Maremma - Anna Maria Stadler - E-Book

Maremma E-Book

Anna Maria Stadler

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Beschreibung

Sie sind jung, aber erwachsen, kennen einander seit ihrer Kindheit. Sie sind zusammen groß geworden, haben inzwischen aber ihre eigenen Leben, eine von ihnen sogar ein Kind. Die Entfernung zwischen ihnen wächst, trotzdem verbringen sie wie jeden Sommer ein paar Tage am Wasser. In einer Woche auf einem Campingplatz in der Maremma, einem sumpfigen Küstenstreifen in Mittelitalien, einer Landschaft am Rand der Wildnis zwischen Meer und Land, in der alles sich ständig zu verändern scheint, beobachtet Esther, wie die Dinge nach und nach in Bewegung geraten. Im Hinterland sind die Spuren der Erdbebenkatastrophe noch sichtbar, aber auch hier, vor ihren Augen, in einer Gegenwart der Zeitenwende, wird der feste Boden der Gewissheiten brüchig, lösen sich Bindungen, verschieben sich Ordnungen, sinkt alles langsam zurück in Unentwirrbares.Mit feinem Sensorium für kleinste Bewegungen, Farben, Gerüche und Stimmungen macht dieser Roman mit emotionaler Wucht die Bedrohungen spürbar, die sich zum Lebensgefühl einer ganzen Generation verdichten.

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© 2022 Jung und Jung, Salzburg

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,

Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten

Umschlagbild: © plainpicture/Beatrice Jansen

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

ISBN 978-3-99027-189-6

ANNA MARIA STADLER

Maremma

Roman

INHALT

Tag 1: FLUTE MARKS

Tag 2: MUDCRACKS

Tag 3: FLASER BED

Tag 4: CLASTIC DIKE

Tag 5: LOAD CASTS

Tag 6: ANTIDUNES

NACHBILDER

Nachzeichnen

Tag 1 FLUTE MARKS

Es wird heute nicht hell. Obwohl es noch früh sein muss, sieht es schon nach Dämmerung aus. Seit dem Aufwachen liegen wir hier. Nichts hat sich verändert. Ich schaue auf die leicht gebräunte Haut meiner Beine, drehe sie in dem dumpfen Licht, bemerke vereinzelte Haare, die ich beim hastigen Rasieren übersehen habe. Schaue an den Wachstumsstreifen entlang, die sich an der Innenseite der Oberschenkel als helle Linien durch die Haut ziehen. Wie Holzwurmspuren durch einen Ast. Schaue auf die weiche Haut am Bauch, der nie ganz flach ist, selbst wenn ich sonst gerade überall am Körper dünn bin, weil es hier so heiß ist, dass mir der Hunger vergeht. Schaue auf die Sonnencremeflecken, die unregelmäßige Muster auf meiner Badehose hinterlassen haben. Schaue auf meine Unterarme, auf denen sich der Sonnenbrand ankündigt, den ich schon auf der Nase spüre.

Georg versucht neben mir seine langen Beine im Schatten des Sonnenschirms zu arrangieren. Er zieht sie an und lässt sie zur Seite kippen, um nach wenigen Sekunden wieder seine Position zu verändern. Die Abdrücke im festgetretenen Sand neben Georgs Beinen, ich frage mich, wovon sie stammen könnten. Was hier gelegen haben mag, das diese Abdrücke hinterlassen hat. Ich schaue mir die Konturen an und komme nicht dahinter. Es ist keine Form, die ich zuordnen kann, sodass ich, wie immer, wenn ich die Zusammenhänge nicht überblicke, die Ränder fokussiere. Ich schaue auf die weichen Formen im Sand und auf die Gebilde aus Algen und Gräsern dazwischen, welche die Strömung am Grund des Meeres und der Wind am Ufer bewegt. Manchmal bleibt eines in einer Düne hängen. So lange, bis ein Windstoß vom Meer her es weiterträgt. Im Rollen sammeln die trockenen Gebilde Weiteres auf, sodass aus Bewegung Form wird. Sie häufen sich und geraten in Ansammlungen verschieden großer Kugeln von ähnlicher Beschaffenheit aneinander. Ich nehme eine auf, die mir am nächsten liegt, und zerpflücke sie. Ihr Inneres aus dicht verwobenen Fäden. An einer Stelle wachsen aus den abgestorbenen Überresten des Meeres neue Gräser.

Ob jemand, fragt Pascal, mit ihm die Wildnis erkunden will. Dabei deutet er in die Richtung, wo sich der schmale Streifen Wald in unserem Rücken jenseits des kleinen Küstenortes zu einem Urwald verdichtet. Während die Pinien hinter uns in Abständen stehen, die groß genug sind, um ein Zelt aufschlagen zu können oder eine Hängematte von einem Baum zum nächsten zu spannen, scheinen die Bäume dort so dicht beieinander zu stehen, dass ich mir kein Durchkommen denken kann. Die matten Grüntöne legen sich übereinander. Zerrinnen zu einem blassen Bild, einer ausfransenden monochromen Fläche in vielen Nuancen. Die Farbe ist zufällig. Wann anders, sagen wir.

Ich höre ein Knacken hinter mir im Unterholz und wende mich um, wie man es bei einem solchen Geräusch macht. Schaue hinein in das dichte Gestrüpp, in den Pinienwald, der hinter uns beginnt, um weiter drüben zu einer unüberschaubaren Wildnis zu werden. Während am Uferstreifen zwischen Wald und Wasser noch ein paar Menschen auf ihren Handtüchern liegen, kann ich dort keinen Sandstreifen mehr erkennen und auch keine Badenden. Der Wald geht direkt ins Wasser über. An manchen Stellen mäandern schmale Fließgewässer zwischen dem Unterholz hervor, verlaufen sich im Meerwasser und bilden Tümpel, über denen die Moskitos hängen. Besonders abends gibt es hier Mücken in unüberschaubarer Menge. Sie sammeln sich und bilden eine dichte Decke, die gleichmäßig surrend über dem Wasser wabert. Einzelne brechen aus diesem Schwarm aus, der sich der Wasseroberfläche weder nähert noch sich davon entfernt. Brechen aus, um uns zu umkreisen. Sie landen an den Stellen unserer Haut, die wir ungeschützt lassen. Gestern Abend haben wir die Ärmel langgezogen und die Socken weit hinauf, doch die Moskitos, die sich von unseren wässrigen Mückenkerzen nicht abschrecken ließen, fanden die verwundbaren Stellen unserer Körper. Wir erschlagen sie auf der Haut, sobald wir ihr Saugen spüren, und schmale Spuren aus Fremd- und Eigenblut bleiben zurück. Nur Lea tötet nie eine. Sie verscheucht die Insekten mit einer Handbewegung, die einem Streicheln ähnelt. Auch jetzt sehe ich sie auf ihrem Handtuch neben mir, vertieft in ihr Buch, mit dem Handrücken eine Mücke von ihrem Oberschenkel wischen. Sie fliegt in einem kurzen Manöver an Leas Seite entlang, bevor sie sich ihrer Schulter nähert.

Ich denke mir das Waldstück dort unberührt von Menschen, stelle mir vor, wie sich die Hölzer in viele Richtungen verkeilen. Wie abends das Licht dumpf durch das Blätterdach sickert und die Stämme und Äste liegen, wie sie gefallen sind. Wieder höre ich ein Knacken hinter mir, drehe mich um. Ob das eines der Wildschweine ist, von denen sie uns am Campingplatz erzählt haben. Pascal spricht von der zunehmenden Wildschweinpopulation in Rom. Wie die Tiere dort in den Vororten an den Zufahrtsstraßen entlanglaufen, sich vom Müll an den Straßenrändern ernähren.

Lea liest uns aus ihrem Buch vor. Ich bleibe an der Stelle hängen, wo der Orgasmus als Vogelschwarm beschrieben wird. Ein Vogelschwarm, liest Lea, würde durch drei Prinzipien in Form gehalten. Erstens durch das gemeinsame Ziel. Zweitens durch den Wunsch zusammenzubleiben, und drittens durch das Vermeiden von Gefahren. So habe man in Versuchen festgestellt, je mehr Anteile des Bewusstseins auf das Abwehren von Hindernissen konzentriert seien, desto unwahrscheinlicher sei ein Orgasmus, und dass es andererseits die Wahrscheinlichkeit sehr erhöht, wenn man Menschen bei solchen Versuchen Socken anziehen lässt.

Ich sehe ihr beim Lesen zu. Lea, mit der ich in meiner Kindheit und Jugend so viel Zeit verbracht habe, dass ich sie manchmal nicht von mir selbst unterscheiden konnte und ihre Gedanken nicht von meinen, obwohl wir in vielem verschieden sind. In allem, wo ich sperrig und kantig bin, ist Lea sanft und weich, sodass sie jeder sofort gernhat. Besonders Kinder und Tiere, die ein Gespür für das Wesen der Menschen haben, sagt meine Mutter. Lea hat die salzigen Haare lose zusammengebunden und eine Kappe auf, weil ihre Haut sich auch schon rötet, und liegt auf eine Weise auf der Seite, die mir von ihr vertraut ist. Fast eingerollt, wie eine Katze beim Dösen am Nachmittag. Lea liest mit ruhiger Stimme, wie sie es tut, seit sie lesen kann. So wie sie in der Schule oft zum Lesen aufgerufen wurde, weil man ihr gerne zuhört, bitten wir sie auch jetzt noch manchmal darum, uns vorzulesen. Als sie weiterliest, drifte ich immer mehr davon, achte nur noch darauf, wie sich ihre Stimme und das Wasserrauschen überlagern.

Es liegt ein dichter Schleier über den bewaldeten Hügeln. Sie sehen weich aus. Der Nebel dünnt erst gegen Mittag aus und lässt die Bäume und das Gehölz wieder durchscheinen. Davor zerrinnt alles zu dunstigen Grüntönen, als würde man die Umgebung durch ein Moskitonetz betrachten. Wir rücken näher ans Wasser heran. Fügen uns ein neben den anderen, die hier schon den ganzen Tag auf ihren Handtüchern zwischen den Felsen oder unter ihren Schirmen liegen. Manche liegen am Rücken, sodass ihnen die Sonne direkt auf den Bauch scheint, mit einem Arm über dem Kopf, um das Licht abzuschirmen, andere sitzen aufrecht und essen Melone oder schauen aufs Wasser, auf die Landschaft, die ankernden Boote, die Badenden. Einige liegen auch seitlich, mit angezogenen Beinen, schlafend. Die Art, wie die anderen und auch wir hier liegen, scheint mir einer Ordnung zu folgen. Als hätte uns jemand platziert. So ähnlich, wie ich es in einer Performance vor ein paar Wochen erlebt habe. Wir sollten alle auf Liegen oder Isomatten Platz nehmen, die sich verteilt in einem abgedunkelten Raum befanden, und uns wurden getrocknete Tonstücke in die Hand gegeben. Zum Festhalten, sagte eine der Performerinnen dabei mit vagem Lächeln zu mir, als sie mir den ungebrannten Klumpen reichte und mich an einen Platz führte. Ich schloss die Finger um das raue Stück in meinen Händen. Jonathan war schon da, nicht weit entfernt. Er zwinkerte mir zu, als ich mich seitlich hinlegte, mir die Decke über die Knie zog. Ich schaute auf die grauen, weißen und pinken Objekte, die in verschiedenen Formen und Größen überall im Raum verstreut lagen. Sie waren mit einem weichen Flaum überzogen. Als die Tonspur lief und unter einem elektronischen Wabern eine Stimme sanft über soft touch nachzudenken begann, bewegten sich die Performenden von einem zum anderen. Sie berührten uns mit den felligen Handschuhen, die ihnen bis zur Schulter hinauf reichten, strichen an unseren Seiten entlang und legten uns die Objekte in die Kniekehlen oder an den Bauch. Eine Performerin setzte einen weichen Quader an mir an, und als ich mit dem Bein zurückwich, damit sie ihn neben mir ablegen konnte, verstand ich erst, dass es um die Berührung ging. Ich hielt mich ruhig, als sie das Ding erneut sanft an meinen Oberschenkel legte, bevor sie daran ein weiteres Objekt und noch eines ansetzte. Sie baute mit Verbindungsteilen an einer Kette, die von mir zur nächsten führte. Ich beobachtete das Anwachsen der Linien im Halbdunkel. Sah, wie manche wegzuckten, wenn ihnen ein Objekt an ihren Rücken oder Oberschenkel gelegt wurde, während andere wie Jonathan die Augen geschlossen hatten. Stillhielten. Wie wir alle hier am Strand, die wir gemeinsam an dem fortschreitenden Nachmittag unter der Sonne liegen, auch der Hund, hechelnd im Schatten am Waldrand, die Eidechsen, die sich auf den Steinen sonnen, und die Krebse, die zwischen den Felsen verharren, wie wir alle durch eine unsichtbare flaumige Verbindung zueinander in Beziehung gesetzt sind. Verbunden zu einem einzigen felligen Organismus. Der Sand unter dem Hundemaul färbt sich dunkel.

Ein Schnauben im Wald. Habt ihr das gehört, ich setze mich auf. Lea sieht nicht von ihrem Buch auf, Georg ist eingeschlafen und Pascal schüttelt den Kopf. Er hat seinen Laptop auf den Knien abgestellt und beugt sich darüber, um in der Helligkeit etwas erkennen zu können. Ich kann seitlich in das offene Gehäuse des Laptops sehen. Sein Summen und Rattern sind deutlich zu hören, aber kaum zu unterscheiden von den Geräuschen hier. Ich stelle mir vor, wie sich der Sand zwischen den warmen Teilen des Laptops sammelt, der in der Sonne immer weiter aufheizt. Wie der Sand die Öffnung an der Seite füllt, aus der heraus das Kabel zu der externen Festplatte verläuft, die Pascal in dem Schatten abgelegt hat, den seine Beine werfen. Gleichzeitig schreibt er in seiner kleinen Schrift einen an den Ecken eingedrückten Collegeblock voll, mit Zeichen, von denen wir alle nichts wissen. Er nähert sich an etwas an, von dem wir nichts ahnen. Pascal mit angezogenen Beinen und dem Laptop darauf, mit einer Hose mit großem Loch im Knie und an anderen Stellen und einem T-Shirt, das er schon viele Tage anhat, mit unfrisierten Haaren und einem Stift im Mund, während er mit zugekniffenen Augen auf den Bildschirm schaut und dabei auf eine Weise summt, dass Ali durchdrehen würde. Aber Ali ist zu weit entfernt, ich sehe sie am Bauch in der nächsten Düne liegen. Nichts von dem, was zwischen ihr und Amira gesprochen wird, auch kein Geräusch des Kindes, dringt durch das Wasserrauschen herüber, sodass es ebenso gut möglich wäre, dass sie lautlos die Münder bewegen.

Das unablässige Klackern der Tastatur. Bei schönem Wetter sitzt Pascal am liebsten am Computer. Wenn wir früher versuchten, ihn zum Rausgehen zu bewegen, nickte er nur abwesend zu allem, was wir zu ihm sagten. Vergaß dabei aufs Essen. Pascal, du Kamel, sagte Lea zu ihm. Du isst, wenn du Zeit hast und sich dir etwas zum Essen anbietet, so viel du kannst, um dann einen ganzen Tag oder zwei nichts mehr zu brauchen. Bis du schließlich den Laptop wegstellst und wieder da bist. Etwas erleben oder mit jemandem sprechen willst. Manchmal hast du dann etwas geschafft, manchmal nicht, und häufig sagst du, du glaubst, du hast etwas geschafft, um dann am nächsten Tag, wenn du dich wieder dazu setzt, nach einer Weile zu bemerken, es ist dir doch nicht aufgegangen. Die Launen, mit denen du auftauchst, sind dementsprechend. Woran du arbeitest, fragen wir dich dann. Du erzählst uns von Visuals, die du baust, und verglitchten Bildern. Wenn du dann von der vernachlässigten Rolle der Intuition in diesem Prozess sprichst, geht es uns so, wie es uns jetzt öfter geht, wenn jemand von uns von der Arbeit spricht. Der Anteil in unseren Leben, von dem die anderen nichts verstehen, wird größer, und wenn du über deine Angst zu scheitern sprichst, musst du uns gegenüber, die wir ohnehin nicht daran glauben, keine Bedenken haben, weil wir dein Scheitern gar nicht feststellen könnten. Abweichungen würden wir nicht bemerken. Außerdem, was spricht schon gegen das Scheitern?

Wenn Pascal den Laptop zuklappt, weil ihm irgendwann nach vielen Stunden doch noch ein Bedürfnis einfällt, dann legt er die Notizen nachlässig neben sich und bemerkt es auch nicht, wenn sie auf den Boden rutschen. Er sammelt die Zettel nicht und bewahrt sie auch nicht auf. Sie liegen zuhauf zerdrückt auf seinem Schreibtisch oder stecken zerknittert in seinem Rucksack. Hat er einmal einen vollgeschrieben, sieht er ihn nicht wieder an. Ich beobachte, wie der Sand sich in den Rillen ablegt, während Pascals Finger schnell auf die Tastatur niedergehen. Stelle mir vor, wie die Zeichen, die er eingibt, die Landschaft generieren, die wir vor uns sehen. Er tippt einen Code, und zeitgleich taucht eine neue Welle am Horizont auf, die nach den Angaben seines Skriptes geformt ist. Als ich auf das Wasser hinausschaue, bemerke ich ein Flackern im Blau.

Ich weiß, von Pascal ist in der nächsten Stunde nichts zu erwarten, also drehe ich mich nach Amira um, die mit dem Kind in einem der Tümpel, wie sie sich hier am Ufer an manchen Stellen bilden, im seichten Wasser watet. In den Morgenstunden liegt ein Dunst über diesen flachen Gewässern und sumpfigen Lacken, in denen sich das Wasser aus dem Meer mit jenem der Bäche mischt. Unter den schwarzen Mückenteppichen entstehen Zwischenwesen, die weder im Meer noch in einem See überleben könnten. Ich stelle mir die Tiere vor, die dieses Wassergemisch hervorbringt. Hybridwesen, deren Fähigkeiten und Formen einem Dazwischen entsprechen. Experimente, die nur unter den Bedingungen hier lebensfähig sind, in einer Beschaffenheit, die teils dem einen, teils dem anderen entspricht. Auch wir befinden uns in einem Dazwischen. Keiner von uns ist noch richtig angekommen in den Bildern hier, halb zu Hause noch und schon halb anderswo. Es scheint, als gäbe es nichts zu reden. Zu besprechen ist nur, womit wir den Nachmittag und den Abend verbringen, was gegessen wird. Wenn ich aufs Meer schaue, sehe ich dahinter Land. Ich kann nicht sagen, welches es ist. Ob es Elba ist, wo wir vor Jahren im Halbschatten eines Pinienhains ebenso gelegen und herübergeschaut haben auf die Maremma.

Ich stehe auf und gehe zu Amira hinüber, die das Kind aus einer Lache hebt. Sie wischt ihm den Sand aus dem Gesicht, der sich um den Mund herum sammelt und am Speichel kleben bleibt. Das Kind hat sich von uns allen am schnellsten adaptiert, es wirkt hier schon ganz heimisch. Ali hat sich daneben auf ihr Handtuch in die Sonne gelegt, auf den Bauch gedreht, den Kopf auf ihren Arm gestützt. Ihre hellen, kurz rasierten Haare verbinde ich immer noch nicht mit ihr, sodass ich sie erst spät bemerke. Als wäre es eine Fremde, die hier liegt. Ihren Armen und Beinen sieht man die Klettertouren an, die sie jetzt häufig macht. Die Haut auf ihrem Rücken ist von der Sonne ledrig wie Krokodilhaut. Sie reagiert nicht, als ich an ihr vorbeigehe. Ich stelle mir vor, wie sie in einen Traum hinübergleitet. Alis Träume sind lebhaft und kompliziert. In ihnen treffen Menschen aus verschiedenen Phasen ihres Lebens aufeinander, und die Handlungen verlaufen verschachtelt. Ali muss in ihren Träumen viel erledigen, laufen, sich verstecken. Hört sich an, was ihr erzählt wird, und versucht zu durchschauen, was sich ihr zeigt. Ein Setting löst in abrupten Schnitten ein anderes ab. Ich stelle mir vor, wie Ali aus einem solchen Traum aufwacht und die Augen öffnet. Die braune Sandfläche erkennt. Wie die Traumbilder noch nachwirken. Wie sie erst langsam versteht, wo sie sich befindet und was es hier gibt. Was hier ist, das sie betrifft. Wie sie sich bewusst macht, was real ist und was nicht. Was in der Vergangenheit liegt und was sie auch hier beschäftigt. Ich sehe, wie Alis Rücken zuckt. Wie sie ihr Gewicht verlagert, ihren Kopf zur anderen Seite dreht. Ich frage mich, was es ist, das Ali nicht zur Ruhe kommen lässt. Was ihr bis hierher folgt. Weil es bei Ali immer viele Dinge sind, die sie beschäftigen. Ich stelle mir vor, wie sie langsam wieder in den Schlaf hinübergleitet und sich die Bilder von den Orten, an denen sie war, und jenen, an denen sie sein will, zu den Bildern in ihrem Traum umbauen. Sie durchläuft diese Bilder und begegnet dort allem, was sie zu Hause und überall sonst, heute und früher, beschäftigt. Die Orte und Zeiten rutschen ineinander, und Ali versucht sich zu orientieren. Sie und die anderen verschwimmen in ihren Träumen, sodass sie nicht mehr deutlich erkennen kann, welche ihre Bedürfnisse sind, als die Konturen der anderen ihre eigene Gestalt überlagern. Sie scheint im Halbschlaf das Brennen der Sonne auf ihrem Hinterkopf zu spüren, zieht sich einen Teil des Handtuchs schützend darüber.

Amira wischt dem Kind den Sand aus den Spalten, die sich zwischen der weichen Haut an den Beinen und am Bauch bilden. Seit sie Mutter ist, laufen Anreden häufig über das Kind, und die Blicke wandern zuerst zu dem Kind in ihren Armen. Was kannst du denn schon, heißt es, und Amira zählt seine Fähigkeiten auf. Wir greifen nach den Wangen und Beinen des Kindes, das fröhlich aussieht, und können es noch nicht glauben, dass jemand von uns nun ein Kind hat. Amira sieht müde aus, fällt mir auf, als ich in ihr Gesicht schaue. Während sie immer schmaler wird und ihre Knochen deutlich hervortreten, nimmt das Kind immer mehr an Volumen zu. Sie umschlingt es, und ihre langen Locken legen sich wie ein schützender Vorhang um sie beide.

Die Luft steht immer noch. Gewächse mit wachsartiger Oberfläche wuchern zwischen den Dünen. Es klingt hölzern, als ich mit meinen Fingern dagegen schlage. Ich breche eines der großen, flachen Blätter ab, falte es, sodass eine offene Bruchstelle entsteht, aus der ein glitschiges Sekret tritt. Ich tauche meinen Finger in die Paste und lasse das Blatt dann auf den Boden fallen, beobachte, wie andere draufsteigen und die transparente Flüssigkeit herausquillt. Manchmal mache ich gerne etwas kaputt, auch wenn es sich leicht vermeiden ließe. Der Rest des Gewächses verhält sich jetzt still. Ich setze mich neben Ali in den Sand, sehe Amira und dem Kind dabei zu, wie sie ihre Gesichter aneinanderdrücken, die kleine Wange gegen die größere.

Ich denke daran, wie ich mit Pascal gestern mit dem Zug ankam. Wie wir im Vorbeifahren aus dem Zugfenster auf die von Linien durchzogene Landschaft schauten. Ob sich hier nur alles so anfühlt, selbst am Bahnsteig am Boden zu sitzen, während der Zug am Nachbarbahnsteig in den Gleisen schabt, ob das nur so sei, weil wir hier alles mit unterwegs assoziieren. Ob die kleinen Orte mit den abgenutzten Fassaden nicht das gleiche enge Leben bereithielten, das uns in den Dörfern zu Hause so langweile, überlegte Pascal, während wir durch den Schleier der verschmierten Regionalzugfenster hinausschauten. Bei einem Halt beobachtete ich das Flirren der Hitze über den Dächern der im Bahnhof stehenden Züge. Obwohl ich klebrig war, sich meine Hände schmierig anfühlten, obwohl Pascal nach Schweiß roch und wir schon mehrere Stunden im Zug saßen, obwohl. Dass ich froh bin, von den Reisen mit meinen Eltern so viel Unbequemlichkeiten, so viel Provisorium gewohnt zu sein, sagte ich zu Pascal, der in seiner Kindheit mit seinen Eltern nur gebuchte Hotelurlaube gemacht hat. Dass ich von reibungslosen Reisen grundsätzlich nicht ausgehe und in dieser Hinsicht zumindest belastbar bin, wenn auch in vielen anderen nicht. Im Zug war es einfacher, mit mehr Langsamkeit an alles heranzugehen. Das Gespräch nicht durch das Einwerfen von Fragen zu modellieren, auf kein Fazit hinzuarbeiten. Abzuschweifen, wenn es mir gefiel. Der Raum für Gesten und kleine Randbemerkungen. Das Drehen eines Papiers zwischen den Fingern, das Durchspielen einer Möglichkeit im Gespräch oder in der Vorstellung.

Mit Pascal gelingt es mir meistens schnell, ins Sprechen zurückzufallen. Obwohl wir uns oft über mehrere Wochen nicht sehen, knüpfen wir da an, wo wir zuletzt unterbrochen haben, ergänzen uns die fehlenden Teile in Gedanken oder verzichten darauf, indem wir auf die veränderten Zwischentöne hören, die sich ins Reden mischen. Manche Gespräche wiederholen wir in leicht abgeänderter Form, um uns gegenseitig zu versichern, dass der andere noch da steht, wo wir ihn vermuten. Pascal sprach im Zug davon, mit Freunden und Freundinnen in ein Haus in Leipzig ziehen zu wollen, um dem unseligen Entwurf der Kleinfamilie zu entgehen, und wo sie Kinder, sollte es welche geben, gemeinsam aufziehen würden. Ob ich nicht auch Lust hätte, fragte er. Ich sah wie so oft keinen Entwurf. Dass ich froh sei, wie es gerade ist, aber nicht absehen könne, was ich mir in Zukunft vorstellen kann, dass es nicht die Ausformuliertheit einer Beziehung sei, die mich schreckt. Dass ich es schön finde, jemandem verbunden zu sein, die Vereinzelung scheue ich mehr. Pascal sprach davon, wie er in den letzten Tagen daheim beobachtet habe, dass sich seine Eltern den ganzen Tag in unterschiedlichen Stockwerken aufhalten und nur selten das Haus verlassen. Uns wird das einmal nicht passieren, sagte er und schloss mich dabei mit ein. Das wird nicht unsere Sorge sein, aber wir werden andere haben. Er lachte. Ich dachte dabei an Jonathan, wie wir vor meiner Abfahrt zusammengerollt am Bett lagen. Wie schwer es mir gefallen ist, seine warme Haut loszulassen, und als Pascal davon sprach, dass er wieder mehr Raum von Marie brauche, fragte ich mich, ob auch Jonathan und ich einander mehr Raum geben müssten. Und wie er mir bei dieser Überlegung fehlte. Und wie ich eine ruhige Gewissheit daraus zog, ihn daheim zu wissen, wo ich ihn wiederfinden würde.

Ob die Zeit in dieser Konstellation noch möglich ist, überlegte Pascal im Zug, als wir der Haltestelle näherkamen, wo die anderen auf uns warteten, oder ob unsere Lebensentwürfe schon zu weit auseinandergehen, unsere Wirklichkeiten schon zu unterschiedlich sind. Ob es mittlerweile zu viel Mühe kostet, einander noch aufzufinden zwischen all dem. Wann der Punkt erreicht ist, an dem wir uns zu weit voneinander wegbewegt haben werden. Worüber wir früher sprachen? Meistens darüber, was uns widerfahren war, seit wir uns zuletzt gesehen hatten, auch wenn das oft nicht länger als zwei oder drei Tage her war. Dabei bemühten wir uns, die Erzählungen für die anderen interessant zu machen, indem wir überzeichneten und ausschmückten. Was wir taten? Mit den Rädern zum Fluss fahren. Bei jedem Wetter trafen wir uns und schlugen unser Lager auf Decken und Handtüchern auf. Und wenn es warm genug war, und manchmal auch nicht, wurden unsere Gespräche davon unterbrochen, dass jemand in das kalte Flusswasser sprang, sodass es auf die Bücher und Spielkarten spritzte.

Der Zug ratterte über die Gleise, und das Gespräch zerrann. Wir schlugen unsere Bücher auf, die in unseren Händen vibrierten. So schnell, wie Pascal und ich ins Reden kippen, so leicht fallen wir auch wieder heraus. Es reicht ein Misston, dass einer von beiden die Lust daran verliert oder nichts mehr zu sagen weiß, sich vielleicht an einer eigenen Formulierung oder der des anderen stört, und wir verstummen oder wechseln in eine Art zu reden, die an nichts rührt. Ich sah aus dem Zugfenster, gerade als ein Vogel herabstürzte, nicht flog, sondern wie ein Komet auf die Erde traf.

Am ersten Abend in der Maremma sprachen wir alle wenig und richteten uns ein auf diesem Gelände. Der Campingplatz ist nicht viel mehr als ein Pinienhain und eine in die Jahre gekommene Sanitärstruktur mit Stehklos. Die Rezeption war bei unserer Ankunft unbesetzt, und es dauerte, bis wir jemanden fanden, den wir für zuständig hielten. Ali bemerkte einen Mann, der mit einer Zange die Triebe von den Olivenbäumen zwickte. Als wir ihn fragten, ob noch Stellplätze frei seien, deutete er wortlos und ohne den Blick von dem Stamm des jungen Baums abzuwenden in Richtung des Hains direkt am Wasser, wo schon einige ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Er wollte unsere Daten und auch unsere Pässe nicht, also machten wir uns daran, die Zelte aufzubauen, bevor es dunkel wurde.

Der Hain ist ein Rückzugsort vor dem Sandstreifen direkt am Meer, wo die Badenden in der Mittagssonne hüfthoch im Wasser stehen und einander zurufen. Hier liegen wir im Halbschatten zwischen den wenigen anderen in ihren Hängematten und schweigen, weil das gleichförmige Vogelgeräusch alles übertönt, kein Zwitschern mehr, sondern schon ein schrilles Rauschen. Es ist laut, hat dabei aber nichts mit Lärm zu tun. Das Geräusch irritiert uns, weil wir es von zu Hause nicht kennen. Ein Hintergrundgeräusch, das unseren Gesprächen sonst fehlt. Die meisten Zelte sehen aus, als hätten sie mehrere Festivals hinter sich. Mit schiefen Haken sind sie in dem staubigen Untergrund befestigt. Ein stärkerer Wind wird die Zelte mit sich nehmen, wenn wir sie nicht gerade mit unseren Körpern beschweren. Es muss um die Geste des Einschlagens gehen. Eine Praxis, die Erinnerungen an frühere Campingurlaube weckt, so habe ich es mir beim Aufbau unserer Zelte erklärt, während ich die Schnüre von jenem, das ich mir mit Ali und Lea teile, spannte. Es befindet sich an einer Stelle, wo das Gelände abschüssig zu werden beginnt, sodass man die Isomatte nur auf eine Weise ausrollen kann, wenn man vermeiden möchte, dass sich alles Blut im Schädel sammelt.

Obwohl wir noch nie hier gewesen sind, stellen sich Bilder von vergangenen Reisen ein. Bilder von der Woche am Meer, die wir jedes Jahr miteinander verbringen, seit wir alt genug sind, um allein verreisen zu können. Die Konstellationen wechselten, mal konnte einer nicht, oder andere waren dabei. Dieses Jahr ist es das Kind, das neu ist. An den Bildern zeichnen sich die Bewegungen in unseren Leben ab. Jedes Jahr fahren wir woanders hin, aber die Bilder der anderen Orte nehmen wir mit. Wir beginnen zu verwechseln, wo es war, als wir über den Zaun am Wasser geklettert sind, wo wir die Fähre verpasst haben und die Nacht im Auto verbracht, wo wir den Fuchs am Gebirgspass gesehen haben, dem Lea aus ihrer Flasche zu trinken gegeben hat, wo wir mit dem Kanu im Fluss gekentert, wo wir staubig und verschwitzt zu dem Festival, wo wir die Klippen zum Hinunterspringen gefunden, wo wir streitend bei der Hitze auf den Berg, wo der Fjord so algig, wo wir zwischen den Oliven usw.