Vienna 1: Blinding Lights - Lara Holthaus - E-Book
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Vienna 1: Blinding Lights E-Book

Lara Holthaus

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Beschreibung

Er ist alles, was sie verabscheut. Aber es ist unmöglich, ihm nicht zu verfallen. Liebling der High Society und IT-Girl – Livia weiß, wie sie sich in der Öffentlichkeit bewegen muss und was von ihr erwartet wird. Ihre Follower lieben sie und als Tochter des Bürgermeisters liegt ihr Wien zu Füßen. Niemand weiß von ihrer Verletzlichkeit, niemand interessiert sich für das, was hinter Livias Fassade steckt. Bis Nicolas, ihr neuer »Stiefbruder«, in ihr Leben platzt. Attraktiv, arrogant und überheblich lässt er keine Gelegenheit aus, sie demonstrativ zu demütigen. Und trotzdem fühlt sich Livia zu ihm hingezogen. Ein gefährliches Spiel aus Anziehung, Ablehnung und Verführung beginnt. Ein emotionales und explosives New Adult-Buch, das tief berührt.  //Dies ist der erste Band der knisternden High-Society-Romance-Dilogie »Vienna« rund um das It-Girl Livia und den undurchsichtigen Nicolas. Alle Bände der Buchreihe: - Vienna 1: Blinding Lights - Vienna 2: Hiding Darkness (erscheint im Herbst 2024)//

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ImpressDie Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Lara Holthaus

Vienna 1: Blinding Lights

Er ist alles, was sie verabscheut. Aber es ist unmöglich, ihm nicht zu verfallen.

Sie ist die Königin der High Society: Livia Hohenburg, Tochter des Bürgermeisters von Wien und It-Girl mit einer halben Million Followern. Dass sich unter ihren teuren Kleidern und hinter der perfekten Fassade eine zutiefst verletzliche Seele verbirgt, darf niemand wissen. Als überraschend die neue Freundin ihres Vaters samt Sohn Nicolas bei ihnen einzieht, ist Livia mehr als misstrauisch. Der ebenso attraktive wie arrogante Kerl verabscheut demonstrativ alles, was ihren glamourösen Lifestyle ausmacht. Doch obwohl Livia Nicolas mit jeder Faser ihres Körpers hassen sollte, hat er irgendetwas an sich, das sie tief im Inneren berührt. Ein Spiel aus Anziehung, Verführung und Ablehnung beginnt.

WOHIN SOLL ES GEHEN?

Buch lesen

Vita

© privat

Lara Holthaus wurde 1996 geboren und lebt seit einigen Jahren in der schönen Hansestadt Hamburg. Neben ihrer Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin verbringt sie jede freie Minute mit Schreiben. Schon als Kind verschenkte sie zu Geburtstagen am liebsten selbst geschriebene Geschichten. Lara schreibt emotional über große Gefühle, jedoch ohne dabei die Leichtigkeit und eine Prise Humor außer Acht zu lassen.

VORBEMERKUNG FÜR DIE LESER*INNEN:

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Lara und das Carlsen-Team

Für Enya.Weil du du und einfach wundervoll bist.

PLAYLIST

 

 

Vienna – Billy Joel

The Lucky One (Taylor’s Version) – Taylor Swift

If I Wasn’t Your Daughter – Lena

Fake Happy – Paramore

Pieces – Leony feat. VIZE feat. AVAION

Sober – Demi Lovato

I’m Fine – Ashe

Ich hass dich – Nina Chuba

Wenn du mich lässt – Lea

when the party’s over – Billie Eilish

abcdefu – GAYLE

Look What You Made Me Do – Taylor Swift

Weapons – Ava Max

Eigentlich – Lea feat. 01099 feat. Zachi feat. Gustav

Tennis Court – Lorde

Beneath Your Beautiful – Labrinth feat. Emeli Sandé

Oh Wien – KAFFKIEZ

Vigilante Shit – Taylor Swift

Alleine bin – Wincent Weiss

You Say – Lauren Daigle

All Too Well (10 Minute Version) (Taylor’s Version) (From The Vault) – Taylor Swift

Secret Love Song – Little Mix feat. Jason Derulo

Dance With the Devil – Katy Perry

Tinnitus – Nina Chuba

In The End – Tommee Profitt feat. Fleurie feat. Jung Youth

1. KAPITEL

TAUSEND-WATT-STRAHLELÄCHELN

Ich stehe auf der Empore des Sapphire und fange die Blicke auf, die sich wieder und wieder zu mir nach oben schleichen. Sie lecken an mir wie Flammen, sind allzeit bereit mich zu verschlingen. Doch ich tue, als würde ich nichts davon bemerken. Als würden die Flammen an meiner Fassade abrutschen und mein Innerstes nicht erreichen. Ich bleibe so kühl wie das Kristallglas in meiner Hand, das das Farbenspiel der Diskokugel oben an der hohen Decke reflektiert. Der Wechsel von Grün, Blau, Gelb, Rot tanzt in den Bläschen meines Champagners.

Ich schaue nach unten, beobachte die vielen Seelen, die ausgelassen feiern. Beobachte die zuckenden Körper, die von wirbelnden Lichtern durch die Nacht getragen werden. Jeder von ihnen hat das gleiche Lächeln auf den Lippen. Dieses O-mein-Gott-das-ist-meine-Nacht-Lächeln und dazu passende Ich-bin-so-frei-Moves. Yeah.

Sie bewegen sich alle gleich und doch jeder einzigartig zu den wummernden Bässen der Musik. Sie sind sorgenfrei und so ekelhaft schwerelos, dass ich den Blick abwenden muss.

Statt ihnen weiter zuzusehen, ziehe ich mein iPhone aus der Dior-Handtasche, die an meiner Schulter baumelt, und öffne Instagram. Unter meinem Profil @livinglivia springen mir unzählige Bilder entgegen. Okay, nicht wirklich unzählige. Eigentlich besteht mein Feed aus 2365 Beiträgen, wie mir die kleine schwarze Zahl neben meinem Profilbild verrät.

Ich mit dampfenden Kaffeetassen in verschiedenen Wiener Cafés, #coffeetime, voll beladen mit Tüten teurer Marken in New York und Paris, #shoppingtrip, und in luxuriösen Clubs, wie heute, #partylife.

Ich tippe auf ein Foto, das im Frühjahr gemacht wurde. Rechts und links von mir ragen zwei blühende Kirschbäume gen Himmel. Meine Lippen sind zu einem breiten Lächeln verzogen. Eine blonde Haarsträhne fällt mir ins Gesicht. Ich sehe perfekt unperfekt aus und erwecke den Eindruck, als wäre diese Kirschbaum-Grinse-Sache eine reale, nackte Momentaufnahme meines realen, nackten Alltags. Rein zufällig geknipst und hochgeladen, damit 400k Followerinnen und Follower an meinem superauthentischen Leben teilhaben können.

Bei dem Gedanken muss ich ein bitteres Lachen hinunterschlucken, das meine Kehle hinaufkriecht. O ja, ich bin superauthentisch.

Ich berühre mein Profilbild, und die Frontkamera öffnet sich. Für einen flüchtigen Herzschlag starre ich in mein eigenes Gesicht. Ich schaue in meine eigenen grünen Augen und sehe den Schatten, der darin wohnt. Für eine Millisekunde blitzt mir das Zukunftsschwarz, das sich vor einem Jahr darin eingenistet hat und seitdem nicht mehr verschwinden will, so deutlich entgegen, dass sich eine Faust in meinen Magen rammt. Dann verstreicht der Moment und mir fällt wieder ein, dass mir nur das Hier und Jetzt geblieben ist.

Also tue ich, was ich immer tue. Ich stehe aufrecht, hebe das Kinn und pflastere mir ein Tausend-Watt-Lächeln auf die Lippen. Dann proste ich mit der Champagnerflöte in die Kamera. Strahle, strahle, prost, prost.

Ich stelle mein Glas auf die Brüstung und tippe mit schnellen, geübten Fingern einen Text in die Story.

So happy to be here #girlsnightout #champagne #livingthebestlife

Mehrmals lasse ich den kurzen Clip laufen und suche nach einem Makel, der mich zu einer neuen Aufnahme zwingen würde.

Ich kann nichts finden.

Mein hellblondes Haar fällt mir in leichten Wellen über die Schultern. Das dezente Make-up sieht noch genauso aus wie vor drei Stunden und mein schwarzes Prada-Kleid wirft keine einzige Falte.

Gut.

Nein. Perfekt.

Zufrieden drücke ich auf den kleinen weißen Pfeil und der Kreis um mein Profilbild dreht sich, bis er nach wenigen Sekunden stehen bleibt.

Am liebsten würde ich mein Strahlelächeln auf der Stelle sterben lassen. Aber es macht alles so viel leichter.

Wieder lasse ich den Blick über die pulsierende Masse tanzender Menschen unter mir wandern. Da ist eine gläserne Mauer zwischen mir und allen anderen. Ich bin sichtbar und doch unantastbar. So war es schon immer und so ist es auch heute. Ein Anflug von Bewunderung und Ehrfurcht flammt in ihren Mienen auf, jedes Mal wenn einer von ihnen verstohlen zu mir heraufsieht. Das und der leise Wunsch, der sich in ihren Blicken eingenistet hat. Der Wunsch, ich zu sein, Livia Hohenburg.

Living the best life.

»Na, beobachtest du deine Ergebenen, Königin?« Eine warme Hand legt sich auf meinen Rücken und streicht sanft über den glatten Stoff meines Kleides.

»Wien ist seit 1916 keine Monarchie mehr, Leander.«

»Das stimmt, aber spätestens seit dein Vater zum Bürgermeister dieser gottverdammten Stadt gekrönt wurde, kommst du dem Status einer Königin wohl näher als die meisten hier.«

Ich ziehe eine Grimasse. »Fragst du dich manchmal, wie es wäre, einer von ihnen zu sein?« Die Frage verlässt unwillkürlich meine Lippen, ohne dass ich mich von den Feiernden abwende. Ich stelle es mir schön vor, irgendwie. Einfach eine von ihnen zu sein. Einfach zu sein. Ohne Druck, ohne Erwartungen, ohne die verschlingenden Flammen, aber dafür mit unendlich vielen Möglichkeiten.

»Nein. Nie«, beantwortet Leander meine Frage.

»Du hast dich nie gefragt, wie dein Leben verlaufen wäre, wenn du nicht Leander von Traun geworden wärst?«

»Warum sollte ich?« Er haucht mir die Frage ins Ohr und beginnt mit dem Zeigefinger meine Schultern entlangzufahren. »Ich zu sein hat Vorteile.« Wie zur Untermalung der Worte endet die Bewegung seiner Hand auf meinem Hintern.

Ich trete einen Schritt zur Seite.

»Heute nicht.« Meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt. Ich ringe mir ein Lächeln ab und gebe mir Mühe, meine Mimik weicher werden zu lassen, bevor ich fortfahre. Er kann nichts dafür. »Sorry, Leander. Aber mir ist heute nicht nach …« Ich deute mit dem Finger abwechselnd auf ihn und mich. »Was auch immer das ist.«

Ein Anflug von Enttäuschung und Unsicherheit huscht über seine markanten Züge. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann grinst er wieder und verbeugt sich vor mir.

»Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden. Wenn ich Euch auf andere Weise Vergnügen bescheren kann, lasst es mich wissen.« Er klopft wie beiläufig auf die Tasche seines Jacketts und somit auch auf das Koks, das mit ziemlicher Sicherheit darin steckt.

»Nope, danke.«

Leander zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Was ist los? Du bist doch sonst die Erste, die ›Hier‹ schreit, wenn es um ein bisschen Spaß geht.« Er senkt die Stimme und zwinkert mir zu. »Und du weißt, wie viel Spaß wir beide zusammen haben können.«

Obwohl es stimmt, was er sagt, breitet sich bei seinen Worten Unbehagen in mir aus. Ich mustere Leander, der sein Gesicht zu einem frechen Grinsen verzogen hat und wie so oft dreinblickt, als wäre das ganze Leben ein Spiel. Denn obwohl wir nie darüber geredet haben, bin ich mir ziemlich sicher, dass auch in ihm Dämonen lauern, die nur mit einem Cocktail aus lautem Lachen, Koks und bedeutungslosem Sex zu bändigen sind.

»Lass gut sein, von Traun. Vielleicht nächstes Mal.« Ich versuche mich an einem entschuldigenden Lächeln.

»Na gut. Wir sehen uns, Königin.« Er seufzt theatralisch und verbeugt sich erneut.

»Nenn mich nicht so.«

Doch Leander grinst nur und geht zurück zu den anderen, die im hinteren Bereich der VIP-Lounge um mehrere Flaschen Champagner herumsitzen, die in silbernen Eiskübeln stecken. Die meisten von ihnen würden das Koks nicht abschlagen.

Ich greife nach meinem Glas, das noch immer golden schimmernd auf der Brüstung steht.

Nah am Abgrund.

Nur eine Unachtsamkeit, nur einen Fehltritt davon entfernt, zu fallen und unter den Blicken der Wiener High Society in eine Million Scherben zu zerspringen.

Kurz beobachte ich die kleinen Bläschen, die wieder und wieder vom Boden des Glases an die Oberfläche steigen, bevor ich den Inhalt in einem Zug hinunterstürze. Ich verziehe das Gesicht.

»Furchtbar, oder?« Vic steht plötzlich neben mir, lehnt sich an die Brüstung der Empore und deutet auf mein nun leeres Glas.

Ich schiebe die Dunkelheit zur Seite, die begonnen hat wie schwarzes Gift durch meine Venen zu kriechen, und werfe meiner besten Freundin einen belustigten Blick zu. »Schmeckt wie Ziegenurin.«

»Vielleicht ist es genau das.«

»Was?«

»Na, Ziegenurin.« Vic begutachtet kritisch das Glas. »Von wem hast du das?«

»Keine Ahnung. Ihm da, glaube ich.« Ich deute auf einen blonden Typen, der im hinteren Bereich der Lounge steht und gerade in schallendes Gelächter ausgebrochen ist.

Vic beäugt ihn skeptisch. »Hm, vielleicht ist das gar kein Champagner.« Sie hält ihr Glas prüfend gegen das Licht.

»Sondern?«

»Abgefüllter Billo-Sekt vom Discounter getarnt als Champagner.«

»Dein detektivisches Geschick ist beeindruckend.« Ich verschweige, dass mir Billo-Sekt vom Discounter manchmal lieber wäre als Dom Pérignon aus was-weiß-ich-welchem Jahrgang.

»Ich weiß.« Ihre Augen leuchten. »Und er …«, sie nickt wieder zu dem Kerl, der sich jetzt grölend auf die Schenkel klopft, »… ist ein Hochstapler, der seine Identität gefakt hat und nur so tut, als könnte er sich eine Runde für uns alle leisten.« Meine beste Freundin nickt bedächtig, als wären wir einer ganz heißen Sache auf der Spur.

»Wie Anna Sorokin?«

»Wie wer?«

»Diese Hochstaplerin aus Deutschland. Hat mit ihrer Masche halb New York infiltriert. Die Verfilmung gibts bei Netflix.«

»Ah, irgendwas klingelt da. Inventing Anna, oder so?« Vic legt den Kopf schief.

»Glaube schon«, bestätige ich und beide sehen wir verstohlen zu dem Blonden rüber.

»Eindeutig Hochstapler-Vibes. Das sagt mir mein Instinkt.«

»Alles klar, nicht zu übersehen, du Superprofi.«

»Warum starrt ihr Manu so an, als hätte er sich in Lady Gagas Kleiderschrank ausgetobt?« Bennet tritt an unsere Seite und hebt eine Augenbraue.

»Er ist ein Hochstapler«, erkläre ich.

Vic nickt zustimmend. »Ja, er verteilt Billo-Sekt und tut so, als wäre es Moët. Wie Anna Sorokin.«

»Wie wer?« Bennet schaut verwirrt zwischen Vic, mir, dem Champagner in seiner Hand und den immer noch grölenden Typen hin und her.

»Diese Hochstaplerin von Netflix.«

»Aha.« Bennet grinst. »Sorry, Leute, aber er ist kein Betrüger.«

»Nicht?«

»Nee. Das ist Manuel Gruber. Ein frischgebackener Nemo.«

Vic rollt mit den Augen. »Ein Hochstapler wäre mir lieber gewesen.«

Ich stöhne genervt. »Typisch. Wahrscheinlich hat er den teuersten Champagner der Karte genommen und keinen Plan von Qualität«

»Jap«, bestätigt Bennet. »Google hat letztens die IT-Firma seines Daddys gekauft.«

»O Gott, also ist er noch in der New-Money-Phase, in der er ständig alle zu irgendwas einlädt, um zu beweisen, dass er jetzt ›dazugehört‹?« Mit den Fingern zeichne ich Anführungsstriche in die Luft und werfe ihm einen genervten Blick zu.

»Dazugehören wollen sie doch alle.« Vic zuckt mit den Schultern. Denn sie weiß wie ich, dass sie das niemals werden.

»Was glaubt ihr?« Bennet schaut kurz zu den Nemos und verschränkt die Arme vor der Brust. »Würden Nemos wie Manu wirklich einen auf Rumpelstilzchen machen und ihr Erstgeborenes hergeben?«

»Rumpelstilzchen gibt kein Erstgeborenes her. Er bekommt eins«, korrigiere ich.

»Egal. Darum gehts nicht.« Bennet wirft mir einen belustigten Blick zu. »Ich meine ja nur, dass Nemos echt einiges hergeben würden.«

»Um Teil der wirklichen Elite zu werden? Hundertpro!« Meine beste Freundin nickt bekräftigend. »Vielleicht verheiraten sie auch ihre Töchter an irgendwelche alten Säcke. Wie bei Bridgerton.«

»Mit Sicherheit tun sie das.« Ich versuche in das scherzhafte Lachen meiner Freunde einzustimmen. Es gelingt mir nicht so richtig. Ich betrachte Manu, der jetzt aufgestanden ist und die Flasche Dom Pérignon direkt an seine Lippen setzt.

Jap, er würde für den Zugang zum Geldadel Wiens mit Sicherheit seine Seele verkaufen. Der Gedanke tut weh. Denn während er alles für eine Eintrittskarte geben würde, suche ich verzweifelt nach einem Notausgang.

Aber den gibt es nicht.

Denn es sind Familien wie meine, die in dieser Welt das Zepter in der Hand halten. Familien, die schon seit Generationen an der Spitze der Stadt stehen und deren Geld sich bis zur Kaiserin Sisi zurückverfolgen lässt. Familien, die es nicht dulden, wenn man aus der Reihe tanzt, und das mit allen Mitteln zu verhindern wissen.

»Bennet, der Club ist wirklich großartig geworden.« Vic reißt mich aus meinen finsteren Gedanken.

»Du hast es mal wieder geschafft, ein leer stehendes Gebäude in kürzester Zeit in den Wiener Luxus-Club zu verwandeln«, bekräftige ich und streiche über die kupferfarbenen Streben der Brüstung. »Der perfekte Industrial Look und trotzdem glamourös. Du hast es einfach drauf.« Mit dem Ellenbogen stupse ich ihm freundschaftlich in die Seite.

»Ja, oder? Und dabei habt ihr noch gar nicht den Keller gesehen.« Er zwinkert uns geheimnisvoll zu.

»Den Keller? Was ist im Keller?«

»Zum Undergroundbereich erhält man nur Zutritt, wenn man das Passwort kennt. Es gibt dort keine Handys, also kein Instagram, kein TikTok oder sonst was. Nichts, was dort passiert, wird jemals an die Oberfläche gelangen.«

»Wow«, machen Vic und ich gleichzeitig.

»Und was passiert in diesem dubiosen Keller ohne Handy?« Neugier und der Wunsch, etwas Verbotenes zu tun, flammen in mir auf.

»Tja, das bleibt ein Geheimnis.« Verschwörerisch wackelt Bennet mit den Augenbrauen. »Ihr müsst es schon selbst herausfinden.«

»Irgendwas sagt mir, dass es darin alles andere als jugendfrei zugeht«, vermute ich.

»Das hast du jetzt gesagt.«

»Ich glaube, das ist nichts für mich.« Vic winkt ab und ich sehe den Schatten, der für einen winzigen Augenblick über ihre Augen huscht. Den Schatten und den Hunger.

»Du könntest mit Clément zusammen hingehen. Die Franzosen mögen es doch ein bisschen … äh … verrucht.«

Vic lacht bei Bennets Vorschlag schockiert auf und schlägt ihn mit ihrer Clutch. Der Hunger in ihren Augen verschwindet. »Wenn ich ihm das vorschlage, überlegt er es sich mit dem Umzug nach Wien noch mal.«

»Oder er kommt gerade deswegen.« Ich schneide eine Grimasse in Vics Richtung und beiße mir feixend auf die Unterlippe.

Vic zeigt uns den Mittelfinger und schüttelt den Kopf, sodass ihr dunkler Bob ihr nur so um die Schultern peitscht. »Ihr zwei seid so bescheuert.«

»Okay, okay. Kein dunkles Kellerabenteuer für Vic. Was ist mit dir?« Bennet wendet sich mir zu. »Du bist doch bestimmt nicht abgeneigt. Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst.«

»Ich wollte gleich gehen.«

»Was? Schon? Es ist noch nicht mal Mitternacht.«

»Papa ist heute aus München zurückgekommen und ich will nicht, dass er denkt, ich hätte mein Leben nicht im Griff.«

Meine Freunde nicken, schauen aber weiter skeptisch drein. Ich kann kaum noch stehen, bin mittlerweile seit zwanzig Stunden wach und habe mich heute bereits mehrmals übergeben, weil ich gestern schon gefeiert habe, wäre die ehrliche Antwort gewesen. Aber das verschweige ich geflissentlich.

»Hast du es denn?«, fragt Vic unvermittelt.

»Was?«

»Dein Leben im Griff. Gehts dir gut?«

Ich kann nicht sagen warum, aber ihre Worte berühren etwas in mir. Mir entfährt ein schallendes Lachen, das sich mit den schnellen Beats der Musik vermischt. »Mir gehts großartig. Wie kommt ihr auf so einen Scheiß?«

Vic und Bennet tauschen einen Blick, den ich nicht einordnen kann, der mir aber ganz und gar nicht gefällt. Vor allem, da dies in letzter Zeit immer häufiger vorkommt.

»Na jaaaa«, sagt Bennet gedehnt. »Du bist anders als früher.«

»Aha. Und was meinst du damit?« Obwohl ich alles dafür tue, locker zu klingen, kann ich die Anspannung nicht ganz aus meiner Stimme verbannen.

»Du wirkst … keine Ahnung … verloren. Irgendwie.«

»Alles klar, Dr. Freud. Gehts auch ein bisschen konkreter?«

Bennet stößt einen tiefen Seufzer aus. »Okay. Du feierst zu viel, lachst zu wenig, meldest dich manchmal tagelang nicht und hängst auf einmal mit Leuten rum, die komplett einen an der Murmel haben.«

»Hinzu kommt diese Sache mit Leander«, ergänzt Vic. »Früher hat dir Sex noch was bedeutet. Heute …«

Heute ist Lust dazu da, alle anderen Gefühle auf stumm zu stellen, ergänze ich in Gedanken.

»Du weißt, dass du mit uns reden kannst, wenn es nicht so wäre, oder?« Mitleid schlingt sich um Vics Worte und bohrt sich wie ein Säbel in meinen Magen.

Lässig winke ich ab. »Klar weiß ich das. Wirklich. Aber mir gehts gut! Macht euch keine Sorgen. Ich habe gerade einfach viel Spaß. Beim Feiern und so.«

Meine Freunde nicken langsam, doch die Skepsis, die sich in ihren Augen breitgemacht hat, bleibt.

»Ich gehe jetzt.« Denn besser, ich verschwinde und hindere meine Freunde daran, weiter in den Winkeln meines Herzens herumzuwühlen, die ich lieber unangetastet lasse. »Ich verabschiede mich nur schnell von den anderen und rufe dann Claus an, damit er mich abholt«, sage ich leichthin, bevor der Säbel, der jetzt in meinem Bauch steckt, noch tiefer eindringen kann. Um den Blicken meiner Freunde zu entkommen, wirble ich herum und gehe die wenigen Schritte zu Manu und den anderen.

»Wiederschau’n, ihr Lieben, feiert noch schön!« Meine Stimme klingt süß. In meiner Kehle ätzt Säure.

»Du gehst schon?« Trotz des schummerigen Lichts kann ich sehen, dass Manus Pupillen riesig sind. »Komm schon, noch einen Drink. Lass deine Freunde noch nicht allein, Livia.«

Er bezeichnet uns als Freunde, etwas, das ich nie tun würde. Denn wie bei allen Nemos kann ich nie sicher sein, ob sie wirklich mit mir befreundet sein wollen oder sich durch mich einen Vorteil erhoffen. Und am schlimmsten sind die, die mich ins Bett kriegen wollen, um später damit anzugeben, die Livia Hohenburg gefickt zu haben.

Also nein. Ein Nemo wie Manu wird sicher nie ein Freund werden.

»Nächstes Mal wieder«, sage ich dennoch mit einem engelsgleichen Lächeln auf den Lippen.

»Ach komm schon, du bist zwanzig Jahre alt, Livia. Mami wird schon nicht böse sein, wenn du noch zwei Stündchen länger bleibst.«

Die Musik in der Lounge ist so laut, dass niemand hört, wie mein Herz einen Knacks bekommt. Innerhalb einer Sekunde überzieht sich mein Inneres mit Frost. Wie von selbst graben sich manikürte Fingernägel in meine Handballen und hinterlassen kleine Halbmonde in der Haut.

Mami wird schon nicht böse sein. Mami. Mami. Mami. Die zwei Silben hallen in einem gnadenlosen Echo in meinem Kopf wider. Zerren Erinnerungen hervor, die ich mit größter Mühe in Ketten gelegt habe.

Alles in mir erstarrt.

Alles außer mein Herz, das unentwegt gegen meine Rippen hämmert.

Mami.

Anspannung schießt durch meine Beine bis in die Zähne. Wut rollt wie eine Dampfwalze aus Lava durch mich hindurch.

Es ist einfach zu viel. Dieses Leben. Diese falsche Freundlichkeit, mit der mich jeder überhäuft und die in meinem Lächeln lebt. Die Bedeutungslosigkeit meiner Existenz. Das Licht. Die Schatten. Der Glanz. Der Schmerz.

Alles zu viel.

Ein unbändiger Sturm aus Gedanken und Gefühlen tobt in mir und droht mich jeden Augenblick in Stücke zu reißen. Doch die steinerne Maske hält mich zusammen.

Wien verzeiht nicht.

Wien vergisst nicht.

Wenn du vor den Augen Wiens einmal fällst, lässt es dich nicht wieder aufstehen. Wien ergötzt sich an deinem Leid. Wien wäre schadenfroh, weil die unantastbare Livia Hohenburg doch nicht so unantastbar ist. Alle würden schockiert feststellen, dass die Königin am Ende doch nur ein ganz normales Mädchen ist.

»Na gut, überzeugt.« Ich spüre, wie die Worte meine Lippen verlassen. Höre, wie locker-leicht-lustig sie klingen. Und ich weiß, dass in meinem Gesicht nicht ein leiser Windhauch des Sturms zu sehen ist. Weil ich eine Meisterin darin geworden bin, ein Theater abzuziehen. Hereinspaziert, hereinspaziert, meine Damen und Herren. Das hier ist die Livia-Hohenburg-Show. Die lächerliche Veranstaltung, die sich mein Leben nennt.

Gejohle von Manu und den anderen Nemos dringt wie durch Watte an mein Ohr und wie immer schenke ich den Menschen um mich herum ein breites Grinsen.

Ich sehe mich um. Scanne den VIP-Bereich Zentimeter für Zentimeter ab, bis ich ihn gefunden habe. In schnellen Schritten gehe ich auf ihn zu. Ich muss den Sturm zum Erliegen bringen.

Ich muss.

»Queen Liv, hast du es dir anders überlegt?« Leander hält einen Whiskey on the Rocks in der Hand und prostet mir spielerisch zu. Seine Wangen sind gerötet, seine Pupillen zwei glatte schwarze Pfützen.

»Das habe ich.« Und wie ich das habe. Ich trete nah an ihn heran. So nah, dass die Spitzen meiner Brüste seinen Oberkörper berühren. »Lass uns was von dem Zeug nehmen, das du in deiner Jacke versteckt hast.«

Er nickt nur und fragt nicht, woher mein Sinneswandel auf einmal kommt. Das tut er nie.

»Und dann …« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, sodass meine Lippen nur wenige Millimeter von seinem Ohr getrennt sind. Mein heißer Atem streicht über seine Haut.

»Dann?« Leander zieht hörbar die Luft ein.

»Dann will ich, dass du genau das mit mir tust, was du dir schon den ganzen Abend ausmalst.«

Ich schaue ihn an. Sein Bick hat sich verdunkelt, und doch ist da blanke Gier, die seine Iriden schimmern lässt.

»Ich weiß auch schon wo«, sage ich. »Wir brauchen nur das Passwort.«

Leander nickt stumm und folgt mir, als wir uns einen Weg durch den Club bahnen. Wieder spüre ich Blicke an mir haften und den Neid, der darin schlummert.

Sie alle wollen wie ich sein.

Sie alle wollen mein perfektes Leben.

#livingthebestlife.

2. KAPITEL

ZAUBERHAFTSCHMERZLICH

Ich werde wach, weil etwas an meiner Bettdecke zupft.

»Livia?«

»Mhm?« Ich bemühe mich meine Augen zu öffnen, doch jede meiner Wimpern muss mindestens eine Tonne wiegen.

»Livia? Kann ich zu dir ins Bett?« Die Stimme meiner Schwester Nora zittert.

Ich setze mich auf und schaffe es doch, meine Lider zu heben.

»Knödel, was ist los?« Trotz der Dunkelheit, die in meinem Zimmer herrscht, kann ich sehen, dass sie geweint hat. Ihr Haar steht an einer Seite ab und ihre linke Hand umklammert ein Ohr ihres Stoffhasen. Ich rutsche einen halben Meter zur Seite und hebe die Bettdecke an. »Komm her.«

»Darf Rudi auch?«

»Klar.«

Nora lächelt dankbar und kuschelt sich samt Rudi, dem Stoffhasen, zu mir ins Bett. Es dröhnt und kurz überlege ich ernsthaft, ob irgendein hirnverbrannter Nachbar mitten in der Nacht in die Wände bohrt. Ach nee, ist nur mein Kopf, der vor sich hin hämmert. Verfluchter Champagner.

Ich versuche es zu ignorieren und gebe Nora einen Kuss aufs Haar. »Was ist passiert, Knödel?«

»Schlecht geträumt.«

»Wieder von Mama?«

»Ja, von Mama.«

Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle und Tränen beginnen in meinen Augen zu brennen. Ich ziehe meine kleine Schwester enger an mich. Für einige Sekunden sagt keine von uns etwas. Wir halten einander nur fest und starren in die Dunkelheit.

»Ich hab so eine Wut im Bauch auf Mama«, durchbricht Nora unvermittelt die Stille. Ihre Worte lassen den Kloß in meinem Hals derart anwachsen, dass ich daran zu ersticken glaube. Sie stockt, bevor sie weiterspricht. »Aber sie fehlt mir trotzdem.« Die Tränen meiner kleinen Schwester hinterlassen heiße Spuren auf meiner Wange und brechen mir das Herz. Mit ihren sieben Jahren sollte sie so etwas nicht sagen müssen. Nicht einmal denken müssen. »Ich vermisse sie und wünsche mir so doll, dass sie zurückkommt.«

»Ich weiß.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein krächzendes Flüstern.

»Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe. Warum sie mich nicht wollte …«

Ihre Worte entflammen meine eigene Wut auf unsere Mutter, und doch schiebe ich sie beiseite.

»Du hast nichts falsch gemacht, Nora. Hörst du? Nichts, nichts, nichts! Das musst du mir glauben, okay? Mama ist zu einhunderttausendtrilliarden Prozent nicht wegen dir weggelaufen. Ganz sicher!« Jetzt kullern mir ebenfalls die Tränen über die Wangen.

»Aber warum dann?«

Ja, warum? Das ist sie wohl, die Eine-Million-Euro-Frage. Warum verlässt eine Frau, die alles hat, ihren Mann und ihre zwei Töchter? Warum sorgt diese Frau dafür, dass ein kleines Mädchen denkt, es hätte etwas falsch gemacht? Warum?

»Ich weiß es nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Aber was ich sicher weiß, ist, dass es nicht deine Schuld war. Okay?«

»Zu einhunderttausenddrillionen Prozent?«

»Ganz genau.«

»Okay.« Nora drückt Rudi eng an sich. »Kann ich hier zu Ende schlafen?«

»Natürlich, Knödel.« Ich taste auf meinem Nachttisch nach meinem Handy. Das grelle Licht des Bildschirms lässt Blitze durch meine Augen schießen, die sich in einem stechenden Schmerz hinter meiner Stirn sammeln. 5:30 Uhr. Ich bin gerade mal vor einer Stunde nach Hause gekommen.

»Ich glaube, ich muss auch noch zu Ende schlafen.« Gähnend sperre ich den Bildschirm und sinke zurück in die Kissen. Noch immer toben Wut, Trauer und erschütternde Verzweiflung in meinem Herzen. Und ein Heavy-Metal-Konzert in meinem Kopf.

Ich versuche mich auf Noras gleichmäßigen Atem zu konzentrieren, die wieder ins Land der Träume abgedriftet ist. In ein schöneres, hoffentlich.

Als ich zum zweiten Mal an diesem Morgen erwache, ist von den dröhnenden Kopfschmerzen nicht mehr viel übrig. Zum Glück. Stattdessen wabert Übelkeit in meinem Magen und brennt in meiner Kehle. Warum habe ich auch gestern die Kontrolle verloren? Völlig zügelloser Partywahnsinn. Mal wieder.

Ich greife nach der Wasserflasche, die ich in weiser Voraussicht schon gestern neben mein Bett gestellt habe, und trinke gierig einige Schlucke.

Warmes Sonnenlicht fällt durch die Vorhänge. Noch immer trage ich das schwarze Prada-Kleid, das jetzt ganz und gar nicht mehr faltenfrei ist. Viel mehr sieht es aus, als hätte eine Horde Rinder darauf Salsa getanzt. Vic würde mir den Hals umdrehen, wenn sie das wüsste. Vor meinem inneren Auge kann ich ihren schockierten Gesichtsausdruck förmlich vor mir sehen und die Empörung in ihrer Stimme beinahe hören. Livia Adele CharlotteHohenburg, du bist schlau genug, dir eine verfluchte Flasche Wasser neben das Bett zu stellen, schaffst es aber nicht, ein Zweitausend-Euro-Kleid ordentlich in den Schrank zu hängen? Bei dem Gedanken muss ich grinsen.

Mein Blick fällt auf Nora, die wie ein zusammengeschnürtes Paket auf der anderen Seite meines Bettes liegt. Ihr dunkelblondes Haar, das die gleiche Farbe hätte wie meins, wenn ich es nicht regelmäßig blondieren würde, hat sich über das gesamte Kissen verteilt. Ihr halbes Gesicht ist von einem von Rudis Ohren bedeckt. Bei dem Anblick meiner friedlich schlafenden Schwester ist es fast leicht, sich vorzustellen, dass das Leben schön ist. Als würde die Welt nur aus Licht und Lachen und Friede, Freude, Eierkuchen bestehen.

Aber das tut sie nicht. Denn je heller das Licht in unserer verdammten Welt scheint, desto dunkler und länger sind die Schatten. Nur, dass meine Schatten niemand sieht. Weil ich sie alle mit teuren Prada-Kleidern und funkelnden Diamanten blende.

»Hey«, flüstere ich und kuschle mich näher an Nora. »Guten Morgen.«

Sie schnauft und gibt einige zuckersüße Kinderlaute von sich, bevor sie die Augen aufschlägt. Mit verwirrter Miene sieht sie im Raum umher, bis sie sich offenbar an letzte Nacht und an ihren Umzug in mein Bett erinnert.

»Puh.« Nora zieht die Nase kraus und rutscht einige Zentimeter von mir weg. »Livi, du stinkst.«

Ich schnappe mir eine meiner Haarsträhnen und rieche daran. Himmel, sie hat recht. Geruchsfetzen von Rauch, Alkohol, Schweiß und diesem schwer zu definierenden Partyaroma haben sich in meinen Haaren und vermutlich auch in dem Kleid eingenistet.

Bevor ich etwas zu meiner Geruchsverteidigung sagen kann, springt Nora aus dem Bett. Mit Rudi im Schlepptau, den sie an einem Ohr hinter sich herschleift, hüpft sie zum Erker meines Zimmers und zieht die Vorhänge auf.

»Wow.« Ich glaube Noras Augen leuchten zu sehen. So wie meine es früher getan haben, als ich mich noch nicht an den schier unendlichen Ausblick auf die Dächer Wiens gewöhnt hatte. Nora klettert auf die ausladende Fensterbank und hält für einige Sekunden ihr Gesicht in die immer wärmer werdende April-Sonne. Rudi platziert sie so neben sich, dass auch seine Knopfaugen von Licht geblendet werden.

Die Szene ist so schön, dass sich meine Lippen ganz wie von selbst zu einem Lächeln verziehen. Ein echtes Lächeln. Kein Instagram-Perfect-Life-Lächeln.

Einem Impuls folgend schiebe ich die schwere Daunendecke beiseite und stelle meine Füße auf das hölzerne Parkett. Der Positionswechsel sorgt dafür, dass durch meinen Körper eine Achterbahn rattert. Scheißkater. Ich schließe die Augen und zwinge mich zu ein, zwei tiefen Atemzügen. Die Achterbahn wird langsamer und die Übelkeit in meinem Magen einen Hauch weniger. Auf vom Tanzen noch schmerzenden Sohlen tapse ich zu Nora und setze mich neben sie.

»Wien ist so wunderschön, oder, Livi?«

Mein Blick wandert über die hellen, verzierten Fassaden und über die Gassen, in denen die Cafés langsam aus der Nacht erwachen. Miniaturmenschen hetzen hektisch über den Neuen Markt und ein Fiaker mit zwei Schimmeln bahnt sich klappernd einen Weg über das Kopfsteinpflaster.

»Das ist es«, antworte ich schließlich.

Als ich so alt war wie Nora, habe ich Stunden über Stunden hier gesessen und die Passanten beobachtet, die viele Meter unter mir ihr Leben lebten. Manchmal habe ich mir Geschichten zu jedem von ihnen ausgedacht und mir in bunten Fantasien ausgemalt, warum der Mann mit dem lustigen Hut jeden Morgen mit einer Aktentasche unter meinem Fenster vorbeilief. Es gab Geheimagenten, Prinzessinnen und Zauberer, bis sie irgendwann zu stinknormalen Menschen wurden.

»Irgendwann will ich dahin und tanzen.« Nora zeigt auf vier weiße Türme, die weiter hinten am Horizont zwischen den unzähligen Ziegeln hervorstechen. Die Wiener Staatsoper. Der Ort, wo unsere Mutter getanzt und sich unser Vater in sie verliebt hat.

»Das wirst du. Du wirst eine großartige Primaballerina.« Ich streichle ihr über das Haar. »Und ich werde bei jeder Vorstellung in der ersten Reihe sitzen, um dich mit Blumensträußen zu bewerfen. Bis du bis zum Hals in einem Blumenmeer versinkst.«

Nora nickt strahlend. Sie weiß noch nicht, dass Papa im Leben nicht zulassen würde, dass eine Hohenburg ihr Potenzial verschwendet und so etwas Belangloses wie Tänzerin wird. Schließlich hat er sogar unsere Mutter von der Bühne auf die roten Teppiche Wiens geholt, wo sie kein Star mehr war, sondern nur noch das glänzende Begleitmaterial des Immobilienmoguls Alexander Hohenburg.

Mein Magen gibt einen knurrenden Laut von sich und holt mich aus der Finsternis in meinem Kopf. Ich habe gar nicht gemerkt, dass sich die Übelkeit mittlerweile in Hunger verwandelt hat. Nora kichert.

»Wir sollten Frühstück machen«, schlage ich vor und reibe mir den Bauch. »Worauf hast du Lust?«

Meine kleine Schwester legt den Kopf schief und nimmt sich fast eine halbe Minute, um zu überlegen.

»Plätzchen.«

»Plätzchen? Wir haben April, Knödel. Weihnachten ist lange vorbei.«

»Na und? Schmecken Vanillekipferl im April schlechter als im Dezember?«

»Nein«, gebe ich mich Noras Kinderlogik geschlagen und seufze. »Dann backen wir Plätzchen.«

Bei meinen Worten hüpft sie flink von der Fensterbank und dreht vor Freude einige Pirouetten. Ganz die zukünftige Primaballerina.

»Ich schlage vor, dass du schon mal in die Küche gehst und die Zutaten suchst, während ich unter die Dusche springe.«

Nora nickt bekräftigend. »Du solltest duschen, du Stinktier.«

»Hey!« Behutsam werfe ich eines der Zierkissen von der Fensterbank nach ihr.

Nora streckt mir die Zunge raus, schnappt sich ihren Hasen und hopst fröhlich pfeifend aus meinem Zimmer.

»Hier riecht es ja wie auf dem Weihnachtsmarkt.«

Nora lässt sofort die Kugel Teig fallen und stürmt in schnellen Schritten zur Treppe.

»Papa!«

»Hallo, Liebes.« Er hebt sie hoch und wirbelt sie einmal durch die Luft. Ihr entfährt ein vergnügtes Quietschen.

»Wir haben Kipferl gebacken.« Als sie wieder auf den Füßen steht, schnappt sie sich stolz zwei besonders schöne Exemplare der Plätzchen und hält sie Papa zum Probieren hin.

»Kipferl? Im April?«, fragt dieser verwundert und schiebt sich eines davon in den Mund.

»Noras Idee.« Ich zucke mit den Schultern. »Wie war München?«

»Anstrengend.« Ich sehe, dass es ihn Überwindung kostet, auch mich in die Arme zu schließen. »Ich bin froh, wieder bei euch zu sein.« Er lügt und ich weiß das.

»Wir auch«, bringe ich hervor, bevor ich den Blick abwende und mit mehr Kraft als notwendig den übrig gebliebenen Teig knete. In meinem Rücken spüre ich dennoch Papas Blicke, die mich wie eintausend kleine Messer erdolchen wollen.

Ich drehe mich wieder zu ihm um. »Ist was?«

Betreten schaut er auf seine Hände.

»Nein, nichts. Du siehst zauberhaft aus, Schatz.«

Zauberhaft. Ich sehe zauberhaft aus. Ich weiß genau, dass er nicht mein dunkelgrünes Leokleid und die passenden Overknee-Strümpfe meint. Auch nicht mein Haar, das ich im Nacken zu einem Knoten gebunden habe. Nein, ich sehe aus wie sie.

Mama und ich wurden oft für Schwestern und nicht für Mutter und Tochter gehalten. Ich bin die exakte Kopie von Melody Hohenburg und damit eine wandelnde Erinnerung an unseren Verlust. An ihren Verrat.

Ich sehe also nicht zauberhaft aus. Ich sehe verflucht schmerzhaft für ihn aus.

»Wie war deine Woche, Spatz?« Papa klingt so betont locker, so zwanghaft unbefangen, dass ich beinahe bitter aufgelacht hätte. »Hat Loretta sich gut um dich gekümmert?«, fragt er an Nora gewandt.

»Sie war okay.«

»Sie hasst ihre neue Nanny.« Sofort fange ich mir ein böses Funkeln von meiner Schwester ein.

»Ich hasse sie nicht. Sie ist nur …«

»Eine altmodische Schreckschraube mit ziemlich fragwürdigen Erziehungsmethoden«, beende ich ihren Satz.

»Na ja, ähm …« Plötzlich wirkt Nora bedrückt. »Sie erlaubt mir nichts zu essen, wo Istrudiezucker drin ist.«

»Was darfst du nicht essen?« Papa guckt verwirrt.

»Istrudiezucker.«

»Sie meint Industriezucker«, eile ich meiner Schwester zu Hilfe. »Dieses Biest gibt ihr nur Rohkost.«

»Und sie hat gesagt, dass nur Babys mit Kuschelhasen ins Bett gehen.« Sie wirft Rudi, der brav auf einem der Barhocker am Küchentresen sitzt, einen so traurigen Blick zu, dass ich sofort auf sie zulaufen und sie fest drücken möchte.

Papa kommt mir zuvor. Er stößt einen tiefen Seufzer aus und nimmt Nora ein zweites Mal in den Arm.

»Ich werde mit Loretta sprechen.« Er streicht ihr über den Kopf. »Und ihr erklären, dass Rudi zur Familie gehört und er selbstverständlich in deinem Bett schlafen darf.«

Nora schenkt ihm ein dankbares Lächeln.

»So.« Papa erhebt sich wieder und reibt sich die Hände. »Haben wir noch etwas anderes zum Frühstück im Angebot als Vanillekipferl?«

»Im Kühlschrank stehen noch Waffeln«, sage ich mit Unschuldsmiene.

»Loretta hat sie gemacht.« Nora grinst frech.

Papa schaut mit hochgezogenen Augenbrauen zwischen seinen Töchtern hin und her, öffnet aber dann, ohne weiter nachzufragen, die Kühlschranktür und zieht einen Teller mit Waffeln heraus.

»Die sind grau.« Seine Augenbrauen wandern noch weiter die Stirn hinauf. »Warum sind sie grau?«

»Das sind Vollkornwaffeln, ohne Gluten.«

»… und ohne Istrudiezucker.«

Skeptisch löst Papa eins der kalten Waffelherzen und beißt vorsichtig ab.

»Um Himmels willen!« Er spuckt den winzigen Bissen sofort in den Mülleimer. »Die schmecken wie Kleister!«

»Das habe ich Loretta auch gesagt!« Nora verschränkt die Arme vor der Brust. »Aber sie hat mich ausgeschimpft und gesagt, dass ich abhängig von der Zuckerlobby bin.«

Papas Mundwinkel zucken ebenfalls.

»Was haltet ihr davon, wenn ich unten bei Heinz anrufe und ihn bitte, uns ein Frühstück von Leopolds raufzuschicken?«

»Au ja!«

»Ich kann nicht«, sage ich entschuldigend. »Shooting am Franziskanerplatz.«

»Schade«, sagt Papas Mund. Ein Glück, sagen seine Augen.

»Ja, schade.« Schade, dass wir keine normale Familie sind

Schade, dass ich ich bin.

Ich will schon aus der Küche gehen, als Papa mich zurückhält. »Livia, warte.« Unsere Blicke treffen sich und für einen Wimpernschlag habe ich das Gefühl, er würde mich sehen. Mich. Nicht Mama. Doch dann räuspert er sich verlegen und sieht so demonstrativ an mir vorbei, dass sich ein Eiszapfen in mein Herz bohrt. »Ich würde gern morgen Abend mit dir und Nora essen gehen.«

»Essen.«

»Ja, ich möchte etwas mit euch besprechen.«

»Okay?«

»Halb acht? Im le ciel?«

»Gut«, stimme ich zu, obwohl nichts gut ist.

VIENNA SPOTLIGHT

Was für eine Nacht! Am gestrigen Samstag hat der wohl begehrteste Club Wiens endlich seine Tore geöffnet. Die Crème de la Crème der Wiener Elite versammelte sich, um die große Eröffnungsfeier des Sapphire gehörig mit Champagner zu begießen. Inhaber des brandneuen Schuppens ist Bennet Falk. Es ist mittlerweile der vierte Club des Jungunternehmers und Erben des Falk-Vermögens. Und er hat uns nicht enttäuscht. Das Sapphire besticht mit Eleganz einerseits und verbotenen Abgründen andererseits — ganz das Ebenbild unserer High-Society-Prinzessinnen und -Prinzen. Heute Party bis zum Morgengrauen, morgen Tanzen auf den edlen Bällen Wiens. Denn in wenigen Wochen steht schon der Dance Against Cancer Ball vor der Tür. Mit wem unsere Stars und Sternchen den roten Teppich betreten, bleibt noch ein Geheimnis. Aber wir von Vienna Spotlight bleiben dran.

3. KAPITEL

LIVIA-LIVESHOW

Ich fröstle, als ich vor die Tür des Gebäudes trete, dessen Penthouse Nora, Papa und ich bewohnen. Dabei passt diese eiskalte Brise nicht zu den Sonnenstrahlen, die sich in die engen Gassen Wiens ergießen. Gänsehaut bedeckt mein Dekolleté. Verdammt, warum habe ich keinen Schal mitgenommen?

Wegen meiner Haare, gebe ich mir selbst die Antwort. Wegen meiner perfekten Fotoshootingfrisur, an der ich gerade über dreißig Minuten gewerkelt habe. Blödes Shooting. Blöde Frisur.

Einmal mehr frage ich mich, warum ich das eigentlich mache. Dieses Instagram-Ding. Weil du dir dadurch einen Hauch weniger egal vorkommst, sagt eine gehässige Stimme in meinem Kopf. Ich grabe meine Hände tiefer in die Taschen meines Kaschmirmantels. Und weil du ihr beweisen willst, dass du ein unglaublich tolles Leben führst. Auch ohne sie. Dass es dir superdupermegagut geht und sie dich nicht kaputtgemacht hat.

Ach ja. Deswegen.

Mit hastigen Schritten gehe ich den Neuen Markt entlang. Zum Franziskanerplatz sind es nur wenige Minuten. Ein Fiaker fährt mit klappernden Hufen an mir vorbei. Ich verdrehe die Augen und beobachte die vielen Menschen, die es sich nicht nehmen lassen, an einem Samstagmorgen wie diesem eingekuschelt in Decken vor den Wiener Kaffeehäusern zu sitzen.

Wiener, Wienerin, Zugezogene, Tourist, Touristenfamilie, zähle ich im Kopf die Menschen ab. Es fällt mir nicht schwer, denn Letztere erkenne ich vor allem an den zahlreichen Stücken Fake-Sachertorte, die sie mit leuchtenden Augen bestellen, nur um sie dann in sämtlichen Positionen zu fotografieren. Sie hätten sich auch gleich ein Schild umhängen können, mit der Aufschrift: Ich bin nur wegen Sisi, Kuchen und Schnitzel hier.

»Livia Hohenburg?«

Ich zucke zusammen, sehe mich um und suche nach der Person, die meinen Namen getuschelt hat. Eine dunkelhaarige Frau mit Brille kommt auf mich zu. Sie wirkt unsicher. »Entschuldigen Sie, Frau Hohenburg, aber dürfte ich ein Foto mit Ihnen machen?«

Ich blicke in die schüchternen Augen der Frau und nicke. Durch meine Kopfbewegung gebe ich meinem Körper das Startsignal. Let’s go, let the show begin.

»Natürlich.«

Die drei Silben schlüpfen hell und zwitschernd aus meinem Mund (erstens). Ich verwandle meinen skeptischen Gesichtsausdruck in ein glückseliges Strahlen (zweitens). Ich stelle mich neben die Frau. Sie legt einen Arm um meine Taille. Eigentlich mag ich es nicht, von fremden Händen angetatscht zu werden, aber ich halte den Mund (drittens). In der Selfiekamera begutachte ich mein Lächeln (viertens). Es ist breit, aber nicht zu breit. Meine Wangenknochen wirken rosig durch die Kälte und das Rouge, das ich heute Morgen aufgetragen habe. Perfekt.

»Cheese«, sagt die Frau und ich strahle in die Kamera (fünftens).

»Vielen, vielen Dank, Frau Hohenburg. Meine Tochter wird völlig ausflippen, wenn ich ihr erzähle, dass ich Ihnen begegnet bin.«

Jetzt folgt der letzte Part: bescheiden zu Boden blicken. Leise kichern. Eine scheinbar unbeholfene Handbewegung, mit der ich mir das Haar aus dem Gesicht streiche. So funktioniert sie. Die Livia-Show.

»Ich folge Ihnen auf Instagram«, plappert die Frau weiter und fuchtelt stolz mit ihrem Handy vor meiner Nase herum.

»Das freut mich.« Es stimmt. Ich bin dankbar, dass es so viele verrückte Seelen da draußen gibt, die sich aus unerfindlichen Gründen für das interessieren, was sie für mein Leben halten. Durch Menschen wie sie kommt es mir nicht völlig sinnlos vor.

»Wissen Sie, ich habe auch einen Instagram-Kanal.«

Mein Blick zuckt zur runden Standuhr an der Bushaltestelle. Noch zehn Minuten.

»Einen Strickkanal.«

»Das klingt, äh, sehr interessant.«

»Ich dachte ja, das wäre nichts für mich, aber mittlerweile habe ich 214 Abonnenten. Ich zeige es Ihnen.« Hektisch beginnt meine Gesprächspartnerin auf ihrem Handy herumzutippen und hält mir dann ihren Feed vor die Nase. »Haben Sie noch Tipps für eine Anfängerin? Wie war das bei Ihnen?«

Wie es bei mir war? Die ehrliche Antwort: Ich wollte etwas machen, das nur mir allein gehört. Worüber ich selbst die Kontrolle habe und das mir nicht wie alles andere im Leben geschenkt wurde.

Die Antwort, die ich der Strickliesel gebe: »Es hat mir einfach Spaß gemacht. Spaß ist das Wichtigste an der Sache. Die Follower merken, wenn man nur halbherzig dabei ist.« Lüge. Das tun sie nicht.

»Oh, Spaß habe ich wirklich.« Ihre Augen leuchten auf. »Ich habe gestern mein erstes Role hochgeladen.«

»Meinen Sie ein Reel?«

»Ähm, ja, genau.« Sie kichert verlegen. »Schauen Sie mal. Geht nur eineinhalb Minuten. Moment, bitte.«

»Das klingt wirklich verlockend, aber …« Ich sehe erneut zur Uhr. »Entschuldigen Sie, ich habe einen dringenden Termin.«

»Oh, natürlich, natürlich.« Die Frau hebt entschuldigend die Hände. »Ich will Sie selbstverständlich nicht aufhalten, aber wenn Sie mal auf meinem Profil vorbeischauen, würde ich mich sehr freuen.«

»Das werde ich«, sage ich, auch wenn ich schon jetzt weiß, dass ich es sicher nicht tun werde.

»Danke! Sie finden mich unter @nachStrickundFaden, ulkig, oder? Ein kreativer Name war mir wichtig. Weil das Profil ja auch, äh, eben kreativ ist.«

»Sehr ulkig, ja. Einen schönen Tag noch!« Ich hebe die Hand zum Abschied und wirble auf dem Absatz meiner Lederstiefel herum, bevor die Frau die Chance bekommt, noch länger mit mir über ihren ulkigen Strickaccount zu reden. Ich renne fast vor ihr weg, denn Menschen wie sie halten mir zu sehr ein Leben vor Augen, das ich nie werde haben können.

4. KAPITEL

DUNSTSCHLEIERWORTE

»Liv, die ersten Vorbereitungen für den Debütantenball beginnen in vier Wochen. Wie kannst du dich noch nicht für einen Partner entschieden haben?« Vic sieht mich aus fassungslosen Augen an. Ich weiß nicht, ob es der Schock oder der frische Saunaaufguss ist, der ihre Wangen zum Glühen bringt. »Hätte man sich nicht schon vor einer Woche mit einem festen Partner anmelden müssen?«

»Ja, schon.« Ich zucke mit den Schultern und schließe die Augen, während Schweißperlen meine Stirn hinabrinnen.

»Na ja«, lenkt Vic ein. »Den Tag will ich erleben, an dem einer Hohenburg nicht gestattet wird zu debütieren, weil sie eine Anmeldefrist verpasst hat.«

Ich brumme etwas Unverständliches und raffe mein Handtuch enger um meine Brust.

»Ich werde deinen Eltern auf ewig danken, dass sie diese Sauna auf die Dachterrasse gebaut haben.« Ein wohliges Seufzen entfährt mir. Vic und ich mussten beim Shooting mit jeder Minute unsere Zähne krampfhafter davon abhalten zu klappern, weshalb ich es jetzt mehr als genieße, dass die Wärme zurück in meine Knochen fließt.

»Lenk nicht ab.«

»Wovon?«

»Davon, dass du dich nicht für einen Tanzpartner entscheiden kannst. Was ist mit Leander?«

»Was soll mit ihm sein?«

»Was ist das mit euch? Gestern bist du doch noch mit ihm in Bennets dunklen Keller verschwunden.«

»Das klingt wie ein supergruseliger Horrorfilm.«

Vic ignoriert meinen Kommentar. »Warum wählst du ihn nicht?«

Ich stöhne genervt, doch ich kenne meine Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie mich nicht ohne eine Antwort aus der Sauna lassen wird. Ich könnte verbrennen und es wäre ihr schnuppe. Livia Hohenburg stirbt Hitzetod durch Verschwiegenheit im Fall Tanzpartner.

»Leander ist …« Ich krame in meinem Kopf nach einer passenden Beschreibung. Meine Freundschaft Plus? Mein Gefühlsausschalter? Mein dunkler Seelenzwilling?

»Ich weiß nicht genau, was er ist, aber er ist kein Tanzpartner.« Ich reibe mir über die schweißnasse Stirn. »Ach, wer weiß, vielleicht gehe ich gar nicht hin.«

»WAS?« Vic rappelt sich so schnell auf, dass ihr Handtuch verrutscht und ich freie Sicht auf ihren elfenhaften und sehr, sehr nackten Körper habe.

»Du kannst mir deine Brüste so oft zeigen, wie du willst. Das beeinflusst meine Entscheidung in keinster Weise, du Luder.« Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Vic rafft das Handtuch wieder um ihren Oberkörper und verdreht bei meiner Bemerkung die Augen.

»Liv«, sagt sie jetzt sanfter. »Warum willst du plötzlich nicht mehr hingehen? Wir zwei haben uns diesen Ball ausgemalt, seit wir … keine Ahnung … sieben sind?«

»Keine Lust.«

»Keine Lust?« Vic zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen.

»Ja. Ist doch ohnehin alles bescheuert. Männer dürfen nur einen Frack und Frauen nur diese schrecklichen weißen Kleider anziehen. Als wären wir im fünfzehnten Jahrhundert. Und was soll der Scheiß mit den Handschuhen?«

Vic sieht auf einmal betroffen aus. »Ja, der ganze traditionelle Kram ist albern und alles … aber wir wollten zusammen diese schrecklichen weißen Kleider und die scheußlichen Handschuhe tragen.«

Ja, das wollten wir. Das war früher. In einem anderen Leben. Bevor meines völlig den Bach runterging und bevor deine Eltern dich mit diesem Franzosen verkuppelt haben, als wären wir in einer trashigen Realityshow mit dem Namen Date My Mom oder The Mom-Matchmaker.

Früher hätte ich all das gesagt.

»Du hast doch Clément«, sage ich heute.

»Dem stehen keine weißen Kleider und Handschuhe erst recht nicht.«

»Ich würde es feiern.«

»Was?«

»Wenn Clément gegen das System rebelliert und als Dragqueen im weißen Partyfummel auftaucht. Kannst du ihn nicht noch mal fragen?«

»Nein.«

»Wieso? Hast du Angst, dass er zusagt?«

»Liv, Clément würde eher vom Eiffelturm springen, als gegen das System zu rebellieren.«

»Spießer.«

Wir müssen beide kichern, dann wird Vics Miene wieder ernst. »Es ist wegen deiner Mutter, oder?«

Die Frage erwischt mich so unvermittelt, dass mir schlagartig kalt wird. Dabei hat die Luft in der Sauna über siebzig Grad. Ich bleibe stumm. Starre nur auf die Dächer Wiens, die vor meinen Augen langsam zu verschwimmen drohen.

»Livia. Meinst du nicht, dass es dir helfen würde, wenn du mir irgendwann erzählst, was genau geschehen ist?«

Was genau geschehen ist. Was will sie hören? Dass meine Mutter eines Morgens einfach nicht mehr da war? Ohne ein Wort des Abschieds? Ohne Erklärung? Dass das einzige Lebenszeichen, das wir von ihr bekommen haben, eine lächerliche SMS war?

Mir geht es gut. Sucht nicht nach mir. Ich musste gehen, es ging nicht anders. Ich liebe euch. M.

Ich liebe euch. Ich liebe euch. Wenn das stimmen würde, hätte es diese SMS nie gegeben. Dann hätte sie Nora nicht mit sechs Jahren zurückgelassen. Und sie wäre es, die mit mir das Kleid für diesen verfluchten Ball aussuchen würde, wie sie es immer versprochen hat.

Aber all das sage ich Vic nicht. Niemand außer Papa, Nora und mir weiß von alldem. Seit über einem Jahr lassen wir die Presse und die gesamte Wiener High Society mit unklaren Aussagen à la Melody wohnt nicht mehr bei uns oder Meine Muttertut gerade endlich einmal etwas für ihre Gesundheit im Unklaren. Das klingt schließlich viel weniger nach einem handfesten Skandal, als Meine Mutter ist eine selbstsüchtige Bitch es tun würde.

»Du kannst mit mir reden«, lässt Vic einfach nicht locker und rutscht auf der Saunabank näher an mich heran. »Du kannst das nicht ewig in dir vergraben, sonst erstickst du.«

»Bah, jetzt berührt mein Schweiß deinen Schweiß.« Ich kichere eine Spur zu albern und rutsche wieder von ihr weg. »Na gut, ich komme mit auf diesen bescheuerten Ball. Aber vielleicht färbe ich mir die Haare blau oder lasse mir die Oberarme tätowieren.« Ein glucksendes Lachen verlässt meine Lippen. Es verliert sich in dem Dunst, der uns umgibt, und war auch nie mehr als das.

»Das ist verboten.«

»Ich weiß, sonst wäre es ja nur halb so lustig. Wenn Clément schon nicht mitmacht …«

»Liv …« Die Besorgnis, die in Vics klaren Augen aufflammt, verhöhnt mich und meine plötzliche Überschwänglichkeit. Sie zeigt mir, dass meine beste Freundin mich zu gut kennt. Zu gut, als dass sie sich von meinem Strahlen blenden lassen würde.

»Mit mir ist alles okay, Vic«, sage ich deshalb. »Mach dir keine Sorgen.« Wie von selbst macht meine Hand eine wegwerfende Bewegung, als könnte sie damit auch all das Ungesagte wegwischen, das sich zwischen Vic und mir ausgebreitet hat.

»Tue ich aber. Ich mache mir Sorgen um dich, egal wie oft du mir sagst, dass ich es nicht tun soll.«

Ich lächle sie so warm an, wie es mir die Kälte in meiner Brust ermöglicht. »Ich verspreche, dass ich zu diesem Ball gehe, okay? So wie wir es uns als Kinder immer ausgemalt haben.«

Vic seufzt, gibt sich dann aber geschlagen. »Okay. Auch ohne blaue Haare und Tattoos?«

»Das hängt davon ab, ob Clément doch noch als Dragqueen kommt.«