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MARTERLMORD
Maresciallo Pietro Carminati wird in ein kleines Dorf in einem engen Tal versetzt. Vierzig Jahre lang war dort Ruhe, aber bereits am Tag seiner Ankunft liegt der Dorfsäufer Sepp tot im Bach. Alles sieht nach einem Unfall aus. Doch als tags drauf ein Bauer an ein Marterl geflochten tot aufgefunden wird, ist klar: Ein Mörder treibt sein Unwesen im Tal. Mithilfe des Pfarrers der kleinen Gemeinde versucht Carminati Licht in das Dunkel zu bringen, doch mit wem er auch redet, er stößt auf eine Mauer des Schweigens. Und dann passiert der nächste Mord.
Handelt es sich um religiös motivierte Bluttaten? Was hat es mit dem plötzlichen Verschwinden des Bauern vom Moarhof auf sich? Und wieso liegt bei allen Toten dieses Sträußchen Vergissmeinnicht?
Carminati versucht, den Fall zu lösen, doch auch sein Leben gerät aus den Fugen.
EIN LETZTES OPFER
Vera, Redakteurin einer Grazer Tageszeitung und dort für die "Literarischen Seiten" zuständig, wird auf einen Dichter aufmerksam, dessen Gedichte von einer großen Schuld sprechen und davon, wie schmerzhaft er die Ausgrenzung durch seine Mitmenschen erlebt. Vera will mehr über ihn wissen und macht sich auf die Reise zu ihm.
Doch was sie in dem kleinen Dorf erfährt, in dem der Einsiedler lebt, lässt das Grauen in ihr wachsen.
Jedes Jahr stirbt eine Frau in diesem Dorf. Jedes Jahr am selben Tag. Und jede dieser Frauen hatte engeren Kontakt zu Veras Dichter, der als Einsiedler hoch über dem Dorf auf dem Berg lebt …
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Heidi Troi
Über die Autorin:
Heidi Troi lebt und schreibt in Südtirol. Wenn sie nicht gerade mit Kindern und Jugendlichen Theater macht, schreibt sie – und zwar am liebsten Krimis und Kinderbücher, wobei sie sich da nicht gern in Schubladen stecken lässt. Wenn Heidi Troi ihre ganzen Leidenschaften genügend Zeit dazu lassen, ist sie gern in den Südtiroler Bergen unterwegs – nicht selten auch in dem Tal, welches das Vorbild für den Schauplatz des Krimis »Marterlmord« war.
Heidi Troi
Sammelband
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Oktober 2023 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Antje Backwinkel https://buchwinkelei.de/lektorat/
Korrektorat: Heidemarie Rabe
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Illustrationen Band 1: Adobe Stock ID 207333234, Adobe Stock ID 214158908,
Adobe Stock ID 172840500, Adobe Stock ID 120415824,
Adobe Stock ID 265193489 und freepik.com und freepik.com
Illustrationen Band 2: Adobe Stock ID 225540618, Adobe Stock ID 132848439, Adobe Stock ID 124573637 und freepik.com.
Heidi Troi
Marterlmord
Ein Geheimnis. Eine Mordserie. Ein schweigendes Dorf
Krimi aus Südtirol
Buchbeschreibung:
»Wie unsichtbare Masken tragen sie ihre Gleichgültigkeit vor sich her, mustern mich beinahe feindselig, als hätte ich ihr Unglück zu verantworten. Da ist sie wieder, diese Mauer.«
Maresciallo Pietro Carminati wird in ein kleines Dorf in einem engen Tal versetzt. Vierzig Jahre lang war dort Ruhe, aber bereits am Tag seiner Ankunft liegt der Dorfsäufer Sepp tot im Bach. Alles sieht nach einem Unfall aus. Doch als tags drauf ein Bauer an ein Marterl geflochten tot aufgefunden wird, ist klar: Ein Mörder treibt sein Unwesen im Tal. Mithilfe des Pfarrers der kleinen Gemeinde versucht Carminati Licht in das Dunkel zu bringen, doch mit wem er auch redet, er stößt auf eine Mauer des Schweigens. Und dann passiert der nächste Mord.
Handelt es sich um religiös motivierte Bluttaten? Was hat es mit dem plötzlichen Verschwinden des Bauern vom Moarhof auf sich? Und wieso liegt bei allen Toten dieses Sträußchen Vergissmeinnicht?
Carminati versucht, den Fall zu lösen, doch auch sein Leben gerät aus den Fugen.
Bald ist es dein Reich
›Militärgebiet. Unpassierbare Grenze – Zona militare. Limite invalicabile‹ steht auf dem Schild am Maschendraht. Ich lasse den Blick am Zaun entlangwandern bis zum nächsten Schild, auf dem derselbe Hinweis steht. Hinter der ›unpassierbaren Grenze‹: Ein Meter Unkraut und dann die Carabinieristation Tal-Valle, die für die nächste Zeit mein Arbeits- und Wohnort sein wird. Das schäbigste Haus in einem Dorf, in dem alles schäbig ist.
»Unpassierbare Grenze«, wiederhole ich leise für mich.
Salvatore, mein Vorgänger als Dorfcarabiniere, hört es trotzdem. »Im wahrsten Sinne des Wortes«, sagt er.
Beinahe vierzig Jahre hat er hier in der Fremde ausgeharrt unter diesen Deutschen, die ihn nie bei sich aufgenommen haben. Den Karpf nennen sie ihn hinter seinem Rücken oder den Walschen.
Er seufzt. »In vierzig Jahren hat keiner von denen einen Fuß in dieses Haus gesetzt.«
Ich wende mich ihm zu. »Weil kein Verbrechen passiert ist?«
»Die brauchen keine Ordnungshüter. Was denen passiert, machen sie untereinander aus.« Ihm ist anzusehen, dass er froh ist, diesem Nest den Rücken kehren zu können. Für ihn geht’s heim nach Sardinien. Ich bin jetzt schon neidisch.
Ich lasse den Blick umherschweifen. Ein verschlafenes Dörfchen also. Ein paar graue Häuser scharen sich hinter einer Haarnadelkurve um eine ebenso graue Kirche. Steile Hänge, bis zur Baumgrenze von Wald überzogen, und ein Wildbach, der sich rauschend seinen Weg durch das Tal gräbt. Schiefergraue Wolken hängen drückend über dem Tal, verhindern, dass die schwüle Hitze des Julitags entweichen kann. Dreihundert Seelen hat das Dorf, habe ich bei meiner Recherche ermittelt. Wo all die Leute leben, werde ich wohl noch herausfinden. Schließlich gebe ich mir einen Ruck.
»Dann los, zeig mir dein Reich.« Ich deute auf die grüne Resopaltür, von der schon die Farbe abblättert.
»Bald ist es dein Reich.« Er sperrt auf. Die Angeln geben ein deutliches Quietschen von sich, als die Tür zurückschwingt.
Er lässt mir den Vortritt. Der erste Eindruck ist niederschmetternd. Das Haus wirkt, als sei es seit Langem unbewohnt. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelt, bringt kaum Licht in den dunklen Flur. Es riecht nach Schimmel.
»Das Büro ist gleich hier.« Er öffnet eine weitere Resopaltür, bei der die Dekorplatte am unteren Rand ausgefranst ist, und deutet der Reihe nach auf ein paar Geräte. »PC, Kopiermaschine, Fax, Modem …«
Ich sehe ihn ungläubig an, als ich ein 56K-Modem erkenne.
Er zuckt gleichgültig die Schultern. »Ist so. Glasfaser hat’s noch nicht ins Tal geschafft und ich sag’s dir gleich: Für Handyempfang musst du aus dem Tal raus oder auf den Berg.«
Ein Blick auf das Display meines Mobiltelefons bestätigt Salvatores Behauptung. Wo bin ich hier nur gelandet?
Als hätte Salvatore meine Gedanken verstanden, nickt er. »Jemand da oben muss dich ganz fest lieb haben«, sagt er, bevor er die Tür wieder schließt und mir Küche und Wohnraum zeigt.
Ich denke kurz an Generale Ravasio, Beatrices Vater, und seine Reaktion auf die Bekanntgabe unserer Verlobung auf einer Familienfeier. Ja, ich habe eine Ahnung, wem ich diese Versetzung zu verdanken habe. Aber unsere Liebe wird auch diesem Sturm standhalten. Ich gestatte mir ein paar wehmütige Gedanken an meine Verlobte, während ich meinem Vorgänger ins obere Stockwerk zu den Schlafräumen folge. Salvatores Schlafzimmer schaut noch am besten aus. Bett, Einbauschrank und Schreibtisch passen zusammen, ein bequem aussehender Ohrensessel mit Blick auf einen ordentlichen Fernseher lässt beinahe so was wie Gemütlichkeit entstehen.
Doch Salvatore zerstört mein kleines bisschen Hoffnung sofort. »Die Möbel nehm ich mit. Übermorgen kommt die Umzugsfirma und bringt alles weg.« Er grinst. »Mein letzter Arbeitstag.«
Dann zeigt er mir das Gästezimmer und ich schlucke. Ein Metallbett, drauf eine dünne Seegrasmatratze. Ich beschließe, möglichst schnell ein Möbelhaus aufzusuchen.
»Sei froh, dass ich im Schlafzimmer neue Fenster habe machen lassen«, sagt Salvatore ungerührt. »Im Winter hat‘s vorher eisig kalt hereingezogen. Dagegen ist keine Heizung angekommen.«
Ich schlucke noch einmal. Während wir zurück ins Büro gehen, straffe ich mich. Das ist mein Job und ich werde ihn erledigen, so gut es geht. Dann werde ich irgendwann wieder versetzt. In die Hauptstadt oder in meine Heimatstadt Bergamo. Ich werde in Ehren heimkehren, meine Beatrice heiraten und mein Schwiegervater, der Generale Ravasio, kann mich kreuzweise.
Ich ignoriere Salvatores mitleidigen Blick, atme durch. »Was sind meine Aufgaben?«
»Die Mails aus der Zentrale archivieren, bei Prozessionen den Verkehr aufhalten und der Colonello erwartet wöchentlich einen Bericht. Unter ›Papierkram‹ hab ich eine Vorlage abgespeichert, die ich immer ein bisschen umwandle. Und täglich um neun kommt die Repubblica.«
Der Computer gibt ein »Bling« von sich und Salvatore grinst mich an. »Das ist die Erinnerung an die gesetzlich vorgeschriebene Kaffeepause um zehn.«
Wieder schlucke ich. So hatte ich mir meinen Traumjob nicht vorgestellt.
»Caffè?« Salvatore wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern schiebt sich an mir vorbei in die Küche. Wenig später stellt er mir einen Espresso hin. Zumindest der Kaffee schmeckt, wie es sich gehört. Mit dem ersten Schluck breitet sich Ruhe in meinem Körper aus.
Salvatore setzt zum Sprechen an, doch ich unterbreche ihn. »Lass mich raten: Die Mokkamaschine nimmst du auch mit?«
Bevor er antworten kann, läutet das Telefon.
Einmal. Zweimal. Dreimal.
»Willst du nicht rangehen?«, frage ich.
»Wenn’s wichtig ist, versucht er’s noch mal.«
Wir nippen an unseren Espressi. Das Telefon verstummt. Dann hebt das Läuten wieder an.
»Scheint wichtig zu sein«, sage ich.
»Tja.«
»Willst du nicht rangehen?«
»Dein Job.« Salvatore grinst, nippt an seinem Kaffee. Dann lehnt er sich zurück und atmet entspannt durch.
Genervt stemme ich mich hoch, finde das Büro und dort das Telefon, Marke SIP vor der Jahrtausendwende. »Pronto?«
»Oh.« Der Anrufer klingt beinahe erschrocken.
»Sì?«
»Carabinieri?«
»Sì.«
Dann ein Seufzer, der Anrufer setzt zum Sprechen an, stockt wieder, setzt wieder an. Ich ahne, was das Problem ist, und baue ihm eine Brücke. »Sie können auch Deutsch sprechen. Nur bitte langsam.«
Ich weiß um die Barriere in diesem mehrsprachigen Land. Um die Ängste der drei hier lebenden Sprachgruppen, die jeweils anderen Sprachen zu benutzen. Nicht dass sie es nicht könnten. Sie können ihre Zweit- und Drittsprache gut genug, um sich darin verständlich auszudrücken. Aber sie haben einen Perfektionsanspruch, verlangen von sich selbst, dass sie akzentfrei sprechen. Ich nicht. Ich bin aus Bergamo. Mein Deutsch habe ich im Abendkurs einer Volkshochschule gelernt, als klar war, wohin ich versetzt werde.
Der Anrufer atmet erleichtert aus. »Wir haben einen Toten gefunden. Im Bach.«
Der Tote im Bach
Von der Straße sind es etwa hundert Meter steil bergab zum Wildbach, der sich tosend und schäumend seinen Weg vom Gebirge ins Tal bahnt. Dessen Rauschen im ganzen Tal allgegenwärtig ist. Hundert moosüberwachsene steinig-glitschige Meter bis zum Bachbett. In dem eine Leiche liegt. Ich schaue Salvatore an, der gleichgültig die Schultern zuckt.
»Ich warte hier auf die Jungs von der Scientifica.«
War ja klar. Wir haben die Spurensicherung noch von der Station aus angerufen und irgendwie müssen die tatsächlich hierherfinden. Ich seufze, schwinge meine Beine über die Leitplanke, mache die ersten vorsichtigen Schritte, rutsche auf dem nassen Moos aus, knalle mit dem Steißbein auf einen Stein. Fluche.
Die Waldarbeiter, die in ihrer orangen Arbeitskleidung auf dem Talgrund von Stein zu Stein balancieren, schauen hoch.
»Herr Carabiniere!«, ruft einer, dessen Gesicht zur Hälfte von einem Bart verdeckt ist, und winkt mich hinunter.
Ich winke zurück, schiebe mich vorsichtig den Waldboden entlang nach unten, wobei ich mir wohl dessen bewusst bin, dass ich ein Bild des Jammers biete. Ein Carabiniere wie aus dem Buch, eine Karikatur eben jenes Berufs, über den ganz Italien seine Witze reißt. Warum wir die Streifen an der Hose haben? Damit wir sie nicht über den Kopf ziehen. Warum bei uns ›Carabinieri‹ auf der Autotür steht? Damit wir nicht über die Motorhaube ins Auto einsteigen. Ich kenne sie alle. Und liefere ihnen mit meinem ersten Auftritt hier im Dorf einen Nährboden.
Als ich endlich unten angelangt bin, ist mein Hosenboden durchnässt, mein Steißbein pocht. »Rutschig habt ihr‘s hier.«
Die beiden wechseln einen Blick. »Es hätte auch einen Weg gegeben«, sagt der Bärtige langsam. Deutet hinter sich, wo sich ein schmaler Pfad am Bach entlang windet.
Na toll. »Na ja, ihr wisst schon, wir Carabinieri …« Sie lachen nicht, was für mich Beweis genug dafür ist, dass genau das ihre Gedanken waren. »Wo ist der Tote?«
»Kommen Sie«, sagt der Jüngere der beiden und geht voraus. Den schmalen Weg entlang, um eine Kurve. Dann bleibt er stehen. »Da vorn.«
»Der Sepp«, sagt der Bärtige und ich überlege, ob er mit dem Gestrüpp in seinem Gesicht diesem Freiheitskämpfer Andreas Hofer nacheifern will, der von einigen Rechtsgerichteten zum Helden und zur Symbolfigur im Kampf gegen die Italiener auserkoren wurde. Hoffentlich ist sein Nacheiferer nicht ein Vertreter dieser Gruppierung und ich lande gleich neben dem Mann im Bach.
Der Bärtige schüttelt bedächtig den Kopf. »Hat sich wohl endlich zu Tode gesoffen.«
»Sie kennen den Toten?«
»Das ist keine Großstadt. Hier kennt jeder jeden. Und den Sepp schon gar.«
»Unseren Dorfbsuff«, ergänzt der Junge. Dann schweigen sie und warten ab, was ich mache.
»Und er ist sicher tot?«
»Hab ihm die Schnapsflasche vor die Nase gehalten und er hat nicht danach gegriffen. Also ja.« Die beiden wechseln wieder einen Blick.
Ich werfe ihnen einen scharfen Blick zu. Ein Mensch ist gestorben, und ihr macht geschmacklose Witze über ihn.
Die beiden Waldarbeiter merken, dass ich hier keinen Spaß verstehe. »Er ist schon ganz steif«, erklärt der Freiheitskämpfer-Verschnitt schnell.
Also mindestens sechs Stunden tot, höchstens zwei Tage. Da er im kalten Wasser gelegen hat, wohl eher weniger, rekapituliere ich mein forensisches Wissen. Ist aber müßig, weil das alles nicht in meinen Kompetenzbereich fällt.
»Haben Sie was angefasst?«, frage ich.
»Ich hab versucht, ihn wachzurütteln«, sagt Andreas Hofer.
»Obwohl er ganz steif ist?« Ich ziehe skeptisch die Augenbrauen hoch.
»Das konnt ich ja nicht sehen.«
»Was glauben Sie, was passiert ist?«
Die beiden wechseln erneut einen Blick. Dann überwindet sich der Junge. »Sternhagelvoll über die Leitplanken gekippt. Die Rübe hat ganz schön was abgekriegt.«
Es ist Zeit, sich den Leichnam anzusehen, finde ich und schiebe mich auf dem schmalen Pfad an den massiven Männern vorbei, wobei ich beinahe selbst riskiere, in das schäumende Gebirgswasser zu fallen. Dann bleibe ich stehen. Der Anblick lässt keinen Zweifel zu. Der Mann ist tot. Mit dem Gesicht nach unten liegt er im Wasser. Am Kopf klafft eine große Wunde. Ein Bein ist zwischen zwei aus dem Wasser ragenden Felsblöcken eingeklemmt, was verhindert hat, dass der Körper vom Gebirgsbach weiter ins Tal gerissen wurde.
»Und?«, fragt der Junge.
»Tot.«
Die beiden grinsen sich frech an. Ich kann ihre Gedanken beinahe greifen. Der Carabiniere …
»Du hast Glück«, sagt Salvatore zwei Stunden später bei einer Tiefkühlpizza, die wir in der kleinen dunklen Küche der Carabinieristation essen. Um den Abtransport der Leiche kümmert sich die Scientifica. Wir beide haben Feierabend. »War ja richtig was los heute.«
»Ist das sonst nicht so?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Das größte Verbrechen im letzten Jahr war ein Hühnerdiebstahl. Ein bisschen Aufregung hat’s noch bei einem Selbstmord vor zwei Wochen gegeben. Davor vierzig Jahre lang nichts.«
»Hm«, mache ich. »Und jetzt?«
»Jetzt übernehmen die Experten. Der Leichnam wird obduziert. Aber was soll schon groß rauskommen? Der Sepp war dorfbekannt. Ist mit der Schnapsflasche von Haus zu Haus gezogen und hat den Leuten mit seinem Gesang den Tag verschönt. Er hat eben die Leitplanke mit einem Zaun verwechselt und die Steine dahinter mit einer Bank, und das war’s. Ende. Die nächsten vierzig Jahre ist sicher wieder Ruhe.«
Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Vierzig Jahre darf das hier nicht dauern. Ich denke an Beatrice. Würde sie mit mir in so einem Kaff wohnen wollen? Als einzige Italienerin? Frau des Dorfcarabiniere?
Salvatore nickt wissend. »Das hab ich auch gedacht. Aber schau mich an …«
Steiger dich nicht zu sehr rein
Gleich am nächsten Morgen mache ich mich mit Salvatore auf den Weg zum Pfarrhaus.
»Der Pfarrer ist derjenige, der im Dorf den zweitgrößten Durchblick hat«, erklärt Salvatore, während wir die Straße hoch zum Dorfkern laufen. »Gleich nach seiner Häuserin.« Er lacht, als er meinen fragenden Blick sieht.
»›Häuserin‹ gehört halt nicht zum Wortschatz, der im Abendkurs an der Volkshochschule vermittelt wird.«
»Eine Häuserin ist der gute Geist im Widum. Sie führt dem Pfarrer den Haushalt. Böse Zungen behaupten, dass sie auch gern ein bisschen mehr tut, aber über diesen Zweifel ist Anna erhaben, denke ich.«
Ich verkneife mir die Feststellung, dass das Wort ›Widum‹ auch nicht zu meinem Wortschatz gehört, kombiniere aber blitzschnell, dass damit wohl das Pfarrhaus gemeint ist, vor dem wir gerade ankommen. Salvatore läutet. Wenige Augenblicke später geht die Tür auf und uns steht der Seelsorger des Dorfes gegenüber.
»Der wichtigste Mann im Dorf, Hochwürden Egger. Hochwürden – mein Nachfolger Maresciallo Pietro Carminati«, sagt Salvatore und deutet erst auf ihn, dann auf mich.
Hochwürden Egger ist ein selten junger Vertreter seines Berufsstandes. Ich schätze ihn auf etwa fünfunddreißig Jahre. Mit seinem rosa Gesicht, das von blonden Locken umrahmt wird, wirkt er noch jünger. Der Pfarrer strahlt mich an wie einen lang vermissten Freund und streckt mir die Hand entgegen.
»Freut mich, Pietro.« Dann wendet er sich an Salvatore. »Ihr seid wegen dem Sepp da, vermute ich?«
Salvatore nickt. »Reine Routine. Aber ein paar Fragen stellen müssen wir trotzdem.«
»Kommt rein.« Pfarrer Egger führt uns in einen hellen Raum, der nach Bohnerwachs riecht. Die Möbel stammen wie in der Carabinieristation aus einem anderen Jahrhundert, wirken aber ungleich solider und freundlicher. Auf dem Fensterbrett blühen Usambaraveilchen und Orchideen. In der Ecke der Herrgottswinkel – ein Sims, das mit einer vermutlich handgeklöppelten Spitze verziert ist und auf dem neben einer holzgeschnitzten Herrgottsfigur eine Kerze, eine Pflanze mit roten Blüten und verschiedene Heiligenfiguren stehen. Daneben billige Drucke der Muttergottes und von Jesus, beide die rechte Hand segnend erhoben.
»Mögt ihr einen Kaffee?«
Wir nicken unisono und Pfarrer Egger verschwindet nach draußen, kommt aber kurz drauf zurück und setzt sich zu uns an den Tisch.
»Der Sepp war unser Dorfsäufer«, beginnt er, ohne dass ich eine einzige Frage stellen muss. »Man hat ihn eigentlich nie ohne seine Flasche angetroffen. Seine Devise war ›den Pegel halten‹ und den Nachschub hat er von seiner Schwester gekriegt – der gehört der Gasthof Bergblick im Dorf. Sie hat ihn mit Alkohol versorgt, damit er nicht im Gasthof herumrandaliert und womöglich die Gäste verschreckt.«
Ich zücke meinen Notizblock. »Wie heißt die Dame?«
»Oberrauch«, sagt der Pfarrer, »Rosa Oberrauch. Aber ich glaub nicht, dass die da irgendwie nachgeholfen hat.«
»Glauben wir ja auch nicht«, erklärt Salvatore. »Aber hier ist ein Mensch gestorben, und dem muss man nachgehen.«
Schade, dass Salvatore geht. Wir beide wären ein gutes Team. »Bis wir die Ergebnisse aus Bozen kriegen, müssen wir den Leuten ein paar Fragen stellen, Hochwürden«, ergänze ich.
»Hochwürden kannst du gleich vergessen. Ich bin der Valentin.« Der Pfarrer grinst mich lausbübisch an. »Oder schau ich wie ein Hochwürden aus?« Dann wird sein Gesicht wieder ernst. »Ihr habt ja recht. Alles ist möglich. Sprecht auf jeden Fall mit Rosa.«
Die Tür geht auf und eine Frau, die auf die Siebzig zugeht, schiebt sich herein, ein Tablett mit Mokkamaschine, Tassen und einem Schüsselchen voller Kekse vor sich her balancierend.
»Danke Anna«, sagt der Pfarrer und nimmt ihr das Tablett ab. »Meine Häuserin«, erklärt er und ich bin stolz darauf, das Wort wiederzuerkennen. Bei ihrem Anblick schießt mir Salvatores Bemerkung durch den Kopf, was einer Häuserin unterstellt wird und dass Anna diesbezüglich wohl über jeden Zweifel erhaben wäre. Ich kann ihm nur beipflichten. Abgesehen von ihrem Alter wirkt Anna alles andere als einnehmend. Mit mürrischem Gesicht setzt sie klappernd die Tassen vor uns ab, ohne uns eines Blickes oder eines Grußes zu würdigen.
»Hmpf«, macht die Häuserin, wendet sich ab und will zur Tür hinaus.
»Anna«, ruft Pfarrer Egger ihr nach. »Sag mal, wann hast du den Sepp das letzte Mal gesehen?«
Die Häuserin hält inne, dann brummt sie etwas, das nach »Gestern. Wie ich die Kirche aufgesperrt hab« klingt und verschwindet ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus. Ein richtiger Sonnenschein, die Frau.
»Also gegen sechs Uhr morgens«, erklärt Pfarrer Egger. »Um halb sieben ist nämlich die Frühmesse und sie sperrt etwa eine halbe Stunde vorher die Kirche auf, zündet die Kerzen an und bereitet alles für die Feier vor.«
Ich überlege. Wenn dieser Sepp kurz danach in den Bach gefallen ist, stimmt das mit dem überein, was ich selbst als Todeszeitpunkt veranschlagt habe. Allerdings ist es um sechs Uhr jetzt im Frühsommer bereits hell. Wie konnte der Mann da aus Versehen über die Leitplanken klettern und dann den Abhang hinunterfallen?
»Wie wahrscheinlich ist es, dass der Kerl bereits frühmorgens betrunken war? Irgendetwas stimmt da nicht.«
Ich wechsle einen Blick mit Salvatore, der abwinkt. »Steigere dich nicht zu sehr hinein, Kollege«, sagt er. »Der Sepp war besoffen und ist in den Bach gefallen. Hier in den Bergen passiert so was alle paar Wochen.«
Der Pfarrer nickt bestätigend.
Aber ich halte an meiner bergamaskischen Sturheit fest. »Irgendwas stimmt hier nicht. Und ich werde herausfinden, was.«
Die Wirtin vom Bergblick
Der Bergblick ist das einzige Gasthaus im Dorf. Salvatore hat sich mit der Entschuldigung, etwas für seinen Umzug organisieren zu müssen, verdrückt und jetzt liegt es an mir, mit der Schwester des Toten zu sprechen. Bevor ich eintrete, genieße ich für einen Moment den grandiosen Blick auf die Steilhänge, dem das Restaurant seinen Namen verdankt. Jetzt um zehn Uhr kriechen die Sonnenstrahlen langsam die Steilhänge herunter Richtung Dorf und geben ihm fast ein freundliches Aussehen.
Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht, denke ich und stoße die schwere Holztür auf. Irgendwo vom Ende eines dunklen Flurs her kommt Volksmusik. Das Innere des Schankraums liegt verlassen da. Altbacken wirkt er, in Brauntönen gehalten. Fliesen aus den Fünfzigern zieren die Wand hinter dem Tresen, an den Fenstern hängen Gardinen mit Tiroler Muster, die vermutlich vor zehn Jahren das letzte Mal gewaschen wurden. Frisch sind nur die Blumen in dem Gurkenglas im Herrgottswinkel. Vergissmeinnicht.
Ich trete an die Theke. Ein Blick in die Speisekarte aus Lederimitat bestätigt meine Ahnung: Der Getränketeil ist länger als der mit den Speisen und neben Hirtennudeln und Wiener Schnitzel gibt es als Alternativmenü für Vegetarier Salat mit Mozzarella und Ei.
»Was darf’s sein?«
Ich zucke zusammen und sehe hoch. Eine grobschlächtige Frau, deren Aussehen zu ihrer barschen Stimme passt, mustert mich abschätzig, beinahe feindselig. Das muss die Wirtin sein, Rosa Oberrauch. Als hätte ich etwas Verbotenes gemacht, lasse ich die Karte fallen und strecke ihr verlegen die Hand hin.
»Carminati, der neue Carabiniere. Ihr Verlust tut mir sehr leid.« Sie nimmt meine Beileidsbekundung mit einem kaum merklichen Kopfnicken entgegen. Dann gehe ich zur Tagesordnung über. »Der Sepp war Ihr Bruder?«
Sie nickt stumm.
»Ist Ihnen in letzter Zeit etwas aufgefallen?«
Kopfschütteln.
»War er irgendwie seltsam? Anders als sonst?«
Erneutes Kopfschütteln.
Ich unterdrücke den Impuls, genervt mit den Augen zu rollen. »Hatte Sepp Feinde?«
Kopfschütteln. Was sonst? Es ist, als gäbe es eine unsichtbare Mauer zwischen der Wirtin und mir. Langsam spüre ich Ärger in mir hochsteigen. Ich habe keine Lust auf feinfühliges Vortasten. Mir ist egal, dass die Frau einen Angehörigen verloren hat.
»Wo waren Sie gestern Morgen zwischen sechs und acht Uhr?« Das ist das Zeitfenster, das die Scientifica inzwischen als Todeszeitpunkt ermittelt hat.
Als die Bedeutung der Frage in ihr Denken durchsickert, reißt Rosa Oberrauch erschrocken die Augen auf und ich kann kurz hinter ihre Fassade blicken. Gleich darauf aber zieht sie die Mauer wieder hoch.
»Er ist nicht umgebracht worden.«
Stur sein kann ich auch. »Das war nicht die Frage.«
»Ich war zu Hause. Im Bett. Beim Frühstück.«
»Gibt es dafür Zeugen?«
»Meine Familie, die Angestellten im Gasthof.« Herausfordernd reckt sie mir das Kinn entgegen. »Aber der Sepp ist nicht umgebracht worden.«
»Das herauszufinden ist unsere Aufgabe.«
Sie verschränkt die Arme vor ihrer üppigen Brust. Wie du meinst, sagt mir diese Geste. Trauert sie gar nicht um ihren Bruder? Hat sie so unter dem Makel gelitten, den seine Trunksucht auf ihr Geschäft geworfen hat, dass sie jetzt froh ist, dass dieser Unfall – wenn es denn einer war – dem Ganzen ein Ende bereitet hat?
»Noch was?«
Ein paar Tränen, zumindest eine kummervolle Miene, ein kleines Anzeichen dafür, dass du um deinen Bruder trauerst, denke ich, doch es kommt keine weitere Reaktion. »Ich werde mit Ihren Angestellten sprechen müssen.«
Sie zuckt die Schultern. Tu was du nicht lassen kannst, heißt das dann wohl.
Da gibt das Walkie-Talkie, mit dem Salvatore mich – wegen des schlechten Handyempfangs im Tal – ausgestattet hat, ein Signal von sich und befreit mich aus der angespannten Situation. »Ja?«
»Du musst … knacks krach … kommen.« Mit Mühe erkenne ich Salvatores Stimme.
»Bitte?«
»Du … knacks krach rausch … Station …«
»Ich muss in die Carabinieristation kommen?«
»…nau …«
»Ich …« Ich schaue entschuldigend Richtung Rosa Oberrauch, die mich gleichgültig mustert. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt …«
Kein Nicken. Kein Zeichen des Verstehens. Meine Rede dringt wohl nicht durch die unsichtbare Mauer … Ich zucke die Schultern und mache, dass ich davonkomme. Ein mieses Gefühl bleibt.
»Endlich!« Salvatore empfängt mich auf der Straße vor der Carabinieristation. »Es ist schon wieder was passiert.«
Er knallt die Beifahrertür hinter sich zu. »Fahr los! Hinauf zum Oberplanitscherhof.«
Ich sehe ihn fragend an. »Oberpla-was?«
»Oberplanitscher. Los komm. Schon wieder ein Toter.«
»Ein Toter?«
»Ja, verdammt. Jetzt komm schon in die Gänge, Pietro.«
Die Erwähnung meines Namens wirkt wie eine kalte Dusche auf mich und ich springe ins Auto. »Vierzig Jahre Ruhe, wie?«, frage ich, während ich den Zündschlüssel herumdrehe.
»Ich schwöre! Da vorn musst du links abbiegen.«
Salvatore deutet auf eine schmale Straße, die von der Hauptstraße in den Wald abzweigt, und lotst mich über unzählige Kehren den Berg hoch. Eine Haarnadelkurve folgt auf die nächste und die Straße erfordert meine ganze Konzentration. Als ich sicher bin, dass entweder Salvatore mich auf den Arm nimmt oder wir kurz davor sind, bei Petrus an die Himmelspforte zu klopfen, nehmen wir einen Feldweg talwärts und der Carabinieriwagen wird – zusammen mit meinem Fahrkönnen – auf eine harte Probe gestellt.
»Das ist allerhöchstens ein Traktorweg«, beschwere ich mich, als die Ölwanne zum wiederholten Mal mit einem lauten »Klong« auf einem Stein aufstößt. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?« In dieser Höhe können doch unmöglich noch Menschen leben.
Salvatore nickt gleichmütig und tatsächlich: Hinter der nächsten Kurve kommt ein Bauernhof zum Vorschein, vor dem eine Menschengruppe steht und uns erwartet.
Verstockt
Ich lenke den Wagen vorsichtig durch die Menschen, die mit eisigen Mienen am Feldweg Spalier stehen, bis auf einen kleinen Vorhof, dann steigen wir aus. Im ersten Augenblick denke ich, dass mir Rosa Oberrauch zuvorgekommen ist und es irgendwie vor uns zu diesem Oberpla-irgendwas-Hof geschafft hat. Aber wieso sollte sie? Dann erkenne ich, warum ich den Eindruck habe, da stünde die Wirtin vom Bergblick. Es ist der Ausdruck auf dem Gesicht der Bäuerin. Dieselbe Verstocktheit, eine grimmige Gleichgültigkeit, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. Ein seltsamer Schlag, diese Bergmenschen.
»Frau Oberplanitscher.« Salvatore geht auf die älteste der Frauen zu. Ich versuche, mir den sperrigen Namen einzuprägen, ihn mitzusprechen, wobei sich meine italienische Zunge gegen dieses Wort voller Konsonanten wehrt. Die Mundwinkel der Bäuerin verziehen sich geringschätzig nach unten. Ich kann es ihr nicht einmal verdenken.
»Oberplanitscher ist der Hofname. Wir heißen Stocker.«
Stocker wie verstockt, denke ich. Laut sage ich: »Wo ist der Tote?«
Wortlos deutet sie mit dem Kinn hinter sich. Ihr Körper folgt der Bewegung und gibt den Blick frei auf ein riesiges überdachtes Holzkreuz.
An dem ein Mann hängt.
Tot. Bleich. Nackt. Bis auf ein weißgraues Etwas, das seine Form schon längst verloren hat. Mehr Lendenschurz als Unterhose.
Ein Gekreuzigter.
Seine Haut ist gräulich. Wie eine Marmorstatue hängt er da, den braunen Haarschopf auf die Brust gesenkt, das Gesicht von den Haaren verdeckt. Wo seine Hände sein müssten, ragen blutige Stümpfe aus den Hanfseilen, die seine Arme an den Querbalken fesseln. Ein paar feine Streifen eingetrockneten Bluts schlängeln sich in Richtung Torso, verlieren sich auf Nabelhöhe.
Unwirklich das Ganze, wie das Bild eines Renaissance-Künstlers. Ein einzelner Sonnenstrahl kriecht über den Bergvorsprung, der den Hof, der im Rücken des Toten liegt, bislang in tiefe Schatten getaucht hat. Er setzt das Bild in Szene, lässt die graue Haut rosa schimmern. Ein Sträußchen Vergissmeinnicht zu Füßen des Toten bildet einen reizvollen Kontrast zu dem Ensemble, das durch den düster verhangenen Himmel im Hintergrund abgerundet wird. Wie hypnotisiert starre ich das Bild an, kann meinen Blick nicht davon lösen.
Salvatores Würgen reißt mich aus der Trance. Plötzlich fühle auch ich Übelkeit in mir hochsteigen. Ich reiße meinen Blick los und schaue stattdessen in Salvatores Gesicht, dessen Farbe der des Toten ähnelt.
»Ein Marterle«, flüstert er.
Marterle, von martirio oder auf Deutsch Marter. So nennen die Einheimischen diese überdachten Wegkreuze, die alle naselang die Straßen und Wanderpfade säumen. Holzgeschnitzte Christusfiguren am Kreuz, die Marter der Kreuzigung detailgetreu ins Gesicht geschrieben und immer liebevoll mit Blumen oder Kerzen geschmückt. Dann ein zweiter Gedanke: Vergissmeinnicht! Ist die Wahl des Blumenschmuckes zufällig oder bewusst? Wer soll nicht vergessen? Oder vergessen werden? Dann: Kann nicht jemand diesen Leichnam bedecken? Er tut mir leid, dieser dickliche Mann, der in der Vormittagssonne an das Kreuz gefesselt auf die Scientifica warten wird müssen, in diesen peinlichen Unterhosen nackter, als wäre er unbekleidet.
Ich wechsle einen Blick mit Salvatore. Der nickt langsam.
»Von allein ist der mal nicht da hinaufgekommen«, stellt er fest. »Ich rufe die Jungs.« Damit zieht er sein Mobiltelefon heraus und sich aus der Affäre. Auf der Suche nach Empfang geht er auf das Wohnhaus zu, das etwa fünfzig Meter von hier im Rücken des Toten steht. Unbehaglich warte ich, bis er mir bedeutet, ohne ihn anzufangen.
Ich wende mich wieder der Menschengruppe zu, die unvermindert abweisend dasteht. Außer der Bäuerin noch zwei Frauen und zwei Männer unterschiedlichen Alters, die gleichgültig beobachten, wie Salvatore sich erfolglos auf die Jagd nach einem halbwegs brauchbaren Empfang macht. Als er um die Kurve verschwunden ist, wandern ihre Blicke zu mir.
Ich schlucke den Kloß runter, der sich in meiner Kehle gebildet hat. Räuspere mich. »Kennen Sie den Toten?«
Fünfköpfiges Nicken. Beinahe synchron.
Eine halbe Minute lang warte ich darauf, dass jemand das Wort ergreift. Schließlich hake ich nach, mein Blick heftet sich auf die Bäuerin. »Wer ist er?«
»Mein Mann«, sagt sie.
»Ihr Mann?« Ungläubig schaue ich von ihr zu dem Gekreuzigten. Auch wenn ich in Betracht ziehe, dass der Tod den Mann am Kreuz hat altern lassen, sieht sie doch mindestens fünfzehn Jahre jünger aus als er. Hat sie sich so gut gehalten oder er sich so schlecht? Seine weißgrauen Unterhosen bauschen sich leise in der leichten Brise. Ich wende meinen Blick ab, möchte dem Toten seine Würde nicht nehmen, indem ich zusehe, wie ihm der Wind in den Feinripp fährt. Im Gesicht der Bäuerin bewegt sich nichts.
Ich schlucke. Man hat mich gewarnt. Dass die Menschen hier in den Bergen gefühlskalt sind, dass sie anstelle eines Herzens ein Lesegerät für Kreditkarten in sich tragen, aber über uns Bergamasker erzählt man Ähnliches und ich habe es deshalb für ein Vorurteil gehalten. Bis jetzt. Mein Blick wandert zu den anderen Gesichtern. Wie unsichtbare Masken tragen sie ihre Gleichgültigkeit vor sich her, mustern mich beinahe feindselig, als hätte ich ihr Unglück zu verantworten. Da ist sie wieder, diese Mauer.
Ich seufze. »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen?«
»Gestern«, sagt die Bäuerin, »zum Abendbrot.«
Keiner der anderen Anwesenden ergänzt etwas. Ich warte wieder, bis ich das Schweigen nicht aushalte. »Und danach?«
Die Bäuerin zuckt die Schultern. Hat der Mann nicht bei seiner Frau geschlafen? Hat sie sich nicht gewundert, dass er nach dem Abendbrot einfach verschwunden ist? Was stimmt nicht mit diesen Menschen?
»Ich muss Ihre Personalien aufnehmen«, sage ich, um irgendetwas zu sagen. Um irgendwas zu tun. Um dem Blick des Toten zu entkommen, der mir einen stummen Hilfeschrei sendet. ›Bedecke mich wenigstens‹, ruft er. Von fern hört man ein leises Donnergrollen. Ich zücke meinen Notizblock und sehe die Leute auffordernd an.
»Mit wem darf ich beginnen?«
»Wir haben unsere Ausweise im Haus«, sagt die Bäuerin. Ohne ein weiteres Wort wendet sie sich ab und setzt sich Richtung Bauernhaus in Bewegung, die anderen folgen ihr. Unentschlossen bleibe ich stehen und sehe hilfesuchend zu Salvatore, der ihnen in der Kurve entgegenkommt.
»Kein Empfang«, sagt er. »Darf ich Ihr Telefon benutzen?«
Die Bäuerin zuckt die Schultern und geht weiter. Nicht einen Blick verschwendet sie an den Leichnam ihres Mannes, der sich bleich vom düsteren Himmel abhebt.
Der Bergbauernhof ist frisch renoviert. Ein neues Dach mit Photovoltaikanlage, Fenster, die jeder Witterung trotzen und Geranien auf einem Balkon, der sich über die ganze Breite des Hauses zieht. Aus dem Stall im Erdgeschoß kommt leise Musik. Man sagt ja, dass die Kühe bei Mozart mehr Milch geben. Ob das allerdings auch für dieses volksdümmliche Gedöns gilt, halte ich für sehr fraglich.
Salvatore folgt der Bäuerin eine Steintreppe hoch, wo sich der Eingang zu den Wohnräumen befindet. Ich schließe mich an und trete hinter ihnen in einen dunklen Flur, in dem es nach Fettgebackenem und Kernseife riecht. In der hinteren Ecke hängen in kleinen Sträußen Kräuter von der Decke, geben der Duftmischung eine Note von Pfefferminze. Die Bäuerin deutet stumm auf ein Telefon auf einem Sims an der Wand und Salvatore stürzt sich dankbar darauf, während ich ihr in eine holzgetäfelte Stube folge. In der Ecke hängt ein Kreuz, umrahmt von Mistelzweigen, das mir wieder den bleichen Leichnam vor dem Hof in Erinnerung ruft. Die Bäuerin zieht einen Stuhl heraus, deutet darauf und ich setze mich dankbar. Dann verlässt sie die Stube durch eine weitere Holztür, die so niedrig ist, dass sogar sie sich bücken muss, obwohl sie nicht unbedingt groß gewachsen ist. Zu hören ist nur das leise Ticken einer emaillierten Pendeluhr.
Ich bleibe mir selbst überlassen. Mir selbst und meinen Gedanken. Berührt die Menschen dieses Oberplanitscher Hofs der Tod ihres Familienoberhaupts überhaupt nicht? Haben sie sich überhaupt nicht darüber gewundert, dass der Mann nach dem Abendessen verschwunden blieb? Oder hing vielleicht auf dem Oberplanitscher Hof der Haussegen schief? Meine Gedanken wandern zu dem Toten, der draußen am Kreuz hängt. Ein neuerliches Grollen kündigt ein Unwetter an. Wie lange wird es dauern, bis das Expertenteam aus Bozen hier aufschlägt und endlich diesen Leichnam herunternimmt? Ihn bedeckt?
Vom Flur her sind Schritte zu hören. Eine der Frauen streckt den Kopf herein und mir gleich anschließend einen zerknitterten Personalausweis entgegen.
»Da«, sagt sie.
Ich schlage den Personalausweis auf. »Stocker«, lese ich laut vor. »Agnes? Sie sind …«, ich werfe einen Blick auf das Geburtsdatum, »die Tochter des Toten?«
Sie schüttelt den Kopf. »Schwester.«
Ich mache einen Vermerk. Immerhin eine Antwort, wenn auch nur ein Wort. »Haben Sie den Toten auch zum Abendbrot das letzte Mal gesehen?«
Sie nickt.
»Was hat’s denn gegeben?«
»Mus.«
Haben die hier oben Angst, dass sich ihre Lebenszeit verkürzt, wenn sie mehr als ein Wort pro Satz verwenden?
»Hatte er mit irgendjemandem Streit?«, frage ich.
Kopfschütteln.
»Mit der Frau?«
Kopfschütteln.
»Wer tut dann so was?«
Sie zuckt die Schultern. So komme ich nicht weiter. »Sie müssen mir schon helfen. Oder wollen Sie nicht wissen, wer das war?«
Schulterzucken. Ich schnaufe einmal tief durch. Am liebsten würde ich die Frau schütteln. Bevor ich weiterfragen kann, öffnet sich die Tür und die zweite Frau tritt ein. Sie legt ihren Personalausweis auf den Tisch und stellt sich demonstrativ neben die andere.
»Stocker, Agnes.« Schon wieder. Ich schaue ungläubig zwischen den beiden hin und her.
»Agi«, sagt die Jüngere.
»Ich bin die Patentante«, erklärt die andere.
Ich nicke. Im Stillen sende ich ein Stoßgebet Richtung Himmel, übertrage die Personaldaten in meinen Notizblock und hoffe, dass Salvatore bald kommt und mich in dieser unangenehmen Lage unterstützt. Salvatore, der nächste Woche Richtung Sardinien verschwindet und mich allein lässt mit diesen … Menschen.
»Dann ist der … Tote … Ihr Vater?«
Sie nickt.
»Wissen Sie, wer das gemacht haben könnte?«
Sie schüttelt den Kopf. Aber der kurze Seitenblick zu ihrer Tante entgeht mir nicht.
»Sicher nicht?«
Kopfschütteln.
»Hatte Ihr Vater mit irgendwem Streit?«
Kopfschütteln.
Ich atme durch. Halte zurück, was ich denke. Nämlich, dass sie mit diesem verdammten Nicken und Kopfschütteln aufhören und mir sagen sollen, was hinter dem Mord steckt. Denn dass sie eine Ahnung haben, sehe ich.
Ich bin beinahe froh, als die beiden Männer den Raum betreten, gleichzeitig ihre Ausweise zu den anderen beiden legen und zum Glück nicht Agnes heißen. Sondern Anton und Andreas. Offenbar die Söhne des Bauern. Erster Wurf, denke ich sarkastisch. Ich fühle mich an die Hunde meines Schwiegervaters in spe erinnert. Deutsche Schäferhunde. Der erste Wurf bekommt einen Namen mit A am Anfang, der zweite einen Namen mit B. So hat er’s auch bei seinen Kindern gehalten. Sein Ältester heißt Antonio, dann kam Beatrice, nach ihr Chiara … Na ja, nach irgendeinem Kriterium muss man den Kindern ja ihre Namen verpassen. Ich unterdrücke ein Seufzen, als ich dran denke, dass ich seit zwei Tagen nichts von Beatrice gehört habe, dann richte ich meine volle Aufmerksamkeit wieder auf die Zeugen.
»Die Söhne?«
Kopfnicken. Alles wie gehabt. »Dann frage ich auch Sie: Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?«
»Abendbrot«, kommt unisono aus ihren Mündern.
Fasziniert starre ich sie an. Schaffen sie das auch ein zweites Mal? »Was hat’s denn gegeben?«
»Mus.« So weit gibt es also Übereinstimmung.
Mit einer Kopfbewegung deute ich hinaus. Dahin, wo das Kreuz steht, an dem immer noch der Bauer hängt. »Wer hat das gemacht?«
Keine Antwort. Im Gegenteil. Feindselig verschränken sie die Arme vor der Brust.
»Keine Ahnung?«
Kopfschütteln.
Mir reicht es mit den Spielchen. Egal wie verstockt die Menschen hier oben sind, sie sollen mit dem herausrücken, was sie wissen. Denn etwas wissen sie. Das spüre ich.
»Allein hat er sich nicht die Hände abgehackt und ans Kreuz gebunden.« Ich höre selbst, dass in meiner Stimme Unmut mitschwingt. Und der Unmut wird zu Wut, die in meinem Inneren zu brodeln beginnt, als auch auf diese Bemerkung keine Antwort kommt. Frustriert werfe ich die Hände hoch. »Nachbarn gibt es nicht. Ein Geist?« Ich weiß, dass dieses Verhalten unprofessionell ist, aber dieses verstockte Schweigen bringt mich zur Weißglut. Als Anton – oder ist es Andreas? – jetzt auch noch die Schultern hebt, reißt mir der Geduldsfaden. »Sie bleiben in dieser Stube, bis meine Kollegen aus Bozen kommen. Vielleicht sind Sie denen gegenüber weniger verstockt.«
In Andreas‘ Gesicht zuckt etwas. Will er gestehen? Ich schaue ihn aufmerksam an. »Ja?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich muss in den Stall.«
»Dann gehen Sie in den Stall.« Ich deute auf die anderen Anwesenden. »Sie bleiben hier. Alle. In dieser Stube.«
Wir haben einen Verdächtigen
Am frühen Nachmittag sitzen wir zu dritt um den Tisch im gemütlichen Esszimmer des Pfarrers und drehen unsere Weingläser zwischen den Fingern. Mit den ersten Regentropfen ist die Scientifica am Oberplanitscher Hof eingetroffen. Haben uns erst das Kreuz abgeflucht, weil wir sie an den Arsch der Welt beordert haben, dann den toten Bauern vom Kreuz genommen. Den Tatzeitpunkt haben sie auf sechs bis acht Uhr am Vorabend geschätzt. Ich hab den Bericht geschrieben und nach Bozen gefaxt. Jetzt warte ich auf Weisungen von Colonello Coppola. Die vermutlich ebenfalls per Fax in der Carabinieristation eintreffen werden. Wenn überhaupt.
»Der Oberplanitscher also«, murmelt der Pfarrer. Er wirkt nachdenklich.
»Ja«, sage ich.
Und Salvatore: »Ehi sì.«
»Hat es da irgendwas gegeben? Irgendwelche Vorkommnisse? Streitereien? Etwas, das uns helfen könnte? Vielleicht in der Familie?« Ich schaue den Pfarrer hilfesuchend an, während ich mir den Oberplanitscher-Haufen in Erinnerung rufe. Die verschlossenen Gesichter, die Feindseligkeit, die sie mir entgegengebracht haben, die fehlende Trauer.
Valentin schüttelt den Kopf. »Soviel ich weiß, war da alles in Ordnung.«
Wir drehen weiter unsere Gläser. Valentin nimmt einen Schluck, stellt das Glas wieder hin. Er setzt zum Sprechen an, hält dann aber inne.
»Ja?«, frage ich.
»Ich weiß nicht, ob das wichtig ist«, sagt Valentin.
»Alles ist wichtig.«
Er nickt. »Also: Vor ein paar Monaten ist dem Moar der Hof abgebrannt. Großbrand, die Feuerwehren aus dem ganzen Bezirk haben’s nicht geschafft, das Feuer zu löschen, bevor Haus und Hof bis auf die Grundmauern abgebrannt sind. Ein Millionenschaden. Damit er den Hof wieder aufbauen kann, hat der Moar ein paar Liegenschaften verkauft. Wälder, Wiesen, ein Grundstück auf der Alm. Man hört, der Oberplanitscher hat ihm ein ordentliches Stück Wald abgekauft.«
»Das ist doch gut«, sage ich.
Valentin wiegt den Kopf. »Er hat’s weit unterm wirklichen Wert gekauft, heißt es. Hat die Not vom Moar ausgenutzt. Na ja …«
Ich wechsle einen Blick mit Salvatore, der nickt. Kein wirkliches Mordmotiv, aber besser als nichts. Eine Spur, der wir folgen können, bis die Weisungen aus Bozen kommen. Bis ein Staatsanwalt sich in das Geschehen mischt oder Coppola uns einen Ermittlungsleiter vor die Nase setzt.
»Lass uns vorbeifahren«, sagt Salvatore und wir stehen auf.
Der Moar höchstselbst
Diesmal führt uns eine schmale einspurige Straße bergab in ein düsteres Tal. Ich hoffe nur, dass uns niemand entgegenkommt. Dann, nachdem wir den Talgrund erreicht haben, windet sie sich wieder bergauf, bis wir unvermittelt den Wald verlassen und der Blick frei wird auf eine Wiese. Das Gras steht hoch und ist übersät mit bunt blühenden Blumen. So eine Farbenpracht habe ich noch nie gesehen. Am liebsten würde ich anhalten und das Bild für immer in meine Erinnerung einprägen, doch ein Blick auf Salvatores verkniffenes Gesicht erinnert mich daran, dass wir im Dienst sind.
Eine Kurve noch und wir stehen vor einem Rohbau. Auf dem Dachgiebel ein geschmücktes Bäumchen, bunte Bänder flattern im Wind. Das Giebelfest hat der Moar also schon gefeiert. Wir parken zwischen verkohlten Balken und Paletten mit Dachschindeln, steigen aus und sehen uns um. Neben dem Rohbau steht ein Container, dessen Tür sich soeben öffnet.
»Der Moar höchstselbst«, raunt Salvatore mir zu und deutet mit dem Kinn auf den Bauern mit dem finsteren Gesicht. Die Augen unter der vorgewölbten Stirn funkeln uns misstrauisch entgegen, seine Hände sind zu Fäusten geballt. Gleich packt er eine Sense und wirft sich uns entgegen, denke ich. Mir wird unbehaglich.
Freundlich bleiben, mahne ich mich, setze ein Lächeln auf, steige aus und gehe auf ihn zu. »Sie sind der Moar?«
»Ich war’s nicht.«
Also einer, der kein Vorgeplänkel braucht.
»Was?«
Auf seiner Stirn erscheint eine tiefe Furche. »Das mit dem Oberplanitscher.«
»Sie wissen davon?«
Er zuckt die Schultern. Zumindest untereinander scheinen die Leute dann also doch zu sprechen. Aus den Augenwinkeln fange ich Salvatores Blick auf. So sieht deine Zukunft aus, vermittelt mir seine Grimasse. Sag später nicht, ich hätte dich nicht vorgewarnt.
Ich beiße die Zähne zusammen. Es ist nur für kurze Zeit. Salvatore deutet ein Kopfschütteln an. Das glaubst du, heißt es. Schau mich an. Vierzig Jahre. Plötzlich tut er mir leid. Vierzig Jahre lang der Feind. Vierzig Jahre lang auf eine schlechte Telefonverbindung angewiesen sein, um mit Freunden sprechen zu können. Mir wird das nicht passieren. Mir nicht.
Ich straffe meine Schultern und wende mich wieder an den Moar. »Dann können Sie uns sicher sagen, was Sie gestern zwischen sechs und acht Uhr am Abend gemacht haben?«
Er nickt.
Ich seufze. »Also?«
»Ich war im Bergblick. Sogar bis neun. Frag ruhig die Rosa.«
Er duzt mich? Ich wechsle einen Blick mit Salvatore, um zu ergründen, ob das als Affront gemeint ist.
Er grinst. »Was hast denn bei der Rosa getan, Moar?«, fragt er.
»Gekartet.«
Wir sind also wieder bei den Ein-Wort-Sätzen angelangt.
»Karten gespielt hast aber sicher nicht allein«, sagt Salvatore.
Der Moar schüttelt den Kopf. »Der Hans, der Peter und der Ander waren auch dabei.«
»Na, also«, sagt Salvatore. »Der Piffer Hans, der Steiner Peter und der …?«
»Schenk Ander.«
Salvatore nickt mir zu, ich kritzle die Namen in mein Notizbuch.
»Siehst. So schwer war das doch nicht, Moar, oder?«
Der Bauer zuckt die Schultern. »War’s das?«
»Das war’s.« Salvatore schaut sich um. »Wie geht’s mit dem Hof voran?«
»Das Viech kann im Herbst einziehen. Ich erst im Frühjahr.«
»Dafür hast ein neues Haus.«
»Das alte hätt‘s schon noch getan.«
Salvatore nickt. »Hast sonst noch einen Tipp für uns?«
Die Miene des Moar Bauern verfinstert sich wieder. »Ich bin keiner, der die anderen ausrichtet.«
»Es geht nicht ums Ausrichten«, erklärt Salvatore. »Da ist einer umgebracht worden. Wer das getan hat, muss bestraft werden. Find‘st nicht?«
»Wer das getan hat, wird schon wissen, warum er’s getan hat«, brummt der Moar. »Ich war’s nicht und mehr interessiert mich nicht.«
Kein einziges Wort
»Der Moar hat gesagt, er war gestern von sechs bis neun mit Ihnen zusammen hier im Bergblick.«
Der Piffer Hans nickt. Vor ihm steht ein Glas Rotwein. Mit sichtbarem Widerwillen hat er sich von seinen Kumpels getrennt, um Salvatore und mir Rede und Antwort zu stehen. Jetzt sitzt er da, dreht sein Weinglas und schweigt. Auch die Gespräche am Nebentisch sind verstummt. Das Schweigen wird vom Ticken der emaillierten Pendeluhr an der Wand verstärkt. Es ist kurz nach vier und das halbe Dorf ist hier im Gasthof versammelt. Müssen die nicht arbeiten?
Salvatore schürzt die Lippen. »Er ist nie rausgegangen?«
Kopfschütteln.
»Nicht einmal aufs Klo?« Noch während ich die Frage stelle, fällt mir selbst auf, wie dumm sie ist. Selbst wenn der Moar für fünf Minuten aufs Klo verschwunden wäre, hätte er es in der Zeit nicht geschafft, die Bergstraße hoch bis zum Oberplanitscher zu fahren, den Bauern kaltblütig zu ermorden, ihn mit abgehackten Händen ans Kreuz zu fesseln und zur nächsten Runde wieder mit den anderen Männern im Bergblick am Tisch zu sitzen. Der Piffer Hans nickt, als könne er meine Gedanken erraten. Ich atme durch. »Wer war’s dann?«
Schulterzucken.
Ich habe plötzlich Lust, den Kerl an den vermaledeiten Schultern zu packen und diese Lethargie aus ihm herauszuschütteln. Irgendetwas sagt mir, dass er was weiß, dass er vielleicht sogar weiß, wer der Mörder ist. Wieso, verdammt noch mal, rückt er nicht raus damit?
Salvatore erhebt sich und hält dem Piffer Hans die Hand hin. »Vielen Dank. Wenn Sie was wissen, melden Sie sich.«
Er hat wohl irgendwie gespürt, dass ich kurz davor bin, dem Kerl an die Gurgel zu gehen.
Der Piffer Hans nickt, steht auf, ignoriert die Hand. Dann dreht er sich um und verschwindet durch die Tür. Während des ganzen Verhörs hat er nicht ein einziges Wort gesagt.
»Was war denn das jetzt, bitte schön?« Ich möchte meinen Kopf auf den Tisch schlagen. »Eine stumme Zeugenaussage?«
Salvatore zuckt die Schultern. »So sind sie eben.«
»Und was schreib ich in meinen Bericht?«
»Schreib einfach, dass der Piffer Hans sich zu den Fragen nicht äußert.«
Statt einer Antwort schnaube ich. Ich bin einen Tag lang hier und die Menschen nerven mich jetzt schon.
Man hält mehr aus, als man denkt
Am späten Nachmittag sitzen wir in der Küche der Carabinieristation und essen. Salvatore hat es sich nicht nehmen lassen, mich zu bekochen. Die Gnocchi alla romana schmecken fantastisch, doch mehr als ein paar Bissen kriege ich nicht hinunter. Nach weiteren Verhören mit dem Schenk Ander und der Rosa Oberrauch, die mehr oder weniger gleich verlaufen sind wie das mit dem Piffer Hans, bin ich am Ende mit meinen Nerven. Die Situation, nein, die Atmosphäre in diesem Tal verschlägt mir den Appetit.
»Ich halte das nicht aus«, sage ich.
»Man hält mehr aus, als man denkt.« Salvatore klingt gleichgültig. »Glaub mir. Ich spreche aus vierzigjähriger Erfahrung.«
Mir wird übel. Ich muss raus aus dem Loch. Nicht einmal ein Jahr halte ich es hier aus. Verzweifelt blicke ich meinen Vorgänger an. Der errät, was in meinem Kopf vorgeht.
»Weißt du was? Mach Schluss für heute. Die Berichte schreib ich. Du fährst raus in die Zivilisation, kaufst ein Bett und rufst deine Verlobte an. Danach geht’s dir wieder besser. Wirst sehen.«
Ich ergreife den Strohhalm, den er mir hinhält, verlasse fluchtartig die Carabinieristation und springe in mein Auto. Endlos scheint mir die Straße aus dem Tal in das Talbecken, dann schließlich bin ich draußen. Sonnenlicht umfängt mich. Während sich im Tal die letzten Sonnenstrahlen schon längst verabschiedet haben, ist es hier noch hell und warm. Die Last der vergangenen Tage fällt von mir ab.
Plötzlich gibt das Telefon Alarm, nur so kann man es nennen. Eine Unmenge an Nachrichten geht ein, ein Signalton jagt den nächsten. Ich habe wieder Empfang. Bei der nächsten Gelegenheit fahre ich rechts ran. Dreiundvierzig Nachrichten von Beatrice. Ich lese sie alle, spüre ihren wachsenden Unmut. Bei der letzten stockt mir der Atem.
Du kannst mich mal. Heute Abend gehe ich mit Enzo aus.
Enzo … ihr Ex. Ich schlucke. Die Nachricht ist von heute Nachmittag. Ist es zu spät? Mit fliegenden Fingern wähle ich ihre Telefonnummer. Das Freizeichen ertönt. Einmal. Zweimal. Sie geht nicht ran. Meine Beatrice geht nicht ran. Gerade als ich entmutigt auflegen will, knackst es in der Leitung.
»Beatrice?«
»Was?«
Mein Mut sinkt bei ihrem ärgerlichen Tonfall und ich versuche, ihrer unweigerlichen Gardinenpredigt zuvorzukommen. »Ich liebe dich.«
Ein Schnauben ist die Antwort. Pause. »Drei Tage, Pietro! Drei Tage! In denen ich nicht weiß, ob du noch lebst, ob du verschwunden bist, ob du mich vergessen hast …«
»Dieses Dorf, in das mich dein Vater versetzt hat …«
»Lass meinen Vater aus dem Spiel!«
»… hat keinen Handyempfang.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Pause. »Ja, das hab ich gemerkt. Aber ein Büro hast du doch, oder? Mit Internet.«
»Ja, eines mit einem 56K-Modem. Da läuft grad das E-Mail-Programm der Carabinieri. Die Yahoo-Seite krieg ich schon nicht auf.«
»Und anrufen?«
»Vom Diensttelefon?« Da Beatrices Vater selbst Carabiniere ist, weiß sie, dass es uns verboten ist, vom Diensttelefon Privatgespräche zu führen.
Sie geht nicht drauf ein. »Wann kommst du?«
»Frag deinen Vater.«
»Du sollst meinen …«
»Beatrice«, unterbreche ich sie sanft. »Lass uns nicht streiten. Ich werde meine Sache gut machen. So gut, dass dein Vater erkennt, dass ich ein guter Mann bin. Deiner würdig. Ja? Dass er uns seinen Segen gibt für die Hochzeit. Ja?«
Ein leichtes Zögern am anderen Ende der Leitung. »Einverstanden.« Ihre Stimme ist leise, traurig irgendwie. »Aber ruf mich öfter an. Nicht nur alle drei Tage.«
»Ich rufe alle Tage an«, sage ich. »Abends nach Dienstschluss. Wenn ich aus dem Tal rausfahren kann. Du musst geduldig sein.«
Sie schnaubt wieder. Geduld ist nicht ihre größte Stärke.
»Und, Beatrice?«
»Ja?«
»Gehst du wirklich mit Enzo aus?« Mein Herz klopft.
Sie lacht leise. »Bin ich blöd? Ich hab gewusst, dass du dich meldest, wenn ich das schreibe.«
Ich atme erleichtert aus. Alles ist gut.
Nix zu sagen
»Ich hab nix dazu zu sagen.« Der Steiner Peter, Eigentümer eines kleinen Sägewerks, den wir gleich am Morgen des nächsten Tages aufsuchen, verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust und lehnt sich an den Stapel von unbearbeiteten Baumstämmen, der vor seinem Sägewerk gelagert ist.
»Was nix?« Stur sein kann ich auch. Salvatore verkneift sich ein Grinsen.
»Nix halt.« Der Steiner Peter müffelt nach altem Schweiß. In seinen buschigen Augenbrauen hängt Sägemehl ebenso wie auf seinem karierten Flanellhemd. »Zum Oberplanitscher und so.«
»Gut«, sage ich, klappe mein Notizbuch zusammen und verstaue es umständlich in der Brusttasche meiner Uniform. »Dann gebe ich das so den Kollegen in Bozen weiter. Die werden Sie dann zum Verhör einladen. Salvatore, wer hat dort den Fall?«
»Il brutto.« Salvatore spielt mit. »Ich hab gehört, dass er ihn schon über hat.«
»Il brutto«, sage ich. »So, so. Der soll zurzeit ganz besonders mies drauf sein.«
»Ja. Seine Frau hat ihn verlassen.« Salvatore seufzt. »Vergangene Woche hat er beim Verhör einen Zeugen krankenhausreif geschlagen.«
Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Salvatore trägt gar zu dick auf, aber bei dem Steiner Peter haben die Lügenmärchen Erfolg.
»Wieso?«, fragt er mit wachsamem Gesichtsausdruck.
»Na ja. Der wollte wohl keine Aussage machen. Aber keine Angst. Solang Sie auf seine Fragen antworten, haben Sie nichts zu befürchten.