Mapmatics - Paulina Rowińska - E-Book
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Mapmatics E-Book

Paulina Rowińska

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Beschreibung

Ein Buch, das unser Weltbild ins Wanken bringt | Wissenschaftsbuch 2025

Ob bei Google Maps oder Apple: Täglich verlassen wir uns auf Karten. Aber wir denken selten darüber nach, wie umfangreich sie Einfluss auf unser Leben nehmen. Zum Beispiel durch die Mercator-Projektion aus dem 16. Jahrhundert, die bis heute die Dominanz des Westens unterstreicht, indem sie die Länder des Nordens größer erscheinen lässt. Oder durch Gerrymandering, das den Ausgang von Wahlen beeinflusst.

Paulina Rowińska weiht uns ein in die Geheimnisse der Kartenerstellung: Sie zeigt, wie Karten Pandemien bekämpfen und dabei helfen, Serienkiller dingfest zu machen, dass Karten immer politisch sind – und dass wir, wenn wir die Mathematik hinter Karten verstehen, die Welt mit neuen Augen sehen können. Maps + Mathematics = Mapmatics – so lautet ihre Formel für ein neues Verständnis unserer Welt.

»Dieses Buch hat mich umgehauen, wieder und wieder.« Roma Agrawal.

»Extrem lesenswert!« Ian Stewart.

»Ich liebe Karten. Ich liebe Mathe. Und wie sehr ich dieses Buch liebe!« Ben Orlin.

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Seitenzahl: 514

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über das Buch

»Selbstfahrende Autos wären vermutlich immer Sciencefiction geblieben, hätte Gauss nicht an Kurven geforscht, Snell die Triangulation nicht verbessert, Euler nicht die Graphen erfunden – und das alles schon vor Hunderten von Jahren. Große Bereiche unseres Planeten wären heute noch immer rätselhaft ohne die außergewöhnlichen Leistungen von zwei außergewöhnlichen Frauen – Inge Lehmann und Marie Tharp – und vielen anderen, die in ihre Fußstapfen getreten sind.

Mathematiker und Kartographen hatten nicht nur Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen, sondern auch darauf, wie wir in ihr funktionieren. Mit dem Smartphone in der Tasche halten wir Karten für etwas Selbstverständliches und vergessen all die großartige Wissenschaft und die Technologie, denen sie ihre Existenz verdanken. Alle Karten haben Schwächen, und doch wäre unsere Wirklichkeit ohne sie eine ganz andere. Selbst wenn sie zwangsläufig nicht perfekt sein können, machen Karten unser heutiges Leben erst möglich.«

Über Paulina Rowińska

Paulina Rowińska hat am Imperial College London in Mathematik des Planeten Erde promoviert. In ihrem TEDx-Vortrag »Let's Have a Maths Party!« aus dem Jahr 2017 erklärte sie, dass Mathematik überall um uns herum ist. Für ihre Aktivitäten im Bereich der Wissenschaftskommunikation wurde sie 2019 mit dem Imperial College President's Award for Excellence in Societal Engagement ausgezeichnet. Heute erstellt sie interaktive Inhalte für eine führende innovative Bildungswebsite (brilliant.org).

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Paulina Rowińska

Mapmatics

Wie Karten unser Weltbild prägen

Aus dem Englischen von Susanne Warmuth

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Einleitung

Wie ich meine Liebe zu Karten und Mathematik entdeckte

Kapitel 1

Gekrümmt: Wie sich die Erde beschreiben lässt

Here comes the sun

Alles Lüge?

Die Magie der Dreiecke

Platt oder spitz, das ist hier die Frage

Princeps mathematicorum – der Erste unter den Mathematikern

Pizzas und Bananen

Ein hervorragender Lehrsatz

Anschnallen bitte!

Flug über Alaska

Auf Form und Größe kommt es an

Kapitel 2

Eben: Wie man eine Karte macht

Die Glühbirnen-Methode

Für die Navigation gemacht

Mathematik für Geographen, Geographie für Mathematiker

Die Größe zählt

Zerlumpte, lange Winterunterwäsche

Weltsichten

Jahrhunderte später

Bitte hübsch machen!

Wo, bitte, geht es nach …?

Du wirst sehen, was ich will

Wachsam bleiben

Kapitel 3

Maßstäblich: Wie man eine Linie misst

Gerade richten

Eine zufällige Entdeckung

Rauschender Blumenkohl

Richardsons Entdeckung

Wie lang ist die Küste von Großbritannien?

Kurven messen

Merkwürdige Dimensionen

Ein trojanisches Pferd

Fraktale, überall Fraktale

Ein langer Streit

Messen und Regeln

Die Macht des Maßstabs

Kapitel 4

Distanziert: Wie man den Weg findet

Die Tube map

Knetmassen-Mathematik

Hilfreich oder verwirrend?

Mit Vorsicht zu gebrauchen

Lesbares London

Eine Mathematikerin in New York

Abstrakt und nützlich

Alles im Kopf

Verbindungen, Abstände, Richtungen

Kapitel 5

Verbunden: Wie man eine Karte vereinfacht

Unterschrieben, besiegelt und zugestellt

Die Lücke überbrücken

Die Geburtsstunde der Graphentheorie

Mathematische Wunderpäckchen

Probleme eines Handlungsreisenden

Gut genug

Nächste Nachbarn

Essen auf Rädern

Ameisenkolonien

Nicht links abbiegen

Hochzeitsplanung

Genügen vier Farben?

Warum ist es so schwer?

Mach fünf draus

Die Bausteine

Vier Farben genügen!

Was ist ein Beweis?

Knoten, Kanten und Computer

Kapitel 6

Geteilt: Wie man eine Gesellschaft formt

Cracking und Packing

Geheimnisvolle Zickzacklinien

Ein berühmter Salamander

In schlechter Form

Wer ist effizienter?

Mit etwas Hilfe vom Computer

Gute Ohrenschützer, schlechte Ohrenschützer

Alle Stimmen zählen

Änderung ist möglich

Noch immer ungleich verteilt

»Entmischte« Schulen in »entmischten« Kommunen

Segregation messen

Problematische Linien

Wie sich die Kluft überbrücken lässt

Kapitel 7

Gefunden: Wie man Leben rettet

Ein natürliches Experiment

Detektivarbeit

Die Zeit danach

Held oder Geschichtenerzähler?

Jenseits von Cholera

Der Polizist, der Mathe mag

Die Geographie von Verbrechen

Der Gedankengang

Der Stuhl-Einbrecher

Ein äußerst nützliches Theorem

Wie man ein verschollenes Flugzeug findet

Aller guten Dinge sind zwei

Ein perfektes Paar

Kapitel 8

Tiefe: Wie man das Unsichtbare erfasst

Der Klang der Tiefe

Den Ozean mähen

An Bord der Nautilus

Eine reine Männerwelt?

Eine weltbewegende Entdeckung

Man glaubt nur, was man sieht

Die Grundfesten der Geologie werden erschüttert

Das Erdinnere kartieren

Wellen fangen

Gebeugte Wellen

Im Schatten

Es ist nie zu spät, Erdbeben zu studieren

Ein fester Kern

Über den großen Teich

Von Haferflocken-Schachteln zur Erdtomographie

Tropfen in der Erde

Wie findet man das Epizentrum?

Einblick in den Mars

Fortsetzung folgt

Nachwort

Wie wir mit dem Wandel Schritt halten

Bücher zum Vertiefen

Allgemein

1. Gekrümmt

2. Eben

3. Maßstäblich

4. Distanziert

5. Verbunden

6. Geteilt

7. Gefunden

8. Tiefe

Bildnachweis

Dank

Anmerkungen

Einleitung

1. Gekrümmt

2. Eben

3. Maßstäblich

4. Distanziert

5. Verbunden

6. Geteilt

7. Gefunden

8. Tiefe

Nachwort

Erläuterungen

Impressum

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Für meine Großeltern – die größten Fans meines Schreibens.

Mówiłam, że jak dorosnę, zostanę pisarką!

Mit 53 Abbildungen

Einleitung

Wie ich meine Liebe zu Karten und Mathematik entdeckte

Als ich vielleicht drei oder vier Jahre alt war, schalteten meine Eltern sämtliche Lichter in unserer kleinen, aber gemütlichen Wohnung aus. Gespannt und ein bisschen nervös beobachtete ich meinen Papa, der eine kleine Schreibtischlampe anknipste und sie auf einen billigen Plastikglobus richtete, so dass der Lichtkegel in etwa auf die amerikanische Ostküste fiel. »Schau«, sagte er, »bei uns in Warschau ist es dunkel, aber unsere Tante in New York wird wohl gleich zu Mittag essen.« Er erklärte mir, dass die Erde rund ist und – anders als die Kreisel, mit denen ich so gerne spielte – nie aufhörte, sich zu drehen. Und dass immer irgendwo Tag ist und irgendwo Nacht.

Nach diesem besonderen Abend avancierte der Globus zu meinem Lieblingsspielzeug. Ich konnte nicht aufhören, ihn zu drehen, und zeigte mit dem Finger auf Orte, die ich besuchen wollte, allein wegen der faszinierenden Namen von Aschgabat bis Sansibar. Ein paar Jahre später spiegelte sich meine wachsende Begeisterung für Geographie auf den Wänden meines Kinderzimmers wieder: Sie waren mit Landkarten gepflastert und ließen nur wenig Platz für ein Foto eines Stars oder Sternchens. Erst sehr viel später fiel mir auf, dass die Weltkarte an der Wand und die auf dem Globus, die ja doch denselben Planeten repräsentieren sollten, zwei verschiedene Geschichten erzählten.

Auf der Wandkarte war Grönland so groß wie ganz Afrika, doch auf dem Globus übertraf die Fläche des afrikanischen Kontinents die der weißen Insel bei Weitem. Ich spürte tief in meinem Inneren, dass da etwas nicht stimmte, doch erst während des Studiums, in einer Vorlesung über Differentialgeometrie,[1]  erfuhr ich, woher diese enorme Diskrepanz kam. Selbst eine so einfache Aufgabe, wie das Vergleichen der Flächen von Ländern, erfordert eine gewisse Kenntnis der mathematischen Prinzipien, nach denen die Karte erstellt wurde, die wir dafür benutzen wollen.

Der flämische Kartograph Gerardus Mercator schuf die Landkarte mit dem charakteristischen rechtwinkligen Gittermuster aus Längen- und Breitengraden im 16. Jahrhundert. Obwohl die sogenannte Mercator-Projektion bis heute benutzt wird, ist allgemein bekannt, dass sie nicht der Realität entspricht.1 Die verzerrte Darstellung der Landflächen dieser Karte bestätigt die Bewohner der Nordhalbkugel in dem für sie angenehmen Glauben, größer und damit mächtiger zu sein. Selbst jetzt, fünfhundert Jahre später, stellt diese Karte immer noch den Standardblick auf die Welt dar. Von Kindesbeinen an wird uns diese Weltsicht vermittelt und mit ihr das Gefühl der Überlegenheit der Weltregion, in der wir leben; das wiederum beeinflusst, wie wir unser jeweiliges Heimatland sehen. Karten vermitteln uns nicht nur ein Gefühl für den Raum, sie schaffen auch die Grundlage dafür, wie wir andere Nationen wahrnehmen.

Heute ist die Mercator-Projektion etwas in Verruf geraten, und trotzdem haben wir eine Online-Version davon in unserer Tasche.2 Weil sie die Winkel zwischen den auf der Erdoberfläche verlaufenden gedachten Linien nicht verändert, wissen wir stets, wo Norden ist; dadurch ist diese Kartenprojektion für die Navigation heute noch genauso nützlich wie zur Zeit ihrer Entstehung. Wir sollten uns aber trotzdem immer darüber im Klaren sein, dass sie Flächen verzerrt darstellt – das kartographische Gegenstück zum Warnhinweis im Seitenspiegel amerikanischer Kraftfahrzeuge: »Objekte im Spiegel sind näher als sie scheinen.«

Abb. 0.1Die Meridiane oder Längengrade sind imaginäre Linien, die über die Erdoberfläche verlaufen und die Pole miteinander verbinden. Die geographische Länge bezeichnet die Lage eines Punktes in Bezug auf den Nullmeridian. Breitenkreise oder Breitenparallele sind imaginäre Linien, die auf der Erdoberfläche parallel zum Äquator verlaufen. Die geographische Breite beschreibt die Lage eines Punktes in Bezug auf den Äquator.

Der Verzerrung geht jedoch weder auf Böswilligkeit noch auf Unfähigkeit ihres Schöpfers Mercator zurück. Im Jahr 1827 erbrachte Carl Friedrich Gauß, ein ebenso mürrischer wie exzentrischer und genialer Universalgelehrter, den mathematischen Beweis, dass es unmöglich ist, einen dreidimensionalen Globus fehlerlos in eine zweidimensionale Landkarte zu überführen. Sein »hervorragender Lehrsatz« (kein Scherz, sondern die Übersetzung des lateinischen Namens Theorema egregium), im Fachjargon geschrieben und voller wissenschaftlicher Prämissen, lässt sich trotzdem kurz und bündig zusammenfassen: Es ist unmöglich, drei Dimensionen fehlerlos in zwei Dimensionen abzubilden. Wir können auf einer ebenen Fläche keine perfekte Erdkarte herstellen.

In diesem Buch geht es um das »hervorragende Theorem« von Gauß und um andere mathematische Entwicklungen, die uns aufzeigen, wie Karten gemacht werden und wie wir dadurch die Welt sehen. Karten sind Repräsentationen der Wirklichkeit, doch wir können diese optischen Hilfsmittel nur dann in vollem Umfang nutzen, wenn wir die Mathematik verstehen, die ihnen zugrunde liegt. Sonst laufen wir Gefahr, falsche Schlüsse zu ziehen und die verzerrten Bilder der Kartenmacher zu übernehmen, unabhängig davon, ob diese mit oder ohne Absicht zustande gekommen sind. In Kapitel 2 zum Beispiel werden wir uns die Verzerrungen ansehen, die sich aus der unterschiedlichen Art und Weise ergeben, die Erdkugel auf einem Blatt Papier abzubilden, und wir werden mathematische Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen wir uns davor schützen können, von solchen Zerrbildern in die Irre geführt zu werden.

Doch wir können Mathematik nicht nur verwenden, um Karten zu interpretieren, sondern auch dafür, mithilfe von Karten Probleme im echten Leben zu lösen. In Kapitel 7 etwa beschäftigen wir uns mit Situationen, in denen die Kombination von Karten und Mathematik Menschen vor Gefahren bewahren kann, seien es nun Krankheiten oder Serienmörder. Mit mathematischen Mitteln und Hintergrundwissen können wir aus einer Karte viel mehr Information herauslesen als mit unseren Augen und Intuition allein. Mathematikgestützte Anwendungen von Karten erhalten immer größere Bedeutung, je besser die Technik und je größer die Rechnerkapazitäten werden.

Wir werden jede Menge Beispiele dafür sehen, wie sich Mathematik und Kartographie gegenseitig beeinflusst haben. Obwohl sie auf den ersten Blick sehr verschieden zu sein scheinen, ähneln sich die Aufgaben von Mathematikern und Kartographen doch in überraschender Weise. Um brauchbare Modelle von Phänomenen des realen Lebens zu schaffen, müssen sowohl Mathematiker als auch Kartographen entscheiden, welche Informationen berücksichtigt werden sollen und welche nicht; je nachdem, wie sie sich entscheiden, kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. Aus diesem Grund müssen wir nicht nur verstehen, was wir sehen, sondern auch, was wir nicht sehen, wenn wir eine Karte oder ein mathematisches Modell vorgelegt bekommen. Wenn wir nicht dazu in der Lage sind, kann das, wie wir noch erfahren werden, Folgen haben, die von längeren Wegstrecken für Pendler bis zu internationalen Konflikten reichen.

Wir werden uns Karten zu den verschiedensten Themen und in den unterschiedlichsten Maßstäben ansehen, von der Weltkarte bis zum Stadtplan, von der kontra-intuitiven Ausrichtung von Moscheen bis zu irreführenden U‑Bahn-Linienplänen. Wir werden den alten Griechen einen Besuch abstatten, um den Erdradius mit unglaublicher Genauigkeit zu berechnen, ganz ohne Satelliten oder Fotografie. Und wir reisen ins alte Königsberg, die preußische Stadt, deren sieben Brücken im 18. Jahrhundert die Entstehung eines neuen Teilgebiets der Mathematik anregten, die Graphentheorie. Aber wir werfen auch einen Blick in die Welt der Fraktale, und während wir noch die überraschend komplexe Natur des gewöhnlichen Blumenkohls bestaunen, werden wir verstehen, warum es schlicht unmöglich ist, die Küstenlinie eines Landes zu messen und welche geopolitischen Konsequenzen das hat.

Ohne Karten läuft nichts. Wir hängen von ihnen ab, wenn wir pendeln, verreisen, die Nachrichten verstehen wollen, aber auch wenn wir Krankheiten bekämpfen, Kriminelle verfolgen und nach verschollenen Flugzeugen suchen. Das Kartenmachen wurde von mathematischen Methoden befördert, doch es regte auch zu einer Vielzahl neuer mathematischer Erkenntnisse an. Wenn uns diese Verbindung zwischen Mathematik und Kartographie erst einmal bewusst geworden ist, können wir sie nie wieder übersehen, und sie wird uns helfen zu verstehen, wie unsere Welt funktioniert.

Kapitel 1

Gekrümmt: Wie sich die Erde beschreiben lässt

Wie viele andere auch wuchs ich in dem Glauben auf, vor der »Entdeckung« Amerikas durch den ruhmreichen Christoph Kolumbus seien alle Menschen davon überzeugt gewesen, die Erde sei eine Scheibe. Im Geschichtsunterricht hörten wir, dass Kolumbus 1492 von Palos de Frontera in Spanien aufbrach und westwärts segelte, bis er – wie er glaubte – Indien (das nach damaliger Vorstellung Ostasien einschloss) erreicht hatte. Dieses Ereignis markierte das Ende des Mittelalters und den Beginn der Renaissance – oder wie unsere Schulbücher behaupten, das Ende des dunklen Zeitalters und den Beginn des Zeitalters der Entdeckungen. Ohne den großen Kolumbus hätten unsere Lehrer uns Kontinente und Ozeane am Beispiel eines flachen Tellers erklären müssen.

Der Mythos, dass Kolumbus nach Ostasien segeln wollte, um zu beweisen, dass die Erde eine Kugel ist, geht auf das Buch A History of the Life and Voyages of Christopher Columbus zurück, eine fiktive Biographie, die 1828 von Washington Irving geschrieben wurde.3 In Wahrheit wussten die Gelehrten schon seit der Antike, dass die Erde keine Scheibe ist. Fast zwei Jahrtausende bevor sich Kolumbus auf die Reise machte, verfasste der griechische Philosoph Aristoteles sein Werk Über den Himmel,4 in dem er erwähnt, dass der während einer Mondfinsternis auf den Mond fallende Erdschatten rund ist.[2]  Diese Beobachtung allein schließt noch nicht aus, dass die Erde vielleicht doch die Form einer Scheibe hat, aber wenn wir den Fakt hinzunehmen, dass der Erdschatten auch dann rund bleibt, wenn er sich bewegt, dann schon. Aristoteles fiel auf, dass in Ägypten andere Sterne zu sehen sind als in Griechenland, und weil Ägypten und Griechenland nicht weit voneinander entfernt liegen, schloss er, die Erde könne nicht allzu groß sein.5 Kolumbus schrieb: »Aristoteles sagte, dass zwischen dem westlichen Ende Spaniens und den östlichen Anfängen Indiens ein kleines Meer liege, das in wenigen Tagen zu durchfahren sei.«6 Die Möglichkeit einer einfachen, aber ertragreichen Reise hat die Neugier dieses erfahrenen (und gierigen) Entdeckers sicher beflügelt.

Kolumbus begann seine Fahrt von Spanien westwärts Richtung Indien in vollem Vertrauen auf seine Navigationskünste, und als er auf Land traf, verkündete er, dass er etwas erreicht hatte, was andere für unmöglich erklärt hatten: Er hatte einen schnelleren Seeweg nach Indien gefunden, ein Land voller Seide und Gewürze, die nur darauf warteten, gehandelt zu werden. Doch wie wir bereits als Kinder lernen, war Kolumbus nicht in Indien, sondern auf den Bahamas gelandet, einer Inselgruppe vor der nordamerikanischen Küste; so »entdeckte« er den Kontinent für die Europäer. Ich habe mich mehr als einmal gefragt, wie ein so erfahrener Seefahrer einen so großen Fehler begehen konnte. Er wusste, dass die Erde keine Scheibe ist, und sicher hatte er eine Abschätzung unternommen, wie lange die Reise dauern würde. Zunächst dachte ich, dass er Amerika irrtümlich für Asien hielt, weil er die Entfernung zwischen Spanien und Indien falsch berechnet hatte. Aber dann fand ich heraus, dass es kein Rechenfehler war: Kolumbus kannte die genauen Schätzungen für den Erdumfang, aber er entschied sich schlicht dafür, sie zu ignorieren. Entscheidend ist, dass es sich nicht um neue Zahlen von der vordersten Forschungsfront der Erdvermessung handelte, sondern um Schätzungen, die beinahe zweitausend Jahre alt waren. Doch dazu später mehr.

Here comes the sun

Eratosthenes kam 276 vor unserer Zeitrechnung in Kyrene, einer antiken griechischen Stadt (im heutigen Libyen), zur Welt. Er war ein erfolgreicher Mathematiker, Geograph, Dichter, Astronom und Musiktheoretiker. Er ging nach Ägypten und wurde Leiter der Bibliothek von Alexandria, einer der berühmtesten Bibliotheken der Weltgeschichte. Er war außerdem der Erste, der den Erdumfang mit einem wissenschaftlichen Ansatz und mit erstaunlicher Genauigkeit berechnete. Obwohl sich sein Buch Über die Vermessung der Erde, in dem auch diese Berechnung stand, nicht erhalten hat, wurde sie ein paar Jahrhunderte später (wir wissen nicht ganz genau, wann) vom griechischen Astronomen Kleomedes beschrieben.

Eratosthenes ging von einer kugelförmigen Erde aus. Er wusste, dass die Sonne am Tag der Sommersonnenwende, dem längsten Tag des Jahres in der nördlichen Hemisphäre, direkt auf den Wendekreis des Krebses scheint und ihr Licht dort bis auf den Grund der tiefsten Brunnen fällt.[3]  Eratosthenes wusste, dass ein sehr tiefer Brunnen in Syene (heute Assuan in Ägypten) zur Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten steht, von Sonnenlicht ausgeleuchtet wird. Er wollte nun wissen, in welcher Position die Sonne zur selben Zeit in Alexandria steht. Dank eines glücklichen Zufalls liegen die beiden Städte auf demselben Meridian; das heißt, an beiden Orten ist zur selben Zeit Mittag.[4]  Um herauszufinden, in welchem Winkel die Sonnenstrahlen in Alexandria am Mittag auf die Erde treffen, maß Eratosthenes den Winkel zwischen einem senkrecht stehenden Stab, dem Gnomon, und dessen Schatten: Wie sich zeigte, entsprach der Winkel einem Fünfzigstel eines vollen Kreises (360°), also 7,2°. Ein in Syene aufgestellter Gnomon desselben Typs warf zur selben Zeit keinen Schatten, das heißt der Winkel betrug 0°.

Jetzt stellen Sie sich bitte vor, Sie würden sich ein Stück Pizza abschneiden. Wie jeder weiß, ist der knusprige Rand das Beste an einer Pizza (stimmt’s?), und je größer der Mittelpunktswinkel des abgeschnittenen Stücks, desto mehr bekommen Sie vom Umfang, also dem knusprigen Rand. Mit anderen Worten: Das Verhältnis der Länge des Kreisbogens zwischen den Schenkeln (Radien) des Pizzastücks und dem gesamten Kreisumfang entspricht dem Winkel zwischen den Schenkeln (Radien) und dem Vollkreis von 360°. Die Entfernung zwischen Alexandria und Syene geteilt durch den Erdumfang ist daher gleich dem Mittelpunktswinkel zwischen diesen beiden Orten geteilt durch 360°. Die Entfernung zwischen Alexandria und Syene war praktischerweise bekannt, sie betrug 5000 Stadien (ein Stadion ist ein antikes Längenmaß). Um den Erdumfang zu schätzen, musste Eratosthenes lediglich den Mittelpunktswinkel zwischen den beiden Städten bestimmen.

Abb. 1.1Am Tag der Sommersonnenwende fallen die Sonnenstrahlen in Syene zur Mittagszeit senkrecht auf die Erde, in Alexandria werfen sie einen Schatten. Der Mittelpunktswinkel (θ) zwischen Syene und Alexandria ist genauso groß wie der Winkel (θ) zwischen den Sonnenstrahlen und dem Gnomon in Alexandria.

Eratosthenes nahm an, dass die Sonnenstrahlen parallel zueinander verlaufen, was zwar physikalisch nicht ganz richtig ist, aber für praktische Zwecke eine vernünftige Grundannahme darstellt. Die Sonne ist so weit von der Erde entfernt und so viel größer als unser Planet, dass nur ein winziger Teil ihrer Strahlen auf der Erde auftrifft, so dass diese fast parallel verlaufen. Das bedeutet, dass der Mittelpunktswinkel zwischen Syene und Alexandria und der Winkel zwischen dem Gnomon und den Sonnenstrahlen in Alexandria durch eine gerade Linie (den verlängerten Erdradius in Alexandria) zustandekommt, die zwei parallele Linien (die verlängerten Sonnenstrahlen in Alexandria und Syene) kreuzt. Einem alten Theorem zufolge, das auch heute noch im Geometrieunterricht gelehrt wird, mussten diese beiden Winkel gleich groß sein.[5]  Aus der Tatsache, dass der Mittelpunktswinkel zwischen den beiden Städten ein Fünfzigstel des Vollkreises war, konnte Eratosthenes den Schluss ziehen, dass die Entfernung zwischen Alexandria und Syene einem Fünfzigstel des Erdumfangs entsprach. Und so kam er zur ersten wissenschaftlich begründeten Abschätzung des Erdumfangs: 50 × 5000 Stadien = 250.000 Stadien.

Historiker sind sich über die genaue Definition des Längenmaßes Stadion uneins, darum lässt sich nicht genau sagen, wie präzise Eratosthenes’ Abschätzung war. Unabhängig von der exakten Zahl stimmen die meisten Forscher darin überein, dass er dem tatsächlichen Wert von etwa 40.000 Kilometern erstaunlich nahe kam. Dabei hatte er Glück, denn er machte mehrere Fehler, die sich aber gegenseitig aufhoben. Beispielsweise liegt Syene nicht genau auf dem Wendekreis des Krebses, sondern etwas nördlich davon. Und anders als er glaubte, befinden sich Syene und Alexandria nicht auf demselben Längengrad, Alexandria liegt etwas weiter westlich. Doch mathematische Modelle spiegeln die Realität niemals vollständig wider. Das Wichtigste ist, dass die Methode, die Eratosthenes anwandte, wissenschaftlich fundiert war; und hätte er Zugang zu besseren Messinstrumenten gehabt, hätte sich seine Abschätzung nicht vom aktuell besten Wissensstand unterschieden. Aus diesem Grund wird er oft als Begründer der Geodäsie betrachtet,7 der Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, die Strukturen der Erdoberfläche sowie die Lage der Erde im Raum und ihr Schwerefeld zu messen.8

Alles Lüge?

Kehren wir zu Christoph Kolumbus zurück, der gerade über seine Fahrt nach Indien nachgrübelt. Fernando Kolumbus zufolge, einem Gelehrten und zufälligerweise Christophs Sohn, waren dem Entdecker die Werke antiker und mittelalterlicher Geographen wohlbekannt, Eratosthenes eingeschlossen.9 Er habe dieses Wissen genutzt, um andere davon zu überzeugen, dass man Indien auch erreichen kann, indem man nach Westen segelt. Doch da ihm bewusst gewesen sei, dass jeder mögliche vernunftbegabte Finanzier diese Fahrt für verrückt halten würde, habe Kolumbus Fakten und Zahlen gewählt, die ihm für seine Argumentation besser geeignet schienen.

Um die Länge der möglichen Reiseroute nach Ostasien abzuschätzen, brauchte Kolumbus zwei Informationen: den Erdumfang und die Größe Asiens. Die Länge der Reiseroute würde in etwa der Differenz zwischen diesen beiden Zahlen entsprechen, das heißt, je kleiner der Erdumfang und je größer die Ost-West-Ausdehnung Asiens, desto kürzer die Wegstrecke nach Indien.

Eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Kolumbus war Marco Polo, ein venezianischer Kaufmann, der Ende des 13. Jahrhunderts durch Asien gereist war. Kolumbus hörte von einem Zeitgenossen namens Paolo dal Pozzo Toscanelli, einem Florentiner Mathematiker und Astronomen, von Marco Polos Reise. Toscanelli genoss als Geograph einen so guten Ruf, dass ihn der portugiesische König Alfons V. nach dem schnellsten Weg ins »Land der Gewürze«, also nach Indien, fragte.10 In jener Zeit waren Gewürze so kostbar wie Klopapier zu Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020, deshalb hielt es der König für ein kluges Investment, einfachere Wege nach Asien zu erkunden. Er wollte wissen, ob er Schiffe um Afrika herumsegeln lassen sollte oder ob der Weg nach Westen nicht vielleicht die bessere Idee wäre.11 Toscanelli schlug eine westliche Route vor und legte zur Bekräftigung seiner Auffassung eine von ihm selbst erstellte nautische Karte bei. Diese Karte ist leider nicht erhalten, aber in den folgenden Jahrhunderten wurde sie von zahlreichen Forschern auf der Grundlage von späteren Karten rekonstruiert, die in Anlehnung an sie und anhand Toscanellis präziser Beschreibung der westlichen Route in seinem Originalbrief angefertigt worden waren.

Kolumbus hatte von Toscanellis Idee für einen Seeweg nach Westen gehört und schrieb ihm mit der Bitte um genauere Angaben. Der Florentiner antwortete und fügte eine Kopie seines Briefes an den König sowie die nautische Karte bei, die die Route im Detail erklärte. Kolumbus, der von seinen seefahrerischen Fähigkeiten überzeugt war (vielleicht zu überzeugt), suchte weniger nach Informationen als vielmehr nach einer Bestätigung für seine Überzeugungen durch einen angesehenen Gelehrten – und er bekam, was er wollte. Kolumbus und Toscanelli hielten die Angaben in Marco Polos Reiseberichten beide für korrekt, obwohl Asien darin dreißig Längengrade breiter erschien als in Schätzungen zeitgenössischer Gelehrter. Und was es noch passender machte: Marco Polo hatte die sagenhaft reiche Insel Cipangu (das heutige Japan) 2000 Kilometer vor der asiatischen Küste verortet, obwohl der kürzeste Abstand zum Festland in Wahrheit nicht viel mehr als 200 Kilometer beträgt.12 Trotz dieser auf Wunschdenken beruhenden Abkürzungen schätzte Toscanelli die Länge der Reiseroute immer noch auf etwa 5000 nautische Meilen (9000 Kilometer) – wesentlich mehr als ein Seefahrer des 15. Jahrhunderts bewältigen konnte. Aber Kolumbus besaß ein Händchen für »Datenmassage«.

Bereits vor Kolumbus hatten viele Gelehrte versucht, den Erdumfang zu bestimmen. Doch wie wir bei Eratosthenes gesehen haben, der mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Großartiges geleistet hat, garantieren selbst die besten Methoden kein perfektes Ergebnis, denn ein großes Problem waren die von den verschiedenen Gelehrten verwendeten unterschiedlichen Maßeinheiten. Kolumbus beschloss, seine Daten so auszuwählen, dass die Erde möglichst klein und Indien möglichst nah war. Am Ende verwendete er die Schätzung von arabischen Geographen des 9. Jahrhunderts, die den Erdumfang mit 20.400 arabischen Meilen berechnet hatten, wobei jede Meile 2164 Meter lang war.[6]  Das ergibt 44.146 Kilometer, was ziemlich nah am heutigen Wert liegt, für Kolumbus’ Geschmack jedoch viel zu viel war. Er nahm darum die Zahl 20.400, behauptete aber, es handele sich nicht um arabische, sondern um römische Meilen. Eine römische Meile war nur 1480 Meter lang, und der Erdumfang lag damit bei 30.192 Kilometern. Mit diesen fragwürdigen Zahlenspielereien verringerte Kolumbus den Erdumfang um ein Viertel.13 Doch selbst auf einem derart geschrumpften Planeten wäre eine Reise von den Kanarischen Inseln, seinem Ausgangspunkt, nach Cipangu ohne Unterbrechungen für die modernsten Schiffe seiner Zeit zu lang gewesen. Darum »baute« Kolumbus noch ein paar Inseln auf der Route ein, alle an Stellen, die sich hervorragend für Zwischenstopps eigneten, und verkürzte so die längste ununterbrochene Strecke der Seereise drastisch. Dank dieser falschen Berechnungen lag Cipangu fast auf demselben Meridian wie die karibischen Jungferninseln,14 was vermutlich zu Kolumbus’ berühmt-berüchtigter Verwechslung der Kontinente führte.

Als er mit seinen Schätzzahlen zufrieden war, wandte sich Kolumbus an den neuen portugiesischen König Johann II. und bat ihn, die Expedition zu finanzieren. Johanns Hofmathematiker durchschaute Kolumbus’ Tricksereien allerdings schnell und erkannte, dass der Plan unrealistisch war. Kolumbus ließ sich jedoch nicht abschrecken und versuchte sein Glück danach in Spanien, wo er ebenfalls zweimal abgewiesen wurde. Nachdem er ihnen jahrelang in den Ohren gelegen hatte, gingen Ferdinand II. und Isabella I. schließlich aber doch auf seinen Vorschlag ein, vermutlich wegen der (überzeugenden) Begeisterung des königlichen Schatzmeisters.15

Kolumbus belog alle anderen, aber warum belog er sich selbst? Wenn die Reise im Fiasko endete, hätte er einen hohen Preis zu zahlen. Der amerikanische Historiker Samuel Eliot Morison, der mit seiner Kolumbus-Biographie Admiral of the Ocean Sea (Admiral des Weltmeeres) den Pulitzer-Preis gewann, meinte: »Kolumbus dachte nicht logisch. Er war überzeugt, dass er es schaffen konnte, darum machte er die Zahlen passend.« Er starb in dem Glauben – zumindest offiziell –, dass er den westlichen Seeweg nach Indien entdeckt hatte,16 da er nach 33 Tagen auf den Bahamas landete, in etwa der Zeit, in der er nach seinen Berechnungen die Insel Cipangu erreichen sollte.17 Nach Morisons Auffassung hätte es Kolumbus ohne Land zwischen Spanien und Asien nie bis nach Indien geschafft, weil seine Schiffe für eine so lange Reise technisch noch nicht gerüstet waren. Kolumbus hatte Glück, was man von den Amerikanern, die von den europäischen »Entdeckern« dezimiert wurden, nicht sagen kann.

Wenn ein so erfahrener Seemann wie Christoph Kolumbus Amerika mit Asien verwechseln konnte, war da überhaupt an die Herstellung genauer Karten zu denken? Ein paar Jahrzehnte später kam es zu einem Durchbruch bei den Vermessungsmethoden, versteckt im Anhang eines zunächst wenig erfolgreichen Buches, das sich zu einem Bestseller entwickelte.

Die Magie der Dreiecke

Im Jahr 1524, nur wenige Jahrzehnte nach Kolumbus’ Entdeckungsreisen, schrieb und veröffentlichte der junge deutsche Mathematiker und angehende wissenschaftliche Verleger Peter Apius ein Buch mit dem Titel Cosmographia, ein wissenschaftliches Werk, dessen Themen von Astronomie über Kartographie bis hin zu mathematischen Instrumenten reichten. Trotz des beeindruckenden Themenspektrums war dem Buch kein großer Erfolg beschieden.18 Fünf Jahre später jedoch wurde es von einem niederländischen Mathematiker namens Gemma Frisius ein wenig überarbeitet, und in dieser zweiten Auflage entwickelte es sich zu einer beliebten Einführung in die wissenschaftliche Astronomie und Mathematik. Dieser Erfolg der Cosmographia ermutigte Frisius, weitere Neuauflagen herauszugeben, in die er ein paar seiner eigenen Arbeiten als Anhänge hineinschmuggelte. Der Anhang der dritten Auflage enthielt eine detaillierte Beschreibung der Triangulation, einer Methode, die das Kartenmachen für immer veränderte.

In Zeiten von GPS halten wir es für selbstverständlich, große Entfernungen zu messen. Doch im 16. Jahrhundert war es wesentlich einfacher, Winkel zu bestimmen als Distanzen, und das steckte hinter Frisius’ Idee.[7]  Da es schwierig war, Distanzen zu messen, dachte er sich: Wäre es nicht schön, nur einmal messen zu müssen, und die anderen Entfernungen mathematisch zu erschließen?

Im ersten Schritt misst die Person, die die Triangulation durchführt – der Landmesser, heute sagt man Geodät –, die Entfernung zwischen zwei Punkten, diese Strecke heißt Basislinie. In der Regel war das eine ziemlich anstrengende Aufgabe, denn sie erforderte, einen langen, oft sehr schweren Messstab entlang einer schnurgeraden Linie zu bewegen, gleich welche Hindernisse auf diesem Weg zu überwinden waren. Frisius stellte fest, dass es, sogar dann wenn eine große Fläche auszumessen war, genügte, nur einen Abstand zu messen, den Rest konnte man trigonometrisch ermitteln.

Die Trigonometrie beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen den Winkeln und den Seiten von Dreiecken. Der Landmesser konstruiert ein Dreieck mit der Basislinie als einer Seite, die dritte Ecke muss an einer Stelle liegen, die von den anderen beiden Ecken, den Endpunkten der Basislinie aus zu sehen ist, etwa ein Turm oder eine Bergspitze. Dank der Trigonometrie braucht man keine zusätzlichen Informationen, um die Entfernungen zwischen den Beobachtungspunkten und dem Zielpunkt zu berechnen. Das hat Generationen von Landmessern davor bewahrt, zwei anstrengende Märsche durch dichte Wälder, Sümpfe oder Seen absolvieren zu müssen, um von beiden Beobachtungspunkten an den Zielpunkt, der dritten Ecke des Dreiecks, zu gelangen. Die Macht der Trigonometrie ermöglicht es dem Landmesser, zwei Entfernungen zu ermitteln, ohne die sichere, sorgfältig gewählte Basislinie zu verlassen.

Abb. 1.2Die Triangulation dient dazu, die Entfernungen zwischen zwei Beobachtungspunkten und einem Zielpunkt zu berechnen, vorausgesetzt die Entfernung zwischen den Beobachtungspunkten und die Winkel zwischen den Beobachtungspunkten und dem Zielpunkt sind bekannt.

Schon dieses Verfahren allein vermochte die Arbeit von Landmessern enorm zu vereinfachen, doch Frisius entwickelte die Idee noch weiter. Er schlug vor, ein Triangulationsnetz zu konstruieren, in dem jede berechnete Dreiecksseite zur Basislinie für ein neues Dreieck wird. Prinzipiell könnte ein Landmesser auf diese Weise eine exakte Karte eines ganzen Landes erstellen, ohne eine weitere Entfernungsmessung außer der für die (erste) Basislinie. In der Praxis werden jedoch noch weitere Distanzen ausgemessen, um unvermeidliche Messfehler zu korrigieren, die sich sonst sehr rasch aufsummieren würden; das ist aber nicht zwingend notwendig.

Abb. 1.3In einem Triangulationsnetz wird jede berechnete Strecke zur Basislinie für ein neues Dreieck.

Weil sich die Cosmographia so großer Beliebtheit erfreute – sie wurde vom Lateinischen ins Französische, Niederländische und Spanische übersetzt –, verbreitete sich die Idee der Triangulation rasch in ganz Europa.19 Kartographen begannen, die Methode anzuwenden, um genauere Karten herzustellen, unter ihnen auch Frisius’ berühmter Schüler Mercator, der das Herzogtum Lothringen (heute die Nordostecke Frankreichs) vermaß. Wir werden ihm im nächsten Kapitel wieder begegnen.20

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hob ein weiterer niederländischer Mathematiker namens Willebrord van Roijen Snell[8]  die Triangulation auf neues, höheres Niveau, indem er mit ihr die Größe der Erde bestimmte. Obwohl er sein Projekt in einem Buch vorstellt, das den passenden Titel Eratosthenes Batavus (»der niederländische Eratosthenes«) trug,21 unterscheidet sich seine Methode von der des alten Griechen. Snellius verwendete die Triangulation, um die genaue Entfernung der nordholländischen Stadt Alkmaar von der Stadt Bergen op Zoom zu berechnen, das etwa 130 Kilometer südlich von Alkmaar liegt.22 Mithilfe astronomischer Berechnungen fand er heraus, dem wievielten Bruchteil des Erdumfangs die Distanz zwischen Alkmaar und Bergen op Zoom entsprach. Mit diesen beiden Werten berechnete er den Erdumfang mit einer Genauigkeit, die nur vier Prozent von den heutigen Berechnungen abweicht.23 Auch das wieder eine beeindruckende Leistung, wenn man die einfachen Messinstrumente und die mathematischen Methoden berücksichtigt, die ihm zur Verfügung standen.24

Die Triangulation, eine ebenso simple wie mächtige Methode, ermöglichte es nicht nur, genaue Karten zu erstellen, sondern auch die wahre Form der Erde zu ermitteln. Dass die Erde keine Scheibe ist, bedeutet nämlich nicht automatisch, dass sie Kugelform hat, doch um das herauszufinden, bedurfte es der ersten internationalen Expedition.

Platt oder spitz, das ist hier die Frage

Der weltberühmte Schiffsbauingenieur, Wissenschaftshistoriker und Finalist für den Pulitzer-Preis Larrie D. Ferreiro diskutiert gerne über Geodäsie (Erdvermessung), nach eigenem Eingeständnis besonders gerne mit einer Gesprächspartnerin, die wie er das Imperial College London absolviert hat. Sein Job als Professor für Wissenschaftsgeschichte erfordert ein tieferes Verständnis für Politik und das aktuelle Tagesgeschehen, darum überrascht es mich nicht, dass er, als er erfährt, dass ich in Warschau bin, sofort viele Fragen hat, was die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die Situation im Nachbarland Polen angeht. Wir beginnen eine faszinierende Unterhaltung darüber, wie wichtig es ist, in Diskussionen über Wissenschaft soziale und politische Kontexte einzubeziehen, etwas, das Ferreiro in seinem Buch Measure of the Earth (»Erdvermessung«) folgreich getan hat.25

Im 17. Jahrhundert vermuteten europäische Wissenschaftler zwar, dass die Erde keine perfekte Kugel ist, aber sie konnten sich nicht darauf verständigen, welche Form sie genau hat. Der französische Philosoph René Descartes meinte, unser Planet sei an den Polen verlängert, was ihm die Form eines Eies gebe.[9]  Auf der anderen Seite des Ärmelkanals behauptete der englische Wissenschaftler Isaac Newton, dass die Kräfte, die durch die Drehung der Erde um sich selbst entstehen, dazu führen, dass die Erde an den Polen abflacht und sich am Äquator ausdehnt, so dass der Planet einem abgeplatteten Apfel ähnelt. Im Jahr 1687 erschien Newtons bahnbrechendes Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie), in dem er die Theorie der Schwerkraft (Gravitation) diskutiert, einer fast magischen Anziehungskraft. Nach Newtons Überzeugung war ein Unterschied in der Schwerkraft dafür verantwortlich, dass Pendeluhren am Äquator langsamer schlagen als in Europa. Er behauptete, je näher sich eine Uhr am Mittelpunkt der Erde befinde, desto stärker wirke die Erdanziehungskraft und desto schneller schlage die Uhr. Dieser Unterschied könne nur mit einer an den Polen abgeplatteten Erde erklärt werden.

Doch es ging um mehr als eine obskure wissenschaftliche Debatte, die Frage, ob die Erde die Form eines Eies oder die eines abgeplatteten Apfels hat, war von strategischer Bedeutung. Die Nation mit der besseren Nautik (Steuermannskunst) würde das mächtigere Imperium errichten, deshalb konnten es sich weder die Franzosen noch die Briten leisten, ihre Schiffe Hunderte von Seemeilen vom Kurs abkommen zu lassen, was unter Umständen der Fall wäre, wenn die Seeleute von einer unzutreffenden Gestalt der Erde ausgingen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu gewinnen, hatte also auch symbolische Bedeutung – jede der beiden damaligen Supermächte wollte die Theorie ihres Wissenschaftlers beweisen: Die Franzosen unterstützten Descartes’ Eiform, während die Briten Newtons abgeflachten Apfel favorisierten.

In unserem Gespräch verglich Ferreiro diese Diskussion mit dem Wettlauf zum Mond während des Kalten Krieges, der »nichts mit Wissenschaft zu tun hatte«. Die USA und die UdSSR glaubten, wer auch immer zuerst dort landete, würde der Welt zeigen, welches Land und welches System – Kapitalismus oder Sozialismus – es verdiente, unterstützt zu werden. Ähnlich hatte die Auseinandersetzung um die Form der Erde gleichermaßen politische wie wissenschaftliche Bedeutung. Ein bekanntes Zitat des preußischen Generals Carl von Clausewitz paraphrasierend drückt es Ferreiro so aus: »Wissenschaft ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« und erklärt: »An sich ist Wissenschaft natürlich die Suche nach Fakten, aber wenn man mit etwas Distanz darauf und auf die wichtigen Dinge schaut – zum Beispiel, wer bezahlt sie, wer fördert sie, und welche Absicht steckt hinter dieser Unterstützung –, merkt man ganz schnell, dass es immer eine politische Dimension von Wissenschaft gibt.«

Jean-Frédéric Phélypeaux, Comte de Maurepas, ein junger, aber begabter Minister am Hof Ludwigs XV., hatte die politische Dimension von Wissenschaft erfasst. Als bei der französischen Akademie der Wissenschaften 1734 ein Vorschlag eingereicht wurde, wie man die Diskussion um die Form der Erde ein für alle Mal beenden könnte, wurde Maurepas zu dessen größtem Unterstützer. Zu diesem ehrgeizigen Projekt gehörte die Entsendung einer Mission an den Äquator, um dort zu messen, wie groß die Entfernung zwischen zwei Breitengraden ist, die ein Grad auseinanderliegen.

Beide Hemisphären, die nördliche und die südliche, sind in neunzig Breitengrade unterteilt – von null am Äquator bis neunzig an den Polen. Wäre die Erde eine perfekte Kugel, dann müsste der Abstand zwischen zwei Breitengraden, der sogenannte Meridianbogen zwischen ihnen, überall gleich sein und dem Erdumfang dividiert durch 360, also etwa 111 Kilometern, entsprechen. Da die Erde aber keine perfekte Kugel ist, überspannt ein Meridianbogen zwischen zwei Breitengraden, je nachdem wo er gemessen wird, unterschiedliche Distanzen. Das bedeutet, wenn man den Abstand zwischen zwei Breitengraden am Äquator mit dem bereits bekannten Abstand zwischen zwei Breitengraden in Frankreich vergleichen würde, wären französische Wissenschaftler in der Lage herauszufinden, ob Descartes oder ob Newton mit seiner Theorie richtig liegt. Wäre der Planet eiförmig, würde ein Breitengrad in Frankreich eine größere Distanz überspannen als ein Breitengrad am Äquator, für einen Planeten mit der Form eines abgeplatteten Apfels wäre es genau umgekehrt.

Nachdem der Vorschlag angenommen war, musste Maurepas den besten Ort für die Durchführung der wissenschaftlichen Mission finden. Schnell verwarf er die feindliche Küste Äquatorialafrikas und die entlegenen tropischen Inseln im Fernen Osten und verlegte sich auf Peru, eine spanische Kolonie in Südamerika. Der König von Spanien, zufälligerweise der Onkel des französischen Königs Ludwig XV., erlaubte Frankreich, diese Messungen auf spanischem Gebiet durchzuführen. Um sicherzustellen, dass es Zugang zu allen wissenschaftlichen Erkenntnissen bekam, die während der Expedition gewonnen wurden, und um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass die Franzosen Güter aus Peru herausschmuggelten, bestand Spanien darauf, dass »zwei verständige Spanier besagte Wissenschaftler begleiteten«.26 Nach intensiven Vorbereitungen brach ein Team aus französischen und spanischen Teilnehmern im Frühjahr 1735 nach Südamerika auf. Das war der Beginn einer internationalen wissenschaftlichen Expedition, wie es sie bis dahin noch nicht gegeben hatte.

Die Akademiker, die üblicherweise von einem bequemen Lehnstuhl aus theoretische Forschungen aus betrieben, standen den Herausforderungen, die sie in Peru erwarteten, völlig unvorbereitet gegenüber. Sie hatten weder mit der eisigen Kälte der Andengipfel gerechnet noch mit der verständlichen Feindseligkeit der Peruaner gegenüber Europäern oder den politischen Gegebenheiten vor Ort. Vor allem hatten sie gedacht, ihre Mission würde etwa zwei Jahre dauern. Als sie in See stachen, hätte niemand damit gerechnet, dass das erste Expeditionsmitglied erst nach mehr als zehn Jahren heimkehren würde, und manche sollten überhaupt nicht mehr zurückkommen. Wenn man bedenkt, wie wenig die Teilnehmer für die zu erfüllende Aufgabe geeignet waren, grenzt es an ein Wunder, dass sie die Mission erfolgreich zu Ende brachten.[10] 

Mithilfe der Triangulationsmethode wollten die Forscher die Entfernung zwischen Quito im Norden und Cuenca im Süden ermitteln. Die körperlichen Anforderungen dieser Aufgabe überraschte die Landmesser. Die Entfernung zwischen den beiden im heutigen Ecuador gelegenen Städten beträgt mehr als 300 Kilometer, das ist etwa so weit wie von Paris nach London oder von Boston nach New York City. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Für ein Triangulationsnetz braucht man gut anvisierbare Punkte, in der Praxis hieß das, die Andengipfel hinauf- und wieder hinunterzuklettern. Dabei ging es den Wissenschaftlern noch besser als den Einheimischen, die gezwungen wurden, die schwere Ausrüstung ihrer weißen »Arbeitgeber« zu schleppen. Wegen der Messgenauigkeit verwendeten sie ein aus Eisen gefertigtes Instrument, einen sogenannten Quadranten, der zwar sehr zuverlässig, aber auch sehr unhandlich war und einen Radius von mehr als einem Meter hatte. Auf einen hohen Berg zu steigen, war nicht nur schwierig, es gab auch keine Garantie, dass man von dort gute Sicht hatte. Oft musste das Team tage-, manchmal sogar wochenlang in Regen oder Schnee ausharren, bis es für einen Augenblick aufklarte. Und es gab massenhaft Schnee, womit die Landmesser bei einer Fahrt in die Tropen nicht gerechnet hatten!

Bevor die eigentliche Triangulation begann, verbrachte die Gruppe Monate damit, die elf Kilometer lange Basislinie auszumessen, ein Unterfangen, das – obwohl es durch ebenes Gelände ging – möglicherweise anstrengender war, als die Berge hinaufzuklettern. Zunächst legten sie einen zwei Meter langen Eisenstab, die sogenannte Toise, als Beginn der Basislinie auf die Erde, und markierten das Ende der Stange. Dann wurde dieser schwere Gegenstand entlang der Basislinie verschoben, wobei der vorherige Endpunkt als neuer Ausgangspunkt diente. Dieses Vorgehen wiederholten sie mehrere Tausend Mal, bis sie das vorgesehene Ende der Basislinie erreicht hatten. Als letzten Schritt ihrer Triangulation wiederholten sie das Ganze. Es war eigentlich nicht zwingend notwendig, die Basislinie ein zweites Mal zu vermessen, doch es ermöglichte ihnen, die Genauigkeit ihrer Triangulation zu überprüfen.[11]  Als die Triangulation abgeschlossen und die körperliche Arbeit beendet war, kamen die Wissenschaftler in Cuenca zusammen, um sich für längere Zeit komplizierten Berechnungen zu widmen. Wie wir gesehen haben, lassen sich die Längen von zwei Seiten eines Dreiecks mithilfe der Trigonometrie berechnen, wenn die Länge der dritten Seite sowie zwei Winkel bekannt sind. Diese Rechnung musste für jedes einzelne Dreieck in der über 300 Kilometer langen Kette (von Dreiecken) durchgeführt werden. Zur Erhöhung der Genauigkeit führten sie eine Vielzahl von Korrekturen durch, um beispielsweise die Höhenunterschiede der anvisierten Punkte oder die Krümmung der Erdoberfläche auszugleichen,[12]  was die Berechnungen noch komplizierter machte. Mithilfe astronomischer Beobachtungen konnten sie schließlich die Breiten von Quito und Cuenca bestimmen. Nachdem sie zwei Jahre lang die Positionen von Sternen am Himmel gemessen und komplexe mathematische Berechnungen angestellt hatten, gelang es ihnen, die Winkelweite zwischen dem Süd- und dem Nordende der Triangulationskette zu ermitteln. Das Ergebnis der Triangulation teilten sie durch diesen Wert und erhielten so die genaue Länge des Abstands zwischen zwei um ein Grad verschiedenen Breitenparallelen am Äquator: 110,612 Meter, ein Wert, der nur um 40 Meter vom heute akzeptierten Wert abweicht.27 Diese Strecke war kürzer als der Abstand zwischen zwei um ein Grad verschiedenen Breitenparallelen in Frankreich, den man schon vorher durch Messungen zwischen Paris und Amiens ermittelt hatte. Damit war bewiesen, dass Newton mit seiner Theorie der abgeplatteten Pole recht hatte.

Die Bedeutung der geodätischen Äquatormission reichte jedoch weit über die Ermittlung der wahren Erdgestalt hinaus. Ihr Erfolg zeigte späteren Wissenschaftlergenerationen, dass internationale Zusammenarbeit möglich ist und regte Universalgelehrte wie Alexander von Humboldt und Charles Darwin zu ihren bahnbrechenden Expeditionen in nahezu unerforschte Gefilde an. Darüber hinaus erfuhren die Europäer während ihres jahrzehntelangen Aufenthalts in der Region viel über die vielfältigen, von Spanien unbeeinflussten einheimischen Kulturen, was die Idee unabhängiger südamerikanischer Nationen aufkommen ließ. Der im heutigen Venezuela geborene Simón Bolivar beschrieb diese Mission als Inspiration für seinen Freiheitskampf.28 Doch vermutlich kann nichts die Bedeutung der geodätischen Mission nach Ecuador besser belegen als die Herkunft dieses Namens: Das Land, das 1830 die Unabhängigkeit erlangte, nannte sich República del Ecuador, die »Äquatorrepublik«.29

Wie sich herausstellte, war es für die Entwicklung der Kartographie – von der Landkarte auf Papier bis zum heutigen GPS30 – enorm wichtig zu wissen, welche Form die Erde hat. Allerdings führten präzise Vermessungen unseres Planeten nicht automatisch zu absolut korrekten Landkarten – weder im 18. Jahrhundert noch heute. Selbst mit dem besten geodätischen Wissen wird es uns nie gelingen, fehlerlose zweidimensionale Karten zu erstellen, und schuld daran ist die gekrümmte Oberfläche der Erde.

Princeps mathematicorum – der Erste unter den Mathematikern

Die Frage, wie sich die Oberfläche der beinahe kugelförmigen Erde auf einer ebenen Fläche darstellen lässt, gehörte – neben vielen anderen – zu den Interessensgebieten von Carl Friedrich Gauß, der 1777 in Braunschweig zur Welt kam.[13]  Der Sohn einfacher, armer Leute31 zeigte schon früh seine außerordentliche Begabung.32 Mit sieben Jahren ging er in die örtliche Volksschule, wo der Schulleiter J. G. Büttner seine etwa zweihundert Schüler mit dem freigiebigen Gebrauch der Peitsche zu motivieren versuchte.

Um die undisziplinierten Kinder zu beschäftigen, stellte Büttner ihnen die Aufgabe,33 die Zahlen von eins bis hundert zu addieren.[14]  Nach weniger als einer Minute reichte der neunjährige Gauß seinem Lehrer eine Schiefertafel, auf der die richtige Antwort stand. Statt die Zahlen eine nach der anderen zu addieren, hatte er fünfzig Paare gebildet, die zusammen jeweils 101 ergaben: 1 + 100, 2 + 99, 3 + 98 und so weiter, summa summarum, 50 × 101 = 5050. Der Lehrer erkannte Gauß’ Talent und ermutigte seinen Vater, den Jungen abends lernen zu lassen, statt seinen Eltern rund ums Haus zu helfen. Als er bemerkte, dass er dem begabten Kind alles beigebracht hatte, was er selbst wusste, bestellte Büttner anspruchsvollere Mathematikbücher, und das war der Startschuss für die außergewöhnliche Karriere des späteren »Princeps mathematicorum« (den Ersten oder Angesehensten unter den Mathematikern).34 Doch selbst dieser Ehrentitel lässt die Spannbreite von Gauß’ Leistungen nicht erahnen, die er nicht nur in Arithmetik, Geometrie, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Algebra vollbrachte, sondern auch auf den Gebieten Magnetismus, Astronomie und Kartographie, um nur einige zu nennen. Er sah den Wert von Mathematikanwendungen für das wahre Leben35 und äußerte den Wunsch, »der sorgfältigste Geometer und der vollkommene Astronom zu werden«36. Dass angewandte Tätigkeit normalerweise besser bezahlt wurde als theoretische Studien, war auch kein Schaden.

Gauß erkannte, dass man die genaue Position des Observatoriums und die korrekte Form der Erde kennen musste, um präzise astronomische Beobachtungen zu machen. Vermutlich weckte das schon früh sein Interesse an der Geodäsie.37 Und da er bei allem, was er anfing, Perfektionist war, entwickelte er sich rasch zu einem anerkannten Fachmann auf diesem Gebiet. Matthew Edney, ein renommierter Kartographie-Historiker, erzählte mir, dass Gauß für ihn »der Gott der Geodäsie« sei, da er die Fundamente für die moderne Erdvermessung gelegt habe. Es ist kein Zufall, dass der 10‑DM-Schein, der 1993 in Deutschland ausgegeben wurde und Gauß’ Leben und Werk würdigt, unter anderem ein Triangulationsnetz und einen Sextanten zeigte.

Nachdem er an verschiedenen Triangulationen mitgewirkt hatte, erhielt er 1818 den Auftrag, das damalige Königreich Hannover zu vermessen. Er nahm seinen Job sehr ernst und führte viele der Beobachtungen selbst durch, dabei war er ebenso enthusiastisch wegen der wertvollen Daten, die er erhob, wie unvorbereitet auf die Arbeit in der Natur. Gauß pflegte in eleganter, aber unpraktischer Kleidung zu Pferd zu kommen, dazu trug er eine Samtkappe, was einmal zu einer solchen Überhitzung bei ihm führte, dass er das Projekt wegen seiner schwachen Gesundheit unterbrechen musste. Ein anderes Mal wurde er vom Pferd abgeworfen, doch er erlitt außer ein paar Prellungen und Schürfwunden keine größeren Verletzungen. Solche Hindernisse beflügelten Gauß eher, als dass sie ihn entmutigten. Tatsächlich versuchte Friedrich Wilhelm Bessel, ein anderer deutscher Mathematiker, Gauß davon abzubringen, Zeit und Energie mit den körperlichen Arbeiten bei der Vermessung zu verschwenden. Er wusste um Gauß’ außergewöhnliches mathematisches Genie und befürchtete, dass die Angewohnheit, alles selbst in die Hand zu nehmen, ihn davon abhalten könnte, theoretische Ergebnisse zu produzieren. Doch seine Sorge war unbegründet; statt ihn vom Nachdenken über theoretische Fragen abzuhalten, schien die praktische Arbeit als Landmesser Gauß vielmehr zu einigen seiner besten Ideen anzuregen. Insbesondere wollte er die Geometrie verstehen, mit der sich eine Oberfläche auf eine andere projizieren lässt, beispielsweise eine Kugeloberfläche auf eine Ebene – mit anderen Worten: das Kartenmachen.

Im Jahr 1827 präsentierte Gauß der Königlichen Societät der Wissenschaften (heute Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen) seine Disquisitiones generales circa superficies curvas (Allgemeine Untersuchungen über gekrümmte Flächen), die auch die Ergebnisse seiner geometrischen Forschungen enthielten, welche von seinen Vermessungsarbeiten beeinflusst waren. Unter anderem führte er den strengen Beweis, dass es unmöglich ist, eine perfekte Karte zu erstellen, was sich völlig unbeabsichtigt auch darauf auswirkt, wie man richtig … Pizza isst (selbst wenn Gauß sehr wahrscheinlich nie Gelegenheit hatte, dieses köstliche Gericht zu kosten).

Pizzas und Bananen

Einmal hielt es ein Date von mir, ein wählerischer Italiener, für angebracht, mich durch halb London in die einzige akzeptable Pizzeria zu schleppen. Kaum hatte ich ein Stück Pizza vom Teller genommen, rutschte eine Lage köstlicher Tomatensoße samt Oliven auf das tolle gelbe T‑Shirt, das ich mir eigens für diesen Anlass gekauft hatte. Mein Gesicht nahm die Farbe von besagter Tomatensoße an, und ich war mir sicher, dass diese erste Verabredung auch unsere letzte sein würde. Mein Date war Mathematiker, warum also, so fragte ich mich, würde er mit jemandem ausgehen wollen, der es wagte, Pizza auf so unmathematische Weise zu essen? Grund für diesen buchstäblichen Flop war nicht meine Ungeschicklichkeit, sondern meine Unwissenheit: Ich kannte Gauß’ mächtiges Theorem zu gekrümmten Flächen nicht, dasselbe, das erklärt, warum alle Karten verzerrte Repräsentationen sind.

Eine der simpelsten Oberflächen, mit denen wir im Alltag zu tun haben, ist ein glattes Stück Papier. Wenn wir es zu einem Zylinder zusammenrollen – wie zum Beispiel ein Poster, das wir gekauft haben und für den Transport aufrollen –, dann bleibt das Blatt in der Senkrechten gerade, doch in der Waagrechten ist es gekrümmt. Ist ein Blatt Papier also nur entweder gerade oder gekrümmt?

Abb. 1.4 Eine nach außen gebogene Linie hat eine positive Krümmung, eine nach innen gebogene dagegen eine negative.

Abb. 1.5 Am oberen wie am unteren Ende eines Eis haben alle Linien eine positive Krümmung, doch oben sind die Krümmungen stärker.

Wenn sie über Oberflächen sprechen, verwenden Mathematiker den Begriff »Krümmung«, der das Verhalten einer Oberfläche an einem bestimmten Punkt beschreibt. Wir wählen einen Punkt auf einer Oberfläche aus und quantifizieren die Stärke seiner Krümmung. Nehmen wir als Beispiel eine Banane wie in Abb. 1.4 und sehen wir uns einen Punkt auf ihrer Oberfläche an. Eine Linie entlang der »Innenkurve« der Banane hat eine negative Krümmung. Eine senkrecht dazu verlaufende Kurve hat eine positive Krümmung.[15] 

Ein glattes Blatt Papier, bei dem alle Linien in einer Ebene liegen, ist ein gutes Beispiel für die Krümmung null. Während das Vorzeichen der Krümmung das Verhalten der Linie im Allgemeinen beschreibt, gibt der Zahlenwert an, wie stark die Krümmung ist. Bei einem Ei zum Beispiel sind die Linien durch den oberen und den unteren Pol beide nach außen gekrümmt, doch die Linien, die durch das spitze obere Ende verlaufen, haben die stärkere Krümmung, siehe Abb. 1.5.

Abb. 1.6 Bei einem Zylinder sind die waagrechten Linien nach außen gebogen, die senkrechten sind gerade.

Komplizierter wird es, wenn wir einen Punkt auf einem Zylinder auswählen. Abb. 1.6 zeigt, dass die waagrechte Linie um den Zylinder herumläuft, das heißt ihre Krümmung ist positiv; die senkrechte Linie dagegen ist gerade, damit hat sie die Krümmung null. Alle anderen Linien bilden Wendeln (zylindrische Spiralen) mit positiven Krümmungen – je waagrechter, desto stärker die Krümmung. Welche Krümmung hat nun ein Punkt auf dem Zylinder? Ist sie null oder positiv? Wenn letzteres zutrifft, wie stark ist die Krümmung? Diese Frage wollte Gauß beantworten.

Ein hervorragender Lehrsatz

Gauß überlegte sich, dass es nicht möglich sein sollte, demselben Punkt verschiedene Krümmungen zuzuschreiben, da es unsinnig wäre, wenn derselbe Teil einer Oberfläche gleichzeitig konvex, konkav und eben wäre. Darum dachte er sich ein Verfahren aus, um die Krümmung in einem Punkt mit einer einzigen Zahl auszudrücken. Jeder möglichen Linie, die durch einen Punkt auf einer Oberfläche läuft, lassen sich Krümmungen zuordnen, davon nehmen wir jeweils den kleinsten und den größten Wert. Um die Gaußsche Krümmung zu erhalten, multiplizieren wir diese beiden Zahlen. Auf diese Weise reduzieren wir die Krümmungen all der verschiedenen Linien, die durch diesen Punkt laufen, auf einen einzigen Wert. Man sollte aber immer darauf achten, die Krümmungen von Linien nicht mit der Gaußschen Krümmung einer Oberfläche zu verwechseln!

Beim oberen Ende eines Eies zum Beispiel haben alle Linien dieselbe, positive Krümmung. Das Produkt ist ebenfalls positiv, und damit hat die Eispitze – ebenso wie jeder andere Punkt auf dem Ei, aus demselben Grund – eine positive Gaußsche Krümmung. Am Punkt an der Spitze unserer Banane ist die stärkste Krümmung jedoch positiv und die kleinste negativ, das Produkt der beiden Zahlen wird darum negativ. Auf einem glatten Blatt Papier ist die Krümmung aller Linien gleich null, und null mal null ergibt eine Gaußsche Krümmung von null. Auf einem Zylinder hat die stärkste Krümmung, die waagrechte Linie, einen positiven Wert, die geringste Krümmung, die senkrechte Linie, ist null, und damit hat auch das Produkt den Wert null. Das ist nur logisch, da der Zylinder ja aus einem glatten (= ebenen) Blatt Papier geformt wurde.

Gauß erkannte, dass die Gaußsche Krümmung eines ebenen Blatt Papiers und die desselben Blattes, wenn es zu einem Zylinder gerollt wurde, nicht rein zufällig gleich war. Er zeigte, dass die Gaußsche Krümmung sich nicht ändert, wenn man die Oberfläche nur biegt, aber nicht dehnt, schrumpft, reißt oder auf andere Art zerstört. Die Bedingung »zerstörungsfrei« ist wesentlich, mit Konsequenzen für das wahre Leben, wie wir bald sehen werden. Gauß war so stolz auf seine Erkenntnis, dass er sie als Theorema egregium bezeichnete, was übersetzt soviel heißt wie »hervorragender Lehrsatz«. Tatsächlich hat das Theorem weitreichende Konsequenzen, nicht nur in der theoretischen Mathematik, sondern auch bei so profanen Tätigkeiten wie dem Verzehr von Pizza.

Abb. 1.7a) Wenn das Pizzastück flach auf dem Teller liegt, sind die Krümmungen aller Punkte in allen Richtungen gleich null. b) Beim Hochheben des Pizzastücks bleibt die Krümmung der kurzen Linie null, die der langen Linie wird positiv, weil sich die Spitze durch die Einwirkung der Schwerkraft nach unten biegt. c) Wird das Pizzastück längs gefaltet, erhält die Krümmung der kurzen Linie einen negativen Wert, die der langen Linie muss null bleiben, damit die Gaußsche Krümmung null bleibt. Deshalb biegt sich die Spitze des Pizzastücks nicht nach unten.

Eine traditionell gefertigte Pizza ist so dünn, dass sie einer zweidimensionalen Oberfläche ähnelt. Da ein Stück Pizza leichter zu biegen als zu dehnen, zu schrumpfen oder zu reißen ist, könnten wir sie durch die Brille des Theorema egregium betrachten. Wie Abb. 1.7a zeigt, sind die Krümmungen aller Punkte in allen Richtungen gleich null, wenn die Pizza auf dem Teller liegt; damit ist auch ihr Produkt, die Gaußsche Krümmung, gleich null. Die Situation ist die gleiche wie bei einem Blatt Papier. Ich beging den Fehler, mein Pizzastück am Rand hochzuheben, denn danach zog die Schwerkraft die Spitze des Stückes – zusammen mit dem Belag – nach unten, siehe Abb. 1.7b. Durch das Hochheben veränderte sich zwar die Krümmung der Punkte auf der Linie vom Rand zur Spitze des Pizzastücks, aber das Theorema egregium wurde nicht verletzt, da die herunterhängende Spitze weiter eben und das Produkt weiter null blieb. Es wäre besser gewesen, das Pizzastück längs der Mitte zu knicken wie in Abb. 1.7c. Das hätte die Krümmung in dieser Richtung negativ gemacht, weil die Gaußsche Krümmung des Pizzastücks aber null bleiben muss, wäre das Stück in der Richtung, die auf meinen Mund zeigte, gerade geblieben. Grund dafür ist, dass die einzige Zahl, die multipliziert mit einem negativen Wert null ergibt, die Null ist.

Ein Stück Pizza, das in eine Richtung geknickt wird, versteift sich in der anderen Richtung, um die Gaußsche Krümmung bei null zu halten. Während ich mein Pizzastück (und meine Gehirnwindungen) hin und her bog, um das zu verstehen, bemerkte ich, dass uns das Phänomen schon seit Urzeiten umgibt. Nehmen Sie nur das Blatt eines Baumes als Beispiel, das sich entlang seiner Mittelachse falten lässt, wie ein Stück Pizza, wenn man es richtig macht. Wenn es in der Vertikalen eine Krümmung hat, die nicht null ist, versteift es sich in der Horizontalen, wodurch es für den Wind schwerer wird, seine Form zu verändern.38 So erklärt sich auch, warum Blätter, die an den Seiten schneller wachsen als in der Mitte, an den Rändern Falten werfen müssen, um die Form zu halten.39

Um die Gaußsche Krümmung zu verändern, muss man Kraft aufwenden, aus diesem Grund sind Objekte mit einer gekrümmten Oberfläche so stabil. Während ein gefaltetes Stück Pizza und ein Blatt in einer Richtung gekrümmt sind und so die Null-Krümmung in der anderen Richtung erhalten, lassen sich Objekte mit Krümmungen in alle Richtungen fast nicht zerbrechen. Das ist eine der Erklärungen für die Stabilität der Oberfläche eines Eies.40 Eier mögen fragil aussehen, und wenn man eines auf den Boden fallen lässt, bekommt man garantiert eine schöne Schweinerei, aber versuchen Sie mal, ein Ei mit einer Hand zu zerdrücken, dann werden Sie merken, wie gut seine Krümmung die dünne Schale schützt. Wenn das nicht so wäre, würden Eier unter dem Gewicht eines brütenden Vogels zerbrechen, eine Katastrophe für die Art! Um ein Ei zu zerbrechen, muss man die Schale eindrücken, dafür braucht es Werkzeuge und Absicht (falls Sie die Hypothese testen wollen, ziehen Sie am besten sämtliche Ringe aus, ehe Sie das Ei in der Hand zu zerdrücken versuchen).

Das Theorema egregium erklärt, weshalb es so viele gekrümmte Oberflächen gibt – nicht nur in der Natur, sondern auch in Architektur und Technik. Mein Lieblingsbeispiel sind die beliebten Stapelchips der Marke Pringles, die in einer röhrenförmigen Verpackung verkauft werden. Flache Chips würden unter dem Gewicht der obenauf liegenden zerbröseln. Die Pringles haben eine charakteristische, in zwei Richtungen gekrümmte Form, die sie außergewöhnlich stabil macht. Dass sie keinen Schwachpunkt haben, erhöht nicht nur ihre Lagerfähigkeit, sondern sorgt auch dafür, dass sie an zufälligen Punkten zerbrechen, wenn man darauf beißt, das erhöht das Gefühl der Knusprigkeit.41 Falls Sie die Theorie der Stabilität von pringlesförmigen Objekten bezweifeln, dann schauen Sie sich mal die Satteldächer im Londoner VeloPark, das Scandinavium in Göteborg oder das Oceanogràfic in Valencia an. Dünn, sicher und schön – das ist die Stärke gekrümmter Oberflächen.

Aber natürlich hat die Schwierigkeit, die Krümmung einer Oberfläche zu verändern, auch negative Folgen. Um eine Landkarte zu erstellen, übertragen wir einen Teil der beinahe kugelförmigen Erdoberfläche (mit einer positiven Krümmung) auf ein ebenes Blatt Papier mit einer Krümmung null. Das Theorema egregium sagt uns, dass das nicht geht, ohne die Oberfläche zu dehnen oder zu zerreißen. Das ist der Grund, weshalb es so unangenehm ist, ein Pflaster aufs Knie oder über den Ellbogen zu kleben – oder warum das Einwickelpapier für runde Lutscher immer zerknittert ist. Selbstverständlich hat das die Menschen nicht davon abgehalten, Karten herzustellen, aber jede zweidimensionale Karte ist in irgendeiner Art und Weise verzerrt – entweder stimmen die Entfernungen nicht oder die Formen oder die Flächen. Im nächsten Kapitel werden wir dieses Problem genauer untersuchen.

Anschnallen bitte!

Die gekrümmte Oberfläche der Erde verhindert nicht nur, dass wir korrekte zweidimensionale Karten erstellen, sie macht auch einen großen Teil unserer Schulgeometrie ungültig. Alles, was Generationen von Schülern über Winkel, Geraden und Dreiecke abgefragt wurden, ging stillschweigend von einer ebenen Fläche aus. Sobald die Krümmung einer Fläche nicht mehr null ist, wird Geometrie sehr viel komplizierter.

Abb. 1.8 Wenn die Jägerin am Nordpol aufbricht und erst 10 km nach Süden, dann 10 km nach Westen und anschließend 10 km nach Norden wandert, kommt sie wieder an ihrem Zelt an.

Ein beliebtes Rätsel, das sich gut als Einführung ins Thema Krümmung der Erdoberfläche eignet, ist die Geschichte von der Jägerin, die ihr Zelt verlässt und erst zehn Kilometer nach Süden geht, dann zehn Kilometer nach Westen und schließlich zehn Kilometer nach Norden; dort angekommen sieht sie einen Bären neben ihrem Zelt stehen.42 Welche Farbe hat der Bär? Bitte denken Sie eine Minute über die Frage nach, ehe Sie im nächsten Satz die Lösung lesen. Das Zelt der Jägerin muss am Nordpol stehen, das heißt, der Bär ist ein Eisbär und damit weiß.[16]  Das offensichtliche irrelevante Rätsel um die Farbe des Bären illustriert sehr schön die verrückte Geometrie einer Kugel.[17]  Der Weg der Jägerin ist ein Dreieck mit zwei 90°-Winkeln. Das heißt, wenn wir einen dritten Winkel dazuaddieren, haben wir mehr als 180°, was dem Mantra unserer Mathe-Lehrer widerspricht, demzufolge die Summe der Winkel in einem Dreieck 180° ist. Doch diese Regel gilt nur für eine ebene Fläche, sphärische oder Kugeldreiecke sind viel spannendere Geschöpfe.

Bei einer Kugel gilt: Je größer das Dreieck, desto größer die Winkelsumme – die immer größer als 180° ist. Das ist eine weitere Erklärung – neben dem Theorema egregium – dafür, warum wir keine perfekte Landkarte erstellen können. Wir müssten dafür Kugeldreiecke in ebene Dreiecke überführen, was nicht ohne Verzerrungen möglich ist, weil ihre Winkelsummen verschieden sind.

Im Rahmen unserer Beschäftigung mit der Triangulation sind wir der Trigonometrie begegnet, die die Beziehungen zwischen Winkeln und Seiten in Dreiecken beschreibt. Nachdem Sie nun mit den merkwürdigen Winkeln der Kugeldreiecke Bekanntschaft gemacht haben, wundert es Sie sicher nicht, dass sich die Regeln der sphärischen Trigonometrie von denen der Trigonometrie für Ebenen unterscheiden, die uns in der Schule beigebracht wurden. Das heißt, die Distanzen auf einer Kugel verhalten sich anders als die Distanzen in einer Ebene.

In einer Ebene ist die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ein Abschnitt einer geraden Linie; auf einer Kugel jedoch sind alle Linien gekrümmt. Das heißt, auf einer Kugel sind »gerade« Linien die Kreisbögen von imaginären Kreisen, sogenannten Großkreisen