Männer, die sich schlecht benehmen - Joshua Ferris - E-Book

Männer, die sich schlecht benehmen E-Book

Joshua Ferris

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Beschreibung

Mit einer geradezu unheimlichen Menschenkenntnis schildert Joshua Ferris seine Grübler und Neurotiker, seine hochintelligenten und sensiblen Männer und Frauen, die so gern aus ihrer Haut möchten. Seine Stories beleuchten die absurden Seiten des Alltags und balancieren souverän auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik.

Ein Pärchen bereitet sich auf die Dinnerparty mit einem anderen Pärchen vor, indem es über den zu erwartenden langweiligen Abend lästert – und wird unangenehm auf sich selbst zurückgeworfen, als die Gäste einfach ausbleiben. Ein Mann heuert einen Arbeiter für die Räumung seines Lagers an und lässt sich durch dessen Wortkargheit derart in Rage bringen, dass er ihn am liebsten tot sähe. Ein pensionierter Witwer in Florida erhält zum Geburtstag den Besuch einer Prostuituierten, den er schlecht verkraftet, ein hoffnungsvoller Fernsehautor verdirbt sich auf einer angesagten Hollywoodparty noch die letzten Chancen …

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Seitenzahl: 387

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Zum Buch

Der erste Band mit Erzählungen des gefeierten Romanschriftstellers vereint elf Geschichten über das Chaos und die Katastrophe, die das alltägliche Leben jederzeit für jeden bereithält. Wenn der Druck, nur ja nichts zu verpassen, groß ist und Missverständnisse zwischen Fremden wie Liebenden eher die Regel als die Ausnahme bilden, sind Komik und Tragik nicht weit voneinander entfernt, und auf diesem schmalen Grat balanciert Joshua Ferris souverän wie kaum ein anderer.

Da ist das Pärchen, das sich auf die Dinnerparty mit einem anderen Pärchen vorbereitet, indem es über den zu erwartenden langweiligen Abend lästert – und unangenehm auf sich selbst zurückgeworfen wird, als die Gäste einfach ausbleiben. Da ist der Mann, der einen Arbeiter für die Räumung seines Lagers anheuert und sich durch dessen Wortkargheit und seine eigenen Gedankenschleifen derart in Rage bringen lässt, dass er ihn am liebsten tot sähe. Ein pensionierter Witwer in Florida feiert seinen Geburtstag mit Pizza, einer Prostituierte und einem lebensrettenden Herzinfarkt, und ein hoffnungsvoller angehender Fernsehautor weiß zunächst nicht, ob er eine angesagte Hollywoodparty überhaupt besuchen soll, und verdirbt sich, als er es dann doch tut, womöglich noch die letzten Chancen …

»Ferris ist das literarische Äquivalent zu den Filmemachern Joel und Ethan Coen.« The Washington Post

Zum Autor

JOSHUA FERRIS wurde 1974 in Illinois geboren. Sein erster Roman »Wir waren unsterblich« erschien in 24 Ländern, wurde mit dem Hemingway Foundation/PEN Award ausgezeichnet und für die Shortlist des National Book Award nominiert. Sein dritter Roman »Mein fremdes Leben« wurde 2014 mit dem Dylan Thomas Prize ausgezeichnet und kam auf die Shortlist des Man Booker Prize. Joshua Ferris lebt mit Frau und Kind in New York.

Zum Übersetzer

MARCUS INGENDAAY, geb. 1958, Studium der Anglistik und Germanistik in Köln und Cambridge, ausgezeichnet mit dem Rowohlt-Preis und dem Helmut-M.-Braem-Preis, ist Schriftsteller und der Übersetzer von u. a. Truman Capote, William Gaddis und David Foster Wallace.

JOSHUA

FERRIS

MÄNNER

DIE SICH

SCHLECHT

BENEHMEN

Storys

Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay

Luchterhand

Für Cooper Ferris und Jim Shepard

Inhalt

Die Dinnerparty

Der Hypochonder

Der Pilot

Im Lauf des Abends

Die Brise

Ghost Town Choir

Verlassenheit(Oder: Was war bloß mit Joe Pope los?)

Bruchstücke

Das Stiefkind

Leben inmitten von Toten

Sein Geld wert

Danksagung

Die Dinnerparty

Einmal waren die beiden Frauen zum Lunch verabredet, und danach kam sie verstimmt wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zurück. Sein einziger Kommentar: »Warum tust du dir das an?« Er wollte sie schützen. Er wollte aber auch einen Keil zwischen die beiden treiben, damit ihm künftig die gemeinsamen Abendessen mit dieser Frau und ihrem Mann erspart blieben. Allerdings waren ein paar Monate später die Streitigkeiten vergessen und der Riss wieder gekittet. Er machte ihr daraus keinen Vorwurf. Es handelte sich um eine alte Freundschaft, und eine gute Freundin bekam man nicht an jeder Ecke.

In einer Art vorweggenommener Rückschau sah er alles voraus, jedes Wort, jede Geste, die er – vier Stunden weiter – von sich gegeben haben würde. Er ging noch einmal zurück in die Küche und stellte sich mit einem frischen Glas Wein an den Kühlschrank, aber so, dass er nicht im Weg war.

»Ich schaff das nicht«, sagte er.

»Schaffst was nicht?«

Mittlerweile lief die Zeit. Das Wasser im Topf näherte sich dem Siedepunkt, das Fleisch lag gewürzt auf dem Schneidebrett.

Sie stand an der Arbeitsplatte neben der Spüle und schnitt eine Zwiebel klein. Weiteres Gemüse, frisch und knackig dem Tod geweiht, wartete gleich nebenan auf seine Verarbeitung. Sie hörte gerade so lange auf zu schnippeln, dass es für eine tragische Pose mit erhobenem Unterarm an der Stirn reichte. Unter Tränen nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Sie selber rührte ihren Wein nicht an.

»Ich kann dir jetzt schon sagen, wie der Abend ablaufen wird, und zwar von dem Moment an, wo sie hier durch die Tür kommen bis hin zum Abschiedsbussi. Echt, das halte ich nicht aus.«

»Aber bei einem Bussi-Bussi muss es doch nicht bleiben«, sagte sie gleichmütig schnippelnd. »Warum steckst du ihr nicht die Zunge in den Hals?« Seine Frau war für fast alles zu haben und redete entsprechend offen. Es war vielleicht nicht immer taktvoll, aber genau das zählte zu ihren besten Eigenschaften. »Vermutlich wäre sie darüber aber mehr überrascht als du.«

»Sie kommen rein«, sagte er. »Wir nehmen ihnen die Mäntel ab. Und alle quasseln, als wäre der Teufel hinter ihnen her, als lägen nicht vier lange Stunden gemütliches Beisammensein vor uns. Wir betäuben uns mit Alkohol, wir diskutieren bis zur Erschöpfung jeden Scheiß. Natürlich ist es auch ein lustiger Abend, es wird viel gelacht, obwohl später niemand mehr weiß, was eigentlich so witzig war. Klar, und großes Lob an die Köchin! Gefolgt von ein paar Monologen. Irgendwann gähnt einer, am Ende gähnen alle. Und sie sagen: ›Ich glaube, wir sollten langsam.‹ Wobei wir höflich weggucken, als beabsichtigten sie, auf unseren Ecktisch zu kacken. Dann erheben sich alle, einer von uns holt ihre Sachen von der Garderobe, und auf geht’s ans fröhliche Abschiednehmen. Wir alle sagen mehr oder weniger dasselbe: ›Was für ein schöner Abend, das sollten wir unbedingt wiederholen‹, blabla. Dann sind sie endlich weg, und wir reden über sie. Während sie unten durch die Straßen laufen und über uns reden.«

»Tja. Und womit kann man dir sonst eine Freude machen?«

»Mit einem Blowjob.«

»Warten wir damit lieber, bis sie da sind«, sagte sie.

Sie wischte mit dem Finger an der Klinge des Kochmessers entlang, um es von anhaftenden Zwiebelstückchen zu befreien. Er reichte ihr das Glas. »Trink deinen Wein«, sagte er. Sie trank einen Schluck, und er verließ die Küche.

Er setzte sich aufs Sofa und las weiter seine Zeitschrift. Dann stand er auf, ging in die Küche, schenkte sich nach.

»Ach, und noch etwas«, sagte er. »Sie mit ihrer großen Überraschung immer. Selbst ihre sogenannten Überraschungen sind keine Überraschung, sondern reichlich absehbar.«

»Dann tust du halt so. Tu ihnen den Gefallen, und tu so«, sagte sie.

»Man kann förmlich darauf warten«, sagte er. »Zunächst bedeutungsvolles Schweigen. Dann gibt er den Startschuss, indem er ihr ultrasensibel den Vortritt lässt. ›Jetzt sag es ihnen schon‹, sagt er zu ihr. Und sie: ›Nein, sag du.‹ Und er: ›Nein, du.‹ Und sie dann: ›Na gut, bevor ich mich schlagen lasse.‹ Und wir – aber hallo – schlackern nur so mit den Ohren ob der freudigen Botschaft. Alter Schwede, wer hätte das gedacht: Sie ist schwanger! Oder: Jemand wurde vom Auto überfahren – auf dem Weg zur Lottoannahmestelle! Und bitte die Geschichte unbedingt an den gutsten Veuve Cliquot weiterleiten. Der alte Sack ist gern im Bilde, was bei anderen so abgeht. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste ist, wie absehbar unsere Reaktion auf diesen Scheiß ausfällt.«

»Na ja, aber dagegen kann man doch was tun«, sagte sie. »Schlag ihnen eine Abtreibung vor.«

An einem Stück Eis herumlutschend, sagte er: »Dann geht aber ein Ruck durchs Kirchenschiff.«

»Sag, wir könnten es gleich an Ort und Stelle machen, mit einer Pulle Veuve Cliquot und einem Drahtbügel. So was haben wir immer im Haus.«

»Herrlich«, sagte er. »Ich bin dabei.«

Die Küche war klein, eigentlich zu klein für zwei, aber er wollte in ihrer Nähe sein. Sie briet den Knoblauch und die gehackten Zwiebeln an.

»Eigentlich ist er ja ganz okay«, sagte er. »Sie beide sind eigentlich ganz okay. Ich bin nur gerade zum Kotzen.«

»Und wann machen wir so etwas schon mal? Ein-, zweimal im Jahr, wenn’s hochkommt. Du wirst es überleben. Und wenn erst das Baby da ist …«

»Gott bewahre.«

»Mit dem Baby kriegen wir sie noch seltener zu sehen.«

»Bis auf die Weihnachtskarten. Hier seht ihr unseren kleinen Sonnen-chein! Kleiner Sonnen-chein am Arsch!«

»Du musst wenigstens nicht zur Babyparty«, sagte sie.

»Jede Wette, sie schaffen sich einen Kinderwagen an.«

»Kinderwagen, wieso?«

»Wieso?«, fragte er und belegte einen Kräcker mit einem Stück Käse. »Um das Baby groß durch die Gegend zu fahren natürlich.«

»Die Chancen für einen Kinderwagen stehen in der Tat hoch«, sagte sie. »Ich wette, du würdest nie einen Kinderwagen kaufen. Weil ein Kinderwagen wäre ja so was von absehbar, habe ich recht?«

»Ich dachte eher, wir kleben uns das Kind mit Panzerband an den Bauch«, sagte er. »Käme billiger.«

»Du meinst wie eine Babytrage, nur mit Panzerband?«

»Genau.«

»Guckt das Kind nach vorn oder nach hinten?«

»Wenn es schläft, nach hinten. Wenn es wach ist und strampelt, weil es etwas sehen will, nach vorn.«

»Du meinst, damit es schon mal seine Umgebung erkunden kann, mit jener unstillbaren Neugier auf die vielfältigen Wunder, die diese Welt für den neuen Erdenbürger bereithält?«

»So ähnlich.«

»Das Kind dürfte eher erleichtert sein, dass ich unfruchtbar bin.«

Er verließ die Küche, stand mit seinem Drink im Wohnzimmer, horchte auf ihre Arbeitsgeräusche.

Eigentlich hätten sie auch Ben und Lauren einladen müssen, wie beim letzten Mal. Ben und Lauren waren eher seine Freunde. Mit Ben und Lauren verging die Zeit auch nicht so schleppend wie in einem Bestattungsinstitut oder in den Kirchen seiner Jugend im Mittleren Westen. Doch diesmal sollte es ein intimer Abend werden, vermutlich, damit die beiden ungestört ihre Überraschung präsentieren konnten. Er hakte zwar noch öfter nach – »Hey, sollten wir nicht auch Ben und Lauren einladen?« –, doch irgendwie war die Sache entschieden, und Ben und Lauren dürften eher froh drum sein.

Er kehrte in die Küche zurück, sagte: »Sobald sie kommen, kriegen sie als Erstes einen ordentlichen Shot verpasst, alle beide.«

»Shot?«

»Tequila.«

»Sie auch?«

»Beide.«

»Das ist bestimmt gut für das Baby.«

»Muss aber sein, notfalls zwinge ich sie«, sagte er. »Ich denk mir was aus.«

»Dann mach mal.«

»Der ganze Quatsch über Folsäure und pränatale Vitamine, hör mir auf. Meinst du, Attila der Hunnenkönig hätte im Mutterleib seine tägliche Gabe Folsäure gekriegt? Oder Napoleon?« Sie ging in der Küche hin und her, während er seinen Drink dicht am Körper hielt. »Und das sind längst nicht alle.«

»George Washington«, sagte sie. »Einer unserer Gründerväter.«

»Siehst du? Die Liste ist lang. Moses.«

»Trotzdem glaube ich, dass sie auf Tequila pur lieber verzichtet«, sagte sie.

»Ach was, man muss es nur clever anstellen. Sag ihr, in Tequila sind jede Menge pränatale Vitamine. Wirst sehen, wie sie das Zeug wegschlürft.«

»Klar, sie ist ja auch erst im dritten Schuljahr«, sagte sie. »Außerdem ist sie blind und total verblödet.«

»Ich sagte doch, ich überlege mir was.«

Abermals verließ er die Küche. Als er wiederkam, sagte er: »Okay, ich hab’s.«

Doch die Küche war leer. Ihr Ehering und der eine Diamantring lagen noch auf der Theke – wie immer, wenn sie kochte. In der Spüle stand jede Menge Geschirr. Der große Topf und die kleine Kasserolle auf dem Herd köchelten vor sich hin und emittierten ihren Dampf in die ratternde Dunstabzugshaube. Der Unterschrank war offen.

»Amy?«, sagte er. Keine Antwort. Wo war sie hin? Er wandte sich um und ging bis vors Wohnzimmer, dies für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie über den Flur nach draußen gegangen war, während er auf dem Sofa im Wohnzimmer lag. Dann kehrte er wieder in die Küche zurück, wo sich zumindest die elektrischen Geräte, Töpfe und Speisen regten. Sie kam durch die Wohnungstür.

»Wo bist du gewesen?«

»Ich hab den Müll runtergebracht«, sagte sie.

»Das hätte ich doch gemacht.«

»Hast du aber nicht«, sagte sie.

Eigentlich hatte er ihr seine geniale Strategie mitteilen wollen, was diesen Abend und den Umgang mit diesen Leuten betraf, aber er hatte keine Lust mehr, sie weiter zu reizen. Stattdessen stellte er sein Glas ab und trat von hinten an sie heran, die bereits wieder am Herd stand. Während sie in den Töpfen rührte, schlang er die Arme um ihre Hüften. Vor Jahren einmal hatten sie ein eigenes Wort für diese Geste, nur fiel es ihm gerade nicht ein. Er küsste ihren Nacken, ihren Haaransatz, roch Essensdunst und das Shampoo mit der gefakten Wildblumenessenz. »Wie kann ich dir helfen?«, fragte er.

»Du könntest schon mal den Tisch decken«, sagte sie.

Er deckte den Tisch. Dann stellte er sich mit einem frischen Drink wieder an den Kühlschrank. »Ich dachte mir das folgendermaßen«, sagte er schließlich. »Sie bringen die übliche Flasche Wein mit, okay? Wir bedanken uns artig, machen die Flasche aber nicht auf, sondern stellen sie gleich in die Küche, wo sie auch bleibt. Jedenfalls sehen sie ihre Flasche nie wieder. Wir wiederum … wir bitten sie gleich zu Tisch. Fragen gar nicht erst, was sie trinken wollen – so, als hätten wir es glatt vergessen. Kann ja mal passieren. Denn ich kenne ihn. Selbst wenn sie sich zurückhält wegen der großen Neuigkeit, er will garantiert was trinken. Ich sage ihnen aber, leider hätten wir zurzeit gar nichts im Haus. Daher müssten wir zum Essen auch auf ihren Wein zurückgreifen. Was, wie gesagt, nicht geschieht. Der Wein bleibt weg, es gibt nur Wasser. Dann, mittendrin …«

»Kein Alkohol?«, sagte sie. »Du solltest bei Al Kaida anheuern.«

»… mittendrin stehe ich auf und hole mir aus dem Kühlschrank ein Bier. Ich mache es am Tisch auf und genehmige mir einen tiefen Schluck. Na, was meinst du?«

»Hört sich vielversprechend an.«

»Er fragt vorsichtig an, ob er auch eins haben könnte. Doch ich so: ›Nee, Mann, tut mir leid, das war das letzte.‹ Und trinke das Bier aus. Meinst du, sie hauen dann ab?«

»Glaube ich eher nicht.«

»Echt nicht? Sie haben nicht die Schnauze voll? Übrigens, wo bleiben sie denn?«

»Sie kämen vielleicht nie wieder, aber nein, gehen würden sie erst mal nicht.«

»Weißt du, im Grunde sind es ja nette Leute«, sagte er. »Vom Prinzip her.«

»Sie ist meine älteste Freundin«, sagte sie. »Und er kann richtig komisch sein.«

»Stimmt, das kann er.«

Später kam er aus der Toilette, als die Spülung aufhörte. Sie war nicht mehr in der Küche. Er nahm sich den nächsten Kräcker von der Platte, das nächste Stück Käse. Am gedeckten Esstisch vorbei ging er ins Wohnzimmer. Sie saß auf dem Sofa und las in derselben Zeitschrift, die er zuvor gelesen hatte. Er blieb in der Zimmermitte stehen und streckte die Hände aus. »Wo bleiben die?«

Sie sagte: »Wenn man von einem fest ausgehen kann, dann davon, dass sie zu spät kommt.«

»Klar, aber eine Dreiviertelstunde?«

»Die Vorspeise ist jedenfalls kalt.«

»Was ist mit dem Fleisch?«

»Das muss ich zum Glück erst noch machen.«

Gelassen blätterte sie in der Zeitschrift, ohne das geringste Anzeichen von Ungeduld oder Verärgerung. Sie hatte sich offenbar damit abgefunden, dass es so lange dauerte, wie es dauerte.

»Vielleicht rufst du sie mal an?«

»War es nicht das, was du wolltest?«, fragte sie. »Dass etwas passiert, was nicht absehbar ist?«

Sie telefonierte ihnen hinterher. Es war neun Uhr, zehn Uhr. Irgendwann ging es auf halb elf zu. Sie versuchte ein Dutzend Mal, sie zu erreichen, auf ebenso vielen Wegen. Sie schickte SMS und E-Mails. Sie gingen nicht dran und reagierten auch sonst nicht.

»Nicht beim Abendessen«, sagte er.

»Wie großmütig, wie zutiefst human«, sagte sie.

»Ach, ärgere dich nicht über diese bekackten Versager«, sagte er. »Sie gucken Friends auf DVD und sind dabei eingeschlafen. Aber vorher haben sie noch die Tür verrammelt und das Telefon abgestellt.«

»Ja, hallo?«, sagte sie. Sie sprach in den Hörer. »Okay, danke. Könnten Sie ihnen meine Nummer geben, falls einer von beiden eingeliefert wird. Danke.« Sie nannte noch ihren Namen und ihre Nummer und legte dann auf.

»Sag mal, das ist doch wohl nicht wahr?« Sie wählte die nächste Nummer. »Außer dir selbst interessiert dich wohl gar nichts?«

»Ich wollte nur helfen.«

»Auf deine Hilfe kann ich schon länger verzichten«, sagte sie. Das wollte er gar nicht so genau wissen, verließ daher das Wohnzimmer. »Sicher«, sagte sie ins Telefon, »ich bleibe dran.«

»Wird das Fleisch schlecht?«, rief er aus der Küche. Die Käseplatte war mittlerweile aufgegessen, ebenso die Cherrytomaten mit Mozzarella und Balsamico sowie die Feigen im Speckmantel. Er saß auf dem Barhocker an der Küchentheke und aß von einer Untertasse das Pilzrisotto, das es zu dem Lamm geben sollte, während er das Fleisch beäugte, das auf dem Schneidbrett bereitlag. Er hatte bereits die nächste Flasche Wein aufgemacht. »Hey, Babe, was ist mit dem Fleisch? Kann man das einfach so stehen lassen?«

»Steck es dir in den Arsch«, sagte sie.

Er hörte auf zu kauen, blickte mit erhobenen Brauen auf die beiden mit Senf bestrichenen Lammkarrees und überlegte, wie unangenehm sich die langen Rippchen in seinem Arsch anfühlen würden. Andererseits, was für ein Spaß, vor ihr blankzuziehen – mit so einem Teil zwischen den Backen. »Ich soll sie mir also in den Arsch stecken«, sagte er. »Weißt du, wer sie sich in den … wer sie sich in wessen Arsch stecken sollte? Das sind deine beiden Freunde und denen ihr Arsch. Sie sollten sich die Dinger in den Arsch stecken«, sagte er.

Auch im nächsten Krankenhaus konnte man ihr nicht weiterhelfen. Wieder hinterließ sie ihren Namen und ihre Telefonnummer. Sie ging in die Küche. »Was brabbelst du da?«

»Hier sind zwei Lammkarrees, eins für jeden Arsch von ihnen.«

Sie tippte mit dem Finger gegen seine Stirn. »So etwas machen sie doch sonst nicht«, sagte sie und stieß seinen Kopf nach hinten. »Das sieht ihnen nämlich gar nicht ähnlich, und das weißt du genau. Blöde Sprüche kann ich nicht brauchen.« Sie ließ von ihm ab, und er pendelte zurück in eine aufrechte Sitzposition.

»Sorry, aber was brauchst du dann?«, sagte er. »Da du ja, wie du sagst, auf meine Hilfe verzichten kannst.«

Sie verließ die Küche.

»Warte«, sagte er, stellte das Tellerchen mit dem Risotto weg und stand auf. »Bleib doch mal stehen.« Er folgte ihr ins Esszimmer. »Ich habe nicht gesagt, dass ich dir nicht helfen will – Herrgott, kannst du mal stehen bleiben und mir zuhören?« Sie blieb stehen und drehte sich um. »Sie haben sich wahrscheinlich nur mit dem Datum vertan. Morgen rufen sie an und erklären dir, wie leid es ihnen tut. Weil, in der Spätvorstellung von Kung Fu Panda mussten sie bedauerlicherweise ihre Handys ausschalten.«

»Du meinst also, sie waren in Kung Fu Panda?«, sagte sie.

»So was in der Art.«

»Meine Freunde, erwachsene Leute, waren in Kung Fu Panda und haben ihr Handy abgestellt, damit sie in Ruhe diesen Film sehen können?«

»Das oder …« Er hob seinen Finger. Sie standen vor dem düsteren Rechteck der offenen Schlafzimmertür. Für einen Moment war die alte Angst aus Kindertagen in ihm wieder aktiv, dass, wer durch diese Tür ging, ins Bodenlose stürzte. Das galt auch für sie, auch sie konnte durchaus bis zum Erdmittelpunkt fallen. Er senkte den Finger. »Nee, Quatsch«, sagte er. »Ich glaube natürlich nicht, dass sie gerade im Kino sind.«

»Nein, du hast nur Müll im Kopf«, sagte sie.

Sie trat ins Schlafzimmer. Wo sie nicht ins Bodenlose stürzte, sondern im Zwielicht zum Badezimmer schwebte. Das Licht dort schaltete sie erst an, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Eine halbe Stunde lang saß er in der Küche auf dem Boden. Dann rief er: »Hey!« Keine Antwort. Er stand auf und ging ins Schlafzimmer.

Er fand sie genau dort. Sie trug ihren Schlafanzug und las, aufrecht im Bett, ein Buch. »Was machst du da?«

»Ich gehe schlafen.«

»Hör mal, das Fleisch liegt noch in der Küche«, sagte er. »Und auch all die anderen Sachen. Sollen wir das alles vergammeln lassen? Und was ist mit deinen Freunden? Machst du dir keine Sorgen?«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie.

»Aber einfach ins Bett gehen und lesen?«

»Was schlägst du vor?«

»Keine Ahnung. Ich würde vielleicht bei ihnen vorbeigehen. Gucken, ob sie da sind.«

»Ich muss hier sein, falls sich ein Krankenhaus meldet. Oder falls sie doch noch kommen.«

Er setzte sich auf die Bettkante, stützte den Kopf in die Hände. Er hörte ihr langsames Umblättern und, tiefer in sich selbst, den schmatzenden Puls des Alkoholabbaus.

»Na gut«, sagte er und blickte auf. »Aber ich könnte doch nachsehen?«

»Und dann, was willst du dann tun, großer Mann? Du Mann aus Stahl! Du meinst, du setzt dich in dein Wodkamobil und suchst die Gefahr?«

Er starrte sie an.

»Schade, dass wir keine Kinder haben können«, sagte sie. »Falls sie jemals entführt würde, gäbe es keinen besseren Daddy, sie zurückzuholen.«

»Sie? Meinst du, wir hätten eine Sie?«

»Klar, für dich wäre es natürlich wichtig, einen Jungen zu haben. An ihn könntest du alle deine männlichen Fähigkeiten weitergeben. All deine Superkräfte, großer Mann.«

Er erhob sich vom Bett.

»Soll ich jetzt hingehen oder nicht?«

Er war schon mehrmals in ihrer Wohnung gewesen, doch nie mit so vielen Menschen. Die Wohnung war groß, aber »interessant geschnitten«, wie Makler es nannten. Eine Flucht von Zimmern, die größtenteils nicht direkt zugänglich waren, sondern nur hintereinander. Schon unmittelbar nach seinem Eintritt befand er sich in einem Raum, wo ein sorgsam kuratiertes Kerzenensemble eine kapellenartige Lichtstimmung erzeugte. Er sah Silhouetten von vielen Menschen, und in dem Zimmer rechts waren noch mehr. Großer Andrang auch in der Küche, ein ständiges Kommen und Gehen. Doch immer waren manche Leute lauter als andere. Ein Unbekannter hatte ihm die Tür aufgemacht.

»Wird hier eine Party gefeiert?«, fragte er.

»Sind Sie ein Nachbar?«

»Nein, ich bin ein alter Freund.«

»Bier gibt’s im Kühlschrank«, sagte der Unbekannte. Er schloss die Tür und wandte sich wieder seiner Unterhaltung zu.

Das laute Stimmengewirr nahm an Deutlichkeit zu. Draußen auf dem Gang hatte er das submarine Geräuschbild zunächst einer anderen Wohnung zugeordnet. Er zögerte, ehe er sich in die kleine Diele vor der Küche ziehen ließ. Auch in der Küche selbst war die Beleuchtung minimal. Vor chromglänzenden Oberflächen und den an der Decke aufgehängten Kupferkesseln und -pfannen bewegten sich hieratische Schattenrisse oder standen in Gruppen an der Theke aus schwarzem Marmor. Jemand holte sich etwas aus dem Kühlschrank. Ein heller Lichtpunkt durchbrach die schummrige Atmosphäre – die jedoch wiederhergestellt war, sobald die Kühlschranktür zufiel. Jemand anders sagte: »Boah, das war die letzte, du Sau!« Worauf der Angesprochene die Flasche mit einer angedeuteten Geste auf dem Kopf seines Gegenübers zerschmetterte. Es kam noch zu weiteren Quasikampfhandlungen, ehe der Besitzer der Flasche aus der Küche driftete.

Langsam durchwanderte er die gesamte Wohnung. Er sah aber niemanden, den er kannte. Allerdings war es gar nicht so leicht, im Halbdunkel Gesichter zu erkennen, zumal ihm einige Leute gesprächsbedingt den Rücken zuwandten. Und ihnen auf die Schulter zu tippen oder sie auffällig unauffällig von der Seite anzustarren widerstrebte ihm. Ohnehin fühlte er sich beobachtet. Er bereute, dass er sich in der Küche keinen Drink geholt hatte, denn der letzte lag schon eine Weile zurück. In seiner Situation machte Alkohol nicht nur vieles leichter, ohne Glas in der Hand kam man sich auch vor, als gehörte man nicht dazu.

Schließlich stand er vor dem Gaskamin, ein reines Dekostück, aber mit aufwendigem Kaminsims und Spiegel darüber. Bläuliche Flammen züngelten an knorrigen Fake-Scheiten empor und gaben eine trockene, leidenschaftslose Wärme ab. Kein Rauch, keine Asche, nur das leise Zischen einer stilvollen Feuerstelle. Er starrte auf dieses Feuer, bis seine Augen brannten und die konkurrierenden Stimmen im Hintergrund zu einem einzigen Soundbrei wurden. Als er den Blick wieder hob, hatten sich die Flammen auf seiner Retina eingebrannt und wirkten wie ein Schleier vor der Welt. Von seiner Umgebung nahm er nur vage Schemen und grobe Umrisse wahr, und auch das nur an den Rändern seines Gesichtsfelds. Er wartete darauf, dass die Phantome sich auflösten, doch bevor es so weit war, sagte eine vertraute Stimme: »Na, guck mal, wer da ist.«

Er blinzelte mehrmals, um besser sehen zu können, aber seine Frage war dennoch mehr geraten. »Ben?«

»Lauren und ich haben uns schon gefragt, wo ihr bleibt«, sagte Ben.

»Wir hatten etwas anderes vor«, hörte er sich sagen. »Am frühen Abend.«

»Wo ist Amy?«

»Zu Hause«, sagte. »Sie fühlt sich nicht gut.«

»Wie schade«, sagte Ben. »Hoffentlich keine Grippe?«

»Grippeähnlich«, sagte er. »Wo ist Lauren?«

Ben drehte sich um, als suche er nach ihr. Doch dann sagte er mit deutlich verringerter Lautstärke: »Achtung, Buddy, links von dir: heißer Feger auf zehn Uhr. Ich führe, okay?« Mit dem Bierglas in der Hand drehte er ihn ein paar Kreisgrade weiter. »Jetzt hast du sie auf zwölf Uhr, direkt über meiner Schulter. Siehst du sie? Weißt du, wer das ist?«

»Sie ist schön.«

»Nur schön, Buddy?«, sagte er. »Hast du gar keine Ahnung, wer die Frau ist?«

»Ich kenne praktisch niemanden hier«, sagte er.

Ehe er die Frau näher in Augenschein nehmen konnte, spürte er eine Hand an seinem Arm. Der Griff war dünn und hart, beinahe schneidend, und als er sich danach umdrehte, hatte er Amys alte Freundin vor sich. »Nanu«, sagte er. »Weißt du, dass wir auf euch gewartet haben?«

»Ben, du bleibst hier«, sagte sie streng. »Ich habe dir noch etwas Wichtiges mitzuteilen.« Dann drehte sie sich zu ihm. »Du kommst mit mir.«

Ihr Griff verstärkte sich, während sie ihn – gewissermaßen im Schnelldurchlauf – durch die verschiedenen Zimmer zerrte. »Was zum Henker ist denn los?«, fragte er. »Wir haben den ganzen Abend auf euch gewartet, und ihr feiert hier eine Party?«

»Ihr habt versprochen, dass ihr nicht ohne mich anfangt!«, sagte sie zu einer Gruppe, die offenbar nur auf sie gewartet hatte.

»Ohne dich bestimmt nicht«, sagte ein Mann. »Ich schweige wie ein Grab.« Jemand anders lachte.

Ihr Lächeln verschwand, sobald ihr Blick auf ihn fiel.

»Hey«, sagte er. »Hörst du mir zu?«

»Kannst du bitte warten«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

»Wohin gehen wir?«

Schließlich hatte sie ihn in der Diele. Sie trank aus und stellte ihr Glas auf dem Boden.

»Ich weiß ja nicht, ob Alkohol jetzt das Richtige ist«, sagte er.

»Es ist nur Cranberrysaft«, sagte sie. Dann öffnete sie die Tür, und sie traten hinaus in den Hausflur.

»Wer hat dich eigentlich zu dieser Party eingeladen?«, fragte sie.

»Wer mich eingeladen hat?«, fragte er. »Niemand hat mich eingeladen. Im Gegenteil, wir hatten für euch ein Essen geplant, und ihr habt uns versetzt.«

»Entschuldigung«, sagte sie. »Aber das stimmt nicht. Wir hatten nichts geplant.«

»Doch, hatten wir«, sagte er. »Deswegen haben wir ja groß gekocht, mit teurem Fleisch und allem Drum und Dran, extra für euch. Und dann stelle ich fest, dass ihr hier big Party macht.«

»Eben. Warum sollten wir eine große Party schmeißen, wenn wir schon bei euch eingeladen sind?«

»Vielleicht aus demselben Grund, aus dem wir nicht eingeladen wurden.«

Darauf hatte sie keine Antwort. Sie galt allgemein als hübsch, doch mit ihren Pausbacken und dem Schmollmund hatte sie ihm von Anfang an nicht gefallen. Zwar gab er sich alle Mühe, sie sympathisch zu finden, doch dieser Mund erinnerte zu sehr an eine verzogene kleine Göre, und ihre Stimme half auch nicht. Und auch nicht, was ihr so über die Lippen kam. Das Baby tat ihm jetzt schon leid.

»Darauf fällt dir nichts mehr ein, oder?«, sagte er.

»Ich hätte da mal eine Frage«, sagte sie. Ihr Mund zitterte etwas und wirkte dadurch noch unverfrorener. Man könnte auch sagen: hässlicher. »Warum tust du immer so scheißfreundlich? Warum ladet ihr uns zum Essen ein, wo doch jeder weiß, dass du uns nicht magst, uns eigentlich sogar verachtest – und zwar von Anfang an?«

Die Direktheit ihrer Frage frappierte ihn. Er war versucht, ihrem Befund zu widersprechen. Woher wollte sie wissen, wen er mochte und wen nicht?

Stattdessen sagte er: »Amy zuliebe.« Sie war still. »Du hast gefragt«, sagte er.

»Diese Party ist nur für geladene Gäste«, sagte sie. »Und ihr seid definitiv nicht eingeladen.«

»Das heißt, ich oder Amy werden nicht eingeladen, wohingegen mein Freund Ben sehr wohl eingeladen ist?«

»Wir haben Ben bei einer eurer Dinnerpartys kennengelernt.«

»Ich weiß, wo ihr ihn kennengelernt habt.«

»Seitdem sind wir mit den beiden befreundet.«

»Und wer war die Frau?«, fragte er.

»Welche Frau?«

»Die Frau, die in der Nähe stand, als ich mit Ben sprach.«

»Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt«, sagte sie.

»Okay, vergiss es«, sagte er. »Du willst mich nicht hierhaben, das geht in Ordnung. Ich bin auch nur hier, weil sich Amy Sorgen machte, als ihr nicht kamt. Was soll ich ihr denn sagen, wenn klar ist, dass ihr nur deswegen nicht gekommen seid, weil ihr eure eigene Party feiert – zu der wir definitiv nicht eingeladen sind?«

Sie starrte ihn an, hatte dabei die Arme vor der Brust gekreuzt, den Kopf zur Seite gelegt, als sei alles nur eine kokette Kabbelei unter Liebenden. Wenn nur dieses ausdruckslose Pokerface nicht gewesen wäre.

»Soll ich dir sagen, was ich von dir halte?«, fragte sie.

Dieses Pokerface bereitete ihm die größten Schwierigkeiten, denn es gab absolut nichts preis. Er wusste nicht einmal ansatzweise, worauf sie hinauswollte. Es war gerade so, als wäre sie plötzlich ein völlig anderer Mensch.

»Ich glaube, es war ein schwerer Fehler von Amy, dich zu heiraten«, sagte sie. »Ich wollte es ihr sagen, konnte aber nicht so deutlich werden, wie es nötig gewesen wäre. Amy und ich haben mittlerweile fast nichts mehr gemein, und, sorry, auch daran bist nur du schuld. Einfach weil man nichts mit dir zu tun haben will, nicht mal über dich reden will. Und die Vorstellung, dass sie für den Rest ihres Lebens mit dir allein ist, ehrlich, das tut einfach nur weh.«

Aber er hatte sich bereits abgewandt. Trotzdem blieb er noch einmal kurz stehen. »Ihr seid Unmenschen«, sagte er. »Alle beide.«

»Kommt nicht wieder her«, schickte sie ihm hinterher. »Ruft auch nicht an, weder heute Abend noch sonst irgendwann.«

»Ich freu mich schon jetzt darauf, was Amy sagen wird. Das gefällt ihr bestimmt.«

»Leider ist mir das mittlerweile völlig egal«, sagte sie noch.

Er nahm sich ein Taxi nach Hause. Auf dem Rücksitz spielte er das Gespräch wieder und wieder durch, und das so intensiv, dass er mit den Zähnen knirschte. Er war fassungslos über die Unverschämtheiten, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte. All das war empörend, beleidigend und – buchstäblich – das Letzte, weil nicht mehr ungeschehen zu machen. Er sah kaum, wo sie entlangfuhren, umso deutlicher sah er dieses kleine Mündchen vor sich und die ausdruckslose Miene, die der Eruption vorausging – was ihn noch mehr aufbrachte.

Allerdings, als er das Taxi bezahlte und ausstieg, hatte sich sein Zorn allein durch die übermäßige Beschäftigung damit weitgehend verflüchtigt. Er hätte sich gern dieses erstickende Gefühl erhalten, das nach dem befreienden Schlag förmlich schrie, und rief sich deshalb ihre Küche ins Gedächtnis, mit Bergen von Geschirr und dem teuren Fleisch, das nun langsam verdarb.

Schon an der Wohnungstür rief er nach ihr, ging dann weiter bis ins Schlafzimmer. Dort, wo sie ihr Buch gelesen hatte, war die Decke zurückgeschlagen. Das Buch lag noch an seinem Platz, aber sie selbst war nicht mehr da. Er sah kurz im Badezimmer nach und ging dann durch die gesamte Wohnung, wobei er überall die Deckenbeleuchtung einschaltete. Er stoppte kurz an dem begehbaren Kleiderschrank und zählte die Mäntel, lief weiter zur Küche, wo alles war wie gehabt, einschließlich ihrer Ringe auf der Küchentheke. Er war in seiner eigenen Zukunftsvision angelangt, ein Mann auf panischer Suche nach seiner Frau: von ihm schon oft und genau so vorausgesehen, doch ebenso oft als Unding abgetan. Sie hatte ihn verlassen. Ein schwindelerregendes Faktum. Er musste sich am Kühlschrank festhalten. Er wünschte sich nichts mehr, als dass sie zumindest noch da wäre, um von ihm die ganze Wahrheit über den Abend zu empfangen. Was für ein grausamer Spaß, welche Genugtuung! Aber sie war weg.

Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, war sie plötzlich doch da. Wie, wusste er nicht. Sie saß aufrecht auf seiner Seite des Betts und wandte ihm den Rücken zu. Seine Erleichterung kannte keine Grenzen. Er ging weiter auf sie zu und sah im Licht der halbgeöffneten Jalousien, dass ihre Augen weit offen standen. Sie musste wissen, dass er da war, sah ihn aber nicht an, sondern blinzelte nur abwesend vor sich hin.

»Sie waren übrigens da«, sagte er, ließ die Botschaft sacken. »Ist das zu glauben? Sie waren die ganze Zeit zu Hause.«

Sie schloss die Augen. Er legte sich zurecht, wie er die Geschichte aufbereiten würde. Er würde ganz am Anfang anfangen, dem Moment, als er im Flur unerwartete Partygeräusche wahrnahm. Mit einer knappen, untheatralischen Geste wischte sie sich eine Träne weg und legte die Hand anschließend wieder auf ihr Bein. Dass sie weinte, damit hatte er nicht gerechnet.

Er dachte daran, welche Sorgen sie sich gemacht hatte, als die beiden nicht erschienen. Er dachte daran, welchen Ehrgeiz sie beim Kochen entwickelt, welche Mühe sie sich für die beiden gemacht hatte. Und das, obwohl abzusehen war, mit welcher Art »freudiger Botschaft« sie an diesem Abend konfrontiert würde.

Er setzte sich neben sie und legte den Arm um sie. »Sie waren am Schlafen«, sagte er. »Ich musste ewig klingeln, um jemanden an die Tür zu kriegen. Sie fiel aus allen Wolken, so leid tat ihr das Ganze. Sie hat sich ohne Ende dafür entschuldigt.«

Sie stand auf und ging in das Zimmer nebenan. Da er sie gerade noch im Arm gehalten hatte, erschien ihm das Bett doppelt leer. Er rief ihr etwas zu, sie antwortete nicht. Er rief ein zweites Mal, überlegte, ob er ihr nachlaufen sollte, doch das brachte erfahrungsgemäß nichts. Er hörte sie in dem begehbaren Kleiderschrank kramen. Als sie wieder ins Schlafzimmer kam, lag er auf dem Rücken. Sie schaltete die Deckenlampe ein. Da er an die Decke starrte, blendete ihn das Licht. Er drehte den Kopf weg. Da fiel sein Blick auf den Rollkoffer, den sie aufs Bett gelegt hatte – und die eckige Bewegung, mit der sie den Reißverschluss aufzog.

»Was machst du da?«, fragte er.

Er traute seinen Augen nicht. Zugegeben: Dass sie irgendwann ihre Koffer packen würde, kam nicht ganz überraschend. Es war gewissermaßen absehbar. Trotzdem wirkte das reale Kofferpacken reichlich überzogen. Eine Reaktion ebenso theatralisch wie sinnlos. Wo wollte sie denn hin?

»Sei nicht albern«, sagte er. »Bitte, lass das. Was hat das alles mit mir zu tun?«

Ihre Bewegungen verlangsamten sich. Sie legte noch ein paar Sachen in den Koffer und feuerte schließlich ein Paar Socken hinterher, doch dieser Schlusspunkt kam nur noch halbherzig. Offenbar sah sie die Absurdität ihrer Aktion ein, die ihr im ersten Moment geradezu alternativlos erschienen war. Stumm stand sie vor ihrem Koffer. Er stand auf und nahm sie in den Arm.

»Sie hat es nur vergessen«, sagte er. »Das ist alles. Du kennst sie doch.«

Sie fing an zu schluchzen. Sie weinte an seiner Schulter, und er hielt sie fest. Heiße Tränen nässten sein Hemd.

»Warum muss ich so leben?«, fragte sie.

Ihre Arme fielen von ihm ab, und sie verlor jede Körperspannung. Dann weinte sie weiter, aber so, als würde sie nicht mehr von seinen Armen gehalten. Als wäre er gar nicht mehr da, weder in diesem Zimmer noch sonst wo auf der Welt.

Der Hypochonder

Einen Tag nach dem Umzug nach Florida, wo Arty Groys seinen wohlverdienten Ruhestand genießen wollte, starb seine Frau bei einem Frontalzusammenstoß mit einem Mann, der sich durch Flucht über die Staatsgrenze der Aufdeckung diverser, in den letzten zwölf Jahren begangener Wirtschaftsstraftaten entziehen wollte. Urplötzlich fand sich Arty als Witwer in einem fremden Land wieder, mit unbekannten Straßennamen, unbekannten Innenstädten. Seine Eigentumswohnung war noch nicht einmal ganz eingerichtet, gemütliche Wohnaccessoires fehlten völlig. Der Friedhof, auf dem Meredith lag, war zu hell und zu heiß, sowohl am Tag ihrer Beerdigung als auch bei all seinen Besuchen danach. Unter einer Beerdigung, egal ob für seine Frau oder die eigene, hatte sich Arty etwas ganz anderes vorgestellt. Auf jeden Fall etwas mit Regen, etwas mit schwarzgekleideten Gestalten unter schwarzen Regenschirmen. Eine Trauergemeinde, die tief getroffen auf dem schlammig durchweichtem Grund verteilt stand und es einfach nicht fassen konnte. In seiner Fantasie sah er insbesondere Meredith, kniend am offenen Grab, als wollte sie zumindest eine letzte entkörperlichte Erinnerung an ihn, Arty, festhalten, während seine Tochter Gina versuchte, sie fortzuziehen, beide Frauen in Tränen aufgelöst – denn in seinen Tagträumen starb immer nur er. Doch an demselben Tag, an dem sie Meredith zur letzten Ruhe betteten, zog es andere Ruheständler auf sonnenüberflutete Golf- und Tennisplätze, und die Sportfischer von Tarpon Cove angelten gut gelaunt auf den teuflischen Snook.

Zur Überraschung seiner Kinder kehrte Arty nicht nach Ohio zurück. Nach und nach gewannen sie den Eindruck, dass ihr Vater nichts Neues mehr aufnahm, dass er geistig stagnierte, ja, sogar den Rückwärtsgang einlegte und das Gaspedal durchtrat. Das alles, dachten sie, konnte nur in einer Katastrophe enden – Mutters Tod im langsamen Rücklauf sozusagen, allerdings lediglich psychisch-mental. Nach einem langen Berufsleben fehlte Arty der eine Mensch, die eine Gefährtin und Meckertante, die es schaffte, ihn aus dem Fernsehsessel zu bewegen und hinaus in die Welt zu scheuchen.

So ergriffen die schlechtesten Eigenschaften von ihm Besitz. Er begann einen Kleinkrieg mit Mrs. Zegerman, seiner Nachbarin im Bequia Cove Towers, einer fünfzehnstöckigen Luxusresidenz mit Blick über Naples Bay und in unmittelbarer Nähe zum Tamiami Trail. Arty schob ihr einen Zettel unter die Tür, auf dem stand, dass Mrs. Zegermans dauerkläffender Shih Tzu, ein Tier namens Cookie, eigentlich verdiente, von Nazis erschossen zu werden. Worauf ihn Mrs. Zegerman des Antisemitismus beschuldigte. Worauf Arty wiederum erklärte, er sei kein Antisemit, wohl aber ein Antischizo – und dass Schizos, seiner Meinung nach, samt und sonders verhaftet gehörten. Einige Tage später fand Mrs. Zegerman eine ungeöffnete Packung Rattengift an dem Pflanzkübel mit dem Phlox neben der Welcome-Fußmatte. Die Spannungen nahmen an Schärfe zu.

Anderswo zog sich Arty eher zurück. Durch seine vergrübelte Schwermut verlor er Golfpartner und andere Bekannte und entfremdete sich gar von seinem einzigen echten Freund, dem sportlichen und großzügigen Jimmy Denton. Jimmy war nach Florida gezogen, nachdem er in Danville (Illinois, nicht Connecticut) ein Vermögen mit Immobilien gemacht hatte. Jimmy nahm Arty immer mit zum Golfen und unterhielt sich gern über Baseball. Doch Artys Geburtstag ging bereits dem Ende zu, und weder Jimmy noch Artys Kinder hatten bisher angerufen. Er fühlte sich zunehmend ungeliebt, ähnlich wie an seinem neunten Geburtstag, wo von den elf eingeladenen Kindern nur zwei auftauchten, Zwillinge, die später ihre Hemden auszogen und ihre Arme vorzeigten und die Stelle, wo sie einst operativ getrennt worden waren.

Ihm fiel daher ein Stein vom Herzen, als endlich das Telefon klingelte, ein alter Wählscheibenapparat, der mit der ganzen Kraft des Maschinenzeitalters rappelte. Arty ließ es mehrmals rappeln und verstummen, genau gesagt dreimal, um zu verschleiern, wie einsam er in Wirklichkeit war. Doch nach dem dritten Mal hob er ab. Er fing aber nicht gleich an zu sprechen, sondern ließ sich Zeit, ehe er dem Anrufer ein betont beiläufiges Hallo entbot. Der Anrufer war seine Tochter Gina, die allein auf einem Reiterhof in Belmont wohnte.

»Alles Gute zum Geburtstag, Daddy!«, rief sie ihm ins Ohr. »Alles Gute, alles Gute für dich!«

»Gina, bist du das? Ach, da freue ich mich aber, mein Kind«, sagte Arty. »Ja, alles Gute wünsche ich mir auch. Alles Gute kann dein alter Vater gut brauchen.«

»Tut mir leid, dass ich nicht eher angerufen habe, Daddy.«

»Wie? Ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte Arty.

»Aber wir mussten heute ein Pferd einschläfern, das war nicht so leicht. Er hieß The Jolly Bones, und er war der absolute Liebling. Von allen eigentlich. Weil er so menschlich war. Deshalb war es diesmal ziemlich …«

»Meine Gallenblase ist hinüber«, verkündete Arty.

»Deine Gallenblase, Daddy? Wie das? Was ist passiert?«

»Ja, meine Gallenblase. Dr. Klutchmaw sagt, sie muss entfernt werden. Erst mein niedriger Blutzucker, dann das Herz, jetzt die Gallenblase. Ich habe mir nie Gedanken über meine Gallenblase gemacht, aber anscheinend nutzt sie sich ab wie ein alter Reifen. Wer hätte gedacht, dass ich einmal solche Entscheidungen treffen muss?«

»Was für Entscheidungen denn, Daddy?«

»Klutchmaw sagte, das alles wäre zu vermeiden gewesen, wenn ich die letzten vierzig Jahre nicht so fettreich gegessen hätte. Aber niemand sagt einem das, Gina. Niemand gibt dir eine Betriebsanleitung.«

»Lass doch nicht den Kopf hängen, Daddy. Nicht heute. Nicht an deinem Geburtstag.«

»Bitte tu dir einen Gefallen, Kind, und halt dich von fettreichen Nahrungsmitteln fern, denn eine kaputte Gallenblase ist kein Zuckerschlecken. Klutchmaw kennt jemanden, der sie entfernen kann, aber das bedeutet Vollnarkose, mit allen Risiken. Wahrscheinlich habe ich auch Diabetes, wir müssen noch die Laborergebnisse abwarten.«

»Na, das klingt doch erst mal nicht so schlecht. Zumindest ist noch nichts sicher«, sagte Gina. »Aber was ist mit heute, Daddy? Was hast du für deinen Geburtstag geplant?«

»Wenn ich das nur vor vierzig Jahren gewusst hätte! Dann sähe es heute anders aus. Aber damals gab einem niemand eine Betriebsanleitung. Zum Beispiel über Zigaretten. Die Zigaretten haben meine Atemwege versaut, und ich habe zwar nur zehn Jahre geraucht, bis die ersten Warnhinweise kamen. Aber wenn ich jetzt sterbe, dann an Raucherlunge oder Gallenblase und erst mal nicht am Herz.«

»Gehst du heute noch golfen, Daddy?«

»Ach was, für Golf bin ich doch viel zu dick«, sagte Arty. »Trotzdem gut, dass du angerufen hast. Ich wollte gerade in die Küche und die Oreos vernichten.«

Gina blieb dran, bis sie fortgerufen wurde. Sie wollten für The Jolly Bones eine kleine Trauerfeier abhalten. Sie redete auf Arty ein, wenigstens ein bisschen aus dem Haus zu gehen und seinen Geburtstag zu genießen: Rad fahren, warum nicht eine Runde Rad fahren?

Vielleicht war die Sonne nie inniger mit der Erde verbunden als in dem Moment, als ihr Kreissegment immer näher an den Horizont heranrückte, der über dem Geländer von Artys Balkon zu sehen war. Die Sonne färbte die Wolken subtropisch, verlieh dem Himmel wieder die pastorale Fantastik alter Genrebilder von der Erschaffung der Welt und flutete seine Wohnung (eingerichtet bisher lediglich mit einigen Korbmöbeln samt Polsterkissen) mit dem Licht des schwindenden Tages.

Nachdem er zu drei Glas Milch die Oreos vernichtet hatte, rang Arty mit sich, ob er die allzu bekannte Telefonnummer anrufen sollte. Dr. Klutchmaw hätte abgeraten, außerdem wollte er die Leitung nicht blockieren – falls jemand ihm zum Geburtstag gratulieren wollte. Doch schließlich sagte er sich, wer so alt wurde wie er, hatte auch das Recht auf ein kleines Verwöhnprogramm. Nach einem halben Klingeln hatte er bereits die vertraute Stimme dran. Es war Brad. Brad nahm seine Bestellung für eine große Meatlovers-Pizza und eine Zweiliterflasche Sprite entgegen. Obwohl er keinesfalls die Leitung blockieren wollte, gab er unmittelbar darauf seinen Geburtstag bekannt.

»Herzlichen Glückwunsch, Art«, sagte Brad. »Wie alt werden Sie denn?«

»Ja, mir auch einen herzlichen Glückwunsch. Danke, Brad. Meine verlebtes Nettoalter beträgt sechsundsechzig Jahre, doch das ist leider nur die halbe Wahrheit. Ich habe viel von meiner aeroben Leistungsfähigkeit eingebüßt – und das Alter der Lunge sozusagen auf hundert hochgejagt. Meine Beine stehen bei fünfundachtzig. Wie alt sind Sie, Brad? Das ist nämlich so: Sie geben einem einfach keine Betriebsanleitung mit. Ich will Sie nicht erschrecken, aber stellen Sie sich schon mal darauf ein, dass sie Ihnen eines Tages alle Zähne rausreißen wollen.«

»Okay, Arty, aber bei uns glühen gerade die Leitungen. Können wir morgen weiterreden?«

»Gut, bis morgen dann, Brad. Aber ich komme darauf zurück. Und danke für Ihren Anruf. Mir auch einen herzlichen Glückwunsch.«

»Herzlichen Glückwunsch, Arty.«

Durch einen jener seltenen Zufälle, die sich einsame Menschen erträumen, klingelte es sofort nach dem Auflegen erneut und erweckte so den Eindruck hektischer, lebenspraller Betriebsamkeit. Arty freute das, gerade an seinem Ehrentag. Wieder ließ er das Telefon drei endlose Freizeichen lang klingeln, bevor er abhob. Diesmal ging er sogar noch weiter und simulierte beim Abheben ein Gespräch im Raum. Gerade so, als wäre jemand bei ihm, sagte er, halb in den Hörer: »… ich glaube auch, die Reds haben eine vielversprechende Saison vor sich. Hallo?«

»Dad?«

Es war sein Sohn Paul, der aus San Francisco anrief. Paul arbeitete in einem Hospiz, wo er den lieben langen Tag unter todkranken Leuten herumsaß und ihnen beim Sterben zusah. Arty war stolz auf ihn, denn Paul setzte sich für eine gute Sache ein. Allerdings wäre er noch stolzer gewesen, wenn Paul der Eigentümer einer ganzen Kette von Hospiz-Unternehmen gewesen wäre, womöglich mit einer Umsatzrendite von dreißig Prozent oder mehr.

»Oh, Pauly, danke für deinen Anruf«, sagte Arty. »Und auch mir alles Gute.«

»Ist gerade jemand bei dir, Dad? Soll ich später noch einmal anrufen?«

»Nein, nur mein Freund Jimmy Denton – du kennst doch Jimmy? Wir sitzen gerade hier und unterhalten uns über Baseball. Du weißt doch, wie gern ich mich mit einem alten Freund über Baseball unterhalte.«

»Na ja, ich wollte auch nur mal kurz anrufen und dir zum Geburtstag gratulieren.«

»Ich habe heute mit der Praxis von Dr. Klutchmaw telefoniert«, sagte Arty. »Es sieht nicht gut aus.«

»Hilf mir mal kurz«, sagte Paul. »Welcher war Dr. Klutchmaw?«

»Dr. Klutchmaw ist mein Internist. Er sagt, der Hersteller ruft den Stent zurück. Das Ding hat irgendeine Macke. Das ist nicht fair, Pauly.«

»Und natürlich geben sie dir keine Betriebsanleitung mit, ist es nicht so, Pop?«

»Genau, das machen sie nie. Da denkst du, der Stent hält ewig, und dann ruft der Hersteller das Scheißding einfach zurück.«

»Na ja, hier ist eigentlich alles okay. Den Kindern geht’s gut, Dana geht’s gut. Sie sitzt übrigens gerade neben mir und möchte dir gratulieren. Ich geb sie dir mal.«

»Warte, Paul, nur eine Sekunde, ehe du mir Dana gibst. Ich wollte dir noch etwas sagen, mein Sohn. Die Wahrscheinlichkeit, dass du einmal fettleibig wirst, ist ziemlich hoch. Ebenso von Gicht, Bluthochdruck und hohem Cholesterin. Und die Medikamente dagegen haben massenhaft Nebenwirkungen. Du hast Schweißausbrüche an den unmöglichsten Stellen, deine Sehschärfe leidet, und du kannst nicht mehr richtig bis hundert zählen. Deine Kinder gehen auf Distanz, Dana ist bereits tot, du selbst vereinsamst immer mehr. Vielleicht hätte ich dir das schon vor Jahren sagen sollen, damit du vorbereitet bist, aber ich wusste es selbst nicht. Also stell dich darauf ein.«

Nach einer längeren Pause meldete sich Danas Stimme: »Hallo? Bist du das, Arty?«

»Oh. Hallo, Dana.«

»Alles Gute zum Geburtstag, Arty!«

»Danke. Mir auch alles Gute zum Geburtstag.«

Eine Weile sprach Arty mit seiner Schwiegertochter über Koronarstents, Gallensteine, fäkale Impaktion, Insulininjektionen und Magengeschwüre, ehe er ihr die Mitteilung machte, dass er wegen dieses Stechens im Bauchraum demnächst zu einem Onkologen überwiesen würde, denn dieses Stechen könnte ein Indiz für einen Tumor sein.

»Uff!«, entfuhr es Dana. »Meredith, Schatz, dazu bist du schon zu schwer. Arty, Meredith kommt gerade rein und springt mir direkt auf den Schoß. Schatz, ich telefoniere mit Opa, willst du Opa hallo sagen? Er hat heute Geburtstag. Gratulier ihm doch zum Geburtstag, sei so gut.«

Hinter einem Vorhang aus Knacken und Rauschen kam es offenbar zur Schlacht darüber, wer jetzt seinen Willen durchsetzen konnte. In kurzen, erstaunlich unverrauschten Kampfpausen hörte Arty, wie Dana schrie: »Meredith Ann, zum letzten Mal: Du gratulierst jetzt deinem Opa zum …!« Worauf Meredith erst wie von Schmerzen gepeinigt aufschrie, um schließlich kleinlaut und verheult in den Hörer zu sprechen: »Hallo?«

»Hallo, Meredith. Hier ist dein Opa.«

»Hallo«, sagte Meredith.

»Mir alles Gute zum Geburtstag.«

»Alles Gute zum Burzeltag.«