwidere ich und merke, daß sie kalte Beine hat. »Jetzt aber ab ins Haus und eine Strumpfhose angezogen!« bestimme ich und wende mich zum Gehen.

»Nein, ich will nicht!« ertönt es hinter mir, während Paul mich gleichzeitig an den Schultern faßt und mich zwingt, mich umzudrehen, so daß ich ihm direkt in die Augen sehe. »Heute abend ist Vollmond.«

»Ja, und?«

»Dann hast du deinen Eisprung.«

»Und?«

»Und Lust. Wie alle Frauen.«

 

Ich richte mich an der Steilküste des Schlafs ein. Pauls Pobacken leuchten genau wie der Mond durch die Lamellen der Fensterläden, er pustet mir stoßweise ins Ohr, und meine Gedanken flattern irgendwo zwischen Sonntag und Montag herum, zwischen Traum und Wachsein. Zarina schläft in dem Zimmer neben uns, wir schlafen alle drei unter dem Dach, in einem Baugenossenschaftshaus in Østerbro, das ich immer noch nicht als mein rechtmäßiges Eigentum ansehe. Hier ist es fast so still wie auf dem Land, in dem Giebelzimmer bei Tante Mo auf dem Forsthof damals. Deshalb habe ich jede Nacht dieses Gefühl von Kindheit, als würde eine Katze am Fußende schnurren, die Erinnerungen an schwere Federbetten und an Erwachsene, die in ihrem entfernter gelegenen Schlafzimmer husten oder sich gedämpft unterhalten. Ich denke an die Bornholmer Standuhr, die unten in der Stube schlug, und an die knackenden Treppenstufen, auf die mein Onkel immer trat. Das hat herzlich wenig mit Sex zu tun, und vielleicht habe ich deshalb solche Schwierigkeiten, in diesem Haus in Stimmung zu kommen. Oder ich bin ganz einfach zu müde. Zerstreut, abgehetzt. Ehrlich gesagt, bin ich eine überzeugte Gegnerin des symbolträchtigen Hauses, in das ich von Paul gelockt wurde. Er hat es mir an einem perfekten Maitag gezeigt, an dem die Nachbarn in ihren Blumenbeeten gruben und in Vorgärten Kaffee tranken, während die Kinder herumliefen und auf dem gemeinsamen Spielplatz herumtollten.

»Kannst du es nicht vor dir sehen? Das reine Dorfidyll! Und dann so nahe an der Stadt!«

Natürlich konnte ich es sehen, und ich unterschrieb auch freiwillig den Kaufvertrag für das Grundstück. Was hätte ich denn sonst machen sollen? Ich meine, was war die Alternative? In Pauls umgeräumter Junggesellenwohnung zu bleiben, in einem immerwährenden Kampf mit Legosteinen und Kekskrümeln und einem immer stärkeren klaustrophobischen Gefühl von Atemnot? Als ich also das Versprechen für mein eigenes Zimmer in dem neuen Haus bekam, waren meine Einwände nur noch formaler Art. Konnten wir das Finanzielle schaffen? Paul leierte einen langen, beruhigenden Vortrag über Brutto und Netto herunter, die günstigen Kreditzinsen, die Umlage des Wohnungsdarlehens und die guten Möglichkeiten für Staatszuschüsse bei Renovierungen, aber da hatte ich bereits abgeschaltet. Denn in Wirklichkeit waren meine Vorbehalte von so grundlegendem Charakter, daß sie in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant erschienen. Wir hatten die Landzunge passiert, waren bereits seit langer Zeit in der Fahrtrinne, wo man sich nicht mehr fragen kann, ob man überhaupt an der Segelregatta teilnehmen möchte, sondern genug damit zu tun hat, die Segel zu reffen, den Kurs zu halten und Kentern und Schiffbruch zu vermeiden. Ich war mit an Bord und hatte zumindest bis dahin meine Rolle als gehorsamer Gast, der dem Kapitän gehorchte und die ungeschriebenen Gesetze der Seefahrt zu respektieren gelernt hatte, akzeptiert. Es war Pauls Wettfahrt – er stand stolz und verbissen am Ruder, während ich über der Reling hing und nur bei hohem Seegang an Meuterei dachte.

Also bekam er sein Haus, oder genauer gesagt, wir bekamen jeder eine Hälfte. »Wir sind ja leider nicht verheiratet, das hätte alles viel einfacher gemacht«, konnte er sich nicht verkneifen anzumerken. Aber das war der einzige bittere Tropfen in der Maibowle, in der Paul das ganze Frühjahr über badete. Ganz gerührt, auch wenn es die Formen einer kitschigen Reklame annahm, konnte nicht einmal ich mich Pauls hemmungsloser Freude darüber entziehen, Mann im eigenen Haus zu spielen. Den ganzen Sommer über summte und pfiff er, während er, nur in Boxershorts gekleidet, Pinsel in Naturfarbstoffe und Leimfarbe, verrührt mit Ei, tauchte. Unterstützt wurde er dabei von Birgitte, die sich begeistert dem Projekt widmete. Auf jeden Fall haben wir schöne Räume bekommen. In Matisse-Farben, wie die beiden Experten einstimmig versicherten. Perfekte limonengrüne und hibiskusrote Rahmen für das Familienleben, das Pauls offenkundige Vision ist – die ersehnte Trophäe, der Sinn des Ganzen. Ich beneide ihn darum, versuche, ihn seinen Traum weiterträumen zu lassen, solange ich nicht mit einbezogen werde. Und dennoch mußte ich mich einmal einmischen und die Wut des Patriarchen dämpfen, als Zarina in unbewachten zwanzig Minuten die lavendelblauen Wände des Kinderzimmers mit schwarzer Fingerfarbe dekoriert hatte. Er war kurz davor, sie übers Knie zu legen, als er sie auf frischer Tat ertappte, und gewiß war es eine Unartigkeit von ihr, vielleicht sogar eine bewußte Provokation, aber seine Reaktion war unverhältnismäßig, geradezu hysterisch, ans Infantile grenzend. Sie erschrak dermaßen, daß sie in die Hosen pinkelte. Ich nahm sie in den Arm, beschützend und tröstend, während das Blut in der Gebärmutter der Löwin pochte.

»Take it easy, Mr. Perfect!« zischte ich, »wir haben vielleicht auch noch das Recht, hier zu wohnen!«

Er wirbelte herum und starrte mich an, die Augen vor Verwunderung und Wut weit aufgerissen, weil seine Geliebte, von der er angenommen hatte, sie gezähmt und besänftigt zu haben, immer noch diejenige war, die die Vorhänge herunterriß und das nackte Zimmer präsentierte. Zarina hörte schluchzend auf zu weinen, die Erde hörte auf, sich zu drehen, und mein Herz hörte in diesem Bruchteil einer Sekunde auf zu schlagen, als wir beide erkannten, daß wir hier wieder unser Spiel spielten. Daß wir trotz Versöhnung und gemeinsamer Adresse immer noch so weit voneinander entfernt waren, wie wir es immer gewesen waren. Das war so schwindelerregend erschreckend – auch für mich –, daß ich instinktiv einen Arm nach ihm ausstreckte, mich entschuldigte und ihn inständig anflehte, nicht zu gehen, als ich sah, wie der Fluchtinstinkt in ihm aufstieg. Er blieb, ließ sich umarmen, küßte Zarina, bat sie um Entschuldigung und war auch derjenige, der ihr saubere Sachen anzog.

Die Szene war einmalig und hatte unmittelbar keine anderen Konsequenzen, als daß wir uns gegenseitig mit Samthandschuhen anfaßten. Jeder für sich hatte den Tanz auf dem Vulkan erkannt, lebensgefährlich, aber zu spät, um noch abzuspringen. Unsere einzige Möglichkeit bestand darin, im Takt zu bleiben und zu hoffen, daß die Musik uns trug.

 

Paul brauchte lange, um zu kommen, und ich weiß, warum. Er haßt »Pflichtbumsen«, wird nicht aus »Vaterlandsliebe« oder bei »Zombiesex« scharf. Und so gern ich es möchte, ich kann ihm kein Orgelbrausen mit voll gezogenen Registern bieten. Ich bin zu müde, zu fern, zu wenig Körper und zu viel Kopf. Aber dann ist er schließlich doch der ersehnten Klimax so nahe, daß sein Körper sich spannt, die Adern am Hals hervortreten und die Augen weit aufgerissen sind. Ich bin kurz davor, allein davon geil zu werden. Aber da übertönt das Telefon sein hohles Stöhnen, meine zurückgehaltene Anspannung und die Nachtstille des Hauses.

Es ist das Krankenhaus in Aalborg. Ich war als nächste Angehörige angegeben. Mein Vater hatte einen Blutsturz. Koma, der Zustand ist kritisch.

»Wenn Sie ihn noch einmal sehen wollen, sollten Sie so schnell wie möglich kommen«, sagt die Nachtschwester. Freundlich. Fast schwesterlich. Das muß an der sanften nordjütländischen Art liegen.

»Ja«, sage ich verwirrt und suche nach Papier und Stift. Notiere, lege auf, drehe mich zu Paul um. Meine Stimme klingt wie ein Baß und ist mit Kalk belegt, die Worte sind mir fremd wie Diebesgut.

»Mein Vater liegt im Sterben. Ich muß nach Aalborg.«

 

Das Vernünftigste wäre gewesen, wenn ich bis zur ersten Morgenmaschine gewartet hätte. Aber ich trotze Pauls Kopfschütteln und starte den Wagen, nachdem ich zunächst Kiki angerufen habe und dann meine Mutter. Beide reagieren mit auffallendem Desinteresse. Kiki bedankt sich schlaftrunken für die Information, kann sich aber unter keinen Umständen auch nur im Traum vorstellen, sich am Sterbebett ihres Vaters einzufinden. Mutter ist in erster Linie mit der Katastrophe beschäftigt, gerade in dem Augenblick geweckt worden zu sein, als sie eingeschlafen war – »ich schlafe in letzter Zeit doch so schlecht« –, und antwortet nur mit einem kurzen Auflachen, als ich sie frage, ob sie mitfahren will. »Liebe, süße Therese, dein Vater ist doch selbst gegangen, ohne sich zu verabschieden! Aber grüße ihn gerne von mir!« Danach bin ich sieben Stunden Einsamkeit überlassen, nachdem ich von einem reichlich irritierten Paul verabschiedet wurde. Er sieht seine Abreise am nächsten Tag für seine Arbeitswoche in Odense gefährdet, wenn ich nicht rechtzeitig wieder zurück bin. Was ich beim besten Willen nicht sein werde. Ich bin nicht in der Lage, eine Diskussion zu führen, noch weniger einen Streit darüber, ob es wohl angemessen ist, seinen verfluchten Dienstplan als derzeit größtes Problem zu betrachten. Also fahre ich einfach mit heruntergekurbeltem Fenster los, während ich ihn noch daran erinnere, daß der Kindergarten einen Ausflug plant und Zarina ihre Gummistiefel mitnehmen muß. Danach sehe ich ihn im Rückspiegel am Gartenzaun stehen, die Arme in einer beschwörenden, aber resignierten Geste erhoben.

»Verflucht noch mal«, schimpfe ich mit lauter Stimme und schlage mit der Hand aufs Lenkrad. Eigentlich hätte ich ganz gut eine tröstende Umarmung brauchen können, einen Gruß mit auf den Weg, eine kameradschaftliche Hand auf der Schulter. Ich stelle das Nachtprogramm im Radio ein und gebe Gas und fahre Richtung Halsskov.

Sieben Stunden bis zur Erkenntnis, sieben Stunden Autofahrt zum Verdauen und Vorbereiten. Sieben unwirkliche Stunden unter dem Herbstmond mit Blick auf verzaubert beleuchtete Landschaften, Hügelketten und Flußläufe, die durch die Autobahn, die ich im großen und ganzen für mich habe, zerschnitten werden. Kurz vor Sonnenaufgang erinnert mich der erste Morgenverkehr nördlich von Århus schmerzlich daran, daß dies im Leben der meisten Menschen nur ein ganz normaler Tag ist. Ich rauche Zigaretten, trinke Cola und höre zur vollen Stunde Nachrichten, während das Auto sich Kilometer um Kilometer durch Jütland frißt und die Angst einzuschlafen hinter jeder neuen Kurve lauert. Die Monotonie wirkt so einschläfernd und beruhigend, daß ich zwischendurch fast vergesse, warum ich hier sitze, wohin ich fahre. Als befände ich mich in dem leichten Schlaf, kurz bevor der Wecker klingelt und ich aufstehen und Zarina wecken muß. Los, die Morgenzeitung holen und Kaffee kochen, los und in den Kindergarten fahren, los zu einem neuen Arbeitstag.

Kurz vor Skørping schrecke ich jäh auf, als plötzlich ein Reh über die Fahrbahn springt, nicht einmal zwanzig Meter vor mir. Während ich in die Bremsen trete und das Steuer scharf nach links reiße, gelingt es mir noch, die Schönheit des Sprungs zu registrieren. Das Reh verschwindet unbeschädigt im Gebüsch, während ich nach Luft schnappend wieder geradeaus fahre und in Gedanken einen anerkennenden Gruß an den Erfinder des ABS schicke. Gleich danach steuere ich einen Rastplatz an.

Ich zünde meine letzte Zigarette an, steige aus und strecke meine Beine aus, die immer noch leicht zittern. Ich laufe ein wenig herum, sauge den würzigen Duft nach Erde, Wald und Vergänglichkeit ein, sehe, wie der Tau von einer Hagebutte perlt und die Sonne ein Spinnennetz zum Glitzern bringt. Zum ersten Mal seit dem Anruf aus dem Krankenhaus wird mir der Inhalt der Nachricht wirklich klar – ein Leben ist dabei zu erlöschen, an einem anderen Ort, und dennoch mitten in allem.

Ich trete die Kippe mit dem Schuh aus und setze mich wieder ins Auto, um das letzte Stück zu fahren. Die 8-Uhr-Nachrichten teilen mit, daß die NATO bei einem Offensivangriff gegen bosnisch-serbische Stellungen Cruise-Missiles eingesetzt hat. Die Wetteraussichten verheißen schwache Winde und Sonne in den meisten Teilen des Landes. Es wird ein schöner Tag. Ein schöner Tag zum Sterben.

In plötzlicher Panik, zu spät zu kommen, weil ich getrödelt habe, weil ich den Alarm nicht ernst genug genommen habe, rase ich das letzte Stück zum Krankenhaus in Aalborg Süd. Ich verfahre mich, fluche, werde von Straßenbauarbeiten und Umleitungen gebremst und muß aussteigen und einen Schuljungen nach dem Weg fragen, bis ich endlich vor dem Krankenhausklotz ankomme. Ich lasse den Wagen auf einem Parkplatz für Behinderte stehen, werfe einen Blick auf die Übersichtstafel in der Eingangshalle, vergleiche die Angaben mit meinen eigenen Notizen und eile zielstrebig zum Fahrstuhl, den ich mit einer pergamentbleichen Frau teilen muß. Sie ist glatzköpfig und steckt in einem Bademantel aus verwaschenem bläulichen Frottee, der wie eine verbeulte Hülle um den abgemagerten Körper hängt. Sie hat eine neue Morgenzeitung unter dem Arm, Berlingske Tidene, und ich muß den spontanen Drang in mir unterdrücken, sie zu fragen, ob ich sie nicht lieber für sie tragen solle. Aber ich begnüge mich damit, mich unter ihrem leeren, allzu wissenden Blick zu krümmen. Ich wundere mich darüber, welches Interesse sie noch an unserer lebenden Welt haben kann, an Banalitäten und marktschreierischen Überschriften. Aber vielleicht weiß sie gar nicht, will gar nicht wissen, daß sie bereits die Grenze überschritten hat. Sie steigt auch in der Onkologie aus, Abteilung DI. Ich lasse sie vorgehen und folge dem Engel des Todes auf dem Weg den Flur entlang. Als sie in ihr Zimmer gleitet, stehe ich plötzlich allein da, unsicher und fremd wie ein unerwünschter Eindringling, dessen einzige Berechtigung, hier einzudringen, in meiner Rolle als Statistin in einem Drama besteht, von dem ich kaum die Umrisse kenne. Kurz vor der Glasluke der diensthabenden Krankenschwestern drehe ich feige ab und suche Zuflucht in einer Toilette, wo es mir gerade noch gelingt, mich über eine Schüssel zu krümmen, bevor ich die Nacht erbreche. Die Colas, die Zigaretten, den Easy-listening-Pop, die Müdigkeit und die Angst vor der Gegenüberstellung, die mich jetzt erwartet. Gefaßt und ruhig möchte ich sein, wenn ich dem Tod begegne. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, überlege, ob ich mein übliches rudimentäres Make-up auflegen soll, um die flackernden Schatten der schlaflosen Nacht zu camouflieren, verwerfe diesen Gedanken jedoch als obszön, gerade hier, wo doch alle quasi nackt sind. Also trinke ich etwas Wasser aus dem Hahn, murmle ein beschwörendes »Come on, honey!« und verlasse den Schutzraum mit dem einzigen Wunsch, daß es noch nicht zu spät sein möge.

»Wie gut, daß Sie kommen! Sind Sie allein?« fragt die Krankenschwester, als ich mich bei ihr melde. Die Nachtwache ist nach Hause gegangen, aber sie hier ist genauso lieb und nordjütländisch fürsorglich.

»Ich bringe Sie zu Herrn Skaarup«, sagt sie und versteht meine unausgesprochene Frage.

»Ich fürchte, wir werden ihn nicht mehr lange unter uns haben. Er ist sehr instabil.«

Ich folge still ihrem Kittelknistern, und dann sind wir da – in einem kleinen Einbettzimmer mit einem hohen Krankenhausbett mitten im Raum. Dort, unter einer weißen Waffeldecke, in die der Krankenhausname blau eingewebt ist, liegt eine unbewegliche Gestalt, die ich auf den ersten Blick gar nicht als meinen Vater wiedererkenne. Das Gesicht ist grau, die Züge sind eingefallen, der Mund schief verzogen und die Nase ragt viel zu scharf hervor. Der einst so dichte Bart ist zu grauen Zotteln geworden, und seine breite Wikingerbrust ist nichts mehr als Knochen, die von stramm sitzender Haut überzogen sind. Das einzige, was ich an ihm wiedererkenne, sind die schwarzen Augenbrauen, zwei breite Tuschestriche mitten in der Farblosigkeit.

Er ähnelt einem Picasso-Gemälde, einem verzerrten Guernica-Pferd, das er mir selbst einmal in einem der seltenen Augenblicke vor Hunderten von Jahren gezeigt hat, an einem ruhigen Sonntag, als wir uns Kunstbücher ansahen. Er versprach, wenn ich größer wäre, mir alle diese Bilder im Original zu zeigen, mich in alle Museen der Welt mitzunehmen, nach Madrid, London, Paris, Florenz, New York. Aber daraus ist auch nichts geworden.

Ich weiß, mein Mund steht offen in stummem Entsetzen, ich sehe mich selbst, wie ich mich schluchzend auf ihn werfe, aber ich kann nur vollkommen starr dastehen. Ein Schrei steckt in mir fest. Er liegt so still da. Er muß schon tot sein. Sie haben es nur noch nicht gemerkt.

Die Krankenschwester streift meinen Arm, als sie sich vorsichtig vorbeischiebt und ihm zwei Finger aufs Handgelenk legt, um seinen Puls zu fühlen.

»Ja«, sagt sie anschließend konstatierend. »Er schläft gut.« In dem Moment huscht ein Ruck über sein Gesicht, und jetzt wird die Stille von einem plötzlichen Nach-Luft-Schnappen durchbrochen.

»Hat er Schmerzen?« frage ich.

Die Krankenschwester schüttelt verneinend den Kopf. »Dann würde er sich mehr winden. Unruhiger sein. Er ist schon so weit, daß er nichts spürt.«

»Haben Sie ihm was gegeben?« frage ich mit einem Blick auf den Schlauch, der an seinem Handrücken befestigt ist und zum Tropfbeutel am Stativ führt.

»Salzwasser und Glucose. Er hat nur einmal letzte Nacht etwas Schmerzstillendes bekommen, danach nicht mehr. Er wollte gern aushalten, bis Sie kommen«, fügt sie hinzu. Ich nicke. Begreife, daß wir die Grauzone berühren, die inoffizielle Sterbehilfe heißt. Eine extra hohe Dosis Morphin, um die Endphase abzukürzen.

»Danke«, flüstere ich. »Ist er ganz weggetreten? Oder kann er uns hören?«

»Sie sollten zumindest davon ausgehen, daß er hören und verstehen kann, was um ihn herum passiert. Sie sollten auf jeden Fall mit ihm reden. Ganz bestimmt erkennt er Ihre Stimme wieder. Die wird ihn trösten. Haben Sie übrigens schon gefrühstückt?«

Ich schüttle den Kopf, wende meinen Blick wieder dem gestürzten Picasso-Pferd zu.

»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen Kaffee und Brote besorge?« fragt sie und streift wieder meine Schulter, als sie an mir vorbeigeht.

»Wenn es möglich wäre«, erwidere ich, »würde ich auch gern mit einem Arzt sprechen.«

Sie nickt freundlich an der Tür.

»Ich werde dem Oberarzt sagen, er soll bei Ihnen hereinschauen.«

Dann bin ich allein. Dann sind wir allein. Ich stelle meine große Tasche hin, ziehe meine alte Jeansjacke aus und setze mich vorsichtig auf die äußerste Bettkante, auf der Seite, wo auch der vollgestellte Nachttisch steht. Mir fällt ein großer Strauß roter Rosen auf, der in einer Krankenhausvase steht. Sonst gibt es keine Blumen, kein Obst, keine Schokolade. Nur zwei kleine Becher mit Medizin. Ein Tuch in einer kleinen Schale mit Wasser. Ein halbvoller Becher mit Deckel.

Wieder ist ein schwaches Stöhnen zu hören, die Lippen kräuseln sich vorsichtig zu einer Seite, das eine Augenlid schiebt sich ein wenig hoch, so daß ich sein braunes Auge sehen kann.

»Vater!« flüstere ich und umfasse vorsichtig seinen völlig abgemagerten Arm. Seine Haut ist klamm und kalt, als würde die Kälte ihn bereits von innen durchdringen. Mich überläuft ein Schauder, aber ich lasse meine Hand federleicht liegen, um ihm nicht weh zu tun.

»Vater«, wiederhole ich und sehe, wie er wieder in Schlaf fällt. »Ich bin es, Therese, ich bin hier. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde die ganze Zeit hierbleiben.«

Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich den gleichen mütterlichen Ton benutze, mit dem ich Zarina nachts nach einem Alptraum beruhige. Zart und sanft, ja, ja, Mama ist da, Mama paßt auf dich auf. Gleichzeitig vollkommen falsch und genau richtig. Vielleicht habe ich erwartet oder gehofft, daß er auf mirakulöse Weise beim Klang meiner Stimme die Augen aufschlagen würde. Erleichtert und froh darüber lächeln würde, daß seine Tochter schließlich doch noch gekommen ist. Von selbst meine Hand ergreifen würde, sie drücken und all das sagen, was er nie gesagt hat. Ich weiß, das ist der letzte Rest von Kindlichkeit, der kindische Wunsch, daß die Dinge ein einziges Mal wie in altmodischen Romanen enden, in denen das Sterbebett die Bühne für Versöhnungen und Erlösung bildet. Aber das Wunder bleibt aus, es gibt nicht einmal ein Zeichen dafür, daß er mich hört, dort, wo er sich jetzt befindet. Vielleicht erinnert er sich nicht einmal mehr an mich. Vielleicht ist er ganz verschwunden in den tiefsten Schichten der eigenen Kindheit, als ein kleiner Junge mit nackten Beinen, der hinter den Hühnern herläuft und sich im Brombeergestrüpp hinter dem gekalkten Stall versteckt, wenn Großvater ihn bestrafen will.

»Vater«, sage ich wieder, beuge mich noch weiter über ihn, damit er mich besser hören kann. »Ich bin die ganze Nacht quer durch Jütland gefahren. Der Vollmond schien auf die Felder. Das letzte Getreide ist abgeerntet. Die Stoppeln sind jetzt abgebrannt, an einigen Stellen konnte man es noch riechen. Erika blühte in der Heide. Alles war in Mondschein gebadet. Ich habe sogar eine Schafherde gesehen, die lagerte und schlief. Und ganz früh am Morgen beim Rold Skov sprang mir ein Reh vors Auto. Der Sprung war unglaublich schön, als hinge es in der Luft. Zum Glück habe ich es nicht angefahren. Jetzt scheint die Sonne. Der Himmel ist hoch und extrem blau.«

Ich halte abrupt inne. Normalerweise rede ich nicht so, in poetischem Telegrammstil. Aber jetzt kommt die Reaktion. Seine Finger krümmen sich ganz schwach unter meiner Hand, seine Augenbrauen zucken, und er stößt eine Art Brummen mit mehreren Silben aus, als versuchte er etwas zu sagen. Aber ich bin mir dessen nicht so sicher, suche beunruhigt Zeichen von Schmerzen.

»Tut es weh?« frage ich hilflos. »Soll ich lieber nicht weiterreden?«

Er brummt wieder, immer noch, ohne die Augen zu öffnen, und wieder mit dieser leichten Krümmung der Fingergelenke wie das Kitzeln eines Insekts auf meiner Handfläche.

»Er versucht Ihnen zu antworten. Reden Sie nur weiter!«

Da ist die Krankenschwester wieder, an der Tür. Sie lächelt und schiebt einen Teewagen herein mit einer Thermoskanne, einer Kaffeetasse und mit einigen belegten Broten.

»Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie mehr Kaffee möchten. Und klingeln Sie, wenn sonst etwas ist. Dr. Holmstrup wird gleich vorbeikommen«, sagt sie, stellt den Wagen neben mich und ist im nächsten Moment schon wieder draußen.

Ich schiele zum Frühstück hinüber. Der Kaffeeduft steigt mir in die Nase, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich bin ich hungrig wie ein Wolf, werde aber vom ehrfürchtigen Respekt vor einem der heiligen Augenblicke des Lebens zurückgehalten. Ist es nicht unpassend, sich gerade jetzt einfach zum Frühstück hinzusetzen?

Aber da erklingt lautes Lachen vom Flur. Türen schlagen. Ein Radio dringt leise durch die Wand. Die Sirene eines Krankenwagens wird draußen angestellt. Aus dem Nachbarzimmer ist eine WC-Spülung zu hören. Die Geräusche des Fahrstuhls klingen wie dumpfes Dröhnen. Die Welt hält nicht die Luft an. Die Welt ist ein einziger großer Organismus, der ißt und trinkt, scheißt und schläft, liebt und streitet. Immer. Und mein Vater ist wieder in sich versunken. Seine Hand ist schlaff unter meiner, sein Gesicht ist zur Ruhe gekommen. Der Puls pocht schnell unter der dünnen Haut seines Halses. Seine Atemzüge sind leicht und regelmäßig. Ich mache vorsichtig meine Hand frei, stehe auf, schenke mir Kaffee ein, setze mich in den Besucherstuhl und mümmle alle drei Scheiben mit Käse und Marmelade in mich hinein. Schwarzbrot und Weißbrot und noch mehr Kaffee. Ich denke über das Bizarre der Situation nach und werde noch mit vollem Mund erwischt, als ein Mann mittleren Alters in weißem Kittel eintritt. Oberarzt Niels Holmstrup kann ich auf seinem Schild lesen, bevor er sich selbst vorstellt, während ich verwirrt aufstehe und seine ausgestreckte Hand ergreife.

»Sie sind also Skaarups älteste Tochter?« fragt er, und ich nicke und breite entschuldigend die Arme aus, weil ich immer noch nicht hinuntergeschluckt habe.

»Therese, nicht wahr? Sie sind doch die aus dem Fernsehen, oder?«

»Entschuldigung«, ich nicke in Richtung des leeren Tellers. »Ich bin die ganze Nacht gefahren.«

»Keine Ursache«, sagt er freundlich. »Schließlich nützt es nichts, wenn Sie vor Hunger sterben, oder? Ihrem Vater geht es ja nicht so gut«, erklärt er dann und wendet sich dem Bett zu. Er umfaßt sanft den Fuß des Patienten; es wirkt wie ein aufmunterndes Streicheln. »Nun, ich weiß ja nicht, wie genau Sie vorher über die Krankheit Ihres Vaters im Bilde waren.«

»Nicht sehr gut«, muß ich zugeben. »Er hat mir vor kurzem geschrieben, er hätte einige ›Zipperlein‹...«

Der Oberarzt lächelt verschmitzt.

»Typisch Skaarup«, sagt er. »Ja, wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen. Ins Gymnasium von Frederikshavn. Bis er alles hingeschmissen hat und nach Kopenhagen abgehauen ist. Er war Læsøs Enfant terrible. Er war es, der uns anderen den Dadaismus, den New Orleans Jazz, Karl Marx und französischen Rotwein nahegebracht hat. Ganz unglaublich, wenn man dabei seinen Hintergrund in Betracht zieht. Ich habe ihn grenzenlos bewundert. Ohne Skaarup wäre ich selbst nie rausgekommen.«

Ich betrachte eingehend sein Profil. Ein gutaussehender Mann Ende Fünfzig, der gut auf sich aufgepaßt hat. Schlank, graue Schläfen, ein gesunder Teint – wahrscheinlich vom Golfplatz. Gute Karriere, schöne Frau, nette Kinder. Der richtige Cholesterinwert und geschmackvolles Design. Er ist für mich in jeder Beziehung eine massive Provokation, mit all dieser Schönheit, die ich seit meiner rebellischen Jugend verachte. Aber jetzt möchte ich nur soviel Information wie möglich von seinen Augen ablesen, seine Erinnerungen abzapfen, ihm all sein Wissen über diesen fremden Mann herauslocken, der hier liegt und der mein Vater ist. Niels Holmstrup steht in Gedanken versunken da, findet aber schnell wieder den sachlichen Ton.

»Ihr Vater hat seit längerer Zeit an Magenkrebs gelitten, der allzu lange unbehandelt in seinem Körper wüten durfte. So konnte er nicht mehr gestoppt werden, als Ihr Vater endlich zum Arzt ging. In Frederikshavn haben sie ihn aufgeschnitten, konnten aber nichts mehr für ihn tun, und als dann noch dieser Blutsturz dazu kam, ist er hier eingeliefert worden. Das habe ich selbst veranlaßt – nicht, weil ich viel hätte ausrichten können. Aber nachdem er zurückgekommen ist, haben Ihr Vater und ich uns ab und zu mal wieder getroffen ...«

»Haben Sie zusammen Schach gespielt?« werfe ich ein, denn plötzlich erinnere ich mich an den Namen Niels Holmstrup, höre den Namen, wie Vater ihn ausgesprochen hat, wie ein Wort aus seiner fernen Welt, wie Læsø, wie Klippfisch, wie wehender Sand, wie Innere Mission.

»Ja! Das stimmt!« Er strahlt. »Und das ist wohl das einzige, von dem ich behaupten kann, daß ich es ihn gelehrt habe! Schachspielen! Und er wurde natürlich in Windeseile ein souveräner Schachspieler. Die einzige Möglichkeit, gegen ihn zu gewinnen, war sein Temperament. Er regte sich immer viel zu schnell auf und war ein schlechter Verlierer!« Holmstrup schüttelt den Kopf und umfaßt wieder den Fuß unter der Decke.

»Du hattest immer gegen dein Temperament zu kämpfen, Skaarup, damals jedenfalls. Du warst ein reichlich wilder Bursche. Sie können sich sicher nicht mehr daran erinnern«, sagt er dann zu mir gewandt, »aber da war dieses Feuer, das immer in ihm brodelte und flackerte. Immer am Rande des Vulkans.« Ich nicke. Doch, daran kann ich mich noch gut erinnern. Schwere Schritte die Treppe hinunter, der plötzlich aufflammende Wutausbruch, die zurückgeschobenen Stühle, die lautstarken Streitereien mit Mutter und ihre ebenso lautstarken Versöhnungen anschließend im Schlafzimmer, während Kiki und ich im Wohnzimmer saßen, die Finger in den Ohren.

»Aber«, sagt Holmstrup und drückt den Fuß leicht, »so ist es in letzter Zeit ja nicht mehr gewesen. The Lion has lost his force.« Er seufzt, traurig, wie ich sehe. Eher als Freund denn als Arzt. Es rührt mich, daß er einen Freund gehabt hat. Daß es wenigstens noch einen Menschen gibt, dem er nicht gleichgültig ist. Daß es noch einen gibt, der ihn ohne Verdruß gekannt hat. »Gibt es eine Chance, daß er noch einmal die Augen aufmacht?« frage ich, nachdem ich mir fest auf die Lippen gebissen habe, um die Tränen zurückzuhalten.

Holmstrup tut das gleiche wie die Krankenschwester, er prüft den Puls. Als wolle er die Antwort etwas hinauszögern, wie ich annehme.

»Man soll nie nie sagen. Aber ich denke, Sie sollten sich darauf gefaßt machen, daß Ihr Vater bereits in die Phase eingetreten ist, in der er immer weiter von uns weggleitet.«

Ich sehe das Schiff vom Kai ablegen und mich, die ich am Ufer stehe, außerstande, es zu erreichen, außerstande, zu verhindern, daß der Abstand zwischen uns immer größer wird, bis es zum Schluß nur noch ein schwarzer Punkt auf dem offenen Meer ist. Genau, ein Meer. Kein Fluß.

»Wie lange wird es dauern?« frage ich, versinke in mir und höre selbst, wie dünn meine Stimme wird.

»Das ist schwer zu sagen. Einige Stunden, denke ich. Sind noch andere Angehörige auf dem Weg? Ihre Schwester? Oder Ihr Mann?«

Ich schüttle den Kopf. Außerstande, etwas zu erklären oder zu entschuldigen.

»Dann sind Sie ganz allein?« fragt er und versteht vielleicht mehr, als ich geglaubt hatte. Und da ist auch noch so ein Unterton von Besorgnis in seiner Stimme, als wäre das hier nichts, was man allein durchstehen sollte.

»Ja, ich bin ganz allein«, antworte ich und nehme mich zusammen. Großes Mädchen. Merkwürdigerweise ist es genau wie damals, als ich am Kreißsaal ankam, mir die gleiche Frage gestellt wurde und ich die gleiche toughe Antwort geben mußte.

»Also«, sagt er, als sein Piepser sich in seiner Kitteltasche meldet, »ich muß jetzt zu einer Konferenz, aber ich komme anschließend wieder ...«

 

Der Vormittag vergeht ohne Veränderungen. Holmstrup schaut ein paarmal herein, die Krankenschwester kommt mit Saft und meint, ich könnte gern zum Kiosk hinuntergehen. Sie würde dann solange bei ihm sitzen bleiben. Das soll wohl heißen, daß er nicht im nächsten Moment sterben wird. Ich vertraue ihrer Kompetenz, beeile mich aber trotzdem und habe das Gefühl, der Fahrstuhl sei viel zu langsam, als ich mit den Tageszeitungen, Zigaretten und ein paar blankpolierten Äpfeln wieder hochfahre. Als ich an einem Münztelefon vorbeikomme, überlege ich, ob ich zu Hause anrufen soll, lasse es dann aber doch. Das Risiko, einen beleidigten Paul am Telefon zu haben, ist zu groß. Dafür fällt mir ein, daß ich ja an meinem Arbeitsplatz anrufen muß. Ich habe zwar keinen Dienst, hatte aber versprochen, an einer Konferenz für die Konzeptentwicklung eines neuen Auslandsmagazins teilzunehmen, dessen Studioleiterin ich vielleicht werden soll. Das ist zwar noch nicht offiziell, aber mir ist von Big Mama, unserem weiblichen Programmchef, ins Ohr geflüstert worden, daß das ihr heimlicher Plan ist. »Mehr Frauen in die große Politik!« wie sie sagt. Nach außen hin setzt sie auf mehrere Pferde, damit die old boys in der Redaktion nicht anfangen zu mauern. Mehrere von ihnen haben auf ihre alten Tage angefangen, an einer Art Walter-Cronkite-Syndrom zu leiden: Jetzt, wo sie zu alt sind, um in den Krieg zu ziehen, möchten sie gern zurückgelehnt im Studio sitzen und die Weltsituation in Gesellschaft gelehrter Gäste mit einem Glas Selters vor sich analysieren. Das findet Big Mama, die sie kennt, seit sie noch jung waren und bei der Roskilde avis ihre Ausbildung gemacht haben, ziemlich pathetisch. Deshalb hat sie mir die Rolle des chancenreichen Außenseiters zugeteilt. Und außerdem meint sie, ich müsse mich nach der verhältnismäßig unspektakulären Baby- und Kleinkindzeit mal wieder stärker profilieren.

Und darin muß ich ihr recht geben – ich habe meine Arbeit zwar brav und ordentlich gemacht, aber irgendwie fehlte meiner Karriere in letzter Zeit der rechte Schwung. Seit Zarinas Geburt mußte ich notgedrungen erkennen, daß es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt, zwischen Müttern und Vätern, zwischen Paul und mir. Auch nach dem Erziehungsurlaub, aus dem ich mit voller Kraft wieder zurückkehren wollte, gelang es mir einfach nicht, meinen Platz auf der Führungsebene auszufüllen, ganz einfach, weil meine Kondition nicht gut genug war. Ich war vom Mangel an Schlaf, richtigem Essen und allgemeiner Fürsorge physisch derart geschwächt, daß ich nur eine passable, routinemäßige Leistung erbringen konnte. Beim Sender versuchten sie sogar, Nachsicht zu üben, und gaben mir trotzdem ein paar der eigentlich ziemlich begehrten Reportagereisen, aber das eine Mal bekam ich am Abend vor dem Abflug ins Baltikum eine Grippe, das andere Mal waren wir gerade eineinhalb Tage in Prag, als Zarina in einem unbeaufsichtigten Augenblick zu Hause vom Küchentisch fiel, sich das Schlüsselbein brach und mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Am Telefon versuchte Paul das Ganze herunterzuspielen und forderte mich auf, meine Arbeit in Ruhe zu beenden, aber sobald wir das geplante Interview mit Präsident Havel im Kasten hatten, nahm ich den ersten Flug nach Hause. Voller Angst, Unruhe und Empörung über Pauls Nachlässigkeit. Wenn er nur besser aufgepaßt hätte, statt dazusitzen, in der Nase zu bohren und CNN zu gucken, dann wäre das nie geschehen. Doch als ich ins Krankenhaus gerannt kam, um mein geliebtes Kind zu retten, saß dieses natürlich fertig angezogen auf dem Boden des Spielzimmers in der Kinderabteilung, lachte, trank Cola mit einem Strohhalm und war ganz und gar nicht damit einverstanden, daß ich sie mit nach Hause nehmen wollte. Mitten in meiner Erleichterung wurde ich so stinkwütend auf Paul, der neben ihr saß und mit dem Brio-Zug dampfte, daß ich zuerst einen hysterischen Anfall bekam und dann neben den beiden auf dem Boden zusammenbrach. Dabei gelang es mir nicht, ohnmächtige Weinkrämpfe zurückzuhalten, von denen ich bisher gedacht hatte, sie wären neurotischen Frauen in spanischen Filmen vorbehalten. Ich hatte in den letzten drei Jahren bereits mehrere davon, und jedesmal lösten sie eine Kettenreaktion aus: zuerst Zarinas erschrockenes Schreien und danach irgendeine gezischte Gemeinheit von Paul, der sich daraufhin meistens auf dem Absatz umdrehte und den Ort des Geschehens verließ. Sein Reaktionsmuster ähnelt dermaßen einem bedingten Reflex, daß ich schon darüber nachgedacht habe, ob seine eigene Mutter sich vielleicht früher auch so aufgeführt hat? Zumindest empfinde ich in diesen Momenten fast eine gewisse Form von Sympathie für diese eiskalte Person, von der man ansonsten positiv nur vermerken kann, daß sie die Großmutter meiner Tochter ist. Aber ich schäme mich für die Anfälle, die mich in einer absoluten postepileptischen Erschöpfung zurücklassen. Zum Glück ist es mir bisher im großen und ganzen gelungen, sie auf den Privatbereich zu begrenzen. Nur ein einziges Mal spürte ich quasi in der Öffentlichkeit einen derartigen Anfall aufsteigen: Als ich in eine lächerliche fachliche Diskussion mit einem wichtigtuerischen, frischgeschlüpften Reporterküken über die formale Beziehung der Duma zum Präsidenten verwickelt wurde. Sein Wissen hatte Schlagzeilenniveau, ich wußte, daß ich recht hatte, aber ich hatte nicht die Kraft, mich mit ihm zu messen, und zum Schluß war ich soweit, daß ich fast schluchzend auf den Boden trampelte. Ich wurde im letzten Moment von Kirsten, der Produktionsassistentin, gerettet, die trotz ihres jugendlichen Alters und ihrer begrenzten Lebenserfahrung eine Art emphatischen Instinkt besitzt, genau im richtigen Augenblick zu erscheinen. Sie schickte den Jungen mit dem Hinweis raus, er solle auf der Autobahn weiterspielen, was er ihr sicher nie verziehen hat. Dafür konnte er später damit angeben, daß er statt meiner nach Prag geschickt wurde. Und während seine Karriereleiter steil nach oben führte, zeigt meine so sehr in die Waagerechte, daß ich zwischendurch bereits fürchte, den Auftrieb ganz und gar verloren zu haben.

Eigentlich habe ich erst im letzten Halbjahr das Gefühl, meine wahre Person wiedergefunden zu haben. Wie immer diese auch sein mag. Aber wenn ich mich der Einfachheit halber damit begnüge, es bei einer rein physischen Definition zu belassen, dann kann ich zumindest sagen, daß ich so langsam wieder auf dem Damm bin und derjenigen ähnele, die ich früher einmal war. Damals. Damals, als ich allein war und nicht im Traum daran dachte oder mir wünschte, daß aus eins zwei und aus zwei drei werden sollte. Damals war ich unbesiegbar, geschlechtslos und sehr, sehr dumm. Damals, als es noch keinen Mann in meinem Leben gab. Damals, als Paul für mich noch nicht existierte.

Ausgerechnet Paul, der jetzt so intensiv existiert, daß ich ihn mit mindestens einer Million Dänen teilen muß, wenn diese die TV2-Nachrichten einschalten. Dort hat er – nicht gerade überraschend – den Thron von The Real Mr. News bestiegen, direkt vor der Nase von Kollegen und Konkurrenz. Was unsere Einkaufstouren und Teilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen zu einer Art Hürdenlauf zwischen Autogrammjägern, Gaffern und denjenigen macht, die ihr Desinteresse offensichtlich zur Schau stellen. Wobei letztere fast die Schlimmsten sind, weil Paul mangelnde Popularität nicht ertragen kann. Ein sonderbarer Charakterzug, der seit seiner Premiere im Fernsehen zutage tritt und um so merkwürdiger erscheint, als Paul ansonsten nicht gerade als servil oder konfliktscheu gilt. Das hat wohl etwas mit der großen Masse, dem Volk zu tun, vor dem sie eine Heidenangst haben, all die Kamerageilen.

»You can’t win them all!« erklärte ich ihm einmal, als er in einer Kioskschlange zuließ, daß jemand sich vordrängelte, und statt über die offensichtliche Unhöflichkeit verärgert zu sein, seinen ganzen Charme entfaltete, nur um dem armen Schlucker hinterm Tresen ein Lächeln zu entlocken. Vergeblich übrigens, was den Versuch noch peinlicher wirken ließ.

»Verdammt noch mal, ich muß das tun!« erklärte er und machte ein verkniffenes Gesicht, als wir auf dem Bürgersteig standen. »Von denen lebe ich schließlich!«

»Aber deshalb mußt du dich doch nicht anbiedern!« erwiderte ich, und schließlich landeten wir in dieser sich immer wiederholenden Diskussion über TV2 contra öffentlich-rechtliches Fernsehen, über den Unterschied, auf der Basis harter kommerzieller Kalkulationen zu arbeiten oder ein behütetes Berufsleben in einem finanzierten Sandkasten zu führen. Wir verteidigen jedesmal mit gleicher Verbissenheit unsere Arbeitsplätze, und manchmal wird mir klar, daß das eigentlich zu weit geht. Es ist gar kein Paartherapeut mit langer Warteliste nötig, um zu durchschauen, daß es unser eigener privater Machtkampf ist, der hier auf die übertriebene Arbeitsplatz-Identifikation projiziert wird. Paul ist nicht immer himmelhoch begeistert von den Zuständen am Kvaegtorvet, und mein Sender hat weiß Gott einen Teil seines Charmes verloren, seit die Panik über schlechte Quoten und schwindende Zuschauerzahlen die Leitung dazu gebracht hat, Rationalisierungsfachleuten Tür und Tor zu öffnen. Vielleicht überreagieren wir, wie die Leitung behauptet, aber es ist nicht so leicht, eine Paranoia zu vermeiden, wenn man fast noch Schrittmesser angeschnallt bekommt, um zu messen, in welcher Zeit der Abstand vom Schreibtischstuhl zur Toilette zurückgelegt worden ist. Und dann die angekündigte Bepunktung, die Angst, trotz aller guten Prognosen eines Tages das Sausen der Guillotine zu hören und zu seiner Verwunderung festzustellen, daß es der eigene Kopf ist, der da fallen soll.

Und warum nicht meiner? Eine unsichere Frau im gebärfähigen Alter, die jederzeit vom Fortpflanzungstrieb oder dem ersten Krankheitstag ihres Kindes aus der Bahn geworfen werden kann. Ich habe, vor allem in den letzten Monaten, meine Mutterschaft in einem Ausmaß heruntergespielt, daß man glauben könnte, ich hätte gar kein Kind. Das ist die einzig erfolgversprechende tragbare Strategie auf dem von Männern beherrschten Arbeitsmarkt. Ich selbst habe das Gefühl, daß ich wieder in Schwung gekommen bin, aber erst die Pläne, die Big Mama mir ins Ohr geflüstert hat, haben mich dazu gebracht, etwas von der Anspannung abzubauen. Inzwischen gehe ich davon aus, nun doch nicht auf der Liquidierungsliste zu stehen. Nicht einmal Paul kennt meine heimliche Beunruhigung und meine Furcht, nicht bestehen zu können. Ich habe meine geheimen Kämmerchen, genau wie er seine. Ich rufe den Sender von einer Zelle in der Eingangshalle aus an, räuspere mich und lege mir ein paar neutrale Sätze zurecht.

»Na, was ist, hast du inzwischen gelernt, einen Schlips zu binden?« fragt Big Mama, als ich endlich zur Redaktion durchgekommen bin. Ich teile ihr meine Absage mit, und sie kann gerade noch verärgert mit der Frage reagieren: »Da ist doch nicht schon wieder was zu Hause passiert?«, bevor ich sie über die Lage informiere und sie darauf mitfühlendes Verständnis zeigt.

»Hattet ihr ein enges Verhältnis, dein Vater und du?« fragt sie.

»Nun ja«, antworte ich. »Wir haben uns nicht besonders oft gesehen.«

»Deshalb kann es trotzdem eng sein. Ich habe erst gemerkt, was für eine enge Beziehung ich zu meinem Vater hatte, als er tot war. Ich habe danach ein ganzes Jahr nicht ruhig geschlafen! Achte darauf, daß du dich richtig verabschieden kannst! Und wer hält deine Hand?«

»Das tue ich selbst«, erwidere ich und stecke meinen letzten Zehner in den Schlitz.

»Aber Tes! Das geht doch nicht!« protestiert sie.

»Ich habe zwei Hände«, erkläre ich und beende das Gespräch. Sonst endet es noch damit, daß sie selbst hier angestiefelt kommt – Aalborg hin oder her. Man nennt sie schließlich nicht umsonst Big Mama.

Die Krankenschwester steht über meinen Vater gebeugt und tupft seine Stirn mit einem Tuch ab.

»Er hat ein bißchen kalten Schweiß«, sagt sie und wischt ihm auch die Mundwinkel ab, in denen etwas Spucke zu sehen war. Das ist etwas Neues gegenüber vorhin, denke ich. Ich finde auch, daß er viel blasser geworden ist, ganz fahl, aber vielleicht ist es auch nur der Kontrast zu ihrer gesunden Sommerfarbe, der plötzlich so kraß auffällt.

»Wir haben ihn gestern rasiert«, sagt sie und legt das Tuch hin. »Aber ich denke, heute lassen wir ihn in Ruhe, nicht wahr?«

Ich nicke. Mir fällt ein Bild ein: Ein kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt, ist im Nachthemd von zu Hause weggelaufen. Ich will zum Tivoli, komme aber nur bis zum Milchgeschäft an der Ecke, wo Frau Iversen mich einfängt und mich heulend nach Hause schleppt. Auf dem Treppenabsatz vor unserer Tür steht er, in Pyjamahose und Unterhemd, mit blitzenden gelben Wolfsaugen und einer Maske aus weißem Rasierschaum. Die Zähne sind wie zu einem wütenden Biß entblößt. Mein Schreien, das jäh zerschnitten wird, die Hitze im Unterleib und die rinnende Wärme, als ich mir in die Hosen pinkle. Seine bärenstarken Gorillaarme, die mich hochheben und ins Bett stecken. Der parfümierte Duft nach Rasierschaum, wie eine Scherbe in der Nase, das phlegmatische Schweigen meiner Mutter und mein Weinen, das unter der Decke hinter der geschlossenen Tür wieder hervorbricht. Niemand tröstete mich, bis Mutter und Vater gegangen waren, Tante Mo endlich kam und ich mich schließlich schluchzend an ihrem frisch gebügelten Hemdblusenbusen ausweinen durfte. Erst als er spätabends heimkam, aufgemuntert von einer Vernissage und mit einem Dunst von Rotwein um sich, als er einen Apfel aus der Manteltasche zog und ihn auf meinen Nachttisch legte, da glaubte ich, daß ich doch nicht für alle Zeiten verstoßen war.

»Klingeln Sie nur, wenn etwas ist«, sagt die Krankenschwester auf ihrem Weg hinaus. Ich nicke und setze mich auf den Stuhl, falte die Zeitung auseinander und überfliege die Nachrichten. Ich habe mich bereits so weit auf meinen eventuellen Job eingestellt, daß ich nach relevanten Blickwinkeln suche, nach Hintergründen und Zusammenhängen in der Flut der Nachrichten, die vielleicht später bearbeitet und zu interessanten Magazinbeiträgen werden können. Deshalb habe ich entgegen meinen Gewohnheiten damit begonnen, schon gleich nach dem Lesen auszuschneiden und zu sortieren, so daß ich mein ganz privates Archiv habe. Natürlich weiß ich genau, daß unsere Ressourcen nicht die Tagesordnung bestimmen können, wir werden in hohem Grad vom Markt definiert – was bieten die großen Networks, welches Team ist schon wo gewesen, was können wir billig kriegen und dennoch so herausputzen, daß es aussieht wie eine Eigenproduktion? Ich habe keine Schere, hole jedoch einen Kugelschreiber zum Markieren heraus und blättere zu den Auslandsseiten. Sie werden vom NATO-Angriff auf die bosnisch-serbischen Stellungen dominiert, und auch wenn es sicher primitiv oder oberflächlich ist, so teile ich allmählich das verbreitete »go-get-them«-Gefühl. Weder die Moslems noch die Kroaten sind reine Unschuldslämmer, aber meine reisenden Kollegen in Sachen Krieg sind mit wenigen Ausnahmen alle der Meinung, daß die Serben zweifellos die größten Aggressoren sind, die bestialischsten Barbaren und die größten und skrupellosesten Lügner.

»Die müssen zum Frieden gebombt werden«, wie mein desillusionierter Kollege in der Redaktion es ausdrückt. Er ist jetzt drei bis vier Jahre lang zwischen dem Sender und der jeweils spektakulärsten exjugoslawischen Front hin und her gependelt und nach eigener Aussage »fed up«. Seine Partnerschaft ist zerbrochen, sein Zigarettenverbrauch hat sich verdoppelt, und seine Scherze sind immer zynischer geworden, dennoch kommt er nie ohne Paß und kugelsichere Weste zur Arbeit. Allzeit bereit.

»Was willst du tun, wenn der Krieg zu Ende ist?« habe ich ihn eines Tages gefragt, als er sich wieder einmal auf eine Abreise vorbereitete. »Dann finde ich einen anderen Krieg«, erwiderte er finster. »Du endest noch wie Jan Stage«, kommentierte die Produktionsassistentin. »Ja? Das ist mein größtes Ziel!« grinste er und schlug sich den Kragen seiner Lederjacke bis zu den Ohren hoch.