Marigold Manor 1: Hidden Lies - Lara Holthaus - E-Book

Marigold Manor 1: Hidden Lies E-Book

Lara Holthaus

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Beschreibung

**Die Wahrheit ist gefährlich. Seine Nähe noch gefährlicher.** Marigold Manor ist elitär, luxuriös und der Traum für jeden, der es im Reitsport weit bringen will. Außer für Dressurtalent Lola. Denn sie ist sich sicher, dass das protzige Gestüt der Ort ist, der ihre Schwester das Leben gekostet hat. Als sie die Chance erhält, einen Podcast aufzunehmen und für vier Wochen das Anwesen zu besuchen, sagt sie zu. Sie will endlich herausfinden, welche dunklen Machenschaften sich dort verbergen. Auch wenn das bedeutet, täglich Aiven Audley zu begegnen. Ihr größter Konkurrent, unerträglich arrogant und … verboten attraktiv. Doch immer weniger kann sie sich gegen die Anziehung wehren, die von ihm ausgeht. Als sie herausfindet, wie tief Aiven selbst mit den Intrigen des royalen Gestüts verwoben ist, ist es beinahe zu spät … Ein tief berührendes und packendes New Adult-Buch, das in seinen Bann zieht. Persönliche Leseempfehlung von Romance-Autorin Franka Neubauer: »Dunkle Abgründe und Bridgerton Vibes. Lara Holthaus weiß, wie sie tiefe Emotionen mit Spannung verbindet, und hat mich von der ersten Seite an in den Bann gezogen.« //Dies ist der erste Band der knisternden High-Society-Romance-Dilogie »Marigold Manor«. Alle Bände der Buchreihe: - Marigold Manor 1: Hidden Lies - Marigold Manor 2: Veiled Ambitions// Die beiden Bände können unabhängig voneinander gelesen werden, zum besseren Verständnis empfiehlt sich aber die Lektüre in der chronologischen Reihenfolge.//

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lara Holthaus

Marigold Manor: Hiden Lies

Die Wahrheit ist gefährlich. Seine Nähe noch gefährlicher.

Marigold Manor ist elitär, luxuriös und der Traum für jeden, der es im Reitsport weit bringen will. Außer für Dressurtalent Lola. Denn sie ist sich sicher, dass das protzige Gestüt der Ort ist, der ihre Schwester das Leben gekostet hat. Als sie die Chance erhält, einen Podcast aufzunehmen und für vier Wochen das Anwesen zu besuchen, sagt sie zu. Sie will endlich herausfinden, welche dunklen Machenschaften sich dort verbergen. Auch wenn das bedeutet, täglich Aiven Audley zu begegnen. Ihr größter Konkurrent, unerträglich arrogant und … verboten attraktiv. Doch immer weniger kann sie sich gegen die Anziehung wehren, die von ihm ausgeht. Als sie herausfindet, wie tief Aiven selbst mit den Intrigen des royalen Gestüts verwoben ist, ist es beinahe zu spät …

Wohin soll es gehen?

Vorbemerkung für die Leser*innen

Playlist

Buch lesen

Nachwort

Contenthinweis

Vita

VORBEMERKUNG

Liebe*r Leser*in,

bevor du mit der Geschichte beginnst, ein kurzer Hinweis: Obwohl ich mir bei der Recherche größte Mühe gegeben habe, ein möglichst faktengetreues Bild zu zeichnen, entspricht nicht alles, was du im Folgenden liest, der Realität. Einige Details rund ums Dressurreiten wurden für die Handlung angepasst, um der Lovestory zwischen Lola und Aiven sowie den versteckten Lügen von Marigold Manor den Raum zu geben, den sie brauchen.

Außerdem enthält dieser Roman potenziell sensible Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier ein Contenthinweis. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Ich wünsche dir das bestmögliche Erlebnis und viele schöne Lesestunden auf Marigold Manor.

Deine Lara und das Cove-Team

Für alle, die Ja gesagt haben, weil sie zu viel Angst vor einem Nein hatten

PLAYLIST

You should see me in a crown – Billie Eilish

Creep – Radiohead

Numb – Tommee Profitt x Skylar Grey

Killer Queen – 5 Seconds of Summer

Mad World – Michael Andrews feat. Gary Jules

Watch Me Burn – Michele Morrone

Down Bad – Taylor Swift

like that – Bea Miller

I Hate It Here – Taylor Swift

Dancing With The Devil – Demi Lovato

Put It On Me – Matt Maeson

Seven Devils – Florence + the Machine

One Last Night – Vaults

You Don’t Own Me – Lesley Gore

labour – Paris Paloma

Rise Up – Andra Day

Queen – Killer Queen

Teil I

Rise of the Killer Queen

Lola

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Legacy League by Pikeur

Sehr geehrte Miss Dixon,

wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie für die bevorstehende Legacy League by Pikeur als Wildcarderin ausgewählt wurden. Mit der Teilnahme an diesem prestigeträchtigen Wettkampf bietet sich Ihnen die einmalige Gelegenheit, Ihr Können auf internationaler Bühne unter Beweis zu stellen.

Bitte bestätigen Sie uns Ihre Teilnahme, damit wir alle organisatorischen Details mit Ihnen abstimmen können. Den Turnierplan finden Sie im Anhang. Bei Fragen stehen wir Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung.

Wir gratulieren Ihnen herzlich zu dieser unvergleichlichen Chance und freuen uns darauf, Sie zum ersten Turnier in Herning, Dänemark, willkommen heißen zu dürfen.

Mit freundlichen GrüßenMelvin C. Tyler

Im Auftrag des Präsidenten Edmund Wetherby

Zum ersten Mal seit zwei Jahren hören die Trauermaden auf, schwarze Löcher in mein Herz zu fressen.

Wie verkohlte Krümel fallen sie von mir ab, gegrillt von dem Feuer in mir, das sich mit jedem weiteren Satz, den ich lese, in ein loderndes Inferno verwandelt.

»… freuen uns darauf, Sie zum ersten Turnier in Herning, Dänemark, willkommen heißen zu dürfen«, wiederhole ich den letzten Abschnitt, während ich bis in die Fingerspitzen glühe. Für einige Atemzüge starre ich auf den Bildschirm meines Laptops. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und die Gedanken in meinem Kopf.

Eine Wildcard. Turniere. Eine unvergleichliche Chance.

Meine Chance.

Mein Blick wandert zu dem Foto, das in einem angestaubten Rahmen neben meinem Laptop steht. Es wurde in einem anderen Universum aufgenommen.

Einem ohne Trauermaden.

»Ich hab’s geschafft«, sage ich krächzend. »Ich hab es wirklich geschafft, Keela.«

Vom Foto kommt natürlich keine Reaktion, aber ich weiß auch so, wie sie reagieren würde. Dass sie ihre riesigen Augen noch weiter aufreißen, kreischen und hibbelig auf der Stelle hüpfen würde. DAS IST SO KRASS, würde sie immer wieder schreien und mich vielleicht so fest umarmen, dass ich nach Luft schnappen müsste. Sie würde mich zwingen, einen albernen Song aus den Neunzigern anzumachen, Strong Enough von Cher oder so, und um mich herumtanzen. Wild und taktlos und übermütig. Ich weiß, dass es genauso wäre, wäre sie nicht …

So schnell ich kann, dränge ich den Gedanken beiseite und konzentriere mich wieder auf die Mail, bevor die Trauermaden ein Zombie-Comeback hinlegen können.

Eine Wildcard.

Für die bekannteste Youngstar-Turnierreihe der Welt. Die Legacy League.

Das ist, ja, wirklich krass irgendwie.

Mein Herz hämmert unter meinen Rippen, als ich beginne, meine Zusage zu tippen.

Sehr geehrter Mr Tyler,

ich danke Ihnen für …

Ich halte inne. Meine vor Rache und Entschlossenheit glühenden Fingerspitzen schweben über der ausgenudelten Tastatur, von der immer wieder das F abfällt. Plötzlich muss ich schlucken.

»Dir ist klar, dass es dabei nicht um mich geht, oder?«, sage ich leise zu Keelas leicht verblasstem Foto-Gesicht. Das Feuer verliert einige Gradzahlen. »Dir ist klar, dass sie das nur machen, weil es schon wieder einen Skandal im Reitsport gab und sie mit mir ihr Image reinwaschen wollen?«

Spielt das eine Rolle?, würde sie vielleicht sagen, und ich überlege. Spielt es für das, was ich vorhabe, eine Rolle, dass niemand in diesem Dressurzirkus Respekt vor mir haben wird?

Eigentlich nicht.

Die Blicke, die mich bereits treffen, seit ich vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal an einem Dressurturnier teilgenommen habe, werden stechender werden. Abschätziger. Sie alle werden mich hassen und sich nicht einmal Mühe geben, das zu verbergen. Weil ich reite, wie ich eben reite. Ich wäre die absolute Außenseiterin.

Plötzlich wird meine Kehle eng.

Du hast alles dafür aufgegeben, sagt Keela in meinem Kopf. Du hast dein Tiermedizinstudium hingeschmissen und jeden verfluchten Tag trainiert, um in die großen Wettkämpfe zu kommen.

»Für dich.« Meine Stimme klingt kratzig. »Alles für dich.« Als ich wieder zu tippen beginne, hinterlassen meine schwitzigen Finger nasse Abdrücke auf meiner Tastatur.

Sehr geehrter Mr Tyler,

ich danke Ihnen vielmals für diese einzigartige Chance. Hiermit bestätige ich meine Teilnahme an der Legacy League.

Herzliche GrüßeLola Dixon

Für mehrere schnelle Herzschläge starre ich den Senden-Button an. Will ich das jetzt wirklich durchziehen? Unsere kleine irische Stadt verlassen, um an einer Turnierserie teilzunehmen, die mir bis vor zwei Jahren völlig am Arsch vorbeiging? Wenn ich da jetzt draufklicke, gibt es kein Zurück mehr.

Mein Blick zuckt zu Keela und zu ihrem Lächeln, das ich seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen habe. Dann werde ich von einer Push-Benachrichtigung abgelenkt, die auf meinem Bildschirm aufploppt. Eine Schlagzeile in dicken Blockbuchstaben, von denen jeder einzelne wie Brandbeschleuniger durch meine Zellen fließt.

Aiven Audley holt Gold im Dressureinzel.

Er hat mich fertiggemacht. Wieder erklingt Keelas Stimme so laut in meinem Ohr, als würde sie neben mir sitzen. Audley hat mich gebrochen.

Die Flammen werden zu einem Feuersturm und reißen jede noch so beharrliche Trauermade mit sich.

Ich drücke auf Senden.

Aiven

Ich sollte dringend etwas tun. Irgendwas außer rumstehen und auf meine Stiefel starren. Ich sollte heulen vor Rührung, mir ergriffen an die Brust fassen und mit den Lippen ein lautloses Danke formen, während aus den Lautsprechern die ersten Klänge von God Save the King scheppern. Mir zu Ehren.

Der Union Jack flattert im leichten Sommerwind. Tausende Augenpaare im Schlosspark von Versailles und einige Millionen draußen vor den Bildschirmen glotzen mich an. Schauen staunend dabei zu, wie ich verloren auf diesem Podest stehe und mir eine goldene Scheibe vom Hals baumelt, die mir die Welt bedeuten sollte.

Dieser Moment, dieser Ich-stehe-hier-und-habe-die-verfickte-Goldmedaille-gewonnen-Moment, ist der Höhepunkt meiner Karriere. Vielleicht meines Lebens.

Also ja, verdammt, ich sollte irgendwas fühlen. Ehrfurcht, Freude, Respekt, irgendeine Art von bescheuertem Patriotismus.

Tue ich aber nicht.

Ich fühle das Gleiche wie der akkurat geschnittene Buchsbaum vor mir. Nämlich absolut nichts. Obwohl, vielleicht tue ich akkurat geschnittenen Buchsbäumen damit unrecht. Immerhin habe ich keine Ahnung, wie es um ihr Gefühlsleben bestellt ist. Vielleicht sind sie komplett missverstandene Geschöpfe und verfügen über mehr Empathie als andere Zierpflanzen. Wer weiß das schon?

Allein die Tatsache, dass ich über das Gefühlsleben einer Pflanze nachdenke, während die Menschen um mich herum »God save our gracious King, long live our novel King« trällern, sagt so ziemlich alles über das meine aus.

Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen und gebe alles, damit auch nur ein Hundertstel ihres Enthusiasmus auf mich übertragen wird. Zwei Kinder in der dritten Reihe tragen T-Shirts mit dem Aufdruck Aiven Audley for Gold in hässlicher Comic-Sans-Schrift. Sie winken wild zu mir herüber.

»Send him victorious, happy and glorious.« Ich gebe mein Bestes, meinen Mund so zu bewegen, dass es aussieht, als würde ich mitsingen.

Etwas weiter oben in den Rängen entdecke ich eine Gruppe junger Frauen, die verschiedene Pappschilder hochhalten und lauthals meinen Namen kreischen. Marry me, Aiven und Tausche Nummer gegen BH. Eine gibt offensichtlich einen Scheiß auf Datenschutz, denn sie teilt in fetten schwarzen Buchstaben ihren vollen Namen samt Anschrift, E-Mail-Adresse und mehreren Social-Media-Accounts mit der halben Welt.

Was geht in den Köpfen solcher Leute vor? Kam darauf jemals die Reaktion: Nice, hier meine Nummer, und jetzt rück deinen BHraus, den nehme ich als Trophäe mit nach Hause? Wohl kaum.

Und würden sie immer noch wollen, dass ich sie heirate oder einen merkwürdigen BH-Nummern-Tausch eingehe, wenn sie den wahren Aiven kennenlernen würden? Nicht den aus dem Olympia-Fernsehspot, von den Plakaten oder aus der dämlichen Pferdeshampoo-Werbung? Wenn sie wüssten, was ich getan habe?

»Long to reign over us«, singt die Menge, bevor ich mich mit der brutal ehrlichen Antwort auf die Frage beschäftigen kann.

Unter dem schwarzen Leder meiner Stiefel beginnt das Podest, zu wanken. Die Sonne brennt mir ein Loch in den Nacken, die Blicke der Menschen eins ins Herz.

Als die Kapelle endlich zu einem letzten »Kiiiiiing« ansetzt und die gesungenen Töne in Jubel übergehen, zwinge ich mich zu einem von Dankbarkeit verzerrten Lächeln und dazu, nicht von dem Podest zu springen, als wäre seine Oberfläche eine glühende Herdplatte.

So schnell ich kann, ohne zu wirken, als wäre ich auf der Flucht, verlasse ich den Sandplatz. »Aiven! Aiven! Aiven!«, johlen die Fans. »Ich will ein Kind von dir!«, schreit eines der Pappschilder-Girls. Gott, ich würde diese verfluchte Goldmedaille sofort dagegen eintauschen, endlich meine Ruhe zu haben. Die Lautstärke, die Hitze und das Wissen, dass gerade circa eine Million Augenpaare auf mich gerichtet sind, zehren an meinen Nerven.

Ich will abhauen.

Irgendwohin, wo mich keiner findet, mir keine BHs angeboten werden und mich niemand ehrfürchtig anstarrt, als wäre ich die Gen-Z-Version von Jesus.

Aber natürlich kann ich das nicht. Ich muss hier stehen, lächeln bis zum Gehtnichtmehr und ein bisschen in die Kamera flirten, damit niemand es wagt, mir den Titel Hottest Single Rider Großbritanniens streitig zu machen. Kein Titel, der mich auch nur ansatzweise juckt, doch meine PR-Beraterin Diana hält ihn für ungeheuer wichtig.

Gleich werden sich die Journalistinnen und Journalisten auf mich stürzen, und ich werde wieder und wieder darüber reden, wie unendlich glücklich und dankbar ich bin.

Glücklich und dankbar.

Ich könnte kotzen.

»Das war voll krass, Alter. Mein Bruder. Olympiasieger. Ich komm nicht klar.« Mit einem Strahlen kommt Henry auf mich zu. Er trägt ein T-Shirt, auf dem in fetten, glitzernden Buchstaben My brother is a champion über einem hässlichen Babyfoto von mir prangt.

»Du hast das Ding echt angezogen?« Ich stöhne. »Ich hasse dich.«

»Klar.« Henry grinst.

»Obwohl ich dir gesagt habe, dass das so ungefähr das Peinlichste ist, was ich mir vorstellen kann?«

»Gerade deswegen. Ich sorge prophylaktisch dafür, dass du keine Star-Komplexe kriegst. Jetzt, wo du so was wie ein Nationalheld bist.«

»Hab ich ein Glück.« Ich verdrehe die Augen. »Kannst du bitte hier warten? Wenn du mit diesem Peinlich-Oberteil ins Fernsehen kommst, muss ich mich öffentlich von dir distanzieren.« Mit dem Kinn deute ich Richtung Pressebereich.

»Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst. Die dahinten tragen sogar schlimmere T-Shirts.« Er deutet auf eine Gruppe Groupies in der ersten Reihe.

»O fuck«, mache ich, denn Henry hat recht. Jede von ihnen trägt ein Shirt mit meiner Visage.

»Deine Augen könnten ihre Nippel sein. Siehst du das?« Mein Bruder deutet auf meine T-Shirt-Augen, die tatsächlich auf Brusthöhe sind. »Und deine Nase müsste in etwa auf Höhe ihres Bauchnabels sein.«

»Ich will weder mit den Nippeln noch mit den Bauchnabeln dieser Leute was zu tun haben.«

»Echt nicht? Vielleicht sollten sie dann über bedruckte Hosen nachdenken, dann könnte dein Mund –«

»Henry.« Ich stöhne.

Er seufzt theatralisch. »Das Leben muss so einfach sein, wenn man du ist.«

O ja, mein Leben könnte einfacher nicht sein.

»Jetzt tu nicht so, als hättest du irgendwelche Schwierigkeiten damit, jemanden zu finden, der dich …« Ich halte inne.

»Fickt?« Lachend stößt er mir in die Seite.

»Schhhht.« Hektisch sehe ich mich um.

»Du bist so ein Klemmi.«

»Ich bin kein … Ach, hör schon auf.«

»Hast du mich mal angeguckt? Ich bin fucking hot, Alter. Natürlich hab ich keine Probleme damit, jemanden zu finden …« Verschwörerisch wackelt er mit den Augenbrauen. »… der das Bett mit mir teilt.«

»Warum gehst du mir dann so auf die Nerven?«

»Na jaaaaa«, sagt er gedehnt. »Jetzt, wo du Olympiasieger bist, batteln sich die Frauen fast darum, wer als Erste deinen Schwanz in den Mund nehmen darf.«

»Schhhhht«, mache ich erneut. »Henry, ich habe wirklich keine Lust, dass morgen in der Presse steht, dass irgendjemand meinen …«

»Deinen was?« Seine Mundwinkel zucken.

Ich schweige.

»Klemmi.«

Wie aufs Stichwort ruft eine der Frauen: »Hast du heute Abend schon was vor, Aiven? Wir hätten nichts dagegen, dich mit in unsere WG zu nehmen.«

»Komm schon, Alter.« Henry starrt mich entgeistert an, als ich mich – das Angebot offensichtlich ignorierend – abwende. »Von denen ist eine heißer als die andere. Sie tragen T-Shirts mit deiner Fresse drauf!«

»Ehrlich gesagt, will ich einfach hier weg«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Manchmal glaube ich nicht, dass wir verwandt sind.« Wehmütig schaut Henry zu den sechs Frauen, die tatsächlich recht attraktiv sind. »Sicher, dass Mum und Dad dich nicht auf dem Acker gefunden haben? Ich hab schon immer gedacht, dass deine Nase irgendwie komisch aussieht.«

»Mit meiner Nase stimmt alles. Ich kann nur das Geschrei nicht ertragen und sollte mich echt um diese Pressesache kümmern.« Damit wende ich mich zum Gehen.

»Warte.«

»Was ist?« Ich drehe mich um und mustere meinen Bruder, der jetzt seine Hände in den Hosentaschen vergraben hat und plötzlich doch nicht mehr so interessiert an den Fans zu sein scheint. »Henry? Ist alles okay?«

»Ja … ich …« Er stockt. Dieses Gestammel sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.

»Du …?«, helfe ich nach.

»Scheiße, Aiven, du hast gerade die fucking Goldmedaille geholt.«

Merkwürdig, das so zu hören. »Das habe ich wohl.«

»Ist dir klar, wie krass das ist?«

»Sehr krass, schätze ich mal.« Ich weiche seinem Blick aus.

Überrascht zucke ich zusammen, als er mich plötzlich in die Arme schließt und mir fest auf den Rücken klopft. Es ist nicht direkt unangenehm, nur ungewohnt.

»Fuck, du hast die fertiggemacht. Jeden von ihnen. Sogar diese bescheuerte Französin. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als du mal eben einen neuen Rekord aufgestellt hast.«

»Geschieht ihr recht. Sie ist unfassbar arrogant und …«

Bevor ich meinen Satz beenden kann, wird das Geräusch klickender Kameras laut. »Meine Fresse, können uns diese Dreckspaparazzi nicht mal für eine Sekunde in Ruhe lassen? Wir haben hier gerade einen sentimentalen Moment der Brüderlichkeit.« Henry löst sich von mir. Zurück ist der mir bekannte amüsierte Gesichtsausdruck.

»Sentimentale Momente der Brüderlichkeit verkaufen sich gut«, sage ich frustriert.

»Pisser.«

»Diese Pisser erwarten jetzt, dass ich mich da hinstelle und sechs­hundertmal die Frage beantworte, wie es sich anfühlt, Olympiasieger im Dressurreiten zu sein«, sage ich genervt.

»Und?«

»Was und?«

»Na, wie fühlt es sich an?«

»Keine Ahnung, ehrlich gesagt.«

»Über diese Antwort werden sich die Journalisten mit Sicherheit freuen.« Er grinst.

»Aiven? Haben Sie eine Minute?« An der Bande steht eine junge Frau, die sich anscheinend einen Weg durch die Kreisch-Fans gekämpft hat und hektisch zu uns herüberruft.

Ich stöhne.

»Wer ist das denn?« Mein Bruder deutet in ihre Richtung.

»Helena Hastings. Sportjournalistin, Podcasterin und eine absolute Nervensäge.«

»Sky Sports. Mr Audley, ich würde Ihnen gern einige Fragen zu Ihrer grandiosen Leistung stellen.« Ein weiterer, etwas älterer Reporter tritt neben Helena und wirft ihr einen missbilligenden Blick zu. »Mein Name ist Roy Tender.«

Als ob mich interessiert, wie der Kerl heißt. Ich unterdrücke ein Augenrollen.

»Aiven? Ein Interview?«, kommt es jetzt von links. Als ich mich umdrehe, sehe ich eine weitere Journalistin heftig winken.

»Himmel«, raunt mir mein Bruder ins Ohr. »Diese Reporter-Freaks vermehren sich ja schneller als Ratten auf Speed … Oh, da ist noch eine.« Er deutet in Richtung der Tribüne. »Zu der würde ich zuerst gehen. Die ist scharf. Sieht ein bisschen aus wie die eine aus Game of Thrones. Die mit den Drachen.«

»Meinst du die mit den weißen Haaren?«

»Genau.«

»Aiven, hier rüber.« Das ist jetzt wieder Helena Hastings’ Stimme.

»Oh, ups. Falscher Alarm. Ist ein Kerl«, sagt Henry.

»Was?« Verwirrt wende ich mich ihm zu.

»Die scharfe Drachenlady ist keine Lady. Hab meine Kontaktlinsen nicht drin. Sorry.«

»Ist mir eh egal.«

»Ach ja, hatte kurz vergessen, dass du jetzt zu nationalheldenmäßig bist, um die Attraktivität einer Frau aus dem Volke zu bemerken. So schnell ändern sich die Menschen.« Er lässt einen übertriebenen Seufzer verlauten.

»Das ist keine attraktive Reporterin, sondern der Typ von der BBC.«

»Aber es hätte eine sein können.«

»Dann wäre sie immer noch Reporterin und somit raus.«

»Weil du zu berühmt bist und sie dich ausnutzen könnte, um eine Story zu bringen, verstehe.«

»Nein, weil …«

… ich niemanden vögle, der denkt, ich wäre so was wie ein Held. Das wäre nicht fair.

»Hierher!«, ruft Helena Hastings erneut.

»Aiven Audley ganz privat. Steht der Reit-Olympiasieger im Bett darauf, selbst geritten zu werden? Wir machen den Test.« Henry kichert.

»Du bist ekelhaft.«

»Hierher! Aiven, hierher«, brüllt jetzt der Kerl, der wirklich gar keine Ähnlichkeit mit der Weißhaarigen aus Game of Thrones hat. Mein Kopf dröhnt. Ich muss dringend hier weg, sonst kotze ich auf einen der emotional missverstandenen, akkurat geschnittenen Buchsbäume.

»Und? Stehst du drauf?«

»Was?«

»Darauf, geritten zu werden?«

»Ach, halt die Klappe.« Ich nehme einen tiefen Atemzug und bringe meine Lippen dazu, das vor Dankbarkeit strotzende Lächeln noch für einige Herzschläge länger aufrechtzuerhalten. »Geh schon mal vor«, wiederhole ich, »ich komme nach, wenn ich mit der Presse durch bin.«

»So redet nur ein Promi erster Klasse.« Er deutet feixend eine Verbeugung an. »Man reiche uns Koks und Champagner und rufe die Dirnen.«

Genervt schüttle ich den Kopf. »Jetzt hau schon ab.«

»Ist ja schon gut.« Grinsend stiefelt er davon, und ich wende mich dem ersten Mikro zu, das mir vor die Nase gehalten wird.

Helena Hastings’ Augen leuchten hinter ihrer dicken Brille, als ich vor ihr stehen bleibe. »Hallo, Aiven.«

»Hi, Helena.«

»Erst mal möchte ich Ihnen meinen herzlichsten Glückwunsch aussprechen. Gold im Grand Prix, und das mit der höchsten Wertung seit Jahrzehnten.«

»Vielen Dank.« Ich vergrabe die Hände in den Tiefen meines Jacketts und halte mich an dem Innenfutter fest.

»Was für ein Gefühl ist es, hier zu stehen und die Goldmedaille gewonnen zu haben?«

There it is. Fast muss ich auflachen, weil die Frage so dermaßen banal ist. Was würde sie tun, würde ich wahrheitsgemäß antworten? Ach, ich weiß nicht, Helena, eigentlich fühle ich mich leer und wie ein verfickter Heuchler, weil ich nichts hiervon verdiene. Kennen Sie Beth Darcy? Sie ist eine Million Mal besser als ich, aber weil ich ein Stück Dreck bin, stehe ich hier, und sie ist weg.

Die Gedanken an sie und mich und alles, was war, werden zu einem klumpigen Tumor, der jedes meiner Organe befällt und mich daran hindert, zu atmen. Aber wenn ich Helena Hastings das alles sagen würde, wäre ich ziemlich am Arsch, und dann wäre alles umsonst gewesen.

»Es ist unbeschreiblich«, sage ich also. Unbeschreiblich ist gut. »Mein Team und ich und vor allem natürlich mein Pferd Secret haben so hart dafür gearbeitet, hier zu stehen. Es ist ein tolles Gefühl, dass sich die Arbeit jetzt auszahlt.« So, das Team zu benennen, kommt immer sympathisch. Meine PR-Beraterin wird begeistert sein.

»Sie trainieren auf Marigold Manor und sind dort im Elitekader, ist das richtig?«

»Ja, das ist richtig.«

»Würden Sie bestätigen, was inzwischen beinahe als Gesetz gilt, und sagen, dass Ihr Erfolg beweist, dass auf Marigold Manor die absoluten Topreiterinnen und -reiter des Landes ausgebildet werden?«

Was ist das denn für eine bescheuerte Frage? Die Moderatorin sieht mich schärfer an, als angemessen wäre. Die Schuld blubbert und brodelt und drückt gegen meine Kehle. Während ich nach den richtigen Worten suche, halte ich eisern an meinem Gesichtsausdruck fest, um mir nichts davon anmerken zu lassen.

»Ich für meinen Teil bin sehr zufrieden und dankbar, dort trainieren zu dürfen.«

»In wenigen Wochen beginnt bereits die Legacy League. Viele rechnen damit, Sie auch dort brillieren zu sehen.« Na danke. Bloß kein Druck. »Die Presse hat Ihnen schon jetzt den Spitznamen Golden Boy verliehen.«

»Davon habe ich gehört.« Ich hebe die Mundwinkel zu einem Grinsen und hoffe, dass man meinem Gesicht nicht ansieht, wie beschissen ich das finde.

»Wie gehen Sie mit diesem Druck um?«

Was will sie von mir hören? Dass mich der Druck fast umbringt? Dass ich kaum noch schlafe und ständig Angst habe, zu versagen?

»Es ist auf jeden Fall nicht leicht.« Wenigstens lüge ich nicht nur. »Aber ich bin dankbar, dass mein Land an mich glaubt, und werde alles tun, um es nicht zu enttäuschen.« Wieder eine Halbwahrheit.

»Dann sehen wir uns bei der Legacy League, Aiven. Wir drücken die Daumen, dass der Golden Boy erneut auf Platz eins landet.« Sie macht eine Siegerfaust und nickt mir zu.

»Danke, Helena.«

Mit schwerem Klumpenherzen gehe ich auf die nächsten Presseleute zu, die ihre Mikrofone wie Speere auf mich gerichtet haben. Die Pappschilder-Girls schreien noch immer: »Golden Boy! Golden Boy! Golden Boy!«

Sie wissen nicht, dass das hier eine Shitshow ist.

Sie wissen nicht, dass nichts an mir golden, sondern alles tumorschwarz ist.

Sie wissen gar nichts.

Aiven

Sobald sich die Türen des Exeter International Airport öffnen, bricht die Hölle über uns herein.

»Jap, jetzt bin ich froh, dass du mich überredet hast, nicht in meinem Highschool-Abschluss-Hoodie in den Flieger zu steigen.« Henry, dem das alles hier deutlich mehr Spaß zu machen scheint als mir, stößt mir grinsend in die Seite.

Ich brumme etwas Unverständliches und lasse mich von Lennox, meinem Bodyguard, durch die Flughafenhalle bugsieren. Rechts und links von uns gehen weitere Sicherheitsleute und schützen uns vor den Kameralinsen der Paparazzi.

»Nicht so hastig, nicht so hastig, meine Lieben«, sagt Henry. »Jeder bekommt ein Bild von mir, ganz entspannt.«

»Was machst du da?«, frage ich und ziehe ihn weiter.

»Ich posiere.«

»Aha, und was soll das für eine Pose sein? Der halb verreckte Schwan?« Lennox’ sonst so ernste Bodyguardmundwinkel zucken verdächtig. Die Rufe der Journalistinnen und Journalisten werden lauter. Immer wieder schreien sie meinen Namen und schnippen dazu leicht aggressiv mit den Fingern.

»Wenigstens feiere ich deinen Erfolg!« Henry wirft einem Paparazzo mit Hut eine Kusshand zu. »Während du …«, er wirft mir einen spöttischen Blick zu, »… aussiehst, als würdest du von einer Beerdigung kommen.«

»Wenn du noch ein Mal einen Luftkuss machst, fahre ich bald auf deine Beerdigung.«

»Haha.« Mein Bruder zieht eine Grimasse, hört aber immerhin mit dem Geknutsche und Gepose auf. »Wir sollten das echt feiern, Aiven. Du bist der Held, der Golden Boy der Nation. Du hast die Dressur nach Hause geholt.«

»Jetzt beruhig dich mal.« Bei der Lobhudelei krampft mein Magen.

Zum Glück erreichen wir in dieser Sekunde den Ausgang und werden von mehreren schwarzen Audis in Empfang genommen. Bevor Henry erneut eine peinliche Luftkussaktion hinlegen kann, schubse ich ihn auf die Rückbank. Die Tür fällt mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss, und herrliche Stille umfängt uns. Der Fahrer begrüßt uns mit einem knappen Nicken und biegt dann, flankiert von zwei weiteren Wagen, auf die Straße ein.

»Wird Zeit, dass die Voltigierturniere wieder losgehen«, sage ich zu Henry, grinse aber. »Deine Anwesenheit bei der Legacy League im Herbst ertrage ich nicht.«

»Meine Fresse, Aiven, du bist jung. Du musst was erleben.« Stöhnend lässt er sich tiefer in den Sitz sinken.

»Ich erlebe etwas. Ich habe gerade die Olympiade gewonnen.«

»Das meine ich nicht.« Ich weiß. »Hör mal, Aiven, nur weil Beth abgehauen ist, heißt das nicht, dass du für immer so tun musst, als wärst du ’ne Dressur-Maschine ohne Spaß.«

Fast lache ich laut auf, weil mich Dressur-Maschine ohne Spaß sehr genau beschreibt. Aber ihren Namen zu hören, lässt jedes Lachen zu Staub zerfallen.

»Dafür hast du zu viel Spaß, seit River weg ist.« Ich hebe eine Augenbraue, um auf die Eskapaden aufmerksam zu machen, in die sich mein Bruder immer wieder verstrickt, seit seine beste Freundin vor einem Jahr nach Paris gegangen ist.

»Was das angeht …« In seiner Mimik verändert sich etwas. »Sie kommt zurück. River.«

»Was? Wirklich?«

Er nickt. »Irgendwas war in Paris oder so. Keine Ahnung, was genau. Auf jeden Fall kommt River jetzt zurück, und ich schieb ein bisschen Panik, weil …« Zerknirscht rauft er sich das Haar.

»Weil …?«

»Weil wir auf ihrer Abschiedsfeier vielleicht was miteinander hatten.«

»Fuck.«

»Ja, fuck.«

Für den Rest der knapp zweistündigen Fahrt reden wir kaum miteinander, sondern stecken uns die AirPods in die Ohren. Aus seinen dröhnt bestimmt irgendein Rapsong, während er sich den Kopf darüber zerbricht, wie er River gegenübertreten soll, ohne dass es krampfig wird. Wild Guess: Es wird hundertpro krampfig.

Ich halte mein Handy so, dass seine neugierigen Augen nicht sehen, wie ich auf den Herr-der-Ringe-Soundtrack tippe und mit The Shire in den Ohren versuche, zu ignorieren, was auf mich zukommt, sobald wir unser Ziel erreichen.

Als der Wagen auf dem Vorplatz des Anwesens zum Stehen kommt, versteckt sich die Sonne hinter grauen Wolken. Feiner Nieselregen erzeugt kleine Kreise auf dem Wasser des runden Brunnens, der im Zentrum der Anlage steht. Die zwei Pferdestatuen, die Henry Heidi und Tom getauft hat und aus deren Mäulern bei besserem Wetter kleine Fontänen sprühen, sehen in etwa so erschöpft aus, wie ich mich fühle.

Die vergangenen Tage und Siege, die nicht enden wollenden Interviews und die Anstrengung, ein stählernes Lächeln in eine Million Objektive zu halten, zerren wie Blei an meinen Extremitäten.

Träge lasse ich meinen Blick über die weiße Fassade des eleganten Herrenhauses schweifen. Majestätische Säulen stützen einen verschnörkelten Balkon und flankieren eine breite Treppe, die von Kübeln voller Ringelblumen gesäumt ist. Über der schweren Eingangstür prangt in großen geschwungenen Lettern der Name des Gestüts.

Marigold Manor – The Royal Equestrian Estate.

Die Buchstaben glänzen, weil alles hier glänzt. Die Fassaden der Häuser und die Fassaden der Menschen. Alles wird ständig erneuert, poliert und überstrichen. Es ist keine Spur der Hässlichkeit zu sehen, die sich hinter all dem Lack, all dem Gold und all dem Geld abspielt.

»Also keine Party heute Abend?«, fragt Henry, der hinter mir aus dem Auto steigt.

»Keine Party.« Alles, was ich will, ist mein Bett, keine Menschen und ein Game-of-Thrones-Rewatch. Für mehr als Gemetzel, Drachen und wahlloses Gebumse habe ich keine Kapazitäten. Mit einem knappen Nicken verabschiede ich mich von Lennox und den anderen, die uns dabei beobachten, wie wir die breite Treppe hinaufgehen.

»Aiven, da bist du ja endlich.« Kaum ist das Echo der ins Schloss fallenden Tür in der Eingangshalle verklungen, hallt die Stimme meines Trainers Balthazar von den Wänden wider. Er ist bereits gestern aus Paris zurückgekehrt.

»Das nenne ich mal eine Begrüßung. Hallo, Thaz, schön, dich zu sehen.« Henry schenkt ihm – angesichts der Ignoranz, die ihm entgegengebracht wird – ein viel zu breites Lächeln.

»Henry.« Mein Trainer nickt nur kurz in seine Richtung.

»Warum so schick, Thaz? Erneuert du und Jeanette euer Eheversprechen, und du hast vergessen, uns zur Hochzeit einzuladen?« Mit dem Kinn deutet er auf den Gehrock und die bestickte Weste, die er trägt. Ich bleibe still und hoffe, dass das Getue nicht noch länger dauert, damit ich mich so schnell wie möglich in mein Apartment verziehen kann. »Oder wolltest du mich mit Absicht nicht dabeihaben, damit ich dir nicht die Show stehle und Jeanette lieber mit mir statt mit dir verheiratet wäre?«

Zu wünschen wäre es ihr, ergänze ich sarkastisch. Aber nur in Gedanken.

Thaz reagiert auf Henrys Witz nicht mal mit einem Wimpernzucken. »Ich bin so schick, weil im Gentlemen’s Room gerade ein Empfang stattfindet.« Seine Miene ist streng. »Dir zu Ehren.« Mit einem langen Finger deutet er in meine Richtung. »Du solltest also dringend dieses Ding …« Mit angewidertem Gesichtsausdruck beäugt er meine Chinohose. »… ausziehen und dich entsprechend deiner Stellung kleiden.«

Alles in mir will widersprechen und den Gemetzel-Drachen-Gebumse-Plan durchziehen. »Gib mir zwanzig Minuten«, sage ich trotzdem.

»Du hast zehn.« Sein eiserner Blick trifft auf meinen und macht mir einmal mehr bewusst, wie mein Leben funktioniert.

Exakt neuneinhalb Minuten später stehe ich in einem glänzenden Mohairanzug im Gentlemen’s Room und halte pseudomäßig ein Glas Whisky in der Hand, dessen Inhalt ich in einem unbeobachteten Moment wegkippen werde. Das Licht ist spärlich, die Möbel altmodisch, genau wie die Menschen.

In breiten Ledersesseln fläzen sich Männer über vierzig, von denen mindestens die Hälfte dicke braune Zigarren in den Händen hält, deren Geruch sich über die vergangenen Jahrhunderte in Teppich und Gardinen gefressen hat.

Obwohl ihre Stimmen von modernem Jazz übertönt werden, weiß ich genau, worüber sie reden. Dass die woke Jugend eine Tracht Prügel verdient, wenn sie anfängt, für so etwas Lachhaftes wie den Klimawandel die Schule zu schwänzen. Dass es so etwas früher nicht gegeben hat, weil Männer damals noch wussten, was es heißt, ein Mann zu sein. Und dass Trump im Grunde vollkommen missverstanden und von den Medien falsch dargestellt wird. Ich weiß, ich sollte mich dazusetzen und versuchen, sie mit der Scheiße in ihren Hirnen zu konfrontieren.

Aber was soll das schon bringen?

Die Uhr, die über der Bar hängt, zeigt halb neun. Wie lange muss ich es hier aushalten, bis ich mich endlich meinem Bett und der Sache mit dem Gemetzel widmen kann? Ich unterdrücke ein Seufzen. Zu lange. Eindeutig zu lange.

Thaz sieht zu mir herüber und prostet mir zu. Bei ihm stehen Michael, der Chefspringtrainer, und Cyrus, der Pferdetrainer. Der Duke’s Club. Nach außen hin drei charismatische, für ihr Alter recht gut aussehende Kerle mit angegrauten Schläfen und gerade so vielen Falten im Gesicht, dass sie reif statt steinalt wirken. Im Inneren jedoch …

»Da ist ja der heutige Ehrengast.« Die dunkle Stimme, die plötzlich mein linkes Ohr flutet, jagt mir eine Gänsehaut über die Schultern und lässt meinen Gedankenstrom abreißen. »Team- und Einzelgold, und das mit dem besten Ergebnis seit den Achtzigern.« Fast schmerzhaft landet eine Hand, an der ein fetter Siegelring prangt, auf meiner Schulter, und auf einmal wünschte ich, morgen nicht um sechs Uhr dreißig trainieren zu müssen, damit ich den Whisky in meiner Hand doch trinken könnte, um alles etwas erträglicher zu machen.

»Ihr müsst platzen vor Stolz, Your Grace. Immerhin ist Euer Sohn ein Nationalheld.« Phoenix Grey, eigentlich Hotelerbe, aber gerade vor allem Speichellecker und Arschkriecher, gesellt sich zu uns und strahlt meinen Adoptivvater an, als würden ihm zu Schmetterlingen gefaltete Hundertpfundscheine aus dem Hintern flattern.

»Harriet und ich könnten uns nicht glücklicher schätzen.« Der Duke of Lancaster lässt seine Hand väterlich auf meiner Schulter liegen und drückt sie mit der Kraft einer Industriepresse nach unten. Schweiß rinnt meinen Rücken hinab.

»Wo Ihr sie erwähnt, wo ist Eure werte Gattin, die Duchess?«, fragt Speichellecker interessiert und nimmt einen Schluck aus seinem Glas.

»Shoppen.« Wieder lacht der Duke so dröhnend, dass das Echo in meinen Ohren klingelt. »Letzte Woche Paris, diese Woche London. Ihr Ankleidezimmer gleicht mittlerweile einem Kaufhaus. Aber so sind die Frauen. Wir können das Geld gar nicht so schnell verdienen, wie sie es in Handtaschen und Schuhe investieren.«

Zustimmendes Gejohle von allen Seiten. Mir ist heiß. Es ist so verflucht stickig hier drin. Er redet von Geldverdienen und spielt sich auf, als würde er meine Mutter aushalten. Dabei weiß jeder hier im Raum, dass sie diejenige mit dem Adelstitel und dem Vermögen ist und er derjenige, der ausgehalten wird.

Aber ich sage nichts.

Natürlich sage ich nichts.

Ich stehe nur rum und schwitze und warte darauf, dass die Zeiger auf der Uhr sich auf eine Zahl zubewegen, die es vertretbar macht, abzuhauen.

»Und wie geht’s weiter, Aiven?«, fragt Speichellecker Phoenix jetzt an mich gerichtet.

»Erst mal muss ich ’ne Menge Schlaf nachholen«, antworte ich zwinkernd und verstecke meine finsteren Gedanken hinter einem breiten Grinsen.

»Das sei dir gegönnt.«

Oh, vielen Dank, spotte ich in Gedanken. Danke, dass du mir Erholung gönnst und dich hier aufspielst, obwohl du nur Teil dieses Männerclubs bist, weil dein Vater ’ne große Nummer ist, mit der sich niemand anlegen will.

»Aber bald steht schon die Legacy League an. Denkst du, du kannst an deinen Erfolg anknüpfen? Nicht, dass der Golden Boy schneller zu einem Rust Boy wird als gedacht.« Er lacht über seinen eignen Witz, aber niemand steigt ein.

»Ich gebe mein Bestes«, antworte ich schlicht.

»Und dein Bestes wird reichen.« Der Duke nickt mir aufmunternd zu, doch mir entgeht nicht, dass er die Hand von meiner Schulter genommen hat. »Du wirst Großes erreichen, mein Junge. Wir haben dich schließlich nicht adoptiert, damit du nur zweitklassige Ergebnisse lieferst.« Er lacht schallend und tut für alle Umstehenden so, als wäre diese Aussage nicht mehr als ein lockerer Spruch. Liebevolle Neckereien zwischen Vater und Sohn. Uh, wir stehen uns so nah, ich mach doch nur Spaß.

Schön wär’s.

»Keine Sorge.« Ich lächle mein Siegerlächeln und mache eine Wegwerfbewegung mit der Hand. »Noch bin ich weit davon entfernt, zu rosten.« Eigentlich komisch, dass ich es schaffe, Worte hervorzubringen, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzen. Dass ich es überhaupt schaffe, Luft in meine Lungen zu befördern, wo da doch unsichtbare Finger sind, die sich fest um meine Kehle schließen.

An einem steckt ein fetter Siegelring.

Der Duke of Lancaster nickt zufrieden, bis sein Blick von etwas hinter mir abgelenkt wird. Seine Gesichtszüge verhärten sich, als sich sein steinerner Blick wieder mir zuwendet. Die Finger drücken zu.

»Aiven, ich kann dir nur danken, dass du dich zu benehmen weißt. Anders als dein Bruder.«

»Henry ist hier?« Verwirrt schaue ich mich um und sehe ihn in dieser Sekunde den Gentlemen’s Room verlassen. In jeder Hand eine Flasche Moët.

»Der eine ein Dressur-Ass, der andere ein Ausnahmetalent im Voltigieren. Eure Söhne sind wirklich außerordentlich begabt, Your Grace.« Phoenix Grey ist wieder in den Speichelleckermodus gewechselt. »Es muss am Namen liegen.«

Am Namen. Genau. Ich unterdrücke ein Seufzen.

Irgendwann wird das Gelaber von Phoenix und den anderen zu einem unverständlichen Rauschen. Ich stehe einfach da und starre immer wieder auf die Uhr. Nach zwei Stunden, die sich eher nach zwei Jahrhunderten anfühlen, täusche ich schließlich ein Gähnen vor.

»Ist der Golden Boy etwa schon müde?« Phoenix Grey bedenkt mich mit einem spöttischen Grinsen.

»Die Anstrengung der letzten Tage lässt mich meine Manieren vergessen. Ich sollte zu Bett gehen, damit ich morgen trainieren kann.« Und weil ich es hier nicht mehr aushalte.

»Gute Nacht, Sohn«, sagt der Duke und erlöst mich damit von den Fesseln. Endlich fliehe ich.

Ich fliehe vor dem Qualm und dem Geflüster, vor der Abscheulichkeit, die sich in jeder Ritze versteckt, vor den enttäuschten Augen der Gäste und davor, noch länger der Golden Boy sein zu müssen.

Und während ich mir einen Weg durch schwarze Anzüge und graue Schläfen bahne, merke ich, dass ich vor der Hand, die um meinen Hals liegt, nicht fliehen kann.

Niemals.

Lola

ZWEI MONATE SPÄTER

»Ich wollte eine süße Mütze stricken, um mich davon abzulenken, dass morgen der wohl krasseste Tag in meinem Leben wird. Aber das sieht eher aus wie …« Skeptisch betrachte ich das undefinierbare Wollding. »… eine missratene, übergroße Socke. Du kennst nicht zufällig jemanden mit Schuhgröße 68? Den Hulk oder so?«

»Leider nicht.« Meine Mutter lacht am anderen Ende der Welt in ihr Handy. »Aber mach dir nichts draus. Als Löwe bist du nun mal unruhiger.« Ihr Bild schwankt auf dem Tablet hin und her. Während hier in Irland der Regen an die Fensterscheibe klopft, liegt sie unter der Sonne Thailands in einer Hängematte.

»Ich glaube, es hat nichts mit meinem Sternzeichen zu tun, dass ich im Stricken eine Niete bin.« Ich hebe eine Augenbraue und linse skeptisch Richtung Bildschirm. »Außerdem bist du auch Löwe, und deine gestrickten Sachen sehen nicht so deformiert aus.«

»Aber mein Aszendent ist Stier.«

»Ah, das erklärt natürlich alles.«

»Daher kommt die ruhige Stabilität meiner Hände.«

»Alles klar.« Ich rolle mit den Augen und schlucke jede weitere Erwiderung herunter.

»Du denkst, dass ich sie nicht mehr alle habe.« Sie seufzt. »Ich verstehe einfach nicht, warum du dich immer so gegen die Vorsehungen des Universums wehrst.«

»Ich wehre mich nicht«, sage ich schnell. »Ich bin volle Kanne in Verbindung mit dem Universum und so weiter. Jaja, meine Löwen-Unruhe macht es mir schwer, aber ich gebe mir Mühe. Bitte hetz mir nicht wieder so eine Eso-Trulla auf den Hals!« Es ist gerade mal ein Jahr her, dass aus dem Nichts eine Frau vor der Tür stand, deren Outfit meines Erachtens aus zu vielen Muschelketten und Batiktüchern bestand und die mich ganz vehement in Sachen Schicksal und Sterne beraten wollte.

»Chantaya ist keine Eso-Trulla, sondern ein spirituelles Medium, das dir helfen sollte, deinen inneren Widerstand zu überwinden und deinen Horizont zu erweitern.«

»Alle dachten, sie wäre aus einer Sekte, Mum. Susanne von gegenüber erzählt immer noch, dass unsere Familie kurz davor ist, eins der Pferde zu schlachten, um es einer der heiligen Göttinnen der Batiktücher zu opfern.«

»Ich konnte Susanne nie leiden. Sie ist so steif …« Mum schließt die Augen und schaukelt weiter vor sich hin.

»In deinen Augen ist jeder steif, der nicht mindestens zwei Tan­traworkshops besucht und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses eine Klage am Hals hat.« Ich widme mich wieder dem Ding, das an meiner Stricknadel hängt. Auch ohne die stabilen Stier-Aszendenten-Hände.

»Wann ist dein erstes Rennen?«

»Du meinst Turnier.«

»Ja, dann das.« Sie schaukelt und schaukelt. »Wann musst du nach Dänemark?«

»Mein Flug geht in vier Stunden.« Es auszusprechen, macht es realer, als mir lieb ist. Vier Stunden. In vier lächerlich kurzen Stunden wird mein Leben eine Hundertachtziggradwende machen.

»Und dann geht’s direkt los?«

Ich schüttle den Kopf. »Das Turnier ist erst übermorgen. Blue braucht Zeit, um sich von der Reise zu erholen, und ich auch.« Bei dem Gedanken daran, wie stressig die lange Fahrt für Blue sein muss, verkrampft sich mein Magen.

»Ah.«

»Aber mir wäre es lieber, wenn es direkt losgehen würde. Meine Nerven machen das nicht mit. Ich dachte, Stricken würde mich beruhigen, aber … ach, Scheiße.« Zum hundertsten Mal fällt mir eine Masche von der Nadel. Frustriert schleudere ich mein ohnehin zum Scheitern verurteiltes Projekt ans andere Ende der Couch. Vom Tablet kommt ein undefinierbares Grunzen. »Wenn du mir jetzt wieder mit dem Löwen-Aszendent-Quatsch kommst, kann ich für nichts garantieren, Mum«, sage ich warnend und ignoriere die Gefahr, dass sie mir noch mal diese Batiksekten-Trulla auf den Hals hetzt.

»Das wollte ich gar nicht sagen.« Wie immer säuselt sie, ohne sich von meinen übersprudelnden Emotionen anstecken zu lassen. Und wie immer macht mich das wahnsinnig. »Ist denn sonst alles okay bei dir, Schatz? Du hast dir ja was Großes vorgenommen mit dieser Wildcard-Sache …« Meine Mutter klingt nun doch eher besorgt als säuselnd.

»Alles gut.«

Vom Tablet kommt ein undefinierbares Geräusch.

»Was ist?« Ich fahre mir durch mein dunkles Haar.

»Es ist nur …« Mum zögert. »Mir ist klar, dass du das alles für sie machen willst.«

»Und?«

»Okay, schau mal, Keela ist seit fast zwei Jahren tot, und du bist seitdem völlig besessen davon, Dressurstar zu werden.« Sie stockt. Was zwischen ihren Worten mitschwingt, gefällt mir ganz und gar nicht.

»Ich bin mit Pferden aufgewachsen, Mum. So neu ist das alles auch wieder nicht. Ich bin schon immer gern geritten …«

»Aber nicht so.« Die stetige Schaukelbewegung ihres Gesichts treibt mich in den Wahnsinn.

»Was meinst du?«

»Du warst schon immer eine hervorragende Reiterin, aber du wolltest doch nie Leistungssportlerin werden. Du hast den Schnickschnack dieser elitären Dressurwelt immer verabscheut. Du hast immer gesagt, das sei nicht dein Ding. Es war ihr Ding.«

»Das spielt doch überhaupt keine Rolle. Das, was mal war, spielt keine Rolle.« Verärgert richte ich mich auf. Mein Wollknäuel fällt von der Couch, rollt über den Teppich und zieht die halb fertige Hulksocke mit sich. »Keela hat sich umgebracht, Mum. Sie ist nicht einfach überfahren worden oder so. Sie hat sich entschieden, ihr Leben zu beenden, weil die sie fertiggemacht haben. Sie hatte die besten Chancen, ein verdammter Star zu werden. Sie hatte alles, was sie wollte. Sie hatte mich. Und trotzdem …« Der Rest des Satzes wird von einer Wutträne erstickt, die sich aus meinem Augenwinkel löst.

»Das verstehe ich doch alles.« Meine Mum schluckt und atmet einmal tief durch. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich mitatme und mich beruhige. »Ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Du bist so verbissen und du trainierst so viel, um Keela irgendwie am Leben zu halten. Glaubst du nicht, dass es Zeit wäre … ich weiß nicht … weiterzumachen?«

Weitermachen.

Sie sagt das, als wäre meine Seele mehr als ein von Trauermaden zerfressener Schatten, der nur noch vom Rachefeuer zusammengehalten wird.

»Du könntest mich auf Koh Phangan besuchen kommen. Der Abstand würde dir bestimmt guttun.«

»Ich will keinen Abstand. Ich will die Legacy League gewinnen.«

Ich schlucke gegen den Geschmack von Asche an, der sich auf meiner Zunge ausbreitet. Die Hängematte hört auf, zu schaukeln, als Mum sich aufrichtet und die Beine auf den Boden stellt, um mich eindringlich anzusehen. »Wenn du willst, leite ich eine Atemübung an, die deine Seele von der Wut befreit. Du wirst dich fühlen wie ein neuer Mensch.«

»Lols?«, ruft Dad aus dem Hausflur und rettet meine Seele zum Glück davor, von irgendwas befreit zu werden.

»Wohnzimmer.«

Als ich Schritte höre, drehe ich mich zu ihm um. »O Gott.« Mein Blick fällt auf den schillernden Zylinder, der auf seinem weißen Haar thront. »Ist schon wieder Freitag?«

»O nein, Oscar.« Meine Mum, die das Ungetüm von Hut ebenfalls entdeckt hat, schlägt sich die Hand vor den Mund. »Moderiert dein Vater immer noch jeden Freitag dieses Pubquiz?«

»Jap.«

»Das, bei dem die Leute bei jeder falschen Antwort ein Kleidungsstück ausziehen müssen, bis selbst der Bürgermeister komplett nackt auf der Bühne steht?«

»Nicht ganz nackt. Sie haben ja die Hüte.« Ich deute auf Dads Kopf.

»Und findet das immer noch in diesem schrecklichen Laden statt?« Mum schüttelt gequält den Kopf. Die Erleichterung, nicht mehr in dieser Stadt zu wohnen, ist ihr auf die Stirn tätowiert. Ihr war Fermoy immer zu klein. Zu gleich. Sie wollte mehr. Sie wollte die ganze Welt.

Meine Eltern haben das mit der Trennung lehrbuchhaft gut hinbekommen. Ich wurde in alles miteinbezogen. Mir wurde glaubhaft versichert, dass ich nicht schuld an der Trennung sei, und ich durfte entscheiden, wo ich wohnen will. Meine Entscheidung, bei Dad zu bleiben, habe ich nie bereut. Erst recht nicht, als Dad Joana kennengelernt hat und sie zusammen mit Keela bei uns eingezogen ist. Keela und ich waren das, was man in realitätsfernen Romance-Büchern als enemies to lovers betiteln würde. Enemies to sisters trifft es eher.

»Das Sheep’s Colon ist ein wunderbarer Laden!«, mischt Dad sich ein und holt mich so aus der schmerzhaft pochenden Erinnerung. Er beugt sich zum Tablet herunter und hebt bedrohlich den Zeigefinger. »Vanessa, du vergisst, dass …«

»… Ed Sheeran seinen ersten großen Hit im Sheep’s Colon geschrieben hat«, vervollständigt sie seinen Satz sofort. »Nein, das vergesse ich nicht. Ich glaube nur nicht, dass es wahr ist.«

»Pah, sag deiner Mutter, dass es dafür Beweise gibt!« Mit verschränkten Armen fordert mein Vater mich auf, ihm beizupflichten.

»Die ›Beweise‹ …«, ich male Anführungsstriche in die Luft, »belaufen sich auf die alkoholgeschwängerte Erinnerung von Ernie, Dad.«

»Ernie hat noch nie gelogen.«

»Gestern habe ich ihn bei Trudy’s getroffen, und er hat mir erzählt, dass er in Vietnam gekämpft hat.«

»Ja und? Kann doch sein.«

»In Vietnam hat er einem Leutnant das Leben gerettet, dann im Namen seines besten – aber leider verstorbenen – Freundes einen Fischkutter gekauft und Shrimps gefischt.«

Mum bricht in derart heftiges Gelächter aus, dass ihr Bild für einige Sekunden hängen bleibt.

»Ich gebe zu, dass ich das Narrativ schon mal irgendwo gehört habe.« Dad grinst. »Aber was Ed Sheeran angeht …«

»… redet Ernie den gleichen Stuss wie immer.« Meine Mutter schüttelt amüsiert den Kopf. Ein lauter Gong ertönt, und sie fährt erschrocken zusammen. »Lola Schatz, ich muss mal auflegen. Der Workshop zur weiblichen Selbststimulation fängt an. Melde dich, wenn du in Dänemark angekommen bist. Toi, toi, toi!«

»Alles klar. Viel Spaß.« Ich bin längst über den Punkt hinaus, mich für die schrägen Dinge zu schämen, die meine Mutter jeden Tag abzieht. Immerhin schleppt sie mich nicht mehr mit zu irgendwelchen schamanischen Sexritualen.

»Ciao, Vanessa.« Dad winkt in die Kamera. »Denk dran, was Ernie immer sagt: Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man kriegt.«

»Lauf, Vanessa, lauf«, rufe ich.

Mum schlägt sich die Hand vor die Stirn und beendet den Anruf.

»Ich muss auch los.« Dad umrundet die Couch und schließt mich in seine Arme. »Viel Glück, mein Schatz! Ich werde dich vom Sofa aus anfeuern.«

»Danke, Dad.«

»Es ist noch Lasagne im Kühlschrank.« Sich den Zylinder geraderückend, wendet er sich zum Gehen. »Und schau mal nach Joana. Sie fühlt sich heute nicht so gut.« Ein trauriges Schimmern tritt in seinen Blick, denn seit dem Tod ihrer Tochter fühlt sich Joana fast jeden Tag nicht so gut.

»Mach ich.« Ich lächle ihm zu, aber die Art, wie er es erwidert, hängt ein tonnenschweres Gewicht an mein Herz. Er winkt mir ein letztes Mal zum Abschied zu und verlässt dann das Haus. Die Stille, die darauf folgt, verdoppelt das Gewicht.

Vier Stunden. In vier Stunden sitze ich im Flieger und werde meine Schwester rächen. Statt zu ertrinken, werde ich mein Feuer schüren.

Der Dressurplatz wird ein Battlefield.

Nur weiß er es noch nicht.

EQUESTRIAN ELITE INFORMIERT:

Golden ist der Herbst – aber gilt das auch für unseren liebsten und ansehnlichsten Dressurchampion Aiven Audley? Denn nach der Olympiade ist vor der Legacy League by Pikeur. Auch bei der prestigeträchtigen Turnierreihe für Reiter und Reiterinnen unter 30, die parallel zum Weltcup stattfindet, will Audley brillieren. Wer hier gewinnt, qualifiziert sich für den Weltcup und ist endgültig an der Spitze angekommen. Wird es dem Olympiasieger gelingen, an seinen grandiosen Erfolg anzuknüpfen?

»Auf jeden Fall«, sagt Reitsportexperte Roy Tender im Interview. »Wir haben längst nicht alles von ihm gesehen, und ich bin davon überzeugt, dass Aiven Audley auch in diesem Jahr wieder strahlen wird.«

Sein Wort in Gottes Ohr, sagen wir da nur und richten unseren Blick auf die dänische Stadt Herning, wo an diesem Wochenende das erste Legacy-League-Turnier stattfindet. Neben Aiven gehen weitere bekannte Größen des Sports an den Start. Vor allem der deutsche Shootingstar Johanne Müller, die den Sieg im letzten Jahr knapp verpasst hat, wird es Aiven nicht leicht machen.

»Müller will es dieses Mal allen beweisen und tritt mit ihrem Wallach Campari an«, so Tender. »Aber auch die Französin Claudine Dellard ist in dieser Saison nicht zu unterschätzen. Sie hat die Zeit, die sie wegen Tierquälerei gesperrt war, gut genutzt und ist stärker denn je.«

Neben den Topstars geht in diesem Jahr erstmals eine Wildcarderin an den Start, die den traditionsgeprägten Sport modernisieren soll. Lola Dixon ist bisher völlig unbekannt in der Szene, fiel jedoch bei kleineren Turnieren durch einen von Modernität geprägten Dressurstil und ein extravagantes Auftreten auf. Sie verzichtet auf Kontrollwerkzeuge wie Gerte, Sporen und Sperrriemen und postuliert in sämtlichen Interviews verschärfte Tierwohlkontrollen.

Ob das ausreicht, um die immer lauter werdenden Stimmen, die einen Ausschluss des Reitsports von den Olympischen Spielen fordern, zum Schweigen zu bringen, ist zu bezweifeln. Dass Dixon eine große Rolle beim Kampf um die Medaillen spielen wird, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Aber wer weiß, vielleicht wird unser Golden Boy mehr herausgefordert, als wir alle glauben.

Lasset die Spiele beginnen.

Lola

Ich wusste nicht, dass Rache den Geschmack von Earl Grey annimmt, bis mir in einem Raum voller Menschen, die mir nichts als abschätzige Blicke zuwerfen, eine dampfende Tasse davon in die Hand gedrückt wird.

Zaghaft nippe ich daran und versuche dabei, mein Gesicht weiterhin interessiert wirken zu lassen.

»Diese Wildcard ist nicht nur eine Ehre, sie ist ein Privileg, Ms Dixon«, sagt der Typ von der Organisation mittlerweile garantiert zum achten Mal. Und zum achten Mal nicke ich mit ernster Miene.

Der Raum unweit des Dressurplatzes ist gefüllt mit Gästen, Trainern und Teilnehmenden. Es riecht nach Leder, süßlichem Parfum und bitterer Arroganz. Zwei Frauen mit cremefarbenen Hüten auf dem Kopf und cremefarbenen Hunden auf den Armen flüstern hinter vorgehaltener Hand, und ich bin mir sicher, die Worte Wildcard, Möchtegern und peinlich zu vernehmen.

Ich lächle in meinen Tee hinein. Glotzt ihr nur. Ihr werdet schon sehen.

»Ms Dixon?«

»Hm?« Ich wende mich wieder Mr Pemberton zu, dessen Anwesenheit ich für einen Moment vergessen hatte.

»Sie haben Verantwortung.« Streng hebt er eine Augenbraue. »Ich hoffe, das ist Ihnen bewusst.«

»Total bewusst, Sir.«

»Wir haben Sie ausgewählt, weil wir Ihnen – und nur Ihnen – zutrauen, den Reitsport zu revolutionieren.« Ein wenig zu dramatisch sieht er mir in die Augen. »Sie können hier viel bewirken.«

»Ach, kommen Sie schon.« Scheinbar peinlich berührt winke ich ab. »Glauben Sie, mir ist nicht klar, dass ich nur hier bin, weil Sie hoffen, dass sich die Berichterstattung auf mich konzentriert? Sie wollen, dass die Leute die Skandale der Olympiade vergessen, und mit mir das Image der Dressur aufpolieren.« Meine Stimme ist papp­süß und meine Miene eiskalt. »Sie glauben nicht, dass ich wirklich eine Chance habe, oben mitzuspielen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das auch gar nicht wollen.« Ich halte seinem Blick stand. »Ich bin hier Mittel zum Zweck, soll aber bloß fernbleiben von den vorderen Plätzen. Nicht wahr?«

»Das … äh … ist so nicht ganz richtig.« Mr Pemberton kratzt sich, offensichtlich von meiner forschen Art überrumpelt, am Ohr.

»O doch, das ist sogar sehr richtig.« Mit dem Lächeln einer dieser gruseligen Porzellanpuppen trinke ich den letzten Schluck meines Earl Grey. »Aber wissen Sie was? Es interessiert mich nicht. Sie werden schon sehen, und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe ein Turnier zu gewinnen. Danke für die Wildcard.« Ich stelle die leere Blümchentasse auf den Tisch vor mir und erhebe mich. »Und den Tee.«

Schockierte Blicke bohren sich in meinen Rücken, während ich durch den Raum gehe und den Vertreter des Dressurverbandes einfach stehen lasse. Mit beschwingten und vor Entschlossenheit federnden Schritten verlasse ich den Vorbereitungsraum und gehe über den Platz. Anhand der Turnierkleidung erkenne ich die anderen Teilnehmenden. Ich schlucke und versuche, mir meine Ehrfurcht nicht anmerken zu lassen, da ich nicht wenige seit meiner Kindheit auf den Bildschirmen verfolge. Zwei Niederländer, deren Namen ich immer verwechsle, kommen mir entgegen und schauen mich neugierig an. Als ich an Johanne Müller vorbeigehe, bin ich fast dazu geneigt, stehen zu bleiben und sie um ein Autogramm zu bitten. Doch die deutsche Reiterin und Ikone ist umringt von Journalisten und einem Team aus mehreren Trainern. Hier ist jeder in ein Gespräch versunken.

Ich bin als Einzige allein.

Bei dem Gedanken wächst ein drückendes Gefühl in meinem Bauch, und auf einmal wünsche ich mir, auch einen strengen Trainer und ein Team aus Pflegern an meiner Seite zu haben, das mich ein Vermögen kostet.

Im nächsten Moment kreischt jemand. Nicht auf die Ich-habe-Angst-gekillt-zu-werden-, sondern auf die Vor-mir-steht-ein-A-Promi-Art.

Was zur …?

Verwirrt sehe ich mich um. Ein Wagen mit getönten Scheiben fährt vor und wird augenblicklich von einer tobenden Menge eingekesselt. Offenbar lag ich mit meiner A-Promi-Vermutung nicht ganz daneben. Ein Mädchen neben mir bricht in Tränen aus und lässt seine Handtasche auf den Kies fallen. Die Journalisten, die gerade noch um Johanne Müller versammelt waren, lassen sie auf der Stelle links liegen. Es wird gejubelt, dann noch mal geschrien, bis die Reaktionen völlig eskalieren.

Ich beobachte das Ganze mit etwas Abstand und schüttle den Kopf. Also wenn da nicht gleich die Hexen von Oz aussteigen und ein hitziges Duett singen, ist alles, was hier passiert, vollkommen drüber.

»Bleiben Sie zurück!«, bellt jemand.

Ich steige auf die Zehenspitzen und sehe allen Ernstes einen Anzugträger mit Sonnenbrille und wichtigtuerischem Knopf im Ohr herumbrüllen. In dieser Sekunde wird mir klar, wer für das ganze Theater verantwortlich ist.

Schweiß rinnt meinen Nacken hinunter.

Bitte lass es doch die Hexen von Oz sein! Bitte lass Ariana Grande und Cynthia Erivo aussteigen und Defying Gravity zum Besten geben. Bitte lass …

Die Autotür wird geöffnet. Sterne tanzen vor meinen Augen, und ich halte die Luft an. Die Menge teilt sich, und ich sehe … nicht Ariana Grande.

Nach Monaten habe ich ihn zum ersten Mal vor mir. In Wirklichkeit. Nicht auf einem Bildschirm oder in meinen Albträumen.

Aiven Audley.

Der Golden Boy des Vereinigten Königreichs. Auserkoren, das britische Gesicht der Olympischen Spiele zu werden. Tausendfach auf riesige Plakate gedruckt und von der Horse Weekly zum Hottest Single Rider Of The Season gekürt. Jeder liebt ihn. Jeder bewundert ihn. Jeder will mit ihm ins Bett.

Jeder außer mir.

Das Gekreische nimmt eine Tonlage an, von der ich dachte, sie zu hören, wäre Hunden vorbehalten. Eine schwedische Reiterin und ihre Begleitung glotzen Aiven so unverhohlen an, dass ich das »OMG, er ist so heiß«, das sie sich zuraunen, verstehe, ohne auch nur ein Wort ihrer Sprache zu sprechen. Zwischen vielen schwedischen Sätzen fällt irgendwann der Name Jacob Elordi.

Oh, stimmt.

Aiven hat tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Schauspieler. Sein dunkles Haar fällt ihm lässig in die Stirn. Die Gesichtszüge sind weich und doch definiert durch hohe Wangenknochen und einen markanten Kiefer. Sein Lächeln ist einnehmend, aber distanziert. In seinem nachtschwarzen Turnierjackett, das seine muskulösen Oberarme ein wenig zu kräftig betont, bewegt er sich elegant, ohne übertrieben zu wirken.

Shit.

Ich mochte Jacob Elordi. Ich mochte ihn sogar sehr. Und jetzt kann ich keinen Film mehr mit ihm sehen, ohne an Aiven Audley zu denken und gegen den Brechreiz ankämpfen zu müssen. Toll.

Wie festgefroren bleibe ich stehen und versuche, der Welle des Hasses standzuhalten, die bei dem Anblick der vielen Aiven-Audley-Ultras meinen Brustkorb flutet.

»Ich liebe dich, Aiven«, schreit jemand. »Aiven, geh auf ein Date mit mir!«

Doch Keelas Stimme in meinem Kopf ist lauter. Er hat mich fertiggemacht. Audley hat mich gebrochen.

Letzte Worte auf rissigen Lippen. Galle drückt mir gegen die Kehle und hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Ich muss weg von den Ultras. Diese schreiende Bewunderung ist ja nicht auszuhalten. Am liebsten würde ich zu Blue gehen und etwas von seiner Ruhe in mich aufnehmen. Aber so angespannt, wie ich gerade bin, würde ich mein Pferd in unnötige Unruhe versetzen, und das ist vor dem anstehenden Turnier eher schlecht. Ich bin froh, dass er immerhin den Transport mit einer darauf spezialisierten Firma gut überstanden hat. Zwar kostet es mich ein halbes Vermögen, aber dass mein Pferd so stressfrei wie möglich durch die Welt kutschiert wird, ist mir jeden Penny wert. Als ich nach seiner Ankunft nach ihm geschaut und ihn bewegt habe, wirkte er immerhin recht entspannt.

Etwas unschlüssig mache ich auf dem Absatz kehrt und lasse den Aiven-Audley-Hype hinter mir. Abseits des Trubels erkenne ich eine leicht heruntergekommene hölzerne Scheune. Perfekt. Dorthin verirrt sich mit Sicherheit keiner der peniblen Schnösel.

Sobald ich einen Fuß auf den steinernen Boden setze, empfängt mich kühle Luft. Nur wenige Sonnenstrahlen schaffen es, sich durch die Ritzen der Holzverkleidung zu quetschen, und lassen Staubpartikel in der Luft tanzen. Aufgewühlt von all den Gedanken und Gefühlen, die in meinem Kopf und meinem Herzen wüten, lasse ich mich auf einen der Strohballen fallen und lehne mich mit dem Rücken an einen zweiten. Gut, dass ich mich entschieden habe, mein Outfit, bestehend aus Jeans und T-Shirt, erst kurz vor Beginn gegen die elegante Reiterkleidung zu tauschen. Das machen eigentlich alle so. Nur Aiven sieht natürlich aus wie aus dem Ei gepellt. Wahrscheinlich hat er mehrere Ausführungen seiner Turnierkleidung dabei, damit er immer perfekt geschniegelt für die Kameras posieren kann.

Ich hasse ihn.

Ich hasse ihn.

Ich hasse ihn.

Stöhnend vergrabe ich den Kopf in den Händen und gebe mir größte Mühe, das in mir tobende Chaos zu ordnen. Komm schon, Lola. Du wusstest, dass du ihm begegnen würdest. Wenn du diesen Leuten in den Arsch treten und Keela rächen willst, musst du da durch. Also reiß dich zusammen! Ich wiederhole diese Sätze so lange, bis kein anderer Gedanke mehr Platz hat. Dann vibriert mein Handy. Ich ziehe es aus der Hosentasche und öffne den Familienchat der Dixons. Dad hat ein Foto in die Gruppe gepostet, auf dem er und Joana die Finger kreuzen.

Dad: Du packst das, Lola! Wir sind so stolz auf dich.

Lola: Klar packe ich das.

Für dich, sage ich in Gedanken zu Keelas Namen, der unter dem Gruppennamen steht, als wäre sie noch da. Wir haben es nie über uns gebracht, ihre Nummer aus dem Chat zu entfernen, und manchmal stelle ich mir vor, dass sie da, wo sie jetzt gerade ist, jede Nachricht liest, über die cringigen Witze meines Vaters lacht und sich über die wilde Kombi von Emojis wundert, die ihre Mutter zustande bringt.

»Abstand halten!«

Vor Schreck fahre ich zusammen.

»Schon gut, Lennox, ich komme klar«, antwortet eine Stimme, die mir so bekannt vorkommt, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Und zwar keiner von der angenehmen Sorte. »Kannst du mir fünf Minuten Ruhe verschaffen? Ich muss mich konzentrieren.«

Lennox lässt als Antwort ein Brummen verlauten, bevor eine schwere Tür ins Schloss fällt.

Stille breitet sich aus.

Ich halte den Atem an und presse mich gegen den Strohballen.

Was soll ich jetzt tun? Soll ich hinter dem Ballen hervorspringen? Oder einfach hoffen, dass Aiven Audley seine fünf Minuten Ruhe übersteht, ohne mich zu entdecken?

Ich lausche.

Nichts.

Ist er überhaupt noch hier? Vorsichtig luge ich hinter dem Stroh hervor. Jap, ist er. Aber er …

Als ich sie sehe, schlägt mein Magen einen Salto.

Tränen.

Stumme, rauschende Tränen auf den Wangen des vielversprechendsten Dressurtalents des Vereinigten Königreichs.

Hinter dem Scheunentor kreischen und brüllen und fordern sie krakeelend, dass er wieder rauskommt und für sie strahlt. Mitgefühl zerquetscht mein Herz, und ich weiß nicht, wohin mit mir, weil mein Herz für diesen Mann doch nichts als Hass empfinden sollte.

In meiner Hand vibriert mein Handy. Viermal ein kurzes Summen, das die Stille zerfetzt, als wäre es eine Sirene. Joana hat einen gereckten Daumen, ein Kleeblatt und aus mir unerfindlichen Gründen einen Flamingo und eine Avocado geschickt.

Aivens Kopf zuckt hoch. Sein gläserner Blick findet meinen.

»Hi«, sage ich aus Überforderung. »Sorry, meine Stiefmutter schickt immer merkwürdige Emojis, und ich –«

»Ist das dein Ernst?« Zorn umspielt seine Augen und lässt sie schmal werden.

»Ja, sie schickt immer Kombis, die wirklich gar keinen Sinn machen und –«

»Bist du ernsthaft so obsessed mit mir, dass du dich hier reingeschmuggelt hast?« Hektisch wischt er sich über die Wangen, dann springt er wütend auf. »Könnt ihr mir nicht mal fünf fucking Minuten lassen? Hast du schon mal das Wort Privatsphäre gehört?«

»Äh, was?« Auch ich richte mich jetzt auf und verschränke die Arme vor der Brust. Das Mitgefühl ist so schnell aus meinem Herzen gesickert, als hätte jemand den Stöpsel gezogen.

»Also, was willst du?« Er kommt auf mich zu, sodass uns nur noch wenige Zentimeter trennen und ich die Brustmuskeln erkennen kann, die sich unter seinem weißen Hemd abzeichnen.

Shit, er sieht wirklich aus wie Jacob Elordi.

»’ne kühle Cola wäre ganz nice«, sage ich und bemühe mich da­rum, mich von ihm nicht einschüchtern zu lassen.