Marcel Mauss - Stephan Moebius - E-Book

Marcel Mauss E-Book

Stephan Moebius

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Beschreibung

Marcel Mauss (1872-1950), der Neffe Émile Durkheims, gehört zu den wichtigsten Vertretern der französischen Soziologie und Ethnologie; sein Einfluss reicht bis in die gegenwärtige Theoriebildung. Stephan Moebius gibt einen systematischen Überblick über die Hauptwerke und -begriffe von Mauss, seine politischen Schriften und die ihn prägenden Einflüsse. Er zeigt, dass Lévi-Strauss, das Collège de Sociologie (Bataille, Leiris, Caillois), Bourdieu, Baudrillard und Derrida in zentralen Punkten auf die Arbeiten Mauss' zurückgreifen.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Stephan Moebius

Marcel Mauss

Klassiker der Wissenssoziologie, 2

Halem: Köln 2022

2., leicht überarbeitete Auflage

Die Reihe Klassiker der Wissenssoziologie wird herausgegeben von Prof. Dr. Bernt Schnettler.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2022 by Herbert von Halem Verlag, Köln

ISSN 1860-8647

ISBN (Print): 978-3-7445-2070-6

ISBN (PDF): 978-3-7445-2071-3

ISBN (ePub): 978-3-7445-2072-0

Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im Internet unter http://www.halem-verlag.de

E-Mail: [email protected]

EINBAND: Herbert von Halem Verlag; Susanne Fuellhaas, Konstanz

SATZ: Herbert von Halem Verlag

LEKTORAT: Julian Pitten

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.

Klassiker der Wissenssoziologie

Stephan Moebius

Marcel Mauss

HERBERT VON HALEM VERLAG

Danksagung

An dieser Stelle sei ganz herzlich Robert Mauss für die Druckerlaubnis der Bilder von Marcel Mauss gedankt! Ebenso möchte ich mich für hilfreiche Hinweise ganz besonders bei Bernt Schnettler, Christian Papilloud, Dirk Quadflieg und Marcel Fournier bedanken, sowie für die 2. Auflage im Herbert von Halem Verlag bei Julian Pitten.

Zum Autor

Stephan Moebius ist seit 2009 Universitätsprofessor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Graz und seit 2019 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

I. Einleitung

II. Marcel Mauss: Ein Leben als Wissenschaftler und engagierter Intellektueller

III. Mauss’ wissenschaftliches Milieu

Die Année sociologique

Henri Hubert

IV. Die Konsolidierung der Durkheim-Schule

V. Zentrale Aspekte des Werks

Die Soziologie der Erkenntnis

Soziologie und Geschichte

Soziologie der Riten (Gebet, Magie, Tod) und der kollektiven Gewohnheiten

Soziologie und Religionswissenschaften – oder: das Soziale als System

Soziologie und Ethnographie: Die soziale Morphologie

Soziologie der Gabe

Soziologie und Psychologie

Die ›Gliederung der allgemeinen beschreibenden Soziologie‹

VI. Das Symbolische, die ›totalen sozialen Tatsachen‹ und der ›totale Mensch‹

VII. Einflüsse und Lehrer

Émile Durkheim (1858-1917)

Sylvain Lévi (1863-1935)

Jean Jaurès (1859-1914)

VIII. Die politischen Schriften

IX. Die Wirkungen von Mauss

X. Literatur

Schriften von Marcel Mauss

Auswahlbibliografie und Sekundärliteratur

Zeittafel

Register

Vorwort zur 2. Auflage

Das internationale Interesse an Leben, Werk und Wirkung von Marcel Mauss hat in den letzten Jahren weiter zugenommen. Bücher zur französischen Soziologie würdigen zunehmend seine eigenständige Rolle für die Durkheim-Schule und die französische Soziologie insgesamt (HEILBRON 2015). Insbesondere in Frankreich sind neuere Forschungen zu Mauss’ gesamtem Werk, seinem akademischen Umfeld und Werdegang erschienen. So wurde zum Beispiel erst vor Kurzem die Korrespondenz der beiden »Arbeitszwillinge« (MAUSS 2006: 352) und Freunde, Marcel Mauss und Henri Hubert, veröffentlicht (BENTHIEN/LABAUNE/LORRE 2021), die beide mit Robert Hertz und Stefan Czarnowski die Religionssoziologie der Durkheim-Schule maßgeblich vorantrieben (BERT 2012a). Zu der immer noch unübertroffenen Biografie von Marcel Fournier (1994) ist beispielsweise eine Analyse der Wissenspraktiken von Mauss hinzugekommen, die den von ihm initiierten praxistheoretischen Ansatz (vgl. MOEBIUS 2009) wissenschaftssoziologisch auf ihren Begründer selbst anwendet (BERT 2012b).

Obgleich die deutschsprachige Rezeption von Mauss bereits zu seinen Lebzeiten begann (MOEBIUS/NUNGESSER 2014), hat sich das Bild eines eigenständigen soziologischen Denkens von Mauss insbesondere im deutschsprachigen Raum immer noch nicht gänzlich durchgesetzt, wie ein Blick in unterschiedliche Einführungs- und Überblickswerke zur Soziologie aus dem deutschen Sprachraum zeigt. Dort steht er weiterhin im Schatten seines Onkels Émile Durkheim. Zudem wird er meist nur im Rahmen der von ihm analysierten Gabe behandelt. Dass er, wie auch die vorliegende Einführung zeigen möchte, zahlreiche intellektuelle Anregungen jenseits des Gabe-Theorems zu bieten hat, wird meist ausgeblendet.

Allerdings mehren sich zunehmend die Versuche, Mauss’ Bedeutung für die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften auch im deutschsprachigen Raum zu erschließen und hervorzuheben. Das hat sich – betrachtet man nur einmal die Schriften von Mauss selbst – neben der bereits seit einigen Jahrzehnten und in der Reihe Klassiker der Sozialwissenschaften wieder neu aufgelegten zweibändigen Textsammlung Soziologie und Anthropologie (MAUSS 2022) etwa in Editionen und Übersetzungen niedergeschlagen, die Mauss’ Schriften zur Religionssoziologie, zur Ethnografie, zum Geld oder zu Nation und Internationalismus für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich gemacht haben (MAUSS 2012, 2013, 2015, 2017). Besonders hervorzuheben – insbesondere im Kontext dieser Reihe zu den Klassikern der Wissenssoziologie – sind jüngere innovative Untersuchungen aus Deutschland, die die kulturvergleichende und -soziologische Erforschung von Denkkategorien im Rahmen der Durkheim-Schule in den Fokus rücken (SCHICK et al. 2015; SCHÜTTPELZ 2015; SCHICK/SCHMIDT/ZILLINGER 2022). Sie zeigen, dass die durkheimiens spätestens seit 1900 im Rahmen ihrer kultur- und sakralsoziologischen Forschungen eine genuine Wissenssoziologie betrieben, indem sie den sozialen Ursprüngen der Denkkategorien nachgingen und kulturvergleichende soziologische Analysen der philosophischen Kategorien des Denkens (Substanz, Quantität, Qualität, Zeit, Raum, Person, etc.) zum Zentrum ihrer Arbeiten machten. Auch sie lassen einen höchst eigenständig denkenden und transdisziplinären Mauss zum Vorschein kommen, der nicht nur zentrale Theoreme und Forschungen der Soziologie der Durkheim-Schule initiiert und weiterentwickelt hat, sondern der international sowohl für die damaligen als auch die aktuellen Sozial- und Kulturwissenschaften einen intellektuellen, universal-gelehrten und immer wieder neu zu bergenden Schatz zu bieten hat. Es ist erfreulich, dass in dieser Situation die Einführung von 2006 in Leben, Werk und Wirkung von Marcel Mauss nun in 2. Auflage aufgelegt werden kann. Sie erscheint in leicht überarbeiteter Form. Ich danke herzlich Herbert von Halem und seinem Verlag.

Graz, Oktober 2022

Stephan Moebius

Literatur

BERT, JEAN-FRANÇOIS

(2012a):

Marcel Mauss, Henri Hubert et la sociologie des religions. Penser et écrire à deux

. Paris: La Cause des Livre

BERT, JEAN-FRANÇOIS

(2012b):

L’Atelier de Marcel Mauss. Un anthropologue paradoxal

. Paris:

CNRS

Éditions

FARACO BENTHIEN, RAFAEL; LABAUNE, CHRISTOPHE; LORRE, CHRISTINE

(Hrsg.) (2021):

Henri Hubert et Marcel Mauss. Correspondance (1897-1927)

. Paris: Classiques Garnier

FOURNIER, MARCEL

(1994):

Marcel Mauss

. Paris: Fayard

HEILBRON, JOHAN

(2015):

French Sociology

. Ithaca: Cornell University Press

MAUSS, MARCEL

(2006): Mauss’ Werk von ihm selbst dargestellt (ca. 1930). In:

STEPHAN MOEBIUS; CHRSITIAN PAPILLOUD

(Hrsg.):

Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe

. Wiesbaden:

VS

, S. 345-359

MAUSS, MARCEL

(2012):

Schriften zur Religionssoziologie

. Herausgeben von Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud. Mit einem Nachwort von Stephan Moebius. Frankfurt/M.: Suhrkamp

MAUSS, MARCEL

(2013):

Handbuch der Ethnographie

. Herausgegeben von Iris Därmann und Kirsten Mahlke. München: Fink

MAUSS, MARCEL

(2015):

Schriften zum Geld. Herausgegeben von Hans Peter Hahn, Mario Schmidt und Emanuel Seitz

. Berlin: Suhrkamp

MAUSS, MARCEL

(2017):

Die Nation oder der Sinn fürs Soziale. Herausgegeben und mit einer Einführung von Jean Terrier und Marcel Fournier

. Frankfurt/M., New York: Campus

MAUSS, MARCEL

(2022):

Soziologie und Anthropologie

. 2 Bände. Neu herausgegeben und eingeleitet von Cécile Rol. Reihe Klassiker der Sozialwissenschaften (Klaus Lichtblau/Stephan Moebius). Wiesbaden:

VS

MOEBIUS, STEPHAN

(2009): Marcel Mauss und Pierre Bourdieu. In:

BOIKE REHBEIN; GERHARD FRÖHLICH

(Hrsg.):

Bourdieu-Handbuch

. Stuttgart: Metzler, S. 53-57

MOEBIUS, STEPHAN; NUNGESSER, FRITHJOF

(2014): Die deutschsprachige Mauss-Rezeption. In:

Trivium

, 17|2014,

URL

:

http://journals.openedition.org/trivium/4911

;

DOI

:

https://doi.org/10.4000/trivium.4911

SCHICK, JOHANNES; SCHMIDT, MARIO; SCHÜTTPELZ, ERHARD; ZILLINGER, MARTIN

(2015): Werkstatt: Unbekannte Monde am Firmament der Vernunft. In:

Zeitschrift für Kulturwissenschaften »Begeisterung und Blasphemie

«, Band 9, Nr. 2, 2015. Bielefeld: Transcript, S. 233-259

SCHICK, JOHANNES; SCHMIDT, MARIO; ZILLINGER, MARTIN

(Hrsg.) (2022):

The Social Origins of Social Thought. Durkheim, Mauss, and the Category Project

. New York/Oxford: Berghahn

SCHÜTTPELZ, ERHARD

(2015): Das Kategorienprojekt. In:

Zeitschrift für Kulturwissenschaften

, Band 9, Nr. 2, 2015, S. 239-242

I. Einleitung

»Wer Mauss verstehen will, muß seine gesamte Gedankenwelt nachvollziehen.« (DUMONT 1991: 209)

»Kaum eine Lehre ist so esoterisch geblieben und kaum eine hat zugleich einen so tiefen Einfluss ausgeübt wie die von Marcel Mauss«, urteilt der Mauss-Schüler Claude Lévi-Strauss. Man könne Mauss nicht lesen, »ohne die ganze Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfaßt den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewißheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein« (LÉVISTRAUSS 1999: 26).

Die hierzulande vielfach festzustellende Unbekanntheit des Mauss’schen Werks steht in einem diametral entgegen gesetzten Verhältnis zu den Wirkungen seines Denkens auf die Sozial- und Geisteswissenschaften. Mauss selbst ist zutiefst von seinem Onkel Émile Durkheim geprägt, dem ersten Inhaber eines sozialwissenschaftlichen Lehrstuhls in Frankreich. Der Neffe ist aber nicht nur einfacher Epigone Durkheims, sondern entwickelt eigenständige Forschungsperspektiven auf das Soziale. Nach Durkheims Tod im Jahre 1917 avanciert er zum führenden Kopf der französischen Soziologie bzw. der ›Durkheim-Schule‹. Darüber hinaus ist Mauss der treibende Motor für die Begründung und Entwicklung der französischen Ethnologie (vgl. PETERMANN 2004: 815).

Mauss sait tout! – Mauss weiß alles, sagt man sich unter den Pariser Studierenden. Er beherrscht über ein Dutzend moderne und alte Sprachen (vgl. LÉVY-BRUHL 1950: 318). »Das Geheimnis seiner Popularität unter uns Hörern und Schülern liegt wahrscheinlich darin, daß bei ihm im Unterschied zu so vielen akademischen Lehrern Erkennen nicht ein von anderen abgetrennter Betätigungsbereich war: Sein Leben war Erkennen geworden und sein Erkennen Leben, deshalb konnte er – jedenfalls auf einige – einen so großen Einfluß ausüben wie ein religiöser Lehrer oder ein Philosoph«, so Louis Dumont (1991: 197), einer von Mauss’ Schülern.

Der Einfluss auf seine Schüler ist seiner großen Gelehrsamkeit sowie der besonderen Aufmerksamkeit, die er für sie aufbringt, geschuldet. Mauss ist kein unnahbarer Professor, den es nach dem Seminar sofort ins abgeschiedene Büro zieht, sondern er trifft sich mit seinen Studierenden, diskutiert mit ihnen, fühlt sich in sie ein und hat für alles und jeden ein offenes Ohr (vgl. LEENHARDT 1951: 23).

»Man ging am Ende einer Unterrichtsstunde zu ihm, und er verließ einen zwei Stunden später am anderen Ende von Paris. Die ganze Zeit über hatte er im Gehen gesprochen, und es war, also ob einem die Geheimnisse ferner Rassen, ein Stück der Archive der Menschheit von einem Kundigen in Form einer einfachen Unterhaltung enthüllt worden wären. Denn er hatte die Welt durchreist, ohne seinen Sessel zu verlassen, sich durch die Bücher mit den Menschen identifizierend. So hörte man von ihm häufig Sätze wie: ich esse… ich verfluche… ich fühle…, und er meinte damit je nachdem: der Melanesier auf der und der Insel ißt, der Maorihäuptling verflucht oder der Puebloindianer fühlt… Wenn Mauss – wie wir zu sagen pflegten – alles wusste, so führte ihn das nicht zu komplizierten Erklärungen.« (DUMONT 1991: 198)

Mauss versteht es, Brücken zwischen sich und den Studierenden, zwischen seinem Onkel und dessen Schülern sowie zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen selbst zu bauen. Er bewegt sich über die Fächergrenzen hinweg und sucht den »totalen Menschen« (SA 2: 203; KARSENTI 1997). Hierzu verknüpft er die Soziologie mit der Psychologie, der Geschichte, der politischen Ökonomie, der Religionswissenschaft, der Philosophie und der Ethnologie. Trotz der ungeheuren Bandbreite seines Wissens und der Vielfalt seines Denkens lässt sich bei ihm eine Einheit entdecken: Seine Schriften kreisen stets um das Soziale, den »homme total« und das »soziale Totalphänomen« (vgl. SA 2: 203; TAROT 2003: 5ff.). »Im Großen und Ganzen habe ich das einzige Ziel des Faches, dem ich mich verschrieben habe, nie aus den Augen verloren: Durch den unmittelbaren und präzisesten Kontakt mit den Tatsachen die Rolle des sozialen Lebens im menschlichen Leben zu zeigen und genau zu bestimmen«, so Mauss (2006a: 358f.) über sich selbst. »Man muss das Unbekannte enthüllen«, pflegt er zu sagen. Bei dieser »Enthüllung« legt er größten Wert auf empirische Forschungen. Nur mit Hilfe empirischer Daten sei die Soziologie zu Fortschritten fähig. Das bedeutet nicht, dass Mauss kein Theoretiker oder ein bloßer Empirist ist. Er ist beides: zugleich Empiriker und Theoretiker, »Rationalist und Empirist« (FOURNIER 1994: 15). Er ist der Meinung, dass jede Theorie einer empirischen Sättigung bedarf: »Ich erkenne selbst dann die höhere Gewissheit der deskriptiven Wissenschaften im Vergleich zu den theoretischen Wissenschaften (im Falle von sehr komplexen Phänomenen) an, wenn ich eine theoretische Wissenschaft praktiziere« (MAUSS 2006a: 345).

Betrachtet man Mauss’ größere Forschungsarbeiten, so fällt auf, dass sie in vielen Fällen und vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Gemeinschaftsproduktionen sind, sei es, dass er sie mit seinem Onkel, seinem sogenannten ›Arbeitszwilling‹ Henri Hubert, mit Paul Fauconnet oder beispielsweise zusammen mit seinem Schüler Henri Beuchat verfasste (vgl. Abschnitt II).

Mauss versteht sich selbst als ein Teil eines größeren Unternehmens. Nur aufgrund der (übrigens von Durkheim selbst erforschten) Dimensionen kollektiver Kooperation, Arbeitsteilung und Solidarität unter den Mitarbeitern konnte die Position der Durkheim’schen Soziologie als zentrale Disziplin im wissenschaftlichen Feld Frankreichs ausgebaut werden. Die Mitarbeiter Durkheims, speziell Mauss, sind sich dieser Tatsache vollkommen bewusst (vgl. MAUSS 2006a: 346).

Nach dem Krieg, als Durkheim und die meisten seiner Mitarbeiter tot sind, verwendet Mauss seine ganze Zeit und Kraft darauf, ihre Schriften zu publizieren und für die Nachwelt zu erhalten. Er avanciert in der Zwischenkriegszeit zur treibenden Kraft der Soziologie und der Ethnologie. Er baut die Durkheim-Schule aus und konsolidiert sie im wissenschaftlichen Feld (vgl. Abschnitt III). Kaum wahrnehmbar und ohne dem Ansehen Durkheims zu schaden, verändert er sie aber auch von Innen her, indem er beispielsweise einen neuen Dialog mit den Psychologen eröffnet oder 1925 die französische Ethnologie begründet (vgl. FOURNIER 1994: 14f.; BERTHOUD 1996: 14f.; MARCEL 2001: 56).

Die Konsolidierung der Durkheim-Schule geht in der Zwischenkriegszeit mit Veränderungen der Durkheim’schen Soziologie und mit der Entwicklung der Ethnologie einher. 1925 ruft Mauss zusammen mit Paul Rivet und Lucien Lévy-Bruhl das Institut d’ethnologie ins Leben. Spätestens seitdem sind Soziologie und Ethnologie im sozialwissenschaftlichen Feld in Frankreich jahrzehntelang nicht mehr zu trennen.

Was macht diesen Erfolg von Mauss aus? Der Mauss-Experte Pierre Centlivres beantwortet diese Frage folgendermaßen: »Er hat während fast eines halben Jahrhunderts die Sozialwissenschaft in Frankreich beherrscht und stimuliert, weil er die Vorzüge der Vertreter dieser Wissenschaft verkörperte: eine traditionelle philosophische und humanistische Ausbildung und eine tiefe Verbundenheit mit den Normen und Bedeutungen anderer Kulturen« (CENTLIVRES 1990: 171).

Neben seiner wissenschaftlichen Karriere engagiert sich Mauss auch politisch (vgl. Abschnitt I und VII). Der erste politische Beitrag, L’Action socialiste, erscheint 1899 in der Le Mouvement socialiste (EP: 72-82). Seine politischen Schriften und sein Engagement sind jedoch in Deutschland kaum bekannt, dabei gehören politische und wissenschaftliche Tätigkeit bei ihm wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Wie Durkheim ist er ein Freund und enger Vertrauter des Reformsozialisten Jean Jaurès. Mauss selbst sagt, seine größten Einflüsse seien Durkheim, sein »zweiter Onkel« Sylvain Lévi und Jaurès (vgl. Abschnitt VI). Mauss ist Mitglied der Sozialistischen Partei, Mitbegründer der Zeitung L’Humanité und tritt für einen genossenschaftlichen Sozialismus ein (vgl. FOURNIER 1997). Bei politischen Versammlungen bezeichnet man ihn als ›Citoyen Mauss‹. Nahezu alle Durkheim-Schüler setzen sich in der ›Dreyfus-Affäre‹ für den zu Unrecht wegen Hochverrats verurteilten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus ein und verteidigen die Dritte Republik gegen Antisemiten und rechte Nationalisten (vgl. BESNARD 1981: 278; GÜLICH 1991: 118; CHARLE 1994).

Dieses Engagement für die Republik prägt das gesamte politische Denken von Mauss. Er ist jedoch sehr darauf bedacht, wissenschaftliches und politisches Werk zu trennen,1 vor allem in seiner Lehre. Wie für den deutschen Soziologen Max Weber, den Mauss übrigens einmal in Heidelberg besucht hat (vgl. TIRYAKIAN 1966: 332), gehört für ihn die Politik nicht in den Hörsaal.

Eine rigorose Trennung zwischen Wissenschaft und Politik ist jedoch schwierig und die Grenzlinien sind auch für Mauss schwer zu ziehen (vgl. FOURNIER 1997: 8): Ist es nicht selbst ein politischer Akt von Mauss, während der politischen Debatten um den Laizismus, also die Forderung nach einer Trennung zwischen Kirche und Staat, die Religion zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt zu erheben? Oder entgegen der öffentlichen und weit verbreiteten wissenschaftlichen Meinung vehement darauf zu bestehen, es gebe keine ›nicht-zivilisierten‹ Völker, sondern nur unterschiedliche Zivilisationen?

Einige Zeitgenossen, wie Charles Andler, der Begründer der modernen französischen Germanistik, meinen, Mauss sei besser mit sozialwissenschaftlichem Handwerkszeug ausgerüstet (bessere Kenntnisse in Sprachen, Ethnografie, Museografie und maßlose Opferbereitschaft) und hätte seine Arbeit besser gemacht als Durkheim selbst.2 Ungeachtet solcher Meinungen und trotz der Leistungen, die Mauss für die Konsolidierung der Soziologie und die Entstehung der professionellen Ethnologie in Frankreich vollbracht hat, bleibt er im wissenschaftlichen Diskurs umstritten (vgl. dazu RARADY 1968: IX; BERTHOUD 1996: 11ff.): Man wirft ihm vor, dass er kein theoretisches System errichtet habe, seine Arbeiten inkohärent seien und er im Ganzen gesehen nur fragmentarisch gebliebene Beiträge verfasst habe. Hat er überhaupt jemals ein Buch geschrieben? Verfasste er, worauf seine Beitragstitel von selbst verweisen, nicht immer nur ›Essays‹, ›Entwürfe‹, ›Rezensionen‹ oder ›Bemerkungen‹? Und sein Lehrbuch der Ethnographie (ME), durch das die Entwicklung der Ethnologie als empirische Wissenschaft maßgeblich vorangetrieben wurde, hat er nicht selbst geschrieben, sondern es besteht aus einem von Schülern nachträglich zusammengestellten Vorlesungsskript. Zu alledem, sagen die Ethnologen, hat er sich nie dem ethnologischen Initiationsritus unterzogen: Mauss war selbst nie »im Feld« – von einer Marokko-Reise einmal abgesehen (MAUSS 1980: 7ff.).

War Mauss in seinen letzten Jahren überhaupt noch Wissenschaftler? War er nicht vielmehr ein fantasievoller Literat? Mauss erste Arbeit ist eine Buchbesprechung, es folgen hunderte davon. Sind seine größeren Studien nicht ebenfalls ›nur‹ Literaturberichte? Warum hat er keine Monografie geschrieben? Warum hat Mauss seine Doktorarbeit nicht beendet? Was hinderte ihn daran? Ist er ein Faulenzer, ein Lebemann, ein Wirrkopf oder gar ein Träumer, wie Durkheim (1998: 45, 101) zuweilen vermutet?3 In einem Brief an seine Mutter schreibt Mauss, er sei so wenig wie möglich für ein intellektuelles Leben geschaffen (FOURNIER 1994: 150). Und wie ist es mit seinem Werk? Ist es nicht nur fragmentarisch und teilweise unvollendet geblieben? Er selbst sagt: »Ich lege nicht viel Wert auf wissenschaftliche Systeme, und ich habe kein anderes Bedürfnis, als nur partielle Wahrheiten auszudrücken. Doch es [das Werk, S.M.] zeigt eine kontinuierliche Tendenz, die nicht ohne materielle Kontinuität ist. Eine Verbindung existiert zwischen diesen lückenhaften Elementen.« (MAUSS 2006a: 349)

Mauss hat nach Dumont (1991: 196) gar kein Bedürfnis, ein theoretisches System zu entwickeln, das habe ja schon Durkheim getan. Er hat zu viele Ideen, als dass er sie vollständig ausarbeiten könne (vgl. DUMONT 1991: 200). Es gelte für Mauss vielmehr, das von Durkheim entwickelte theoretische System mit empirischen Tatsachen zu füllen. Diese Einschätzung Dumonts bestätigt Mauss in einem Gespräch mit Earle Edward Eubank: »Mein Hauptinteresse ist keineswegs, ein großes theoretisches System zu entwickeln, das das ganze Gebiet abdecken würde, – das ist sowieso eine unlösbare Aufgabe, – sondern mir geht es darum, ein wenig von den Dimensionen des Forschungsfeldes aufzuzeigen, von dem wir bis jetzt allenfalls den Rand berührt haben. Wir wissen nur ganz wenig, ein wenig hier und ein wenig da, – das ist alles« (Mauss in RAESLER 1985: 154).

Kann man nicht dennoch etwas Systematisches bei Mauss ausmachen? Vielleicht sein Denken des Symbolismus (vgl. Abschnitt V)? Ist es nicht Mauss, der die Linguistik und das Symbolische in die Sozialwissenschaften eingeführt und das symbolische Denken zur ersten Form menschlichen Denkens erhoben hat (Œ 3: 3024)? Hat nicht bereits Mauss gesehen, dass Handlung und Struktur irreduzibel zusammengehören und nicht das eine zugunsten des anderen vernachlässigt werden darf (vgl. Œ 3: 229)? Und sind seine eigenen Forschungen nicht deshalb vielfach unvollendet, weil er den Nachlass von Durkheim und die Schriften seiner Freunde zur Veröffentlichung brachte? Fragen, die es im Folgenden zu prüfen gilt.

Ungeachtet der genannten Kritiken ist festzuhalten, dass Mauss’ Werke sowohl vergangene als auch aktuelle Theoriebildungen und Forschungen erheblich beeinflussen.5 Wie und durch welche empirischen Forschungen und theoretischen Überlegungen prägt Mauss große Teile des gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Denkens in Frankreich? Wo lassen sich diese Einflüsse ausmachen? Auch wenn Mauss nie ›im Feld‹ war, so kannte er durch seine »Ethnographie von Ethnographien« (RITTER 1999: 198) alle ethnologischen Arbeiten seiner Zeit und bestimmte die gesamte französische Ethnologie. Der Erfolg seiner Schüler erfüllte ihn mit Stolz: Am Ende seines Lebens wollte Mauss nach eigenem Bekunden selbst Schüler seiner Schüler werden.

Es finden sich explizite Bezugnahmen bei Claude Lévi-Strauss, der Mauss aufgrund des Symbolismus (vgl. Abschnitt V) zum Vater des sozialwissenschaftlichen Strukturalismus erklärt (vgl. DOSSE 1999: 55); die Rezeption erstreckt sich auch auf das Ende der 30er-Jahre von Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois ins Leben gerufene Collège de Sociologie (vgl. MOEBIUS 2006a) und reicht bis hin zur Soziologie von Pierre Bourdieu und Jean Baudrillard, zur Ethnologie von Maurice Godelier und Marshall Sahlins sowie zur dekonstruktivistischen Philosophie von Jacques Derrida (vgl. MOEBIUS/WETZEL 2005). Darüber hinaus existiert in Frankreich seit 1980 die M.A.U.S.S.-Bewegung,6 die sich um die Revue du M.A.U.S.S. gruppiert. Die Mitglieder der Bewegung und die Autoren der Zeitschrift entwickeln Mauss’ Denken auf unterschiedliche Weise weiter und beleben die Diskussionen um ihn wieder neu. Ähnlich wie das Collège de Sociologie verweisen sie insbesondere auf die von ihm erforschten nicht-utilitaristischen Handlungsdimensionen. Aufgrund ihres tatkräftigen Engagements bezeichnet man die Mitglieder von M.A.U.S.S. mittlerweile auch als Mauss’sche Musketiere: als ›Maussquetaires‹.

Der Begründer dieser anti-utilitaristischen Bewegung in den Sozialwissenschaften, Alain Caillé, hält Mauss für den bedeutendsten Klassiker der Soziologie. Denn Mauss habe ein ›drittes Paradigma‹ begründet: das ›Paradigma der Gabe‹, das es neben dem methodologischen Individualismus, der das Soziale lediglich auf die Einzelhandlungen und Kosten-Nutzen-Kalküle der Individuen zurückführt, und dem Paradigma des Holismus, der die Individuen bloß als determinierte Subjekte und funktionelle Teile eines übergeordneten Ganzen begreift, in den Sozialwissenschaften anzuerkennen gilt:

»Wir haben fünfzehn Jahre lang im Schatten des Namens von Mauss geforscht […] und im Laufe dieser Jahre haben wir das Gefühl gehabt, bei ihm wie zufällig, wie durch ein Wunder die Fragen und Antworten gefunden oder wieder gefunden zu haben, die sich in uns auf anderen Wegen als bei ihm gebildet haben; wir sind nun langsam davon überzeugt, dass das Werk von Marcel Mauss zumindest wegen seiner Inhaltsreiche, wenn nicht gar wegen seiner Leistung und seines systematischen Umfangs auf die höchste Stufe des Podiums der Sozialwissenschaften, mit Durkheim oder Weber gleichstehend, wenn nicht gar vor sie gestellt werden sollte.« (CAILLÉ 2006: 163)

Selbst wenn man in Mauss’ Gabe-Theorem kein ausgefeiltes ›drittes Paradigma‹ erkennen kann, so steht doch außer Zweifel, dass sich eine intensive Beschäftigung mit Mauss lohnt. Wie man sieht, wird Mauss einerseits gefeiert, aber andererseits sind seine Schriften kaum bekannt oder systematisch erforscht worden. Es gibt darum mehrere Gründe, die eine Einführung zu Mauss legitimieren: Ein detaillierter Blick in sein Leben und Werk ist erstens nicht nur aufgrund seiner zentralen Rolle für die Durkheim-Schule oder zweitens wegen seiner breit gefächerten Wirkungen besonders interessant, sondern auch drittens wegen seiner den Wirkungen diametral entgegen gesetzten Unbekanntheit in Deutschland, wo man allenfalls den Essay über die Gabe kennt. Ein weiterer Grund liegt viertens in Mauss’ zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Soziologie, der Religionswissenschaften und der Ethnologie. Darüber hinaus hält sein Denken, fünftens, neue Impulse für eine gegenwärtige Gesellschaftsanalyse bereit, die in den aktuellen soziologischen Diskursen allzu häufig ausgeblendet oder überhaupt nicht wahrgenommen werden.

Ausgehend von der systematischen Methodologie soziologiegeschichtlicher Forschung von Lothar Peter (vgl. PETER 2001a; MOEBIUS 2004, 2006a) soll im Folgenden zwischen sozialen, kognitiven und wirkungsgeschichtlichen Dimensionen unterschieden werden. Dementsprechend untersuchen die Abschnitte I-III die sozialen Dimensionen, sie behandeln die Biografie von Mauss, sein wissenschaftliches Milieu sowie seinen Beitrag zur Institutionalisierung und Konsolidierung der Durkheim-Schule. Die Analyse der kognitiven Dimensionen in den Abschnitten IV-VII widmet sich den Hauptaspekten und zentralen Thematiken von Mauss’ Werk, den prägenden Einflüssen sowie den politischen Schriften. Abgeschlossen wird die Einführung mit einer knappen Darstellung der wirkungsgeschichtlichen Dimensionen des Denkens von Marcel Mauss.

Unterschrift von Marcel Mauss

(aus einem Brief an René König, 3. Mai 1932, Stadtarchiv Köln)

1 Dennoch lässt es sich Mauss nicht nehmen, am Ende seines berühmten Essay über die Gabe praktische politische Konsequenzen für die moderne Gesellschaft aus seiner Untersuchung zu ziehen.

2CHARLES ANDLER: Proposition en vue de la création d’une chaire de sociologie au Collège de France, Bericht vom 15. Juni 1930 auf der Professorenversammlung, 1925-1934, Archiv des Collège de France, G 11-13.

3 In einem Brief vom Januar 1898 schreibt Durkheim: »Willst du endlich einmal meinen Anweisungen folgen!«

4 »La pensée humaine est passée d’une représentation toute symbolique et empirique à la demonstration, à la géométrie et à experience raisonnée. Toute connaissance repose d’abord sur l’autorité du symbole seulement.« (Œ 3: 302)

5 In der 1968 publizierten Sociologie de Marcel Mauss schreibt Jean Cazeneuve: »Wenn sich die wahre Rolle eines Wissenschaftlers nach seinen geistigen Erben bemisst, dann kommt die von Anhieb zugleich außergewöhnliche und paradoxe Stellung, die Marcel Mauss – (1872-1950) – in der Soziologie des 20. Jahrhunderts einnimmt, zum Vorschein.« (CAZENEUVE 1968b: 1)

6 ›M.A.U.S. S.‹ steht für Mouvement Anti-Utilitariste en Sciences Sociales, Initiatoren waren Alain Caillé und Gérald Berthoud.

II. Marcel Mauss: Ein Leben als Wissenschaftler und engagierter Intellektueller

Mauss ist sowohl Wissenschaftler als auch politisch aktiver Sozialist. Beides, Soziologie und Sozialismus, gehören bei ihm wie zwei Seiten einer Medaille zusammen.7 Sein Leben kann man in vier Abschnitte unterteilen (vgl. FOURNIER 1994): Die erste Periode umfasst seine Erziehung, sein Studium, seine ersten politischen Aktivitäten und Publikationen. Zur zweiten Periode zählen seine Arbeit im Team der Zeitschrift L’Année sociologique, sein politisches Engagement in der Dreyfus-Affäre, die Entwicklung eines eigenen Forschungsprogramms, der Tod von Mauss’ Freund Robert Hertz und der seines Onkels Émile Durkheim. Die Entstehung der französischen Soziologie vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist untrennbar mit Durkheim und Mauss sowie mit ihrer engen und manchmal schwierigen Beziehung verbunden (vgl. BESNARD/FOURNIER 1998: 1). Die dritte Periode ist bestimmt durch Mauss’ Bemühungen zur Konsolidierung der Durkheim-Schule in der Zwischenkriegszeit, der Verwaltung des ›Erbes‹ von Durkheim und der im Krieg gefallenen Mitarbeiter, der Begründung der französischen Ethnologie sowie der Entwicklung des berühmten Gabe-Theorems. Die allgemeine Anerkennung, die Mauss im wissenschaftlichen Feld erfährt, charakterisiert den vierten Lebensabschnitt. Der Höhepunkt seiner Karriere ist zweifelsohne die Wahl ans renommierte Collège de France im Jahr 1930.

Marcel Mauss wird am 10. Mai 1872 in der im Moseltal gelegenen Stadt Épinal (Vogesen) geboren. Seine Mutter Rosine (1848-1930) ist die älteste Schwester von Émile Durkheim, der ebenfalls in Épinal geboren wurde (am 15. April 1858) und sechzehn Jahre älter ist als sein Neffe. Die erste Periode in Mauss’ Leben ist selbst ein ›fait social‹, ein sozialer Tatbestand (vgl. TAROT 2003: 7): Wie in matrilinearen Gesellschaften wird der Onkel mütterlicherseits die Erzieher- und Vaterrolle einnehmen. Eine Beziehung, die für beide nicht immer ganz einfach ist. Sein leiblicher Vater, Gerson Mauss (1834-1896), ist Händler in der Textilbranche und leitet zusammen mit Rosine eine kleine Handstickereifabrik, das Familienunternehmen Mauss-Durkheim. Das Unternehmen läuft nicht immer gut: Mauss’ Mutter ist stets von Sorgen geplagt, vor allem bedauert sie, dass man den Arbeiterinnen nicht einen höheren Lohn zahlen könne (FOURNIER 1994: 29). Die erste Politisierung von Mauss findet zu Hause statt: Er beginnt, sich zunehmend für die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie für die Genossenschaftsbewegung zu interessieren (vgl. FOURNIER 1994: 28ff.).

Die Familie hat eine starke jüdische Tradition und bringt seit acht Generationen Rabbiner hervor (vgl. FILLOUX 1977: 8; BESNARD/FOURNIER 1998: 5). Durkheims Vater Moïse war Oberrabbi in den Vogesen und hätte es gern gesehen, wenn Émile den gleichen Weg eingeschlagen hätte. Die Heimat der Familie, das von Mauss geliebte Elsass-Lothringen, hat zu dieser Zeit den größten Anteil an französischen Juden. Dennoch bilden sie inmitten einer mehrheitlich katholisch (aber auch protestantisch) geprägten Region eine Minderheit. Antisemitismus ist hier an der Tagesordnung. Im Gegensatz zu ihrem Bruder Émile ist Rosine sehr religiös, besucht regelmäßig die Synagoge und besteht auf eine religiöse Erziehung von Marcel und dessen vier Jahre jüngerem Bruder Henri (1876-1966). Henri wird später das Unternehmen der Eltern übernehmen. Die Kenntnisse über das Judentum und der Hebräischunterricht prägen Marcel Mauss (vgl. LINDENBERG 1996). In seinen späteren Arbeiten, insbesondere zum Opfer und zum Gebet, wird er auf sie zurückgreifen. Er selbst ist allerdings nicht religiös. Seinen zweiten Vornamen Israël wird er niemals verwenden. Zwar respektiert er die jüdischen Regeln, empfindet aber deren Ausübung in der Familie als zu »pedantisch«: Die Frömmigkeitsbekundungen seien zu übermäßig und die koscheren Essensregeln zu streng (vgl. FOURNIER 2006: 23). Mauss wird zum Grenzgänger (vgl. TAROT 2003: 8), zunächst zwischen Tradition und Moderne, dann zwischen den Fachdisziplinen und den Kulturen.