Marie kommt heim - Schoog Bernadette - E-Book

Marie kommt heim E-Book

Schoog Bernadette

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Beschreibung

Marie, Mitte vierzig, attraktiv. Nach einigen Irrungen und Wirrungen in der Liebe hat sie sich in eine ruhige Kleinstadt im Süden zurückgezogen und beschlossen, fortan seelisch unverletzt zu bleiben und keine Lebensrisiken mehr einzugehen. Eines Tages erhält sie einen drängenden Anruf der Schwestern aus dem Pflegeheim ihrer Mutter: Die hochbetagte Frau liege im Sterben und wünsche sich so sehr, ihre Tochter noch einmal zu sehen. Marie war schon lange nicht mehr daheim, einem Wallfahrtsort am Niederrhein, denn das Verhältnis von Mutter und Tochter war immer ein gestörtes, kompliziertes. Die Reise wird für Marie zu einer aufwühlenden Fahrt in die Vergangenheit, auch in die der Mutter. Gleichsam blättern sich zwei Lebensbücher auf. Erst zum Schluss finden beide das wieder Verbindende.

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Seitenzahl: 351

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Bernadette Schoog, geboren in Kevelaer, studierte Kommunikations- und Literaturwissenschaften in Aachen und Freiburg, erste berufliche Erfahrungen als Dramaturgin am Bochumer Schauspielhaus unter Claus Peymann, danach in München und Basel. Ab Mitte der 1990er Jahre moderierte sie verschiedene Fernsehformate für ARD und SWR und lehrt seit Jahren Interviewführung und Präsentation am Seminar für Allgemeine Rhetorik in Tübingen. Seit 2008 führt sie eigene Gesprächsreihen mit Prominenten, z. B. ›Schoog im Dialog‹. Autorin mehrerer Biografien aus der Kunstszene, etwa über Reinhold Würth, Frieder Burda, den Designer Peter Schmidt, das Brücke-Museum Berlin. Bernadette Schoog ist Mitglied im deutschen PEN.

Bernadette Schoog

Marie kommt heim

Roman

1. Auflage

Edition Klöpfer

Stuttgart, Kröner 2022

ISBN DRUCK: 978-3-520-76301-3

ISBN E-BOOK: 978-3-520-76391-4

Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić

Unter Verwendung eines Fotos von Mona Eendra

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2022 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Für Margarete, Florentine, Fabian und Peter

Eure Kinder

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht,

des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,

aber nicht eure Gedanken,

denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,

aber nicht ihren Seelen,

denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,

das ihr nicht besuchen könnt,

nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,

aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts

noch verweilt es im Gestern. (…)

KHALIL GIBRAN

(1883–1931)

1.

Marie atmete tief durch, setzte ihre Sonnenbrille auf, warf die Handtasche auf den Beifahrersitz und setzte sich entschlossen hinter das Steuer ihres kleinen schwarzen Autos. Sie versicherte sich mit einem Blick, dass alles an seinem Platz war: Wasserflasche, Handy, ein Schokoladenriegel für zwischendurch, Bonbons und eine kleine Plastikwanne für Notfälle aller Art. Nichts dem Zufall überlassen, gerüstet sein. Nach dieser Devise hatte sie die letzten Jahre ganz gut hinter sich gebracht. Keine überbordenden Freuden, keine großen Leiden – nun ja, das stimmte nicht ganz. Doch diese höchst unschönen Erinnerungen waren im Dunst der Verdrängung nur noch schemenhaft zu erkennen. Damit konnte man leben.

Sie startete den Motor, der satt und lässig brummte, ein Geräusch, das ihr Souveränität verlieh. Automatisch fühlte sie sich all dem besser gewachsen, was da auf sie zukommen würde, zumindest würde dieses Gefühl eine Weile anhalten und den Start ins Ungewisse erleichtern.

Nachdem sie noch den Spiegel zurechtgerückt hatte, fuhr sie los. Ja, ins Ungewisse, so musste man es wohl bezeichnen, dahin, wo sie so lange nicht mehr gewesen war, wo ihr nur noch in der Erinnerung an längst vergangene Tage alles vertraut war. Helle Schwaden aus Kinderlachen und Gänseblümchen Pflücken, Bilder von sich selbst an der großen, warmen Hand des Vaters, zärtliche Vertrautheit und die Gewissheit, eine Prinzessin zu sein. All das wurde umwabert von Wolken aus Traurigkeit und Ohnmacht, Kälte und Weihrauch, der einem den Atem nahm. Kreuzte sich zu einem Gemisch aus Wonne und Angst, wie sich überlagernde Kondensstreifen, die ein mehr und mehr verblassendes Muster in den Himmel ritzten. Doch nun würde durch die Zeit der Abwesenheit ein völlig neues Bild auf ihrer Gedächtnisleinwand entstehen, davon musste sie ausgehen. Eines, das sie nicht kannte, eines, das sie mit Anspannung, aber durchaus auch mit einer Spur Neugier erwartete.

Am Morgen hatte sie einen Anruf bekommen aus dem Pflegeheim, in dem ihre Mutter schon so lange lebte. Lebte war an sich nicht das richtige Wort für die letzten fünf Jahre, in denen sie ihren Alltag nur noch mit dieser Form von Betreuung hatte meistern können: verdammt zur Untätigkeit, zum Warten, bis man sie weckte, sie wusch, ihr das Essen brachte, Besuch sich ankündigte, sie wieder schlafen gelegt wurde und sich am nächsten Tag das Ganze wiederholte. Ein vorweg genommenes Nirwana, eine Unendlichkeit der Langeweile, für deren ersehntes Ende der Preis der Tod war. Einziger Lichtblick waren an manchen Sonntagen die Ausflüge in den nahen Dom, wenn einer ihrer Bekannten aus dem Priesterhaus vorbeikam, um sie abzuholen und ihren Rollstuhl in die vorderste Reihe beim Hochamt zu schieben. Da saß sie dann, andächtig, gottergeben, und wünschte sich zum x-ten Male, dass sie bald davonfliegen dürfte, plötzlich leicht geworden, ohne Schmerzen, ohne Einsamkeit und ohne Lebensballast, einfach aufhören zu existieren und frei sein. Sie wartete schon lange auf den Tod, der nun offenbar kurz bevorstand, denn es gab nichts mehr, wofür es sich gelohnt hätte auszuharren. Der Ton der Pflegerin am Telefon war dringlich gewesen, es schien wirklich zu Ende zu gehen. Diese Person, die Marie nur vom Telefon kannte, hatte sie inständig gebeten, doch noch einmal vorbei zu kommen. Ihre Mutter wünsche sich das so sehr und es bleibe nicht mehr viel Zeit.

Jetzt also doch.

Wenn Marie ehrlich war, hatte sie schon länger auf diesen Anruf gewartet. Dass sie ihn erhofft hätte, wäre zu viel gesagt, eher hatte sie ihn in ihre Gedanken mit einbezogen, ihn einkalkuliert, um einen Schlussstrich unter so viele Fragen setzen zu können, selbst wenn diese am Ende unbeantwortet bleiben sollten. Nun, wo es wohl soweit war, verspürte sie Traurigkeit und wunderte sich gleichzeitig darüber. Es gab noch so viel zu bereden, so viel zu bereinigen, so viel auszusprechen, so viele Missverständnisse zu klären. Wo anfangen, wenn ein ganzes Leben zuvor nicht ausgereicht hatte?

Fraglich, ob ein befriedendes Annähern jetzt überhaupt noch möglich war; sie kannte den Zustand ihrer Mutter nur unzureichend, gerade so viel, wie die Schwestern in ihrer stetigen Zeitnot ihr bei ihren seltenen Anrufen hatten berichten können. Wenn sie überhaupt richtig zugehört hatte. Es war wichtig zu fahren. Wollte man sich denn den Rest seines Lebens selbst vorwerfen, die eine letzte Chance nicht genutzt zu haben? Also kein Zaudern, keine Ausreden, beherzt dorthin gefahren, noch einmal in den Abgrund aus Abhängigkeit und schlechtem Gewissen geschaut, der sich einem immer wieder auftat, um danach Ruhe zu finden. Vielleicht. Ein letztes Mal versuchen abzuschließen, die nächsten Stufen zu erklimmen, die kein Rückwärtsschauen mehr nötig machten, kein Stolpern provozierten, die Schritte nicht mehr beschwerten, als klebe Beton an den Füßen.

Aufmunternd klopfte sie mit der Handfläche im Takt zur Musik, die aus dem Radio kam, aufs Lenkrad und versuchte so, etwas wie Vorfreude zu erzeugen.

Sie hatte schnell einen kleinen Koffer mit dem Nötigsten gepackt, in der Buchhandlung angerufen, um zu sagen, dass sie wegen dringender familiärer Angelegenheiten für ein paar Tage verreisen musste. Mehr wollte sie nicht erklären, mehr musste sie nicht erklären. Frau Schüblein war nicht indiskret und wusste, dass Marie triftige Gründe für ihre Reise haben würde.

Während sie aus der Stadt hinausfuhr, in der schon geschäftiges Treiben die Straßen füllte, befiel Marie auf einmal eine bleierne Schwere. Wie lange schon hatte sie ihre Mutter in diesem tristen Dasein sich selbst überlassen. Es hatte sich nicht ergeben, beruhigte sie die Schuldgefühle, die ihr langsam kalt den Rücken hinauf krochen, sich dann auf ihre Brust setzten, schwer wie Mühlsteine. Sie schluckte mehrmals, ihr Atem beschleunigte sich und ihr Herz begann an ihren Brustkorb zu hämmern. Tief durchatmen, befahl sie sich, tief durchatmen, das half normalerweise gegen die Enge, die ihr den Hals zuschnürte. Und nochmal – tief durchatmen.

Sie kannte dieses Gefühl. Es erwischte sie immer wieder wie aus heiterem Himmel. Es war die Muhme Angst, die anklopfte. Nicht polternd, nicht grob, sondern leise, dezent, aber ohne einem die Chance zu lassen, sich tot zu stellen. Die Muhme Angst kam stets in Trauerkleidung, hochgeschlossen bis zum faltigen Hals, wo ein kleiner Spitzenbesatz dem strengen Schnitt fast etwas Frivoles verlieh. Das altmodische wollene Kleid umfing ihren dürren Körper wie ein Panzer, dennoch zeichnete sich deutlich der Witwenbuckel darunter ab, und endete knapp unter den mit groben Strümpfen bedeckten Knien. Die Füße steckten in schwarzen, flachen Spangenschuhen, bei denen das Leder vom vielen Tragen an manchen Stellen schon leicht rissig geworden war, besonders da, wo sie die Ausbuchtung des gekrümmten großen Zehs nachbildeten. Die grauen Haare wurden mit einer Unzahl von Klämmerchen aus dem spitzen Gesicht gehalten und mündeten am Hinterkopf in einem Haarknoten, auf dem ein schwarzer Pillbox-Hut mit kleinen Schleierdetails an den Rändern balancierte. Immer blass um die Nase, lächelte die Muhme Angst säuerlich und verlangte unmissverständlich Einlass. Sofort. Nur kurz. Da half keine Ausrede, kein Türe-Zuhalten, kein schneller Gedanke an Schönes. Sie kam rein, schaute sich neugierig um, fuhr mit dem Zeigefinger wie beiläufig den Staub prüfend über ein Regalbrett, um sich dann am Küchentisch niederzulassen und ihr mit der Hand zu bedeuten, ebenfalls Platz zu nehmen, sie habe mit ihr zu reden. Ach ja, sie sprach meistens verständig und leise und tätschelte Marie dabei mit ihren knorrigen Fingern die Hand. Jetzt hast Du Deine Mutter ja auch schon lange nicht mehr besucht. Na, kannst ja nichts dafür, wann solltest Du das auch tun? Kurze Pause, seufzen, wie lange es die gute Frau wohl noch macht? Ob Du es noch schaffen wirst, zu Lebzeiten zu ihr zu kommen? Sie wird doch wohl nicht vor lauter Gram vorher sterben und Du kannst nur noch am offenen Grab stehen? Ach, das wäre arg für Dich, nicht wahr?

Wenn man sich schließlich stark genug fühlte und alle Kraft zusammennahm, konnte man die Muhme Angst aus dem Haus schmeißen. Dann schwebte sie beleidigt genauso schnell wieder hinaus, wie sie sich Einlass verschafft hatte. Manchmal waren es harmlose Vorwürfe, die sie in petto hatte: Na, alles gut bei Dir, mein Kind? Ja, der Sommer ist schön, so ein Ausflug ins Grüne würde mir auch gefallen, die Zeit muss man sich einfach nehmen … ach was, die unerledigten Aufgaben. Aber – hast Du auch den Herd ausgestellt, als Du losgefahren bist? Das Fenster geschlossen? Die Türe verriegelt? Es war leichter, mit solchen Mahnungen fertig zu werden. Aber wenn sie schwere Geschütze auffuhr wie gerade jetzt, war ihr kaum beizukommen.

Das Auto vor ihr bremste abrupt an einer roten Ampel, die sie gar nicht registriert hatte. Es gelang ihr gerade noch, rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Das passierte, wenn man sich so hineinsteigerte, wenn man der immer im unpassendsten Moment auftauchenden Muhme Angst so viel Raum gab. Der Vordermann schaute sie im Rückspiegel vorwurfsvoll an, Marie wich seinem Blick aus.

All die alten Tanten und Bekannten, die ihre Mutter besuchten. Manche sahen aus wie die leibhaftige Muhme Angst, oder so, wie Marie sich diese Geistergestalt mit ihren ständigen Vorwürfen vorstellte. Menschen, mit denen Marie nichts zu tun hatte und die ihrer Mutter so viel näherstanden als die eigene Tochter. Das war immer schon so gewesen; sie hatte sich in die Rolle des lästigen Anhängsels gefügt.

Besonders wenn die Kleriker des Wallfahrtsortes sich angekündigt hatten, hatte Marie nur im Weg gestanden. Mit diesen Herren, meist fünf oder sechs an der Zahl, ausgestattet mit unterschiedlichen kirchlichen Würden, pflegte die Mutter eine fast intime Beziehung, so nervös und aufgekratzt war sie, wenn deren Besuch bevorstand. Dann wischte die Mutter das Haus, polierte die Gläser, bereitete Schnittchen und Käse-Igel vor. Sie schmückte sich mit auffälligen Perlenohrringen, die sie sonst nie trug, suchte ihr bestes Kleid aus dem Schrank, griff sogar zu etwas Make-up, und kurz vor dem Eintreffen der sehnlichst erwarteten Besucher zog sie sich die Lippen in einem fast vulgär zu nennenden Rot nach. Für Marie hatte sie dann keine Zeit mehr. Und wenn der Dechant, der Bischof und ein paar ausgewählte Mönche aus dem Priesterhaus schließlich Sessel und Sofa belagerten, sich in das Gemütliche des gastlichen Wohnzimmers hineinquetschten, war endgültig Schluss und Marie wurde auf ihr Zimmer geschickt. Erwachsenengespräche. Oft hatte Marie durch den Türspalt gelugt und gebannt zugeschaut, wie sich die Herren mit ihren apoplektischen Wangen die Häppchen reinschoben, auf dem Weg zum schon freudig geöffneten Mund Tomatenstückchen verloren, Mayonnaise auf ihren Westen verteilten, Käsebröckchen auf ihren Hosen oder Soutanen sammelten. Die Mutter sah ihnen stolz dabei zu, in Erwartung einer vollmundigen Anerkennung für so viel gelungene Gastfreundschaft. Wenn alle satt waren, falteten sie wie auf Kommando wohlig die Hände über dem Bauch zusammen, kauten und schmatzten noch ein bisschen, spülten mit einem Glas Liebfrauenmilch nach und begannen ihre Sicht der Welt zu erörtern. Sie kommentierten, was die Menschheit gerade bewegte, erlaubten sich Urteile über alles und jeden, schüttelten bedenkenschwer den Kopf, wenn es galt, Abwege zu verurteilen, vergaßen derweil aber nicht, den süffigen Moselwein, den die Mutter extra für diese Zusammenkünfte vorhielt, gönnerhaft schmatzend zu loben. Sie durften sich von Gottes Gnaden als den Mittelpunkt der Erde betrachten; wer, wenn nicht sie, sollte wissen, was gut und böse, richtig und falsch war? Die Mutter nickte ergeben dazu und maßte sich niemals an, eine eigene Meinung zu haben, hörte über allzu Selbstgerechtes hinweg, denn einem Kirchenmann zu widersprechen, wäre einer Sünde gleichgekommen. Außerdem war sie ja nur eine Frau, dafür aber die bestmögliche Gastgeberin.

Je älter Marie geworden war, desto stärker war ihre Abneigung gegen diese regelmäßigen Treffen geworden, und gegen die Mutter, die sich nicht scheute offen zu zeigen, wie sehr sie es liebte, wenn diese von Weihrauch und Kampfergeruch umwehte Truppe in ihr Leben einfiel. Marie saß dann in ihrem Zimmer, kniff die Augen zusammen und verwünschte sie alle miteinander. In Gedanken belegte sie sie mit sämtlichen Schimpfwörtern, die sie kannte – und die ihr im Beisein der Mutter einen fulminanten Streit eingebracht hätten. Manchmal fluchte sie sogar hörbar, wenn auch mit unterdrückter Stimme, und fühlte sich dabei ungeheuer rebellisch. Wenn der Spuk vorüber war, brachte die Mutter ihr ein paar der übrig gebliebenen Häppchen, die Marie selbstverständlich verschmähte. Der Mutter war es egal.

Als Kind hatte es sie traurig gemacht, von diesen nachmittäglichen Festakten ausgeschlossen zu sein. Es hatte ihr wehgetan zu sehen, wie offensichtlich die Mutter diese Zeit genoss. Eine solche Freude hatte sie zusammen mit Marie nie gezeigt, da überwog das Seufzen, das Stirnrunzeln, das Schmallippige. Als Teenager verspürte Marie dann nur noch Verachtung für dieses mütterliche Anbiedern an den Klerus. Nichts anderes war es in ihren Augen, und es war ihr peinlich gewesen, als hätte sie der Mutter bei einem Liebesakt zugeschaut.

Diese Treffen hatten vor allem dann stattgefunden, wenn der Bruder ihrer Mutter, der seit einigen Jahren Bischof in Südamerika war, auf Heimatbesuch zu seiner geliebten Schwester Elisabeth gekommen war. Es gab zwar viele Schwestern und Brüder in dieser alteingesessenen Josefsburger Familie, aber Onkel Heinrich und Maries Mutter, genannt Elsje, hatte offenbar schon immer eine innige Übereinkunft verbunden, stärker und anders als bei den übrigen Geschwistern der Großfamilie. Hänsel und Gretel hatten die anderen sie genannt. Für Elsje war eine Welt zusammengebrochen, als Heinrich irgendwann ins Kloster gemusst hatte. Erst als Heinrich zum kirchlichen Würdenträger ernannt worden war und damit öfter auf Heimatbesuch hatte kommen dürfen, hatte sie ihren Frieden mit seiner Berufung zum Priester gemacht. Für alle war klar gewesen, dass der seltene Gast aus Übersee seine Urlaubswochen, die er alle zwei Jahre in Anspruch nehmen durfte, bei seiner Elsje verbrachte. Den beißenden Spott der Verwandten, die ihr den Spitznamen der Generalvikar gegeben hatten, wischte sie beiseite, obwohl der Name ihr tatsächlich ganz gut gefiel.

Bischof Henrique, wie er in Brasilien genannt wurde, hatte ein freundliches Gesicht, schütteres Haar, war schlank, und zurückhaltend, von bescheidenem Wesen. Sein schmaler Mund mündete rechts in eine Narbe, die von Granatsplittern aus dem Zweiten Weltkrieg zeugte und sein Lächeln immer ein wenig schief aussehen ließ. Heinrich nahm das als Bürde, die man ihm von höherer Stelle auferlegt hatte, und dankte Gott in seinen Gebeten dafür, dass ihm nichts Schlimmeres widerfahren war.

In Brasilien genoss er höchstes Ansehen bei den Menschen, die er vom katholischen Glauben überzeugt hatte, aber auch bei denen, die er nicht für seine kirchliche Gemeinschaft hatte gewinnen können. Man respektierte ihn als Menschen, der half, ohne Ansehen dessen, wem man huldigte. Er betrachtete seinen Glauben als Angebot, nicht als Erpressung. Sie schenkten ihm Mate-Tee, auf den Oberschenkeln gerollte Zigarren, bestickte Tischdecken, Federschmuck oder Kuhfelle, die sie zu Teppichen gegerbt hatten.

All das trug er im Gepäck, wenn er die Heimat besuchte, bestaunt von den Beschenkten, die sich damit auf einmal sehr exotisch und weltgewandt fühlten. Allerdings scheute er den öffentlichen Aufruhr, den Elsje in dieser Zeit für ihn veranstaltete. Manches versuchte er abzuwenden, doch meistens fügte er sich, seiner Schwester zuliebe, besonders in die Zusammenkünfte der kirchlichen Honoratioren. Er gönnte ihr diese seltenen Gelegenheiten zu gesellschaftlicher Anerkennung und sah dabei großzügig darüber hinweg, dass sie ihm wortreich einen unsichtbaren Heiligenschein umband, der ein wenig auch auf sie abstrahlte.

Als Heranwachsender war er, wie in Josefsburger Familien üblich, stellvertretend für seine ältere Schwester in ein Kloster geschickt worden, hatte dort, weit weg von seinen Eltern, von Elsje und den anderen Geschwistern, die Schule besucht, Abitur gemacht, studiert, um dann als Missionar nach Südamerika geschickt zu werden. All das hatte der Junge klaglos über sich ergehen lassen, bis er schließlich selbst daran geglaubt hatte, dass das sein vorbestimmter Weg war. Für die Eltern, die im Sommer ein großes Pilgerhotel führten, war es Ehrensache gewesen, eines ihrer Kinder in ein Kirchenamt zu schicken. Nachdem Bernhardine, die eigentlich ins Kloster hätte gehen sollen, frühzeitig gestorben war, schien Heinrich der geeignetste.

Bei seinen Heimatbesuchen im Haus seiner Schwester wurde die schön verzierte Mitra immer gleich neben den Eingang auf der Hutablage an der Garderobe platziert, gut sichtbar für jeden, der herein kam. Allerdings musste sich Elsje bei den für ihn einberufenen Konventen in ihrem Wohnzimmer damit abfinden, dass ihr Bischof-Bruder nur den langen, schwarzen Talar mit seinen Dutzenden kardinalroten Knöpfchen einigermaßen widerstandslos anzog. – Und wer musste die Dutzenden kardinalroten Knöpfchen schließen? Natürlich war Marie diese Aufgabe zugedacht, die Nichte und Onkel gleichermaßen unangenehm war, was manchmal durch ein verlegenes Lächeln zwischen den beiden bekräftigt wurde.

Marie hatte schon studiert, als Onkel Heinrich im fernen Südamerika gestorben war und ihre Mutter sich endgültig auf das Ende ihres Lebens eingestellt hatte. Alles, was übrig geblieben war, war ihr Stolz auf die Tatsache, dass seine Gebeine in einem Sarkophag aus hellem Marmor in der Kathedrale seines Wirkens aufbewahrt wurden. Elsje hatte es mit eigenen Augen gesehen, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben geflogen war, um seiner Bestattung beiwohnen zu können. Zuvor hätte sie sich niemals für so viele Stunden in eine solche Höllenmaschine gesetzt, um auf einen anderen Kontinent zu fliegen. Aber um Heinrich die letzte Ehre zu erweisen, hatte sie alles auf sich genommen, neben dem vielen Geld für den Flug, das sie sich hatte zusammenleihen müssen, auch die Unannehmlichkeiten eines dreiwöchigen Aufenthalts unter sengender Sonne und mit Insekten, die ihr noch lange Alpträume beschert hatten. Man hatte ihr als seltenem Gast aus Deutschland alle Ehren zuteilwerden lassen, die die brasilianische Gastfreundschaft bereithielt, inklusive eines überdimensionierten Steaks beim abendlichen Grillen vor dem Haus, in dem der Bischof gewohnt hatte, und eines königlich zu nennenden Polstersessels in der ersten Reihe während der Bestattungszeremonie. Sie war seine Schwester. Sie war der Generalvikar. Unzählige Fotos mit den immer gleichen Motiven und Menschengruppen hatte sich Marie danach anschauen müssen; ihr war die Lust vergangen, selbst dieses Land kennenzulernen.

2

Marie hatte ihre Wahlheimat im Südwesten der Republik nun hinter sich gelassen und bog auf die Autobahn ein, deren Schilder, Ausfahrten und Kurven sie seit Studentenzeiten auswendig kannte. Unzählige Male war sie anfangs, nachdem sie von zu Hause weggezogen war, diese Route gefahren. Manchmal sogar nachts. Wie oft hatte sie mit anderen Studenten und Freundinnen in ihrer WG nahe der Universitätsstadt zusammengesessen, getrunken, sich schwindelig diskutiert und gleichzeitig dieses unangenehme Ziehen verspürt, das sie genötigt hatte, kurz die Mutter anzurufen, um zu hören, wie es ihr ging, ihr zu zeigen, dass sie an sie dachte. Dafür musste man an die Grenze gehen, denn Marie wohnte mit ihrer Wohngemeinschaft auf der französischen Seite, in einem alten Backsteinhaus mit verwildertem Garten, in dem sie ein paar Kaninchen hielten, die Bukowski, ihrem Kater, beim Mäusejagen zusahen. In Frankreich tolerierte man solche Wohnformen eher als auf der deutschen Seite, billiger war es noch dazu. Aus der Küche hatten sie alle zusammen ein Stück Mauer herausgebrochen, so dass es eine Durchreiche zum dahinterliegenden Wohnzimmer gab. Zwei Mitbewohner studierten Architektur; man wusste, wie es ging. Altes Mobiliar erfüllte seinen Zweck, jeder hatte ein Zimmer, mal größer, mal kleiner. Maries lag im obersten Stock und war winzig, mit einem sehr kleinen Fenster zum Garten hinaus, aber es war ihr eigenes Reich. Die Mutter hatte sie dort nie besucht, es war ihr nicht ganz recht, dass Marie auch mit einigen jungen Männern zusammenlebte, selbst wenn sie diese aus Josefsburg kannte. Alle aus gutem Elternhaus, aber: Man wusste ja nie, und in Josefsburg hatte der Begriff Kommune die Runde gemacht. Ein Wort mit schrillem, ja, alarmierendem Klang, denn er wurde begleitet von süßlichem Haschischgeruch – oder von dem, was man dafür hielt –, den alle rechtschaffenden Menschen bei Nennung des Unsäglichen sofort in der Nase hatten. Kommune sagte doch schon alles; man spuckte den Begriff mehr aus, als dass man ihn sprach. Je nach Breite des Dialekts zogen manche aber das u derart lang, dass sie dabei unfreiwillig einen Kussmund formten …

Ihre Bedenken hatte die Mutter Marie ein ums andere Mal einzuschärfen versucht, doch ohne Erfolg. Immer wieder hatte sie aufgebracht die Worte einer befreundeten Mutter zitiert, die ihr, Elisabeth Hagen, attestiert hatte, ihre eigene Tochter nicht mehr im Griff zu haben; sie sei mit ihren Möglichkeiten wohl am Ende. Schon das war eine ausgemachte Unverschämtheit dieser einfältigen Bauersfrau, die ihr Gesicht mit den durch ihre Brillengläser unglaublich vergrößerten Augen so nah an Elisabeth Hagen gehalten hatte, dass diese das Zischen ihrer Kritik wie einen feinen Sprühregen auf der Haut verspürt und Angst gehabt hatte, im Schlund ihres starren Blicks zu verschwinden. Dieses als Schmach empfundene Urteil einer Frau, die nach Elisabeths Meinung nun wirklich nichts vom Leben wusste, wurde noch schlimmer dadurch, dass der Streit mit Marie über den nahenden Umzug zum Studium fast täglich neue Eskalationsstufen erreichte, sie ihre Tochter also tatsächlich nicht mehr im Griff zu haben schien.

Dass Marie gegen den erbitterten Widerstand der Mutter ihren Willen hatte durchsetzen können und mit den anderen in das weit entfernt liegende französische Haus gezogen war, hatte ihr ein Gefühl von Freiheit gegeben. Doch es zog auch ganz schnell ein schlechtes Gewissen nach sich. Sobald sie in der Wohngemeinschaft ihr Zimmer eingerichtet hatte, war schon die Muhme Angst auf der Bettkante erschienen und hatte verlangt, ihr Rede und Antwort zu stehen. Sie war wie immer aus dem Nichts gekommen und hatte nicht locker gelassen. Wie ein Sack, den man Marie auf den Rücken geschnallt hatte, kam sie ihr vor, ein Dämon, ein Kobold, der sich von ihr durchs Leben schleppen ließ.

Kurzfristig abschütteln konnte sie diese Gestalt nur, wenn sie dem Impuls nachgab, über die Grenze zur Telefonzelle zu laufen, sich dort in die Schlange der Wartenden einzureihen und dann endlich am anderen Ende der Leitung die Stimme ihrer Mutter zu hören, die ihr bestätigte, dass es ihr gut ging. Ein unausgesprochener Pakt, der Maries Schuldgefühle abmilderte und der Mutter die Sicherheit verschaffte, dass sie ihre Tochter doch noch nicht ganz verloren hatte.

Aber wehe, wenn nach dem langen Anstehen vor der Telefonzelle auf das Wählen der Nummer, die Marie auswendig kannte, nur das Freizeichen folgte. Dann zwängte sich die Muhme Angst zu ihr in die Telefonzelle und raunte ihr mit bebender Stimme ins Ohr: Ob die Mutter wohl weggefahren ist? Aber dafür ist es doch schon viel zu spät. Liegt sie vielleicht bewusstlos am Boden, hingesunken nach einem plötzlichen Herzinfarkt, ohne Hilfe rufen zu können? Oder gar am Fuße der langgezogenen Treppe, gestrauchelt, gestolpert, mit gebrochenen Beinen, einer Wunde am Kopf, hilflos dem Tod durch Verdursten und Verhungern ausgesetzt? Entsetzt schlug die Muhme Angst die Hand vor den Mund und sah Marie erwartungsvoll an.

Wenn diese Bilder sich in Maries Kopf festhakten, hatte sie keine andere Wahl, als sich in den alten gelben R4 zu setzen, den sie von ihrem Ersparten gekauft hatte, um nach Josefsburg zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Ihr war völlig klar, dass die Mutter wahrscheinlich einfach früh schlafen gegangen war, fernsah, das Klingeln des Telefons einfach nicht hörte oder noch auf ein Glas Wein bei Bekannten saß. Aber was, wenn nicht? Gepeitscht vom unablässigen Lamento der Muhme Angst trat sie dann aufs Gaspedal, in dieser eigenartigen Melange aus der furchtbaren Angst, ihre Phantasien könnten sich in Realität verwandeln, und dem bewusstem Kalkül, alles in bester Ordnung vorzufinden und der Mutter so zu zeigen, wie sehr sie sich um sie sorgte. Mitten in der Nacht, gegen zwei oder drei Uhr, kam sie dann dort an – und fand die Mutter immer friedlich schlafend in ihrem Bett vor. Erleichtert, aber irgendwie auch wütend über ihre völlig sinnlose Aktion. Sie war sich mal wieder selber aufgesessen, genauso wie der Muhme Angst, die sich wie immer ungefragt an ihre Fersen geheftet und ihr mit ihrem blödsinnigen Sorgengequatsche die Ohren vollgeheult hatte. Auch die Mutter hatte diese Besuche eher mit missbilligender Verblüffung und Stirnrunzeln als mit Freude oder gar einem gerührten in den Arm Nehmen quittiert. Wieso habe Marie sich denn auf einmal diese Sorgen gemacht … Sie hätte ja auch nicht wegziehen müssen, selber schuld.

3

Es tat gut, sich nur auf den Verkehr und die Landschaft zu konzentrieren, die im spätsommerlichen Licht an ihr vorüberrauschte. Es war fast Mittag, viele Autos unterwegs, aber kein Stau. Marie drehte das Radio noch lauter und sang mit, wann immer sie die Lieder erkannte. Die sanften, grünen Berge ihrer Region waren einem Fluss mit angrenzenden Weinhängen gewichen. Massive Burgen und Wehrtürme säumten schon seit Jahrhunderten diesen Strom, auf dem wimpelgeschmückte Schiffe Touristenscharen von einem Ausflugsziel zum nächsten brachten.

Mit 10 oder 11 hatte sie genau hier Ferien mit einer Jugendgruppe machen müssen. Eine Freizeit mit Gleichaltrigen, die sie nicht gekannt hatte und sicher auch nicht mögen würde, so dass sie vor lauter Heimweh ganz krank geworden war.

»Jetzt komm’, wir machen eine Wanderung zum Mäuseturm«, rief die Gruppenleiterin ihr zu. Marie stand etwas abseits von den anderen, die mit fröhlichem Gequietsche und Gelächter hin- und hersprangen, ein neues Abenteuer vor Augen. Sie trug ein Kleid, das die Schneiderin ihrer Mutter für sie genäht hatte. Nicht etwa, weil diese so vornehme Modelle gefertigt hätte, sondern weil die pummelige Marie keine Kinderkleidung von der Stange tragen konnte. Zu dieser Schneiderin zu gehen, kostete Marie einiges an Überwindung. Sie war eine stämmige Person, stets in bunter Kittelschürze, mit kleinen, mühsam eingelegten Locken auf dem Kopf und die Worte, die aus ihrem spitzen Mund kamen, hatten einen merkwürdigen Klang. Als sie die Mutter einmal nach dieser komischen Sprache gefragt hatte, hatte die nur mit einem vielsagenden Blick »Vertriebene« geflüstert.

Was das bedeutete, blieb für Marie unklar, doch konnte es nichts Gutes sein, denn das Gesicht der Mutter hatte genau den gleichen mahnend-schaudernden Ausdruck gehabt, wie wenn sie von evangelischen Leuten sprach. Diese Schneiderin mit den lang gezogenen Worten und dem rollenden R hatte, und das war das Schlimmste für Marie, drei alte Pudel, die nicht nur entsetzlichen Lärm machten, sondern auch noch nach den Kunden schnappten, sie in die Waden zwickten, und den ganzen Ankleideraum mit dem grässlichen Gestank nach altem, feuchtem Fell erfüllten, der aus ihren Pudelhaaren strömte. Am Schlimmsten war es, wenn man vor dem bodentiefen Spiegel stand und die Schneiderin, mit Stecknadeln zwischen den Zähnen, auf den Knien um einen herum rutschte und letzte Korrekturen absteckte, denn dann war man ihnen und ihr restlos ausgeliefert. Wehe, man bewegte sich.

Die Mutter mochte auch keine Hunde, aber sie hielt, einem Schutzschild gleich, den springenden und bellenden Pudeln ihre überdimensionierte Handtasche aus Kunstleder entgegen, so dass sie nicht an ihre Beine kamen. Dabei drehte sie sich so geschickt, dass sie keine Angriffsfläche bot, vollkommen auf ihren eigenen Schutz konzentriert und gänzlich unempfänglich für Maries Ängste. Auf sie stürzten sie sich am liebsten, weil sie mit nackten Beinen für die Anprobe absolut stillstehen musste. Das Ergebnis dieser quälenden Nachmittage war dann am Ende ein sackähnliches Kleid, für das die Mutter der Schneiderin größtes Lob zollte. Für die Ferien im Jugendlager am Rhein hatte ihr die Mutter dazu einen leichten beigen Sommerblouson gekauft, wie ihn auch ältere Herren gerne als Freizeitkleidung trugen.

Marie war kreuzunglücklich, denn am Abend zuvor hatten die anderen Kinder ihr einen Streich gespielt. Als sie sich schnell in ihren Schlafanzug hatte flüchten wollen, waren die Beine und Ärmel zugenäht gewesen. So hatte das dickliche Mädchen in ihrer halbnackten Hilflosigkeit dagestanden, rot vor Scham und nur mühsam die Tränen unterdrückend, weil die anderen sich den Bauch hielten vor Lachen, während sie da so zwischen Bettkante und Schlafanzug hing. Nicht in der Lage, den schützenden Pyjama anzuziehen, und genauso unfähig, sich vor den Blicken der Kinder unter der Bettdecke zu verkriechen.

Sie wollte nicht mit zum Mäuseturm, sie hatte Angst vor Mäusen und niemanden an ihrer Seite, der ihr helfen konnte. Warum nur hatte die Mutter sie für drei unendlich lange Wochen in dieses Lager geschickt? Sie hatte doch selbst geheult wie ein Schlosshund, als Marie in den Bus der Christlichen Jugend Josefsburg hatte steigen müssen.

»Nun komm schon!«, drängte die Gruppenleiterin erneut. Die anderen warteten ungeduldig darauf, dass es endlich losging.

»Die hat keinen Vater mehr«, platzte es aus dem Mund eines gleichaltrigen Mädchens aus Kerpen, die zusammen mit Marie in der Gruppe der Schmetterlinge gelandet war. Bei der Einteilung der Gruppen hatte man die Mädchen zusammengesteckt, die in den großen Städten wie Köln und Düsseldorf wohnten und sich teilweise auch schon kannten. Für die am Schluss übrig Gebliebenen hatte es geheißen: Alle anderen in die Schmetterlingsgruppe. Man war der unwillkommene Rest.

Claudia, so hieß das Mädchen mit den pechschwarzen langen Haaren, die immer zu einem ständig auf- und ab hüpfenden Pferdeschwanz zusammengebunden waren, hatte das Bett über Marie und schimpfte mit ihr, wenn sie nicht einschlafen konnte, weil Marie vor Heimweh weinte. Dabei zog sie sich immer ganz fest das Kissen aufs Gesicht, damit die anderen nichts mitbekämen. Doch das nützte nicht viel, ihr Schluchzen war zu durchdringend.

Als sie einmal, wie immer nach dem Essen, zur Mittagsruhe auf ihre Zimmer gemusst und beide nichts mit sich anzufangen gewusst hatten, hatte Marie die braungebrannten Beine des Mädchens über sich von der Bettkante baumeln sehen.

»Wollen wir was spielen?«, hatte es leise von oben gerufen, »›Himmel und Hölle‹ oder ›Stadt, Land, Fluss‹?«

Marie hatte nicht so recht gewusst, denn Claudia war evangelisch, und ihre Mutter hatte sie ja immer nachhaltig davor gewarnt, sich mit denen einzulassen. Doch Claudia hatte weiter gedrängt und so war sie endlich auf das obere Stockbett hinaufgestiegen. Schwerfällig hatte sie sich hochgezogen, sich neben Claudia gesetzt und ebenfalls die Beine herunter baumeln lassen. Ein Kontrast zwischen Sonne und Stube, Spielen und Einsamkeit, so fahl hatten Maries Beine neben denen von Claudia gewirkt.

»Sag mal, warum heulst Du eigentlich abends immer so viel?«, hatte Claudia irgendwann wissen wollen – und Marie hatte sich ihr zögerlich anvertraut. Doch die andere war erschrocken zurückgewichen, als Marie ihr das, was sie wie ein dunkles Familiengeheimnis hütete, offenbart hatte.

»Geh runter von meinem Bett!«, hatte sie hervorgestoßen. »Du bist ja nicht ganz normal.«

Verlegen und traurig war Marie sofort wieder nach unten gerutscht, hatte sich beim Aufprall auf dem Boden noch ordentlich wehgetan, denn Claudia hatte mit abgewandtem Gesicht ihrem unbeholfenen Sprung kräftig nachgeholfen.

Dass Claudia sie jetzt vor allen anderen bloßstellte und ihr Geheimnis herausposaunte, machte diesen Moment im Nachhinein noch viel schlimmer, als er ohnehin schon gewesen war. Wie unter einem Brennglas fühlte Marie sich unter all den Blicken, die plötzlich auf sie gerichtet waren. Kinderaugen, die sie ungläubig, leicht angewidert, aber neugierig anstarrten, als ob sie ein seltenes Tier wäre, das einen zugleich fasziniert und anekelt.

»Stimmt das, Marie?«, fragte die Betreuerin, so, als hätte sie etwas angestellt.

Jetzt war es vorbei, Marie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, schluchzte laut auf und schlug die Hände vors Gesicht. Ihr ganzer Körper zitterte, sie wollte nur noch weg. Gedemütigt fühlte sie sich, alle hatten einen Vater, nur sie nicht. Und ihrer war auch noch tot, ein Makel, der ihr anhing, sie aus der Gemeinschaft verbannte, sie abseits stehen ließ vom Leben der anderen. Das war noch schlimmer als das Gefühl, das sie überkam, wenn die Mutter auf der Straße mit anderen Leuten ins Gespräch kam und sie daneben stand und genau wusste, dass gleich die Sprache auf den toten Vater kommen würde. Und bald darauf sagte die Mutter dann wirklich den verhängnisvollen Satz, mit von Trauer belegter Stimme, begleitet von einem Seufzen, aber auch mit unterschwelligem Stolz und dem Verlangen nach Anerkennung für ihr schweres Schicksal:

»Ja, ich bin jetzt auch schon zwei Jahre Witwe und muss mich und die Kleine ganz alleine durchbringen. Das ist nicht immer leicht …«

Anteilnehmendes Kopfnicken aufseiten der eben Eingeweihten, ein kleines Lächeln für Marie, das sich zusammensetzte aus gebührendem Mitleid, etwas Unsicherheit und einem ganz leisen Anflug von Abscheu. »Schrecklich sowas!«, und sie schüttelten sich inwendig mit der gleichen merkwürdigen Lust, mit der man auch Unfälle beobachtet.

Marie erinnerte sich nicht daran, wie die Szene im Ferienlager damals ausgegangen war. Sie wusste nur noch, dass man von diesem Tag an etwas nachsichtiger mit ihr gewesen war. Insgesamt aber wurde die Erinnerung an diesen Ferienaufenthalt, der das Wort Ferien nicht verdient hatte, von dem beklemmenden Gefühl der Ablehnung überlagert. Genauso wie ihr bei all diesen Erinnerungen unweigerlich der schale Geruch des Mittagessens in der Jugendherberge in die Nase stieg und der des Schweißes vom Völkerballspiel, das sie gehasst hatte. Die muffige Luft in den Schlafsälen, diese Mischung aus ungewaschenen Kinderkörpern und billigem Duschgel, aus Bohnerwachs und den schon leicht rostigen Rahmenstangen der Stockbetten. Das inwendige Ekeln morgens vor der sich kringelnden Haut auf dem Kakao, die sich um den Löffel klebte, wenn man versuchte, sie rauszufischen.

Gerüche, die oft ungebetenen Begleiter von Erinnerungen an Schönes und Schreckliches, an Lustiges und Herzerwärmendes. Marie verfügte über ein ausgesprochen gutes Geruchsgedächtnis, das sie unverzüglich und ganz körperlich mit den Orten zu verbinden vermochte, die gerade ihre Gedanken beherrschten. Umgekehrt musste sie sich nur einen bestimmten Duft vorstellen, beispielsweise eine Tasse frisch gebrühten Kaffees, und schon lief eine passende Geschichte zum imaginierten Kaffeeduft in ihrem Kopf ab.

Bevor sie morgen ihre Mutter besuchte, würde sie Halt machen im Café Müller, einen Kaffee trinken und ein paar der ersten Spekulatius’ kaufen. Die gab es dort um diese Jahreszeit schon, und sie hatten Tannennadelduft im Schlepptau, die festliche Atmosphäre eines Advents- oder gar Weihnachtstages, wo die Raumluft durchzogen war von ausgeblasenen Kerzen, frisch gestärkten Servietten und den Resten auf dem sonntäglichen Frühstückstisch, bevor es zum Hochamt in die weihrauchvernebelte Kirche mit der üppigen Krippenlandschaft ging.

Weihnachten, das war für sie immer ein Hochfest gewesen, das verstand man in ihrer Familie wirklich zu feiern. Sogar die Mutter war dann ganz aufgeräumt gewesen, denn bis zum Fest war der Ärger wieder verflogen, der in der Adventszeit ihre Vorfreude getrübt hatte. Anlass dazu hatten wie immer Marie und ihr Vater geboten, die in trauter Übereinkunft stundenlang die Köpfe zusammengesteckt hatten, um einen ellenlangen Wunschzettel für Marie zu verfassen, die ihm detailverliebt in die Feder diktierte: einen ledernen Schulranzen, grün, eine Puppenstube mit zwei Räumen, einer davon als Küche mit Herd, Schrank und Spüle, einem großen Esstisch, 10 Tellerchen, 10 Becherchen, 10 Schüsselchen, 10 Messerchen, 10 Gäbelchen, 10 Löffelchen, drei Kochtöpfchen, unterschiedlich groß, mit Deckel, und einer Pfanne. Der andere Puppenstubenraum mit Sofaecke, Schrank, Fernseher, Kissen, Teppichen, Bildern für die Wände etc.

Der Vater schrieb die gesamte gewünschte Ausstattung fein säuberlich auf, hob zwischendurch erwartungsvoll leicht den Kopf, um den nächsten Wunsch zu erfahren und zu notieren. Ein feines Lächeln überzog dabei sein Gesicht, seine Freude war mindestens genauso groß wie die seiner kleinen Auftraggeberin. Manchmal gab Marie einfach Wünsche zu Protokoll, um auszuprobieren, ob es dafür eine Grenze gäbe. Es gab keine.

Seite an Seite am Tisch sitzend, beugten Vater und Tochter sich über den Zettel, der lang und länger wurde. Gemeinsam malten sie sich aus, was davon wohl alles am 24. Dezember unter dem Weihnachtsbaum liegen würde. Am Abend falteten die beiden den Wunschzettel dann vorsichtig ganz klein zusammen, füllten ein großes Glas mit Wasser, nahmen die winzige Holzpantine von Großmamas Weihnachtskiste, bröckelten etwas Schwarzbrot hinein und stellten das ganze Arrangement mitsamt des Wunschbriefes draußen auf die Fensterbank. Marie wurde nicht müde, ihrem Vater zuzuhören, wenn er in der Vorweihnachtszeit allabendlich die Geschichte vom Christkind erzählte, das auf einem Schimmel durch die Nacht ritt und bei all den braven Kindern die Wunschzettel einsammelte. Und dass es sich so besonders freuen würde, wenn das treue Pferd hin und wieder etwas zu trinken und zu fressen bekäme auf dieser langen nächtlichen Tour.

Maries Mutter hatte inwendig geseufzt und versucht, darauf zu achten, dass nicht allzu viel Brot zerkrümelt wurde. Das war nachher nicht mehr zu gebrauchen und musste doch am nächsten Morgen weg sein. Marie sprang schon frühmorgens aus dem Bett und schaute gleich auf dem Fensterbrett nach, ob ihre Gaben und damit auch ihre Wünsche abgeholt worden waren. Das Stirnrunzeln der Mutter, wenn die den Wunschzettel gelesen hatte und mit ihrem Mann darüber stritt, ahnte Marie mehr, als dass sie den Streit gehört hätte. Die Tür ihres Kinderzimmers, hinter der sie dem nächsten Morgen entgegenfieberte, war fest verschlossen. Doch irgendwie fühlte sich das Haus am nächsten Tag eine Spur kälter an. Die Mutter fühlte sich kälter an, denn sie war der Störenfried, der regelmäßig in die Idylle von Vater und Tochter platzte. Diese so enge Beziehung, diese Zartheit, die die beiden miteinander verband, darin konnte sie keinen Platz finden. Ausgeschlossen aus ihrer Komplizenschaft, diesem offensichtlichen Einverständnis, das keiner Sprache bedurfte und jeden anderen an den Rand schob. Schon wenn Marie am Morgen aufwachte, rief sie nach ihrem Vater, der sofort zu ihr geeilt kam, worauf ein Strahlen über beide Gesichter ging. Sonnenschein oder Augenstern hatte er sie genannt.

Der Vater hatte dieses Glück erst spät erfahren, als alle im Umfeld des Paares schon nicht mehr daran geglaubt hatten, dass bei ihnen ein Kind anklopfen könnte. 56 Jahre war er bereits alt gewesen, als seine viel jüngere Frau ihm eines Tages eröffnet hatte, dass er nun doch noch Vater werden würde. Ab da hatte es für ihn nur noch Marie gegeben, sie waren sich gegenseitig genug gewesen, sie hatten die Mutter nicht mehr gebraucht.

4

Marie näherte sich allmählich Josefsburg. Fast fünf Stunden Fahrt hatte sie hinter sich gebracht, ohne eine Pause eingelegt zu haben. Sie bog von der Autobahn ab und fuhr die letzten 25 km auf der Landstraße in Richtung des Wallfahrtsortes, wo die Mutter und auch Marie selbst geboren worden waren und wo die alte Frau jetzt bald sterben würde.

Ausladende Wiesen, manche mit Pferden, die meisten mit Kühen darauf, im Hintergrund große, dunkle Waldstücke, die die Wiesen und Felder gegen den Horizont hin abgrenzten, zeichneten für sie das vertraute Bild früherer Jahre. In Gedanken sah sie bereits die Silhouette ihres Heimatortes vor sich, die nach ein paar weiteren Kurven wie ausgebreitet vor ihr liegen würde. Marie wurde immer heiterer, je näher sie Josefsburg kam. Wie so typisch für diese Landschaft hing der Dunst, der sich im Herbst und Winter in einen dichten Nebel verwandeln würde, an diesem sommerlichen Spätnachmittag ganz sanft über dem Boden, einige Krähen schwangen sich aus dem transparenten Grau hinauf. Sie würde bald zu Hause sein.

Sie passierte das kleine Dorf, in dem sie in die Grundschule gegangen war, sah rechts an der Straßenecke die Metzgerei Budrich, wo ihre Freundin Birgit gewohnt hatte. Birgit, dieses hoch aufgeschossene Mädchen mit dem durchscheinenden Gesicht und den zwei winzigen Herzohrringen, um die Marie sie immer beneidet hatte, hatte sie öfter nach der Schule zum Spielen eingeladen. Schaukeln in einem kleinen Hof direkt hinter der Schlachterei, über dem ständig der Geruch von Kesselfleisch und geronnenem Blut lag. Birgit war es auch gewesen, die Marie den Glauben an das Christkind genommen hatte. Im obersten Stockwerk, gleich neben Birgits Zimmer, hatte es noch einen zweiten Raum gegeben, eine Art Abstellkammer, Arbeits- und Bügelzimmer. Dort hatte Birgit nach einem Streit mit Marie über das vermeintliche Wunder der Heiligen Nacht mit überheblich-wissendem Blick einen Schrank geöffnet und der ungläubig dreinschauenden, schockierten Marie die ganzen Utensilien eines Weihnachtsfestes präsentiert, die dort gelagert wurden. Eine große Holzkrippe, die auf- und durcheinander gestapelten Figuren von Josef, Maria und all den Hirten, das Jesuskind unter Lametta, Kugeln, Kerzen, Glöckchen. Marie hatte ihren Augen nicht getraut und es doch sehen müssen. Eine ihrer schönsten Illusionen war geplatzt. Birgit war nachher nicht mit aufs Gymnasium in Josefsburg gegangen, und so hatten sie den Kontakt verloren. Viele Jahre später hatte Marie bei einem Besuch in der Metzgerei erfahren, dass Birgit sich in einen Ashram im indischen Poona abgesetzt hatte, um einem Guru zu huldigen. Schlimmer hätte es für die Eltern Budrich nicht kommen können.

Gleich würde der Seitenweg auftauchen, an dessen Ende sie in ihrer Kindheit und Jugend, nachdem sie als fünfjähriges Mädchen mit ihren Eltern dorthin gezogen war, das hell erleuchtete Haus empfangen hatte, voll von Erinnerungen. Sie sah sich auf ihrem neuen Fahrrad sitzen, den grünen Leder-Tornister auf dem Rücken, die beiden langen Zöpfe im Wind wehend, wie sie nach der Schule verschwitzt in die von Birken gesäumte kleine Straße einbog, den Hausschlüssel fest umklammert, damit sie ihn nicht verlöre. Der Weg roch damals noch nach frischem Teer, auf dem man wunderbar Rollschuh laufen konnte. Kurz nach ihrem Einzug hatten Straßenarbeiter aus dem unwegsamen Feldweg für die wenigen neuen Häuser ein richtiges Sträßchen gezaubert. Herrlich, dort entlang zu sausen und zu wissen, dass der Vater ihre Kunststücke sehen würde, weil er schon auf der Loggia stand und auf sie wartete.

Wenn man auf dieser Loggia stand, konnte man am Horizont ein Rehgehege, einen lichten Wald und dahinter den Turm des Josefsburger Doms sehen. Bei gutem Wind hörte man sogar die Glocken, die dreimal am Tag das Angelusgebet ankündigten, am Morgen, am Mittag und am Abend. Noch festlicher, noch satter aber war das Geläut am Sonntag, wenn zum Hochamt gerufen wurde. Das war schön gewesen – so lange der Vater lebte.

Danach hatten die Glocken ihren feierlichen Ton verloren und nur noch drängend zum Kirchgang gemahnt.