Mein fremdes Leben - Joshua Ferris - E-Book

Mein fremdes Leben E-Book

Joshua Ferris

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Beschreibung

Ein Leben außer Kontrolle.

Paul O’Rourke ist Zahnarzt mit einer gutgehenden Praxis an der Park Avenue in Manhattan. Er liebt das Leben, auch wenn er vielleicht nicht besonders viel damit anzufangen weiß. Doch dann tritt plötzlich ein Fremder im Internet unter O’Rourkes Namen und Beruf auf und bedroht fundamental dessen Identität – nicht nur in den virtuellen Tiefen des Internets, sondern auch im ganz realen Leben.

Paul O’Rourke ist ein Mann voller Widersprüche: Er verachtet die Welt der sozialen Medien, ist aber abhängig von seinem iPhone, er ist ein Zahnarzt, der heimlich raucht, ein glühender Fan des Baseballteams der Red Sox, der es nicht ertragen kann, wenn sie gewinnen, und er ist ein Atheist, der Gott nicht ganz aufgeben will. Kurz, der Zahnarzt mit gutgehender Praxis an der Park Avenue in Manhattan liebt zwar das Leben, weiß aber nichts Rechtes damit anzufangen.

Als Paul eines Tages feststellt, dass jemand in seinem Namen eine Website, eine Facebook-Seite und einen Twitter-Account eingerichtet hat, verfolgt er mit ohnmächtigem Entsetzen die Entwicklung seines virtuellen Alter Ego. Bald geht es nicht mehr nur um die Verletzung seiner Privatsphäre, sondern um etwas viel Beunruhigenderes: Jemand hat seine Identität gestohlen, und dieser »Online-Paul« beginnt ein Eigenleben zu führen – manchen ist er sogar sympathischer als der echte. Fieberhaft versucht Paul herauszufinden, was der Grund für dieses böse Spiel sein und wer dahinterstecken könnte. Er vernachlässigt dabei nicht nur seine Zahnarztpraxis, sondern gerät immer tiefer in die Abgründe einer digitalen Welt, die zunehmend sein reales Leben und Ich zu dominieren droht.

In seinem vielbeachteten Roman »Ins Freie« hat Joshua Ferris das Schicksal eines Mannes beschrieben, der die Kontrolle über sein Leben verliert, weil eine unbeherrschbare Zwangsstörung Besitz von ihm ergreift. In »Mein fremdes Leben« variiert Ferris dieses Thema auf eine noch verstörendere, noch brisantere Weise, indem er zeigt, wie wenig es in unserer modernen Welt bedarf, um unsere gesamte Existenz, unsere ureigenste Identität anzugreifen und in Frage zu stellen.

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Seitenzahl: 505

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JOSHUA FERRIS

Mein fremdes Leben

Roman

Aus dem Amerikanischen vonMarcus Ingendaay

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem TitelTo Rise Again at a Decent Hour bei Little, Brown and Company, New York.

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2014 Joshua FerrisCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHIm Textteil enthaltene Internetadressen, externe Links o.ö., sowie Ereignisse und Figuren sind frei erfunden: Eine Haftung des Verlags ist ausgeschlossen.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-13983-4V002 Umschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © plainpicture/Oote Boewww.luchterhand-literaturverlag.deBitte besuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.defacebook.com/luchterhandverlag

Grant Rosenberg gewidmet

Hui!

Das Buch Hiob 39,25

Sohn eines Fremden

Kapitel 1

Der Mund ist eine seltsame Körperstelle. Nicht ganz innen, nicht richtig außen, weder Haut noch Organ, sondern ein Zwischending: dunkel, feucht, Einlass zu einem Inneren, das sich die meisten lieber nicht vorstellen – dort, wo Krebs entsteht, wo das Herz bricht und wo sich am Ende vielleicht doch keine Seele bemerkbar macht.

Ich rate meinen Patienten dringend, Zahnseide zu benutzen. Zuweilen keine leichte Aufgabe. Aber sie hätten eben Zahnseide benutzen sollen. Regelmäßiger Gebrauch von Zahnseide verhindert Parodontose und kann lebensverlängernd wirken, immerhin bis zu sieben Jahren. Natürlich kostet das Zeit und Mühe und kann einem auch sonst ziemlich auf den Sack gehen. Das sagt aber nicht der Zahnarzt, sondern der Normalmensch in mir. Der Kerl, der nach einem lustigen Abend mit viel Hui (haben wir gelacht) und nach vier, fünf Drinks nach Hause kommt und jetzt auch noch seine Zahnzwischenräume reinigen soll. In dieser Situation sagt so ein Kerl natürlich: Was soll der Quatsch? Irgendwann bleibt sowieso das Herz stehen, die Zellen sterben, und bei den Neuronen geht das Licht aus. Bakterien zersetzen die Bauchspeicheldrüse, Fliegen legen ihre Eier, Käfer fressen sich durch Sehnen und Bänder, die Haut verwandelt sich in Hüttenkäse, Knochen zerbröseln, und Zähne werden ins Meer geschwemmt. Doch am nächsten Tag kommt jemand in die Praxis, der in seinem ganzen Leben noch nie einen Zentimeter Zahnseide benutzt hat und auch genauso aussieht, abschreckendes Beispiel für Vernachlässigung und vermeidbare Schmerzen, mit verrotteten Zähnen, chronisch entzündetem Zahnfleisch und einem Infektionsstrang vom Zahnschmelz direkt in den Nerv. Liegt so einer in meinem Behandlungsstuhl, ist mir plötzlich nicht mehr alles egal, erneut regt sich Hoffnung, so etwas wie Lebensmut, ja tollkühner Trotz, und ich bin wieder bei meiner alten Leier: »Zahnseide! Bitte, Sie müssen Zahnseide benutzen. Zahnseide ist das A und O.«

Eigentlich ist ein Zahnarzt immer nur ein halber Arzt. Seine Tätigkeit weist nämlich Ähnlichkeiten mit der eines Leichenbestatters auf, was er aber nicht offen sagt. Was schmerzt, macht er wieder heil. Was tot ist, flickt er so zurecht, dass ein lebensechter Eindruck entsteht. Er bohrt ein Loch, entfernt die Fäulnis, spachtelt das Loch wieder zu und versiegelt das Einfallstor gegen Erreger. Er reißt Zähne heraus, macht Abdrücke, passt die falschen Dritten an und sorgt für die entsprechende Färbung. Zahnlücken sind die Augenhöhlen des knöchernen Schädels, Molaren stehen aufrecht wie Grabsteine.

Wir nennen es Praxis, niemals einen Betrieb, doch jede erfolgreiche Zahnarztpraxis arbeitet nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen. Meine Anfänge lagen in einer fensterlosen Praxis mit zwei Behandlungsstühlen in Chelsea. Irgendwann wechselte ich in eine Seitenstraße der Park Avenue. Ich mietete das halbe Erdgeschoss in einer Apartmentanlage namens Aftergood Arms. In der anderen Hälfte saß die Steuerberatungsfirma Bishop & Bishop, gegen die seinerzeit wegen Beihilfe zur Bilanzfälschung ermittelt wurde.

Die Park Avenue ist die zivilisierteste Straße der Welt. Die Empfangsportiers mit ihren Handschuhen und Schirmmützen sehen immer noch aus wie in den vierziger Jahren und halten Milliardärswitwen und ihren Hündchen die Tür auf. Die Vordächer reichen bis an die Straße, damit niemand nass wird, der mit dem Wagen vorfährt. Ein Teppich, in der Regel grün, zuweilen auch rot, dämpft den Tritt. Nostalgisch gestimmte Menschen werden mühelos das Kutschenzeitalter heraufbeschwören können, als mancher reich gewordene Siedler nebst Gattin auf dieser Prachtstraße noch Schlammpfützen ausweichen musste. Manhattan ist eine Region im permanenten Umbruch, die einzelnen Viertel wechseln ständig ihre Bewohner, die Stadt verändert sich über Nacht – nur die Park Avenue bleibt die Park Avenue, im Guten wie im Schlechten. Hier wohnt das Geld, vor allem das alte, hier residiert das klassische New York.

Ich nahm Kredite auf ohne Ende, um die neue Praxis meiner Klientel entsprechend zu sanieren. Um diese Riesensumme möglichst schnell abzutragen, schlug ich sowohl den Rat der Trockenbaufirma als auch die Einwände von Mrs. Convoy, meine eigenen Bedenken sowie jegliche Standesusancen in den Wind und verzichtete auf ein privates Büro. Stattdessen nutzte ich die frei gewordene Fläche für ein weiteres Behandlungszimmer und leide seit zehn Jahren darunter. Ich verdiene zwar das große Geld, aber für mich persönlich bleibt keinerlei Rückzugsort.

Etwas war also immer, und Jammern brachte nichts. An manchen Tagen haderte ich richtig mit meinem Schicksal. Doch dann sagte ich mir: Reiß dich zusammen. Was könnte besser sein als eine gutgehende Praxis mit dir an der Spitze der Organisationsstruktur? Mit Ausnahme des langen Donnerstags waren meine Arbeitstage nicht länger als Ihre. Nur an manchen Donnerstagen kamen wir erst um zehn Uhr abends aus der Praxis. In diesen Nächten schlief ich fast von allein, und die Tabletten waren beinahe überflüssig. (Das Erste, was sich bei einer medikamentösen Insomnietherapie verabschiedet, sind die Träume. Aber ich sagte mir: Auch das hat seine Vorteile, denn so bin ich nicht mehr gezwungen, nach dem Erwachen zwanghaft von meinem überreichen inneren Erleben zu berichten.)

Etwas war immer, aber ein bloßes Etwas konnte eben nie alles sein. Sogar eine gutgehende Praxis konnte nicht alles sein. Ein Leben im Dienst der Patienten oder der Mocaccino am Nachmittag oder die Pizza am Freitag, nichts davon konnte alles sein. Auch ein Banjo konnte leider nicht alles sein. Filme direkt auf den heimischen Fernseher zu streamen war bei seiner Einführung fast alles, wurde dann jedoch so schnell normal, dass es auch nur irgendetwas war. Lange Zeit waren die Red Sox für mich alles, bis sie zur Enttäuschung wurden. Und die Enttäuschung meines Lebens war jener Tag im Jahr 2004, an dem die Red Sox den Yankees den Sieg stahlen, dadurch in die World Series einzogen und diese ebenfalls gewannen.

Einmal dachte ich einen halben Sommer lang, Golf könnte alles sein. Ich glaubte allen Ernstes, ich könnte für den Rest meines Lebens alle Kraft, alle Leidenschaft in den Golfsport fließen lassen, und das tat ich auch, aber gerade einmal zwei Monate lang. Denn dann merkte ich, dass ich tatsächlich meine ganze Kraft, meine ganze Leidenschaft, jede freie Minute in das Golfen stecken konnte. Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so deprimiert. Als ich meinen letzten Ball versenkte, trudelte er zunächst um das Loch, und genau so sah ich auch mein mickriges Leben: Unentschlossen lässt es sich von der Schwerkraft ergreifen und in die Tiefe ziehen.

Halten wir fest: Weder Arbeit noch Freizeit, noch die totale Hingabe an eine höhere Sache (meine Arbeit, Golf, die Red Sox) konnten alles sein, auch wenn sie den Augenblick perfekt ausfüllten. Sollte ich erklären, warum es mir eine solche Befriedigung verschafft, einen verfaulten Zahn durch eine Brücke zu ersetzen und dem Patienten sein unbeschwertes Lachen zurückzugeben, es wäre in etwa so, als wollte ein Träumer seinen Traum beschreiben. Einem Menschen die Würde zurückzugeben ist keine Kleinigkeit. Die Pizza am Freitag war nicht zu verachten. Auch ein Mocaccino gehörte ohne Zweifel zu den Freuden des Alltags. Und ein denkwürdiger Abend im Jahr 2004, als David Ortiz ein 2-Run Home Run gegen die Yankees gelang und die Red Sox das größte Comeback in der Sportgeschichte einleiteten, sorgte für pures Lebensglück.

Gern hätte ich an Gott geglaubt. Das wäre einmal etwas, das nicht nur alles wäre, sondern auch besser als alles andere. Mit dem richtigen Gottesglauben kann man sich beruhigt fallenlassen und weiß immer, woran man ist. Furchtlosigkeit ist eine zusätzliche Option, denn das ewige Leben wäre mir ja sicher. Auch schwebende Orgelregister sowie die tiefsinnigen Betrachtungen anglikanischer Bischöfe dürfte ich zu meinem geistigen Besitzstand zählen. Um all das zu erlangen, müsste ich lediglich meine Zweifel über Bord werfen und einfach glauben. Doch immer, wenn ich kurz davor stand, riss mich die Vernunft zurück. Nein, ohne gedankliche Klarheit ging es nicht. Letztlich konnte ich, durfte ich mich nur an mich selbst halten. Wenn die Welt so schön war, wozu brauchte ich dann einen Gott? Welche Steigerung wäre durch die Unterwerfung unter Gott möglich? So mein ewiger, wohlbegründeter, zäher Skeptizismus. Und damit war die Frage nach Gott leider jedes Mal schnell erledigt.

Non serviam!, rief Luzifer. Er wollte keine kleinen Babys fressen, er wollte bloß Gott nicht dienen. Hätte er es getan, wäre er nicht mehr gewesen als ein x-beliebiger Engel, dessen Namen nicht einmal die Frommen kennen.

Ich habe versucht, die Bibel zu lesen, aber ich kam nie über den Anfangsteil mit dem Himmelsgewölbe hinaus, also all das, was über Tag eins und Tag zwei geschrieben steht. Jenes Gewölbe, das Wasser von Wasser scheidet. Da habt ihr euren Himmel, gleich neben dem Wasser. Einfach das Wasser entlang, dann stoßt ihr irgendwann wieder an den Himmel. Ich kann mir nicht helfen, aber schon das war sterbenslangweilig. Ungeduldig blätterte ich weiter, doch es wurde nicht spannender. Erst Himmelsgewölbe, dann ein elend langer Mittelteil, dann Jesus. Man kann sein halbes Leben damit zubringen, über unfruchtbare Frauen und brennende Dornbüsche und den Zorn Gottes zu lesen, ehe man zu den offiziellen Highlights vordringt: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern … Natürlich kann man das auch anders sehen. Was mich betrifft, ist das wahre Highlight das Zweite Buch der Könige. Aber so weit muss man erst mal kommen, schon das Erste macht es einem nicht leicht. Was mich immer wieder erstaunt: wie oft ich in der U-Bahn neben Leuten sitze, die gerade die Bibel lesen – und zwar richtig, sie stecken mittendrin, so ungefähr auf Seite einhundertfünfzigtausend. Damit nicht genug. Jeder Vers ist entweder unterstrichen oder mit Textmarker hervorgehoben. Ich kann mir zunächst nicht vorstellen, dass der junge Hispanic mit den Tattoos den Rest seiner Bibel derart totmarkiert hat wie den Schluss des Zweiten Buchs der Chronik. Doch weit gefehlt. Sobald er umblättert, sehe ich, es geht so weiter, sogar in Multicolor und mit den handschriftlichen Anmerkungen eines Klosterbruders. Und er blättert auch nicht einfach so weiter, dieser Typ sucht gezielt nach Bezügen am anderen Ende der Bibel, auf Seiten, die genauso textmarkergesättigt sind wie die vorigen. Ich schwöre bei Gott, es gibt immer noch Leute, die ihr ganzes Leben der Bibel widmen. Entweder alte schwarze Ladys oder schwarze Männer mittleren Alters. Oder Hispanics mit Schlips und Kragen. Oder weiße Männer, die überraschenderweise wirklich weiß sind. Tausende Stunden des Bibelstudiums und des sorgfältigen Markierens, während ich nur schlief, Baseball guckte oder im Fernsehsessel Unzucht mit mir selbst trieb. Manchmal denke ich, ich habe mein Leben vertan. Man kann sogar davon ausgehen, dass ich mein Leben vertan habe. Aber hatte ich eine Wahl? Natürlich – zwanzig Jahre lang jeden Abend die Bibel studieren. Aber wer kann sagen, dass ein frommes, gottesfürchtiges, keusches Leben, das jede Entscheidung mühevoll an den Launen des Herrn ausrichtet, in irgendeiner Weise sinnvoller gewesen wäre als mein reales Dasein, einschließlich der durchsoffenen Nächte mit der Labsal des hl. James aus Dublin und entsprechend getrübten Linsen am folgenden Morgen? Die Pascalsche Wette, was für ein Unding: die wackelige Chance auf die Ewigkeit gegen die Gewissheit eines limitierten Zeitrahmens ohne Verlängerung.

Ich erinnere mich an die Zeit, in der ich hin und wieder an einer Stadtbesichtigung teilnahm. Der Sinn einer Stadtbesichtigung ist die Bestandsaufnahme sämtlicher Veränderungen. Was hat sich verändert, was verändert sich gerade, was wird sich weiter verändern und wie zahlreich sind die Veränderungen im historischen Maßstab, also von den Anfängen bis hin zu einer Zukunft, die wir nicht mehr erleben werden? Irgendwann deprimierten mich diese Stadtbesichtigungen so sehr, dass ich nie wieder hinging und stattdessen mit Spanisch anfing. Aber da hatte ich bereits alles über die verschiedenen Einwanderungswellen und ihre ethnische Zusammensetzung gelernt, welche den Vierteln ihr spezifisches Gepräge gab und selbst Gotteshäuser im Lauf der Zeit nicht von einer Umwidmung verschonte. Gut sichtbar zum Beispiel in der Lower East Side, wo einst eine Vielzahl von Synagogen die religiöse Grundversorgung der frühen jüdischen Einwanderer sicherstellte. Synagogen, die später zu Kirchen wurden, weil christliche Einwanderer nachrückten. Was jedoch blieb, waren die architektonische Hülle und Teile der Fassade, so dass auf manchen Kirchenwänden bis heute der in Stein gemeißelte Davidstern oder der siebenarmige Leuchter zu sehen ist. Oder unter einem Kirchdach mit Kreuz oder der Statue der Gottesmutter findet sich überraschend ein Gesims mit einer Inschrift aus hebräischen Lettern.

Genau deshalb, rief ich, ist Klarheit so wichtig. Klarheit und Eindeutigkeit. Wisse, wie leicht eine Gebetsstätte zum gegnerischen Glauben überlaufen kann. Deine Seele ist in Gefahr, in Gefahr durch den demographischen Wandel und das unendliche menschliche Talent zur Nutzungsänderung.

In einer Kirche war ich zuletzt in Europa, zusammen mit Connie. Während der zwölf Tage besichtigten wir mindestens neunhundert Kirchen. Wenn man Connie fragt, waren es zwar gerade einmal vier, aber selbst vier Kirchen in zwölf Tagen betrachte ich als Overkill. Dauernd musste ich wegen irgendeiner berühmten, einzigartigen Kirche meine Red-Sox-Kappe abnehmen, dabei sahen sie am Ende alle gleich aus, die Kirchen. Vor allem überkam mich, egal zu welcher Tageszeit und egal auch, wie viel Espresso ich bereits zu mir genommen hatte, jedes Mal das große Gähnen. Dass es so laut sein musste, fand Connie überflüssig. Sie verglich mein Gähnen immer mit dem Brummen eines elektrischen Gartengeräts. Fehlte eigentlich nur, dass mir Grünschnitt aus dem Mund flog, sagte sie und warf mir einen giftigen Blick zu, sobald ich es mir auf einer Kirchenbank gemütlich machte. Ich gähnte, was war schon dabei? Ich verzichtete immerhin auf obszöne Gesten und schlug auch nie vor, dass wir in einer Kirche Party machten. Nur einmal forderte ich sie zu einem Blowjob hinter der Kirche auf, dort, wo die Abfallcontainer standen. Aber das war, für jedermann erkennbar, ein Witz, denn da gab es gar keine Abfallcontainer. Eine europäische Kirche war eben kein amerikanischer Supermarkt. Ich stehe auf Blowjobs hinterm Supermarkt. In Manhattan ist das gar nicht so einfach. Am ehesten geht so etwas in New Jersey, wo es sogar legal ist. Meiner Meinung nach nahm Connie dieses Europa viel zu ernst. Schwermütig betrachtete sie die Fresken und ging jeder Kleinigkeit nach, denn die Unendlichkeit verpflichtet. Dichter sind ein gedankenverlorener Haufen. (Connie ist Dichterin.) Aber sie sind auch große Heuchler. In Amerika machen sie einen Bogen um jede Kirche, aber in Europa rennen sie vom Flieger gleich ins nächste Querschiff, als hätte der wahre Gott nur auf sie gewartet. Der wahre Gott, das ist der Gott Dantes und des Chiaroscuro, der Gott von Johann Sebastian Bach und der Strebebögen. Davor kann eine amerikanische Dichterin nur sabbatfromm in die Knie gehen. Dabei war Connie Jüdin. Ab Tag drei nannte ich Europa nur noch Eupora und hörte erst damit auf, als wir wieder in Newark landeten. Da wir schon in New Jersey waren, schlug ich übrigens vor, noch einen Abstecher zum Supermarkt zu machen, aber bis dahin hatte Connie endgültig die Nase voll von mir. Für mich ist eine Kirche eben nichts weiter als ein Ort der Langeweile. Ich sage das bei allem Respekt für gläubige Menschen. Ich selber bin ja für die Tröstungen einer Gemeinschaft der Gläubigen nicht unempfänglich. Ich würde gern an Sakramenten teilnehmen, meines Nächsten Hand ergreifen und aus ganzer Seele Lieder aus dem Gesangbuch schmettern. Aber ich wäre verdammt, wahrlich verdammt, wäre dem Gott meiner Wahl an meinem Gehorsam gelegen. Mein Gott verachtet die Hostien und lacht über den Wein. Die Symbole der Sterblichen können ihm nur leidtun. Aber was weiß ich schon? Nur dass die Langeweile, die mich in Kirchen übermannt, keine passive Langeweile ist, sondern aktive, nagende Unruhe. Für manche ist die Kirche der Ort der letzten Dinge und der ungezwungenen Zwiesprache, für mich ist er die dunkle Endstation der Seele. Beim Betreten einer Kirche erscheint mir jeder Gedanke an den Lobpreis des Herrn absurd.

Mein Name ist Paul O’Rourke. Ich lebe in New York in einer Doppelhaushälfte mit Blick auf die Brooklyn Promenade. Ich bin Zahnarzt und Facharzt für Prothetik. Meine Praxis hat sechs Tage die Woche geöffnet, am Donnerstag auch abends.

Es gibt auf der Welt keinen schöneren Ort zum Leben als New York. New York hat die besten Museen, Theater, Nachtclubs, die besten Shows und die besten Konzertsäle der Welt, von der internationalen Küche gar nicht zu reden. Gegen die Weinvielfalt in New York nehmen sich sämtliche Weine des Römischen Reiches aus wie das Angebot einer Tanke im hintersten Kansas. New York bietet Wunder ohne Ende. Die Frage ist nur, wer kann daran teilhaben, wenn sich alle nur dumm und dämlich arbeiten, um in dieser Stadt nicht pleitezugehen? Und wer, wenn er sich nicht gerade dumm und dämlich arbeitet, hätte dann noch die Kraft dazu? Seit meinem stolzen Zuzug aus Maine war ich in zwölf Jahren vielleicht ein Dutzend Mal in einem Programmkino, zweimal in einer Broadway-Show, einmal auf dem Empire State Building und einmal in einem Jazzkonzert, an das ich mich auch nur deshalb erinnere, weil ich bei dem Trommelsolo vor Müdigkeit beinahe eingeschlafen wäre. Im Metropolitan Museum, diesem Eldorado menschlicher Sammelwut, nur wenige Blocks von der Praxis entfernt, war ich exakt null Mal. Meine Freizeit verbringe ich am liebsten vor den Schaufenstern von Maklerfirmen, wo ich mir im Verein mit anderen finanziell überforderten Träumern vorstelle, wie es wäre, so schön, so großzügig zu wohnen, dass sich die abendliche Flucht aus der Stadt auch wirklich lohnte.

Als ich Connie kennenlernte, gingen wir etwa drei- bis viermal die Woche schön essen. Schön essen bedeutet in New York mindestens Starkoch mit mehreren Michelin-Sternen, Kindheit im Rhônetal und einer eigenen Kochsendung im Fernsehen. Natürlich steht der Starkoch nicht selber in der Küche, das machen Hispanics aus den Armenhäusern der Welt. Dennoch wird Wert auf frischeste Zutaten der Saison gelegt, die entweder jeden Morgen eigenhändig auf Bauernmärkten gekauft oder über Nacht eingeflogen werden. Die Restaurants selber sind entweder elegant und intim mit eindrucksvollem Lichtdesign oder laut und brechend voll mit exklusiver Klientel. In beiden Varianten war für gewöhnlich kein Tisch zu bekommen, es sei denn, man blieb stur und verstand sich auf die Kunst der Einschüchterung, der Bestechung, der Lüge. Einmal behauptete Connie dreist, sie habe Magenkrebs im Endstadium und hätte das fragliche Restaurant für ihren letzten Abend vor dem Krankenhaus ausgesucht. Saßen wir endlich an unserem Tisch, studierten wir aufgeregt und gleichzeitig völlig erschöpft die Speisekarte, in der jedes Hauptgericht gut dreistellig kostete, bestellten, was zu bestellen war, und tranken, was uns empfohlen wurde. Dann zahlten wir und gingen heim und fühlten uns leer und dumm, aber schon am nächsten Morgen war unser erster Gedanke, in welches Restaurant wir als Nächstes wollten.

Nach der Trennung von Connie spielte ich, wenn ich durch die Straßen von Manhattan lief, immer ein kleines Spiel mit mir. Es war das Es-könnte-alles-noch-viel-schlimmer-sein-Spiel. Es könnte alles noch viel schlimmer sein, sagte ich mir, etwa beim Anblick von manchen Gestalten auf der Straße. Es könnte alles noch viel schlimmer sein, beispielsweise könnte ich der Kerl da hinten sein. Denn Manhattan ist auch der Laufsteg der Entstellten, Obdachlosen, der erbarmungslos Hässlichen, laut Weinenden, der Selbstverletzten, der unrettbar Angepissten. Es könnte wirklich alles viel schlimmer sein. Aber dann kam mir eine Frau entgegen, eine von Tausenden New Yorkerinnen, mit unbekümmert langen Beinen in unmöglich hohen Stiefeln, immer allein oder zu zweit oder zu dritt mit Freundinnen unterwegs und von einer Schönheit, die wehtat, weil sie nicht im Geringsten beabsichtigt wirkte. Dann starb ich ein wenig vor Sehnsucht und Schmerz und musste mir eingestehen: Es könnte aber auch sehr viel besser sein.

Es könnte alles viel schlimmer, es könnte aber auch viel besser sein – dieses Spiel war mein fortlaufender Kommentar zum Tagesgeschehen auf Manhattans Straßen, und ich war darin so gut wie jeder andere arme Idiot.

Mein Leben begann eigentlich erst wenige Monate vor dem schicksalhaften Red-Sox-Sommer von 2011. Im Januar dieses Jahres kam Mrs. Convoy zu mir und meinte, in Behandlungszimmer 3 gingen seltsame Dinge vor sich. Ich schaute selber nach und erkannte den Patienten vage wieder. Ein Mann, der anfangs regelmäßig kam und dann immer seltener, bis eine Notmaßnahme nötig wurde, die ihn eine Weile disziplinierte, ehe der alte Schlendrian wieder einsetzte. Eine vermurkste Plombe (nicht von mir) hatte den Nerv entzündet, trotzdem konnte er sich nicht, wie von mir empfohlen, zu einer Wurzelbehandlung durchringen. Jetzt trieb ihn der Schmerz wieder her, der große Motivator. Doch stöhnte und klagte er nicht, sondern sang nur leise vor sich hin. Dabei lagen seine Handflächen offen im Schoß, Daumen und Mittelfinger berührten sich, und er intonierte etwas, das sich anhörte wie »Om-mm … om-mm …«.

Ich setzte mich auf meinen Zahnarzthocker, und wir gaben uns die Hand. Ich fragte, was er da mache, und es stellte sich heraus, dass er einmal tibetischer Mönch werden wollte. Zwar läge diese Phase mittlerweile hinter ihm, erklärte er, doch in bestimmten Situationen greife er gern auf die alten Meditationstechniken zurück. Im Augenblick bereite er sich darauf vor, sich den Zahn ohne Betäubung ziehen zu lassen. Er war bei einem Guru in die Schule gegangen, der die Kunst der Schmerzausschaltung beherrschte.

»Ich habe den Zustand vollkommener Leere erreicht«, sagte er. »Man muss sich nur immer wieder sagen: Auch wenn man den Körper verliert, so stirbt man doch nicht.«

Auf jeden Fall hatte sein Eckzahn den Zustand fortgeschrittenen Verfalls erreicht. Der Zahn war farblich etwa teebraun, jedoch allem Anschein nach noch nicht nervtot, und kein Zahnarzt, der noch bei Verstand war, würde so ein Ding ohne Lokalanästhesie extrahieren. Das sagte ich ihm auch so, und er willigte ein, nahm aber gleich seine Meditationshaltung wieder ein. Ich verpasste ihm seine Dosis und machte mich mit demonstrativer Hemdsärmligkeit ans Werk. Schon nach zwei Sekunden stöhnte er auf. Offenbar gehörte das Stöhnen zum Zustand vollkommener Leere. Aber das Stöhnen wurde immer lauter, bis es selbst im Wartezimmer zu hören gewesen sein dürfte. Ich blickte auf Abby, meine Zahnarzthelferin, die mit rosa OP-Maske auf der anderen Seite des Patienten saß. Sie sagte nichts. Ich nahm die Zange aus seinem Mund und fragte, ob alles in Ordnung sei.

»Ja. Warum?«

»Weil Sie Schmerzlaute von sich geben.«

»Ach wirklich? Habe ich gar nicht gemerkt. Ich bin nämlich körperlich nicht anwesend«, sagte er.

»Dafür, dass Sie körperlich nicht anwesend waren, hat es sich aber ausgesprochen körperlich angehört.«

»Das soll nicht wieder vorkommen«, sagte er. »Bitte fahren Sie fort.«

Umgehend setzte das Gestöhne wieder ein und steigerte sich zu einem verhaltenen Heulen. Ein Heulen, so unmittelbar und blutig wie bei einem Neugeborenen mit einer noch untrainierten Lungenfunktion. Ich hielt inne. Ihm standen Tränen in den Augen.

»Sie tun es schon wieder«, sagte ich.

»Was tue ich?«

»Sie stöhnen«, sagte ich. »Sie heulen. Wirkt die Betäubung nicht?«

»Ich denke drei bis vier Wochen über diese Schmerzen hinaus«, sagte er. »So bin ich vier bis sechs Wochen weit weg.«

»Mit Betäubung sollten Sie aber überhaupt keine Schmerzen haben«, sagte ich.

»Habe ich auch nicht. Ich habe keinerlei Schmerzen«, sagte er. »Und jetzt bin ich still.«

Ich setzte die Behandlung fort, aber er brach sie sofort wieder ab.

»Könnte ich bitte Lachgas haben?«

Ich setzte ihm die Nasenmaske auf, entfernte den Zahn und vernähte die Wunde. Als die Wirkung des Gases nachließ, waren Abby und ich schon beim nächsten Patienten. Doch dann kam Connie herein und sagte, der Mann habe sich erholt und wolle sich verabschieden.

Ich hätte Connie sofort nach unserer Trennung entlassen sollen. Ich hätte es auch tun können, ließ es aber sein, weil sie als Dichterin permanent Geldsorgen hatte. Letztlich tat sie nicht mehr, als Patientennamen zusammen mit dem nächsten Termin auf ein Kärtchen zu schreiben, und zwar volle acht Stunden lang, donnerstags auch länger. Daneben half sie Mrs. Convoy, mit den Patienten Termine abzusprechen. Und Rechnungen, Rechnungen schrieb sie auch ein paar. Doch den Großteil davon erledigte ohnehin ein externer Dienstleister, und den konnte sie nicht ersetzen. Habe ich etwas vergessen? Ach ja, sie nahm Anrufe entgegen. Kurz und gut, acht Stunden lang war sie mit kleinen Kärtchen und Telefondienst beschäftigt, kritzelte Namen in den Terminkalender und schrieb nicht genügend Rechnungen, dass ich auf den externen Büroservice verzichten konnte. Die übrige Zeit verbrachte sie festgeklebt an ihrer Ich-Maschine.

»Wo ist er?«, fragte ich.

»Drüben«, sagte sie.

Mein Patient erhob sich, als ich ins Wartezimmer trat.

»Ich wollte mich nur noch bedanken. Danke für alles. Und ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Ich fliege nach Israel!«

Seine verwaschene Stimme deutete darauf hin, dass die Wirkung des Gases nicht vollständig abgeklungen war.

»Erholen Sie sich doch noch ein paar Minuten.«

»Nein, das geht nicht, ich muss zur U-Bahn. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr Sie mir fehlen werden. Wie übrigens jeder hier. Alle sind immer so nett. Diese Frau zum Beispiel, sie ist supernett. Und dabei so sexy. Ich meine, sie ist wirklich … ungelogen, ich würde sie auf der Stelle ficken.«

Er deutete auf Connie, die wie alle anderen im Wartezimmer das Geschehen sprachlos verfolgte.

»Okay«, sagte ich. »Sie sollten sich noch eine Weile erholen, kommen Sie mit.«

»Das geht nicht!«, rief er und machte sich von mir los. »Keine Zeit.«

»Dann bis zum nächsten Mal.«

»Ich sagte doch, es wird kein nächstes Mal geben«, sagte er. »Ich gehe nach Israel.«

Ich bugsierte ihn langsam zur Tür, Connie reichte mir seine Jacke.

»Ich gehe aber nicht nach Israel, weil ich Jude bin. Sie denken das womöglich, ist es nicht so?«

»Warten Sie, ich helfe Ihnen in die Jacke.«

»Aber da liegen Sie falsch.«

Ich machte die Tür auf, und er kam mir plötzlich sehr nahe und flüsterte mir mit seinem von der Betäubung säuerlichen Atem etwas ins Gesicht.

Er sagte: »Ich bin ein Ulm. Deswegen gehe ich nach Israel. Ich bin ein Ulm – und Sie auch!«

Ich klopfte ihm auf die Schulter und schob ihn weiter.

»Na, dann herzlichen Glückwunsch. Und viel Glück.«

»Ihnen auch«, sagte er.

Unter Lachgas sagen die Leute die komischsten Sachen, und so dachte ich nicht weiter darüber nach.

Kapitel 2

Sechs Monate später, ein Freitag. Freitag, der 15. Juli 2011. Der Tag begann ohne besondere Vorkommnisse mit zahnkosmetischen Konsultationen, einer Zahnfleischverpflanzung und einer gespenstisch geschwärzten Zunge. Viermal lief »Nowhere Man«, aber es kann auch sein, dass ich während dieses einen Songs einfach in vier verschiedenen Behandlungszimmern war. Später ertappte ich mich dabei, dass ich während einer Kronenverlängerung »Nowhere Man« summte. Am Nachmittag trocknete Connies Wet-Look langsam aus und erfüllte die Praxis mit dem Duft ihres Haars. Mrs. Convoy schlug ein neues Ablagesystem vor, um der steigenden Papierflut zu begegnen. Abby blieb still.

Als Zahnarzthelferin braucht man nicht viel zu können. Man muss die Instrumente kennen und sie dem Arzt in der entsprechenden Reihenfolge anreichen. Es geht nicht um Herzchirurgie, aber es ist auch nicht alles nur Jux und Tollerei. In unserem Behandlungsstuhl liegen mitunter Unfallopfer oder übel zugerichtete Personen aus Schlägereien. Das heißt, Abby muss mir nicht nur die Instrumente reichen, sondern auch die Nerven behalten, wenn diese Patienten zum ersten Mal den Mund öffnen. Ich kann nur sagen: Bestimmte Unfälle wünsche ich niemandem. Sicher, wir kriegen manches wieder hin. Wir sorgen dafür, dass diese Menschen irgendwann wieder essen und trinken können, doch so wie vorher wird es nie wieder. Irgendwann ist die Glückssträhne zu Ende, und dann kommt auch noch Pech hinzu. Von da an heißt es, Kompromisse schließen, und bis zum Lebensende hängt man von zahnärztlichem Können ab.

Darüber hinaus muss eine Zahnarzthelferin sprayen, spülen und absaugen können. Sie bereitet den Instrumententisch vor, assistiert bei der Erstellung des Zahnstatus, macht Abdrücke oder die Grobanpassung von Kronen und legt bzw. entfernt Kofferdams. Ohne eine gute Zahnarzthelferin kriegt man nichts geregelt. Und Abby war sehr gut, hielt im Notfall auch schon mal die Hand des Patienten. Aber sie hatte ein Kommunikationsproblem. Wenn irgendetwas anlag, und sei es auch nur der Wunsch nach einem freien Nachmittag, kam sie nie zu mir, sondern ging zu Connie oder Mrs. Convoy. Sie sagte, sie wolle mich nicht damit behelligen. Mich nicht behelligen, wie das? Wir saßen uns den ganzen Tag lang gegenüber! Mag sein, sie hätte lieber bei einem anderen Zahnarzt gearbeitet, womöglich einem dieser allseits beliebten Menschenfreunde mit stets einem lockeren Spruch auf den Lippen (was ich übrigens gern gewesen wäre). Es störte mich, dass sie mir schweigend gegenübersaß und mich permanent beurteilte. Aber vielleicht täuschte dieser Eindruck auch. Vielleicht lag es nur daran, dass ich hinter der rosa OP-Maske ihr Gesicht nicht sah. Vielleicht wollte sie mir lediglich mit der professionellen Aufmerksamkeit assistieren, die ich von einer Zahnarzthelferin erwartete. Aber leider ist man nicht jeden Tag besonders witzig oder geistreich, und dann möchte ich den sehen, der sich durch die permanente Anwesenheit eines anderen, der immer nur schaut und schweigt, nicht kritisch überwacht fühlt.

»Sind alle Zimmer vorbereitet?«, fragte ich Abby morgens als Allererstes.

Eigentlich wollte ich ihr nur einen guten Morgen wünschen. Ein guten Morgen am Morgen hob die Arbeitsmoral, denn es signalisierte jedem, dass wir hier etwas ganz Besonderes leisteten. Jetzt also frisch ans Werk mit ausgeruhten Sinnen, deodorierten Achselhöhlen und in freudiger Erwartung der vielen tollen Herausforderungen, die auch dieser Tag wieder für uns bereithielt. An manchen Morgen aber brachte ich diese schlichte Begrüßung nicht über die Lippen, und wir waren nicht einmal ein großer Laden, sondern eine kleine gemütliche Praxis mit drei Angestellten. Dreimal guten Morgen dürfte nicht zu viel verlangt sein. Und dennoch verweigerte ich es zuweilen und wollte gar nicht wissen, wie verletzend so etwas in unserer kleinen Gemeinschaft sein konnte, wo es auf jedes guten Morgen ankam. Oder ich vergaß es gleich ganz und machte gerade dadurch zur Botschaft, was ich von dieser Floskel hielt. Oder ich schenkte, völlig willkürlich, nur ausgesuchten Mitarbeitern eine knappe Begrüßung, ein Verhalten wie aus dem Lehrbuch des Tyrannen. So sagte ich zum Beispiel guten Morgen zu Abby und Betsy, aber nicht zu Connie. Oder allein zu Betsy, aber nicht zu Abby oder Connie. Oder ich begrüßte ausschließlich Abby, wenn auch Betsy da war. Oder nur Betsy, wenn auch Connie da war. Ich meine, was war schon dabei? Was will der Mensch eigentlich mit diesem allzu absehbaren sogenannten neuen Morgen? Was landläufig Nacht genannt wird, war für mich nur ein langer Kampf um ein paar Minuten Dämmerschlaf. Insgesamt so unerheblich, dass es keinen Morgengruß verdiente. Also sagte ich zuweilen nur: »Wen haben wir denn heute? Kann ich mal den Plan sehen?« Wenn ich sagte: »Kann ich mal den Plan sehen?«, sagte ich das zu Connie am Empfang. Oder ich sagte wie an diesem, dem besagten Morgen: »Sind alle Zimmer vorbereitet?« Die Frage ging normalerweise an Abby, und Misstrauen schwang darin. So, als rechnete ich fast damit, dass sie nicht vorbereitet waren. Zur Strafe saß Abby dann den ganzen Tag auf der anderen Seite des Patienten, atmete in ihre OP-Maske, reichte mir nüchtern alle benötigten Instrumente und verurteilte mich wortlos auf das Schärfste. Oder ich sagte zu Betsy: »Sie sind heute allein.« Was bedeutete, dass an diesem Tag die Dentalhygienikerin, die zur Aushilfe kam, nicht kam. Worauf sie wieder sagte: »Oh, da hat jemand schlechte Laune.« Doch das traf überhaupt nicht zu, ich hatte keine schlechte Laune, nicht einmal nach einer weiteren schlaflosen Nacht und dem allzu frühen Wiedersehen mit meinen drei Angestellten. Erst als Mrs. Convoy sagte: »Oh, da hat jemand schlechte Laune«, erst da bekam ich schlechte Laune, woran sich den ganzen Tag lang nichts ändern würde.

Also erst einmal guten Morgen allerseits. Und vor allem den Patienten: Einen wunderschönen guten Morgen! Denn ich war der hinterhältigste Schleimer unter der Sonne, ich war der König der Heuchler. Bei einem Speichellecker wie mir braucht man keine Absaugpumpe mehr.

Unter den Patienten an jenem Freitagmorgen war ein Mann, den ich Mr. Kontakte nennen will. Mr. Kontakte kam wegen einer kosmetischen Behandlung. Mehr Patienten denn je liefen heute wegen so etwas zum Zahnarzt. Sie wollten ein weißeres Lächeln, ein geraderes Lächeln, kein Zahnfleisch-Grinsen mehr. Sie verlangten nach Zahnfleisch-Bleaching und unterspritzten Lippen, wünschten sich ein Lächeln, das Zahn für Zahn, Millimeter für Millimeter optimiert war und jede schmerzliche Reminiszenz aus Kindertagen auslöschte. Sie wollten ein Lächeln wie George Clooney oder Kim Kardashian, sie wollten sogar die asymmetrische Kauleiste von Tom Cruise. Bei weniger bekannten Celebrities brachten sie entsprechende Zeitschriftenausschnitte mit, damit ich ihnen ein Lächeln zauberte, das ihnen für alle Zeit die ersehnte Star-Aura verlieh. Es waren Leute, die sich so etwas leisten konnten, Rechtsanwälte, Hedgefonds-Manager und deren Gattinnen, die keine Lust mehr hatten auf kleine menschliche Unzulänglichkeiten. Angehörige der Schickeria, die keinen Galaempfang ausließen und sich überall vor die Kamera drängten. Als Kontrastprogramm gab es all die Mühseligen und Unversicherten, die an den Folgen selbst durchgeführter Zahn-OPs litten, etwa einer Extraktion mit Kneifzange in der Küche ihrer Sozialwohnung ohne Aufzug, dafür aber mit einer Anästhesie in Form einer halben Flasche Jim Beam. Solche Patienten begegneten Zahnschmerzen grundsätzlich nicht mit einem Gang zum Spezialisten, sondern mit Aspirin, Whiskey oder was sie gerade bei ihrem medizinischen Dienst ergattern konnten. Einige waren sogar ein Fall für die Notaufnahme. Es waren dieselben Leute, die auch sonst im Leben gescholten wurden, weil sie nie mit offenem Lächeln auf andere zugingen, doch das hatte keine charakterlichen Ursachen, sondern medizinische, sichtbar an verfärbten, verrotteten Zähnen mit riesigen dunklen Lücken. Kamen sie dann nach Jahren des Schmerzes und zähen Sparens zu mir, um wenigstens das Allerschlimmste zu verhindern, dann brachen sie oft, egal ob Mann, ob Frau, in meinem Behandlungsstuhl zusammen und heulten ihr Elend hinaus: die gemeinen Spitznamen, ihr vielfach gebrochenes Herz, die versagten Möglichkeiten, ihr verpatztes Leben. Und alles nur wegen ein paar bescheuerter Zähne. Es gab Tage, an denen ich mich für meinen Beruf denkbar ungeeignet hielt, denn als Zahnarzt muss man das Wissen um menschliche Hinfälligkeit und Vergänglichkeit ausblenden. Dabei ist jeder geöffnete Mund ein Memento mori, und alles, wozu wir imstande sind, ist Aufschub und Provisorium, mehr nicht. Auch ich beschäftigte mich hauptsächlich mit Flickschusterei, was es schwer machte, in den halbjährlichen Untersuchungsterminen der Patienten mehr zu sehen als eine notwendige Selbsttäuschung. Doch wenn einer dieser notorischen Nichtlächler mit verheilten Nähten und stabil sitzenden Ankern noch einmal in die Praxis kam, um mir für sein neues Leben zu danken, war ich stolz auf mein Tun – und das Memento konnte mich mal.

Wie auch immer, an jenem Morgen bekam Mr. Kontakte ein neues Kunststoff-Bonding für seine Frontzähne. Auf einmal zückte er seine Ich-Maschine und scrollte seelenruhig durch seine Kontakte. Wie gesagt, Bonding ist keine Hirn-OP, es wird lediglich eine Kunststoffschicht auf den Zahn aufgebracht. Dennoch ist Konzentration gefragt und vonseiten des Patienten ein Minimum an Kooperation. Aber ich wette, wenn sich eine Hirn-OP ohne Vollnarkose durchführen ließe, gäbe es garantiert Leute, die währenddessen durch ihre Kontakte scrollen. Mich erstaunt immer wieder, was sich die Leute im Behandlungsstuhl alles einfallen lassen. Mrs. Convoy hatte einmal eine Patientin, die während einer professionellen Zahnreinigung plötzlich anfing, sich die Nägel zu lackieren. Doch da war sie bei Mrs. Convoy an der falschen Adresse. Das arme Mädchen bekam eine Standpauke über den fehlenden Respekt in der heutigen Gesellschaft zu hören und konnte – mit Mrs. Convoys Scaler im Mund – weder fliehen noch widersprechen. Auch ich bat meinen Patienten, doch bitte das Handy wegzulegen, was er sogar tat, aber erst nachdem er noch schnell eine SMS abgeschickt hatte. Das erinnerte mich an eine bestimmte Phase in meinem Leben. Als Prozac nicht mehr wirkte und ich meinen Spanischkurs vernachlässigte, ging ich in die Muckibude. Mein Freund McGowan hatte mich darauf gebracht. Gemeinsam stemmten wir eiserne Gegenstände in die Höhe und setzten sie anschließend wieder ab. Anderthalb Monate lang waren chromblitzende Hanteln und die Aussicht auf maximale Potenz fast alles für mich, doch irgendwann deprimierte mich das trübe Kunstlicht, und ich wechselte zu Indoor-Lacrosse. Ich erinnerte mich, wie ich McGowan von etwas erzählt hatte, das mir in der Nacht davor aufgefallen war, nämlich, dass viele der sogenannten Kontakte auf dem Handy nicht zu meinen Freunden gezählt werden konnten, und wie ich deshalb darangegangen war, eine ganze Reihe davon zu löschen, auch wenn ich die Betreffenden schon ewig kannte. McGowan fand das gar nicht gut. »Mann, das sind deine Kontakte«, meinte er. »Ach ja? Und?« »Legst du keinen Wert mehr auf deine Kontakte?« »Warum sollte ich?« »Ich begreife nicht, wie man so etwas tun kann«, sagte er. »Lass doch diesen Unsinn bleiben, das ist ja deprimierend.« Was ich nun wieder nicht verstand. Warum sollte ihn das deprimieren? Es waren doch meine Kontakte. Danach mied er mich. Eines Tages bekam ich aus heiterem Himmel einen Anruf. »Hallo?«, sagte ich. »Hey«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Wer ist da?«, fragte ich, da mir das Display keinen Namen gab. Es war McGowan, wie sich herausstellte. Wir haben seitdem nie mehr miteinander gesprochen.

Ich nahm den Blick aus dem Mund von Mr. Kontakte, denn Mrs. Convoy stand im Zimmer. Meistens sieht Mrs. Convoy aus wie eine missgestimmte Lehrkraft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, jede erbauliche, wenn auch langweilige Lektion in eine Strafe zu verwandeln. Großen Anteil an diesem Eindruck hatte sicherlich ihr fleischfarbener Rollkragenpulli, der resolut in die Hose gesteckt war und sich streng über ihre schlaffen Aktivseniorenbrüste spannte, sowie ihr silberweißer Kurzhaarschnitt. Nicht zu vergessen der gut sichtbare Flaum auf Gesicht und Hals, der geeignet schien, Luftballons elektrostatisch anzuziehen. Aber diesmal strahlte sie mich ohne Wenn und Aber an.

»Was ist?«, fragte ich.

»Nun haben Sie es ja doch getan!«

»Was getan?«

»Ich dachte immer, Sie wären strikt dagegen, und jetzt das!«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Betsy.«

»Von der Webseite.«

»Welcher Webseite?«

»Unserer Webseite«, sagte sie.

Ich rotierte auf meinem Drehhocker herum und zog mir die Latexhandschuhe von den Fingern, dass es knallte. »Wir haben keine Webseite«, sagte ich.

Offenbar war das ein Irrtum.

Betsy Convoy war meine leitende Dentalhygienikerin und darüber hinaus fromme Katholikin. Wenn ich jemals den Wunsch hätte, Christ zu werden (was ich für ausgeschlossen halte), dann wäre ich gern so katholisch wie Mrs. Convoy. Sie besuchte regelmäßig die heilige Messe in der St. Joan of Arc Church in Jackson Heights, wo sie ihren Glauben bekundete mit Kreuzzeichen, Kniefällen, Gebeten, mit Abendmahl und Kollekte und Beichte, mit Andachtskerzen, Heiligenfesten und den verschiedensten Responsorien. Katholiken sind wie Baseballspieler, sie kommunizieren mit einer festgelegten Gebärdensprache. Sicher, die römisch-katholische Kirche ist dem Menschen ein Gräuel und eine Schande für Gott, doch sie verfügt über eine hochstrukturierte Messe, weltberühmte Wallfahrtswege, die ältesten Kirchenlieder, die eindrucksvollste Architektur und ein ausgeklügeltes Beschäftigungsprogramm für jeden, der eine Kirche betritt. Aufs Ganze gesehen mündet es in der Verschmelzung mit deinem Nächsten.

Angenommen, ich wäre nur kurz vor der Tür gewesen und wollte mir die Hände waschen, Mrs. Convoy fände mich sofort, egal an welchem Waschbecken. Dann beschnüffelt sie mich wie ein Bluthund und fragt: »Darf ich fragen, wo Sie gewesen sind?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Müssen Sie mich wieder anlügen?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Ein bisschen Kontrolle führt nicht zu einem langsamen und schmerzhaften Tod, Rauchen sehr wohl. Meinen Sie, Sie sind ein Vorbild für Ihre Patienten, wenn Sie sich heimlich verdrücken, um eine zu rauchen?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Aber die Patienten müssen nicht auch noch von ihrem Zahnarzt auf die ›Vergeblichkeit allen Tuns‹ hingewiesen werden. Seit wann rauchen Sie eigentlich wieder?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Das wird ja immer schöner. Warum haben Sie dann überall erzählt, Sie hätten das Rauchen aufgegeben?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wie Ihnen ausgerechnet meine berechtigte Sorge ›die Luft zum Atmen‹ nimmt. Ich möchte nur, dass Sie Ihr volles Potential ausschöpfen, das ist alles. Wünschen Sie sich nicht manchmal ein bisschen mehr Selbstdisziplin? Was machen Sie denn da? Um Gottes willen, Sie wollen doch nicht hier rauchen?« Mit einer wegwerfenden Bemerkung stecke ich die Zigaretten weg, worauf sie sagt: »Und jetzt bin ich wieder eine Plage. Aber die Plage sind Sie mit Ihrem Suchtverhalten. Wollen Sie sich unbedingt die Lunge ruinieren und schon in jungen Jahren sterben?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Sie sind keineswegs schon in der Hölle. Soll ich Ihnen sagen, wie es in der Hölle sein wird?« Ich beantworte ihre Frage, worauf sie sagt: »Da haben Sie wohl recht: Jedes Gespräch kann zu einem Gespräch über Ihr Seelenheil werden. Ein Jammer, dass es nicht öfter geschieht. Was wollen Sie denn am Fenster?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Wir sind im Erdgeschoss, Sie verstauchen sich nicht einmal den Fuß.«

Oder ich komme aus der Toilette, und sie fängt mich gleich vor der Tür ab. »Ich habe überall nach Ihnen gesucht«, sagt sie. »Wo sind Sie gewesen?« Ich erkläre ihr das allzu Offensichtliche, worauf sie sagt: »Müssen Sie es unbedingt Donnerbalken nennen?« Ich sage es ihr, angereichert mit einigen Details. Sie nimmt es ungnädig auf und sagt: »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihre Aktivitäten im Waschraum nicht mit ›den Papst ärgern‹ umschreiben würden. Ich weiß, Sie halten ihn für einen Witz und kühlen auch sonst gern Ihr Mütchen an der Heiligen Katholischen Kirche. Aber es soll noch Leute geben, die der Kirche größte Achtung entgegenbringen. Sie tun es nicht, ich weiß das, aber es wäre schön, wenn Sie wenigstens mir gegenüber etwas Respekt zeigen und abfällige Bemerkungen über den Papst unterlassen würden.« Ich entschuldige mich, doch sie ignoriert mich. »Manchmal frage ich mich, wie einem die Gefühle anderer Menschen derart egal sein können.« Dann geht sie, und ich frage mich, warum sie mir vor dem Donnerbalken auflauert. Außer mir und sich selbst Kummer zu bereiten, fällt mir kein Grund ein.

Später, nach einer gewissen Einwirkzeit, hakt sie noch einmal nach. »Eine Frage: Sind Ihnen die Gefühle anderer Menschen eigentlich völlig gleichgültig? Haben Sie vor mir nicht den geringsten Respekt?«

Doch, habe ich, sogar den größten Respekt. Etwa wenn der Behandlungsplan aufgeht und sich keine Staus bilden und wir fünf professionelle Zahnreinigungen gleichzeitig hinkriegen, mit minimaler Wartezeit für den Patienten und maximalem Umsatz für mich. Normalerweise braucht man für diese Aufgabe drei, wenn nicht vier engagierte Hygienikerinnen. Ich aber hatte Betsy Convoy. Und Betsy Convoy (zusammen mit ein, zwei Aushilfen) konnte alle fünf Stühle auslasten. Sie machte Röntgenaufnahmen, konnte den Zahnstatus erstellen, Beläge entfernen, Zähne polieren, die Patienten über geeignete Maßnahmen zur Karies- und Parodontoseprophylaxe informieren, hilfreiche Hinweise für meine Behandlung im Anschluss notieren und schaffte es nebenbei immer noch, praktisch die gesamte Praxis zu leiten. Die meisten meiner Kollegen können das kaum glauben, aber sie hatten ja auch nie eine Mrs. Convoy.

»Nun?«, fragt sie. »Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«

Meistens jedoch würde ich sie am liebsten auf den Mond schießen. Auf dem Mond, dachte ich, ist sie besser aufgehoben als hier. Das Problem dabei: Ich fände für sie keinen Ersatz auf Erden, und so bleibt sie der Kelch, der nie an mir vorübergeht. Arme Betsy. Unsere ganze Effizienz, unsere Professionalität und ein Großteil unserer Einnahmen war letztlich ihr Verdienst. Sie hatte den Katholizismus samt seiner institutionalisierten Enttäuschungen in sich aufgesogen, was sie für eine Zahnarztpraxis bestens geeignet machte, wo Schuldgefühle sehr oft das probate Zuchtmittel für die ungeputzten Massen sind. Wenn Betsy also einem Sozialpatienten eine Gratis-Zahnbürste überreichte, dann nicht ohne die Mahnung: »Sie kennen das: Wer im Geringsten treu ist …« Ich meine, wer macht denn so etwas? Doch übergangslos stelle ich mir vor, wie Mrs. Convoy von einem muskelbepackten Schwarzen in einem Behandlungsstuhl a tergo rangenommen wird.

»Aber nein. Ich habe sogar sehr großen Respekt vor Ihnen. Wo wären wir ohne Sie?«

Später in der Bar bin ich der Letzte, der geht, sie ist die Vorletzte. Dann sagt sie: »Meinen Sie nicht, Sie hätten langsam genug?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Wie kommen Sie jetzt nach Hause?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Connie ist schon gegangen, schon vor zwei Stunden. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Worauf sie mich in ein Taxi setzt und sagt: »Schaffen Sie es von hier aus allein?« Ich sage es ihr, worauf sie zu dem Taxifahrer sagt: »Er wohnt in Brooklyn.« Danach erinnere ich mich an gar nichts mehr.

Aber wir sind schon einmal zusammen verreist, Mrs. Convoy und ich. Ein einziges Mal und das ans hinterste Ende der Welt, da konnte ich mich wehren, wie ich wollte, sie ließ einfach nicht locker. Wir flogen von JFK nach Delhi und von Delhi nach Biju Patnaik und fuhren von dort mit dem Zug fünfzig Kilometer landeinwärts, wo wir in brütender Hitze durch Straßen liefen, die eher offenen Abwasserkanälen ähnelten, ständig umlagert von Bettlern auf Krücken und ihrer routinierten Zudringlichkeit. Die Klinik bestand im Wesentlichen aus zwei Plastikstühlen unter einem Sonnensegel. Wir waren gleich neben den Lippen-Kiefer-Gaumenspalten-Leuten eingeteilt, aber ich konnte kaum hinsehen. Ich sagte zu Mrs. Convoy: »Nicht zu fassen, dass Sie mich in dieses gottverdammte Land geschleppt haben.« Worauf sie sagte, ich solle den Namen des Herrn nicht missbrauchen. »Na ja, vielleicht ist die Situation auch nicht dazu angetan, vor Gott dem Herrn in Ehrfurcht zu erschauern. Ich meine, wie viel Achtung bringt er denn diesen Kindern entgegen?« Da gab es in der Tat alles. Nekrotisierte Pulpa und Zungenläsionen sowie ins Kropfartige angeschwollene Abszesse. Ich könnte so weitermachen. Ich mache so weiter: verfärbte Zähne, frakturierte Zähne, untergegangene Zähne, Zahnengstände aller Art, ektope Zähne im harten Gaumen, Geschwüre, offene Stellen, Gingivitis, Alveolitis sicca, Zahnfleischentzündungen wie ANUG, unbehandelbare Karies und immer wieder Mangelernährung als Folge der schlichten Unmöglichkeit, normale Nahrung zu sich zu nehmen. Diese zarten Kindermünder hatten nicht die Spur einer Chance. Wer noch bei Verstand ist, kann dort nicht arbeiten, denn es macht eh keinen Unterschied. Jeder normale Arzt nimmt den nächsten Flieger zurück. Ich blieb, allerdings nur aus steuerlichen Gründen. Ich konnte das ganze Paket absetzen. Außerdem bekam man nirgendwo so gute gebratene Lammkeule wie in Indien, nicht einmal in New York. Mrs. Convoy war der Meinung, wir täten das Werk Gottes. »Ich bin nur wegen der Lammgerichte hier«, erwiderte ich. Und was das Werk Gottes anging, sagte ich: »Wir durchkreuzen wohl eher den göttlichen Ratschluss, wenn wir diesen Leuten helfen.« Sie war nicht dieser Meinung. Das sei doch gerade, sagte sie, unser Lebenszweck auf Erden. »Unsinn, wir sind hier für Pessimismus, Skeptizismus, Klage und Zorn«, sagte ich. »Es sei denn, man ist in Indien geboren. Dann ist man nur zum Leiden da.«

Eine abgeschlossene Biographie erfreute Mrs. Convoy stets mehr als eine fortlaufende Geschichte. Alle wichtigen Männer in ihrem Leben waren tot: Jesus Christus, unser Heiland, Papst Johannes Paul II. und Dr. Bertram Convoy, seinerzeit selbst Zahnarzt. Betsy war erst sechzig, aber seit neunzehn Jahren verwitwet. Ich ging davon aus, dass sie nicht nur alleinstehend war, sondern auch chronisch einsam. Doch sie war gar nicht allein. Sie lebte in der Gemeinschaft der Dreifaltigkeit, bestehend aus Vater, Sohn und Heiligem Geist, flankiert von der jungfräulichen Gottesmutter Maria sowie von allerlei Heiligen und Märtyrern. Sie war eins mit dem Papst in Rom, gehorsam ihrem Bischof, vertrauensselig ihrem Pfarrer gegenüber und ansonsten die hilfreiche Freundin aller anderen Gemeindemitglieder. Öffentlich mochte die katholische Kirche wegen ihrer zahlreichen Sünden in die Kritik geraten sein, innerkirchlich waren die Bande stärker denn je, und Betsy Convoy brauchte niemandes Mitleid angesichts ihres vermeintlich öden Witwendaseins. Zwar war ich überzeugt, dass sie nie sterben würde, aber falls doch, wäre höchstens ihr Begräbnis bescheiden. Hingegen das himmlische Wiedersehen mit ihren geliebten Brüdern und Schwestern im Herrn wäre ein Fest. Der Blumenschmuck auf ihrem Grab wäre noch nicht verwelkt, da hätte sie in der Gemeinschaft der Gläubigen das Paradies gewonnen.

Ansonsten bestellte sie gern Fachliteratur. Es waren Titel wie Die stressfreie Praxis oder Zerobalancing für Mittelständler oder Der Millionen-Dollar-Zahnarzt. Verfasser des Letzteren war ein gewisser Barry Hallow, und er war nicht einmal Zahnarzt, sondern lediglich Finanzberater. Ein Kerl frisch von der Business School auf der Suche nach einer Marktnische, in der er sich einrichten kann. Er hat von den chronischen Problemen gehört, die eine Zahnarztpraxis plagen, und beschlossen, Experte für genau diese Fragen zu werden. Er sitzt in Phoenix, Arizona, und schreibt ein Buch. Seine vielfach bewährten Methoden revolutionieren nicht nur den Praxisbetrieb, sondern auch deine Finanzen und sogar deine Lebenserwartung. Vor allem aber, schreibt er, kannst du mit seinem Buch das wahre Glück finden. Und, hey, wer will das nicht? Alles unter der totalen Erfüllung ist etwas für Loser, depressiv Gestörte, Alte, die langsam ihr Augenlicht verlieren, und ehemalige Kinderstars, die mit den Jahren immer hässlicher werden. Aber nicht mit Barry Hallow. »Nicht nur unsere Terminplanung ist ineffizient, auch die Behandlung und erst recht die Liquidation«, zitiert Mrs. Convoy den Experten. Ich gebe ihr – bis auf die Behandlung – recht. »Wir investieren zu wenig Zeit in das beratende Gespräch«, setzt sie nach. »Langfristig würde dies zu einer deutlich verbesserten Zahngesundheit unserer Patienten führen.« »Von einer verbesserten Zahngesundheit unserer Patienten können wir aber nicht leben«, sage ich. »Wir betreiben eine Praxis, keine Meisterklasse.« »Das ist mir bewusst.« »Im Vergleich zu anderen Praxen«, sage ich, »investieren wir bereits jede Menge Zeit in die Beratung. Vor allem vergessen Sie eines, Betsy: Wir haben es hier mit Menschen zu tun, stinkfaulen, kurzsichtigen Vollpfosten, denen Sie tausendmal einschärfen können, sich spätestens nach dem vierten Glas Merlot die Zähne zu putzen. Sie tun es nicht, egal, wie oft Sie es ihnen predigen, Prävention geht ihnen am Arsch vorbei. Sie können froh sein, wenn sie den vereinbarten Termin einhalten und uns mit ihrer Anwesenheit beehren. Und dabei machen sie ein Gesicht wie ein Kind, dem man gesagt hat, es soll seine Spielsachen wegräumen.« »Sie haben eine geringe Meinung von den Menschen«, sagt sie, aber ich rede gleich weiter. »Und dabei verlangen wir nicht einmal viel von ihnen. Die menschlichen Hände sind praktisch wartungsfrei, die Füße mehr oder weniger ebenfalls. Um die Nase muss man sich kümmern, ab und zu jedenfalls, auch der Analsphinkter freut sich hin und wieder über ein kleines bisschen Zuwendung. Und gemessen an ihrer Leistung sind Zähne nicht besonders anspruchsvoll. Zwergschimpansen lausen sich tagein, tagaus. Da könnten sie sich ein Beispiel nehmen.« »Jetzt reden Sie sich wieder in Rage. Können Sie mir nicht einmal ein paar Sekunden lang zuhören? Die Methoden von Barry Hallow sind wissenschaftlich bewiesen. Wenn Sie sich an den Zwölf-Stufen-Plan halten, gibt er Ihnen die Garantie, dass … Moment, ich habe es mir aufgeschrieben, hier steht’s: ›Zähne kurieren, auf Hochglanz polieren und am Ende dick privat liquidieren.‹« »Perlen der Dentisten-Lyrik«, sage ich. »Dieser Clown ist nicht mal Zahnarzt.« »Ich würde einige seiner Methoden dennoch gern umsetzen, wenigstens versuchsweise.« »Bedeutet das Mehrarbeit für uns?« »Für manche von uns bestimmt.« »Bin ich auch betroffen?« »Gut möglich«, sagt sie. »Keine Chance«, sage ich.

Auch im Internet bin ich so gut wie nicht vorhanden. Keine eigene Webseite, kein Facebook-Account. Trotzdem google ich mich von Zeit zu Zeit. Doch es tauchen immer nur dieselben drei Einträge auf. Einen davon habe ich selber geschrieben, einen musste Connie für mich schreiben, der dritte stammt von einem Anonymous. Natürlich weiß ich genau, wer sich dahinter verbirgt. Der Kerl hatte wirklich reichlich Gelegenheit, seine Rechnung zu begleichen. Aber er legte es wohl darauf an, so dass ich schließlich ein Inkassounternehmen beauftragte, was ich nicht gern tue. Dessen Strategie besteht hauptsächlich darin, den Schuldner mehr oder weniger rabiat als den letzten Loser hinzustellen, bis er am Ende einem Vergleich zustimmt, um in ein paar Jahren – vielleicht – wieder einen Teilzahlungskredit bei Macy’s zu bekommen. Haben Sie im realen Leben jemals so einen Inkasso-Mann getroffen? Ich auch nicht, das hat niemand. Sie werden sofort zu Call-Center-Managern oder Versicherungsprüfern. Kurz und gut, ich kann mir vorstellen, wie das ist. Aber dieser Kerl schuldete mir acht Riesen. Acht Riesen, für die ich Leistung erbracht habe. Nur mir ist es zu verdanken, dass dieses Arschloch wieder beißen kann. Wenigstens die Materialkosten wollte ich hereinholen. Wir einigten uns auf eine monatliche Rate von zwanzig Dollar, aber selbst das empfand er wohl noch als schreiende Ungerechtigkeit, da er bald darauf auf einer Ärzte-Bewertungsseite über mich herzog. Ich würde nur Pfusch abliefern und wäre zudem weit überteuert. Außerdem, behauptete er, hätte ich Nasenpopel. Dabei stimmt das gar nicht, denn ich überprüfe das vor jedem neuen Patienten eigens im Spiegel. Gebietet allein die Höflichkeit. Aber jetzt glaubt alle Welt, ich hätte Nasenpopel. Wer heutzutage nach einem neuen Zahnarzt sucht, schaut als Erstes ins Internet. Nur, wer will schon einen geldgeilen Pfuscher, dem der Rollpopel aus der Nase hängt? Leider ist man so gut wie machtlos. Es existiert keine Instanz, keine Schiedsstelle, durch die ich böswillige Bewertungen entfernen lassen kann. Also google ich mich etwa einmal pro Monat, stoße unweigerlich auf besagten Anonymous und fluche jedes Mal über diese Ungerechtigkeit. Aber Mrs. Convoy sagt nur: »Dann googeln Sie sich nicht mehr.«

Sie sagt auch: »Was haben Sie eigentlich gegen die Menschen?« Ich sitze mangels eines eigenen Arbeitszimmers auf einem der Bürostühle hinterm Empfangstresen und erledige irgendwelchen Papierkram, sehe kurz auf und sage: »Was ich gegen andere Menschen habe? Gar nichts.« Und sie: »Aber Sie kapseln sich von der Gesellschaft ab.« Worauf ich mich physisch zu ihr hinwende und sage: »Wer kapselt sich von der Gesellschaft ab?« »Sie. Sie haben nicht einmal eine Homepage«, sagt sie. »Sie sind auch nicht auf Facebook. Sie haben keinerlei Online-Präsenz. Barry Hallow sagt …« »Weil ich nicht auf Facebook bin, kapsle ich mich also von der Gesellschaft ab?« »Ich will nur sagen, Barry Hallow empfiehlt jedem Selbständigen einen Webauftritt. Ein geeigneter Webauftritt garantiert Umsatz, das ist erwiesen. Mehr wollte ich damit nicht sagen.« »Falsch. Sie wollten mir noch mehr sagen, Betsy«, sage ich. »Sonst hätten Sie nicht gesagt, dass ich mich von der Gesellschaft abkapsle.« »Das war nicht meine Absicht, das haben Sie falsch verstanden«, sagt sie, »bewusst falsch verstanden.« »Ich habe nichts gegen andere Leute, Betsy. Ich verstehe sie bloß nicht. Ihr Tun ist mir ein Rätsel. Gerade jetzt, im Augenblick – wie viele von ihnen sind jetzt im Park, werfen ein paar Bälle, fahren Bötchen. Schön für sie, ich gönne es ihnen von Herzen. Wissen Sie was, Betsy, auch ich würde jetzt gern Bötchen fahren. Ja, machen wir das. Fahren wir Bötchen und gehen anschließend Shrimps essen, was sagen Sie dazu?« »Jesus, Maria und Josef«, sagt sie. »Sind wir jetzt bei Shrimps angekommen? Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen.« »Nicht weggehen, Betsy. Ich würde das gerne ausdiskutieren. Glauben Sie wirklich, ich könnte hier alles hinwerfen und im Park Bötchen fahren?« »Von Bötchenfahren war gar nicht die Rede«, sagt sie. »Oder meine Patienten sitzenlassen und mich an den Strand legen oder bergsteigen oder zur Apfelernte gehen oder teure Teppiche kaufen oder mir einen Salat bestellen? Und abends lege ich mein Kleingeld stets an derselben Stelle ab, schmeiße das Bettzeug in die Waschmaschine, höre U2 und trinke Chablis?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagt sie. »Ich meinte nur, dass sich eine Homepage oder eine Seite auf Facebook schnell bezahlt macht.« »Ich weiß auch nicht, warum ich das nicht mache, aber ich kann nicht«, sage ich. »Ich will ja. Ich will alle diese normalen Sachen, die die Leute so in ihrer Freizeit und im Urlaub machen.« »Hören Sie auf, mir permanent auf die Füße zu treten. Sie wissen selbst, wie beengt es hier ist.« »Nein, im Ernst«, sage ich. »Ich würde nichts lieber tun, als mich jetzt in eine Bar setzen und ein Spiel angucken. Und ich hätte auch gern jede Menge Kumpel, die ›Yo‹ rufen, wenn ich hereinkomme. Oder die ›Alter‹ sagen oder ›Kack die Wand an‹ oder ›Hey, Bro‹, wenn wir an der Bar sitzen und Bier trinken und uns das Spiel ansehen.« »Ich gehe jetzt, ich muss mich um einen Patienten kümmern«, sagt sie. »Wir reden ein andermal weiter.« »All das würde ich wirklich gern tun, Betsy. Ich würde liebend gern mit den Jungs einen draufmachen. Aber wissen Sie eigentlich, wie viel Aufmerksamkeit es erfordert, ein Spiel der Red Sox zu verfolgen? Sogar ein ganz normales Ligaspiel?« »Na gut, reden Sie. Ich höre zu, bis Sie fertig sind«, sagt sie. »Denn mir scheint, ich habe da einen wunden Punkt getroffen.« »Und glauben Sie ja nicht, nur weil ich das alles nicht mache, würde ich es nicht vermissen. Oder würde mich nicht dauernd fragen, ob das Leben nicht an mir vorbeigeht. Das will ich nämlich nicht. Ich will nicht, dass das Leben an mir vorbeigeht. Aber auf mir lastet ein Fluch, Betsy. Klar, ich kapsle mich ab, ich weiß das. Aber nur so kann ich vermeiden, immer wieder daran erinnert zu werden, wie weit ich von einem normalen Leben entfernt bin. Das heißt jedoch nicht, dass ich irgendetwas gegen die Menschen hätte, im Gegenteil. Ich beneide sie. Ich hätte auch gerne das, was alle anderen haben. Ich beobachte sie heimlich und frage mich, wie sie es anstellen, ein normales Leben zu führen. Das Problem ist nur, ich finde keine Antwort darauf. Ich komme kein bisschen weiter. Glauben Sie mir, es gibt Schöneres, als aus irgendeinem unerfindlichen Grund von etwas getrennt zu sein, woran man eigentlich teilhaben will und wonach man sich sehnt. Betsy, es ist mir bitterernst: Glauben Sie denn, ich mache das absichtlich?« »Sind Sie jetzt fertig?«, fragt sie. »Sie sind wirklich die schwerste Prüfung, die mir Gott je auferlegt hat.« »Aber wissen Sie, was ich noch viel weniger verstehe als ein normales Menschenleben mit Strandurlaub und Bötchenfahren? Wenn man im Internet davon lesen muss! Schon vor dem Internet war ich auf dem Rückzug von der Welt, muss ich jetzt auch noch online erfahren, was mir alles entgeht? Ich brauche keine Videoclips von all den schönen Dingen, die die Leute so treiben. Ich will auch keine Kommentare darüber lesen, will die Likes und Bookmarks und Retweets nicht zählen, denn das macht mich nur noch einsamer. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dass das Internet die Leute verbindet? Ich persönlich habe mich nie unverbundener gefühlt als heute. Aber es läuft vermutlich nach demselben Prinzip, wonach die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Diejenigen, die Freunde haben, kriegen noch mehr Freunde, und die, die eh schon allein sind, werden noch einsamer. Ich danke recht herzlich. Die Welt war selbst vor Facebook schon schwer genug.« »Gut, dann nehme ich alles zurück. Sie haben nichts gegen andere Menschen«, sagt sie. »Und ich sage auch nie wieder, Sie sollen sich eine Homepage oder einen Facebook-Account zulegen.«

Ich war Zahnarzt, keine Webseite. Ich war ein Chaot, keine Marke. Ich war ein Mensch, kein Profil. Aber sie wollten mir sagen, wer ich zu sein habe, allein anhand meiner gesammelten Online-Einkäufe, Interessen, verschreibungspflichtigen Medikamente oder meines vermuteten Verhaltens. Ein solcher Mensch war kein Mensch mehr, sondern ein Tier im Käfig.

Dann sagt sie: »Wann waren Sie zum letzten Mal in der Kirche?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Noch nie ist keine Antwort. Jeder war mindestens einmal in der Kirche. Ich bitte um ehrliche Antworten.« Also sage ich es ihr, und sie sagt: »Ach, du lieber Himmel, auch das noch. Niemand betet zu einem blauen Heinzelmännchen. Außerdem sind Heinzelmännchen nicht blau und haben auch nicht Himmel und Erde erschaffen. Daher glaube ich nicht an Heinzelmännchen, sondern an Gott den Herrn. Ich sehe Gott überall, im Himmel wie auf der Straße. Wie können Sie hier nur sitzen und Gottes Wirken in der Welt nicht erkennen?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Die Nachwirkungen des Urknalls kann man nicht spüren. Warum kommen Sie eigentlich immer mit dem Urknall, sobald wir über Gott diskutieren?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Aber der Urknall sorgt nicht dafür, dass Sie ein guter Mensch werden, Gott schon. Wollen Sie denn kein guter Mensch sein?« Ich sage es ihr, worauf sie sagt: »Ach was, metaphysische Erpressung! Ich will eine vernünftige Antwort. Glauben Sie, dass Sie gut sind?« Was ich bejahe. Ja, ich glaube, ich bin gut. Worauf sie sagt, darüber müsse sie erst nachdenken. Und dann senkt sie die Stimme, fasst meinen Arm und sagt: »Aber geht es Ihnen auch gut? Geht es Ihnen gut dabei?«