Marxismus - Hans-Martin Lohmann - E-Book

Marxismus E-Book

Hans-Martin Lohmann

3,0

Beschreibung

Wer das 20. Jahrhundert verstehen will, muss sich mit dem Marxismus und seinen verschiedenen theoretischen und politischen Ausformungen vertraut machen. Doch über dieses historische Interesse hinaus ist die Kenntnis der Marx'schen Theorie und ihrer unterschiedlichen Weiterentwicklungen eine wichtige Voraussetzung für eine kritische Analyse des Kapitalismus. Die heute notwendige Kritik des Kapitalismus bliebe stumpf ohne die Kenntnis des Marxismus, auch wenn dessen gesellschaftliche Utopie historisch Schiffbruch erlitten hat.

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Marxismus
Lohmann, Hans-Martin
Campus Verlag
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9783593400129
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|2|Campus Einführungen

Herausgegeben von

Thorsten Bonacker (Marburg)

Hans-Martin Lohmann (Heidelberg)

Hans-Martin Lohmann, Jg. 1944, lebt als freier Autor und Lektor in Heidelberg.

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|9|Einleitung

Von Max Weber stammt die Bemerkung, vom Denken des 20. Jahrhunderts verstehe nichts, wer Nietzsche und Marx ignoriere. Eric Voegelin zählt Marx, neben Nietzsche, Weber und Freud, zu den bahnbrechenden Geistern der neueren Moderne. Und so unterschiedliche Köpfe wie Eric Hobsbawm und Ernst Nolte sind sich in dem Urteil einig, dass dem 20. Jahrhundert das Prädikat »Zeitalter des Marxismus« gebühre. Hobsbawm lässt das abgelaufene Jahrhundert, das er das »kurze« nennt, mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution beginnen und mit dem Kollaps der Sowjetunion enden.

Auch wenn es seit jenem Kollaps üblich geworden ist, den Marxismus als endgültig erledigt zu betrachten und damit zur kapitalistischen Tagesordnung überzugehen, machte man sich eines schweren intellektuellen Versäumnisses schuldig, wenn man die mit dem Marxismus verbundenen Fragen, die immerhin dafür gesorgt haben, dass die bis dahin weltweit dominante Wirtschaftsordnung des Kapitalismus zu eingreifenden Korrekturen der ihr eigentümlichen Logik des Wirtschaftens gezwungen wurde, einfach ad acta legen würde. Fragen werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass unzureichende oder falsche Antworten auf sie gegeben wurden. Als Frage bleibt der Marxismus auch im 21. Jahrhundert präsent – freilich wird sie |10|auf einem neuen Niveau und in einer neuen, unverbrauchten Sprache formuliert werden müssen. Aber das steht auf einem anderen Blatt und ist nicht Gegenstand dieser Einführung.

Marxismus ist ein pauschaler und Allerweltsbegriff, und jeder versteht darunter etwas anderes. Wenn im Folgenden von dem Marxismus die Rede ist, so bediene ich mich damit einer ebenso vorläufigen wie konventionellen Sprechweise, die zwar eine Vielzahl von divergenten Phänomenen umfasst, aber doch auf eine einheitliche Epochensignatur zielt. Allen Marxismen zum Trotz, auch wenn sie sich untereinander zum Teil heftig befehdet haben, gibt es doch so etwas wie den Marxismus als epochales Ereignis. Vor allem im letzten Kapitel dieses Buches soll versucht werden, das epochal Einheitliche auf den Begriff zu bringen.

Die Heraufkunft des Marxismus sowohl als theorie- und ideengeschichtliche Formation wie als real- und gesellschaftsgeschichtlich wirksames Faktum lässt sich noch am ehesten begreifen, wenn man sich selber auf den Boden basaler marxistischer Annahmen, das heißt auf den Boden dessen stellt, was seit Marx historischer Materialismus heißt. Bekanntlich geht der historische Materialismus davon aus, und das gilt auch für seine eigene Entstehung, dass Ideen, Gedanken und Theorien nicht allein im Kontext anderer kursierender Ideen, Gedanken und Theorien das Licht der Welt erblicken – sozusagen als Eingebungen des Geistes, so wie man lange Zeit die erste Philosophie der Griechen als »griechisches Wunder« bezeichnet hat –, sondern auch, und primär, im Kontakt und Austausch mit den Tatsachen des sozialen Lebens. Nach Marx drängt die Idee zur Wirklichkeit, nicht, wie in der Hegelschen Philosophie, die Wirklichkeit zur Idee.

Die Wirklichkeit, welche Marx und der aufkeimende Marxismus vorfanden, bestand gewiss auch in den Ideen der Französischen Revolution, im lebendigen Erbe des Deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Schelling, Hegel), in den materialistisch |11|und religionskritisch eingefärbten Debatten der Linkshegelianer (Feuerbach, Ruge, Hess, Bauer), in den anarchoiden Ausbrüchen eines Max Stirner und, nicht zu vergessen, in den subversiven Hervorbringungen der zeitgenössischen Literatur, in denen sich, wie bei Büchner, Heine, Balzac, Baudelaire, George Sand und Dickens, ein teils scharfer gesellschaftskritischer Ton bemerkbar machte. Das alles zählte für den entstehenden Marxismus nicht wenig.

Aber etwas anderes zählte weit mehr, und dies erkannt und zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht zu haben, gehört zu den unbestreitbar großen Leistungen von Marx. Im historischen Rückblick wird deutlich, dass nur ein paar Jahrzehnte vor Marxens Geburt (1818) ein ganz neues Zeitalter begonnen hatte, wie es die Welt bis dahin nicht kannte. Nehmen wir als rundes Datum das Jahr 1750, mit dem der Sozialhistoriker Eric Hobsbawm seine moderne Britische Wirtschaftsgeschichte anheben lässt,1 so muss man feststellen: Damals begann die Epoche der totalen Ökonomie. Die von Marx und seinem Compagnon Friedrich Engels begrüßte »revolutionäre Rolle« der emporstrebenden Bourgeoisie, die Zerstörung aller »feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse«, der kurze Prozess, der dem »Idiotismus des Landlebens« (Marx/Engels 1848, S.464, 466) gemacht wurde, markieren den Beginn eines Zeitalters, in dem, weltgeschichtlich einmalig, die gesellschaftlichen Subjekte nur noch als Wirtschaftssubjekte – als Unternehmer und Grundbesitzer auf der einen, als Lohnarbeiter und landlose Bauern auf der anderen Seite – vorkommen, in dem alle außer- und nichtökonomischen Lebensäußerungen nur noch Marginalien des gesellschaftlichen Gesamtprozesses sind. Waren bis zu diesem Epochenbruch die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Individuen, also ihr Kampf ums nackte Überleben, |12|eingebunden in umfassendere soziale Zusammenhänge, die auf grundlegende Vergemeinschaftung zielten, so schuf sich die neue bürgerliche Welt einen »Helden«, der von morgens bis abends, und oft genug über diese Zeit hinaus, mit nichts anderem beschäftigt ist als mit seinem privaten wirtschaftlichen Überleben – gegen alle anderen, die als Konkurrenten um den Anteil am Kuchen des ökonomischen Gesamtprodukts wahrgenommen werden. Der Marxismus war die stärkste und ausdrucksvollste Reaktion auf diesen Zivilisationsbruch, der, wie Marx nicht müde wurde zu betonen, mit äußerster Gewalt bewerkstelligt wurde. Die Rede vom »friedlichen« Kapitalismus, der Raub und Krieg durch Handel und Wandel ersetzt, war immer schon verlogen.

Marx und Engels waren nicht die ersten, die die Heraufkunft dieses neuen gesellschaftlichen Paradigmas, eines rein ökonomisch definierten Paradigmas des gesellschaftlichen Zusammenlebens, registrierten. Bevor sich der Marxismus unter diesem Namen etablierte und durchsetzte – im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts –, gab es eine Reihe von Vorläufern und Protestbewegungen, die sich mehr oder minder vehement gegen die katastrophalen Auswirkungen des sich entfaltenden freien Marktes auf die Masse der Bevölkerung wandten. Namentlich in den Ländern Westeuropas, in denen sich der Prozess der kapitalistischen Industrialisierung am frühesten und erfolgreichsten bemerkbar machte, vor allem in England, bildeten sich wenn auch eher kurzfristige Zusammenballungen und Zentren von Revolten und Verweigerungen auf Seiten der landflüchtigen verarmten Arbeiterpopulation.2 Zugleich meldeten sich besorgte Stimmen, etwa die Robert Owens (1771–1858), |13|zu Wort, die angesichts des Elends der working class für soziale Reformen und pädagogische Maßnahmen plädierten, um die schlimmsten Folgen der stürmischen marktwirtschaftlichen Ökonomisierung in sozial verträgliche Bahnen zu lenken. Es ist wohl alles andere als Zufall, dass die klassischen Werke der politischen Ökonomie, auf die Marx sich später beziehen sollte, in erster Linie aus der Feder englischer Autoren (Adam Smith, David Ricardo) stammen. In Frankreich, das in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren eher einen Spekulanten- und Rentierkapitalismus hervorbrachte – in den Balzacschen Gesellschaftsromanen mit beißender Schärfe aufs Korn genommen –, traten Figuren wie Claude Henri Saint-Simon (1760–1825) und Charles Fourier (1772–1837) auf den Plan, die einen utopischen Sozialismus verkündeten, während Étienne Cabet (1788–1856) einen glücklichen Kommunismus und Auguste Blanqui (1805–1881) die bewaffnete Konspiration predigten. Eine bemerkenswerte Variante im Kontext des französischen Frühsozialismus vertrat die Schriftstellerin George Sand (1804–1876), die sich für einen Ökologismus avant la lettre stark machte.3 Dagegen ist vielleicht bezeichnend, dass in Deutschland die ersten sozialistisch und kommunistisch inspirierten Zirkel sich im akademischen Umfeld des zerfallenden Hegelianismus herausbildeten. Auch in den frühen Schriften von Marx finden sich kräftige Spuren der Prägung durch dieses Milieu. Aber Marx sollte die Eierschalen der Bewusstseinsphilosophie, deren Kritik sich auf die falschen Vorstellungen beschränkt, die sich die Menschen von der Welt machen, und daher immer wieder bei der Religionskritik landet, bald abwerfen.

|14|Ausgangspunkt des Marxismus – und darin unterscheidet er sich sowohl von den frühsozialistisch-utopischen Entwürfen einer besseren Welt als auch von allen hegelianisierenden Anstrengungen, die auf ein erneuertes Bewusstsein zielen – ist der wirkliche Mensch und seine Stellung in der Geschichte. Der Mensch ist nicht, was er sich über sich vorstellt, sondern was er isst. Nicht sein Denk- und Vorstellungsvermögen unterscheidet ihn vom Tier, vielmehr die Tatsache, dass er seine Lebens- und Überlebensmittel produzieren muss. Dreh- und Angelpunkt der marxistischen Auffassung von der Welt ist der arbeitende Mensch, den die materielle Lebensnot zwingt, sich die Natur tätig anzueignen.

»Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion [...] Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein [...] Sobald dieser tätige Lebensprozeß dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein [...] Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium« (Marx/Engels 1932, S.21, 27).

Mit der Privilegierung der Lebensnot und des daraus resultierenden Zwangs zur Arbeit, zur Lebensmittelproduktion, konstituiert sich der Marxismus als eine neue Philosophie, die freilich keine Philosophie mehr ist und sein will; denn mit der Entdeckung des wirklichen Menschen, der in der Welt der Arbeit und der jeweils vorfindlichen gesellschaftlichen Arbeitsteilung zuhause ist, die sich wiederum nach dem jeweiligen Stand technischer Naturbeherrschung bemisst, verliert die Philosophie ihren scheinbar autonomen Status als geistige Tätigkeit »an sich«. In Marxscher Perspektive ist Philosophie, überhaupt alle geistige Produktion, etwas Unselbständiges und Abgeleitetes, abhängig vom Entwicklungsstand gesellschaftlicher Naturbeherrschung. »Erst dann nämlich, wenn der Entwicklungsstand |15|der Produktion gestattet, die materielle Arbeit von der geistigen zu trennen, kann das Bewußtsein der Lebenspraxis reine, separate Gattungen der geistigen Arbeit erzeugen wie Philosophie, Theologie und Moral« (Kolakowski 1977, S.179).

Zugleich postuliert die marxistische Geschichtsauffassung, dass aufgrund des Vorrangs der materiellen Produktion vor allen anderen Lebensäußerungen die Geschichte der Menschheit schon immer die Geschichte eines unablässigen Kampfes um die Ergebnisse des Arbeitsprozesses war. »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen« (Marx/Engels 1848, S.462). Denn soweit man auch zurückblickt, gab es immer Herren und Sklaven, Grundbesitzer und Knechte, Besitzende und Besitzlose, Reiche und Arme und, in der Gegenwart, Kapitalisten und Proletarier, die sich die (stets zu knappen) materiellen Güter gegenseitig streitig machten. In der Gegenwart aber, die unter dem Signum einer noch nie gekannten Reichtumsproduktion – der kapitalistischen Warenproduktion – steht, tendieren die historischen Klassenkämpfe dazu, sich selber überflüssig zu machen. Denn mit der massenhaften Hervorbringung eines Proletariats durch die Verallgemeinerung der Fabrikarbeit und dessen, was Marx die »große Industrie« nennt, gräbt sich die Klasse der kapitalistischen Privateigentümer ihr eigenes Grab. Ohne es zu wollen und zu wissen, strebt das Privateigentum nach seiner eigenen Selbstzerstörung, weil das von ihm erzeugte Proletariat die ihrer selbst bewusst gewordene Entfremdung ist und sich als solche negiert, das heißt aufhebt. Der Klassenkampf des Proletariats gegen die Klasse der kapitalistischen Privateigentümer ist zugleich der letzte Klassenkampf der Geschichte, denn er beseitigt nicht nur das Elend des Proletarierseins, sondern »alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft«, freilich erst, nachdem das Proletariat durch die »stählende Schule der Arbeit« gegangen ist (Engels/Marx 1845, S. 38). Was den Marxismus von Beginn an charakterisiert, ist |16|sein Vertrauen in eine allgemeine kommunistische Tendenz des Geschichtsprozesses. Wie man allerdings noch sehen wird, sollte dieses Vertrauen in Teilen der marxistischen Bewegung erheblich erschüttert werden.

Der heiße Kern des Marxismus ist die Kritik der politischen Ökonomie. Insofern ist er im Hegelschen Sinne »bestimmte Negation« der bürgerlichen Gesellschaft. Indem er, anders als die Frühsozialisten, die sich an der Utopie einer schöneren Welt der Muße und des Reichtums berauschten, die vorfindliche Gesellschaft an jenem Punkt ernst nimmt, an welchem sie sich selber allein ernst nimmt, nämlich im Medium des Ökonomischen, erfasst er ihren neuralgischen Punkt. Wer, so Marx’ Überzeugung, die Logik der kapitalistischen Warenproduktion durchschaut, wer das Geheimnis des Warenfetischismus und der Mehrwertproduktion entziffert, hält den Schlüssel zur endgültigen Abschaffung dieser Phänomene in der Hand. Darum gilt, dass »die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei« (Marx 1859, S. 8). Weil sie die Kritik der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft in erschöpfend systematischer Form leistet, war Marx’ dreibändige Studie über Das Kapital – der erste Band erschien 1867, die beiden Folgebände wurden von Engels nach Marxens Tod herausgebracht (1885 und 1894) – von Beginn an das Grund- und Hauptwerk des Marxismus. Auch wenn Das Kapital wegen seines enormen Schwierigkeitsgrades und seines gewaltigen Umfangs vermutlich von den wenigsten wirklich gelesen wurde, behielt es stets seinen Status als marxistische Bibel, auf das sich Marxisten aller Couleur beriefen.

Im Kapital entwickelt Marx die Grundzüge seiner Kritik, indem er, von der »Elementarform« der Ware ausgehend, die Kategorien Gebrauchswert/Tauschwert, Geld, Kapital und Mehrwert in schlüssiger Form auseinander hervorgehen |17|lässt. Insbesondere die Genesistheorie des Geldes, die auf historische und anthropologische Erklärungen verzichtet und strikt logisch argumentiert, kann auch auf den heutigen Leser noch einige Faszination ausüben. Im Kapital zeigt Marx, dass und warum die kapitalistische Produktionsweise, die zu immer höherer Konzentration des Kapitals und zu ihrer Globalisierung drängt, zyklische Verwertungskrisen produziert und schließlich an ihre historische Grenze stößt.

Während Marx seine geistigen Energien ganz auf das Feld der Ökonomie konzentrierte, fiel seinem Freund Friedrich Engels zunehmend die Aufgabe zu, Marxens komplexe und anspruchsvolle Theorien, die ohne jede Rücksicht gegenüber den Rezeptionsgewohnheiten eines breiteren Publikums verfasst wurden, so zu popularisieren, dass sie Eingang in die Debatten der erstarkenden Arbeiterbewegung fanden. Immerhin ging es auch darum, den Marxismus als autoritative Lesart der bürgerlichen Gesellschaft gegen konkurrierende Lesarten, etwa der Lassalleaner oder der Anhänger Bakunins, durchzusetzen. In seiner praktisch-zupackenden Art war es Engels, der Marx und damit dem Marxismus innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung zum Durchbruch verhalf. Und es war auch Engels, der mit seinen Schriften Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880) und Dialektik der Natur (1925) dem marxistischen Denken jenen spezifisch szientifischen Anstrich im Sinne einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« verpasste, durch den es bei Lenin und im Sowjetmarxismus zum geschlossenen System des so genannten »dialektischen Materialismus« – das heißt einer marxistischen Ontologie und Erkenntnistheorie – avancierte. Engels’ erfolgreicher Versuch, den Marxismus auf einer erkenntnistheoretischen |18|Basis wissenschaftlich zu kanonisieren, hat auch gewiss damit zu tun, dass die expandierende kapitalistische Industriegesellschaft seiner Zeit von einer ausgeprägten Wissenschaftsgläubigkeit beseelt war. Man darf nicht vergessen, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert die Epoche Darwins, Spencers, Helmholtz’ und Virchows war. Die Grundlegung des Marxismus durch Marx und Engels wird im ersten Kapitel dieser Einführung behandelt.

Den Zeitabschnitt zwischen 1889, dem Jahr des faktischen Endes des von Bismarck 1876 erlassenen »Sozialistengesetzes« und der Gründung der Zweiten Internationale, und 1914, als der Erste Weltkrieg die sozialistischen Parteien in nationale Parteien, in Briten, Franzosen und Deutsche verwandelte – diesen Zeitabschnitt hat Leszek Kolakowski »das Goldene Zeitalter des Marxismus« genannt (Kolakowski 1978, S. 11). Gefestigt in seinen weltanschaulich-politischen Grundlagen und mit dem Wind der Geschichte im Rücken, der den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der sozialistischen Parteien Europas und den Endsieg des Proletariats beschleunigte, entwickelte sich der Marxismus zum Paradigma einer neuen Zeit, von dem kaum jemand ernsthaft bezweifelte, dass es das 20. Jahrhundert beherrschen werde.

Die sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale, unangefochten angeführt von der mächtigen und mitgliederstarken deutschen Sozialdemokratie, vermittelten nicht nur ihren Anhängern, sondern auch der bürgerlichen Öffentlichkeit den Glauben, dass es aufgrund des stetigen Wachstums der Arbeiterbewegung und ihres zunehmenden politischen Einflusses nur eine Frage der Zeit sei, bis die Verhältnisse reif für eine sozialistische Gesellschaft seien. Der später geprägte Begriff des »revolutionären Attentismus«4, also eines Zuwartens, impliziert |19|die Vorstellung, dass aufgrund der Eigendynamik, die der Marxismus entfaltete, es gleichsam von selbst und mit historischer Notwendigkeit zu einem Hineinwachsen in den Sozialismus komme: Die Revolution war dann nur noch das Datum, an welchem die politische Macht dem Proletariat gleichsam wie eine reife Frucht in den Schoß fiel.

Natürlich wurde diese optimistische und naive Erwartung nicht von allen marxistischen Führern geteilt, aber doch von deren Mehrheit. Die parlamentarischen Erfolge der sozialistischen Parteien, vor allem der deutschen, die unbestreitbaren Fortschritte, welche die Gewerkschaften für die Arbeiterklasse erringen konnten, die Professionalisierung ihrer Führungskader, die nicht mehr nur für, sondern auch von der Arbeiterbewegung lebten, 5 schließlich der nicht zu vernachlässigende Umstand, dass der Vorkriegskapitalismus eine relativ ruhige Entwicklungsphase durchlief – all das führte dazu, dass man, zumindest im Rückblick, von einem »Goldenen Zeitalter des Marxismus« sprechen kann.

Glücklich ist diese Epoche, wenn man die spätere Entwicklung des Marxismus betrachtet, auch deshalb zu nennen, weil der weite Rahmen, den die internationale Arbeiterbewegung gesteckt hatte, den Marxismus davor bewahrte, zu einer eindimensionalen und orthodoxen Lesart zu erstarren. Bei aller Gemeinsamkeit im Hinblick auf das Ziel einer sozialistisch verfassten Gesellschaft war es möglich und erlaubt, durchaus unterschiedliche Optionen, Wege und Lösungen zur Diskussion zu stellen. Emphatisch gesprochen: Der »orthodoxe« Karl Kautsky, der »revisionistische« Eduard Bernstein und die »revolutionäre« Rosa Luxemburg trugen ihre nicht unerheblichen |20|politischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines gemeinsam geteilten Paradigmas von Marxismus aus. Als es allerdings 1914 zum Schwur kam, sollte sich zeigen, dass die Spaltungen doch tiefer waren, als die Protagonisten geglaubt hatten. Davon handelt das zweite Kapitel.

Während sich der Marxismus in Westeuropa, jedenfalls in seinen Hauptströmungen, nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend in eine reformerische Bewegung transformierte, die auf eine schrittweise Verbesserung der sozialen Lage der lohnabhängigen Massen zielte und dabei strikt legalistisch, das heißt unter Beachtung und Anerkennung der bestehenden staatlichen Verfassung und Gesetze, vorging, nahm die marxistische Bewegung in Russland einen ganz anderen Verlauf. Schon die im Vergleich zu den kapitalistisch entwickelten westeuropäischen Ländern zurückgebliebenen sozioökonomischen und politischen Verhältnisse im zaristischen Russland legten, wenn man so will, einen russischen Sonderweg nahe. Marx hatte, etwa in seinem berühmten Brief an die russische Revolutionärin Vera Sassulitsch,6 stets betont, dass seine Theorie von der »historische[n] Unvermeidlichkeit« des Sozialismus sich »ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt«. Der ohne Zweifel größte marxistische Revolutionär des 20. Jahrhunderts, Lenin, sollte Marxens Überzeugung auf seine Weise beherzigen, indem er Russland eine Revolution aufzwang, die den direkten Sprung von einer im Großen und Ganzen vorkapitalistisch-agrarischen Gesellschaft in eine sozialistische vollzog. Der später so genannte Marxismus-Leninismus war die spezifisch russische Replik auf eine Herausforderung, die im Rahmen des klassischen Marxismus eigentlich gar nicht vorgesehen war. Als der russisch-bolschewistische Sonderweg des Marxismus um die Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Gipfel |21|erreichte, hatte er die halbe Welt auf diesem Weg mitgenommen, freilich auf eine Weise, die die Begründer des Marxismus vermutlich sehr erstaunt hätte. Im dritten Kapitel wird dieser Weg des Marxismus näher geschildert.

Sozusagen im Windschatten der bolschewistischen Alternative zu den kapitalistischen Gesellschaften konnten sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts diejenigen Länder, die sich in einem direkten oder indirekten ökonomischen und politischen Abhängigkeitsverhältnis zum europäischen und nordamerikanischen Kapitalismus befanden – und das waren, bis auf wenige Ausnahmen wie Japan und einige südamerikanische Staaten, praktisch alle Länder Afrikas und Asiens sowie des gesamten karibischen und pazifischen Raumes –, des Marxismus als einer Befreiungsideologie bedienen, um das koloniale Joch abzuwerfen. Zwar gilt auch hier, dass die sozioökonomische Situation der ausgebeuteten und unterentwickelten Regionen der Dritten Welt kaum zum »Anwendungsfall« für den klassischen Marxismus taugte. Aber im Schutz und nicht selten mit aktiver Rückendeckung der Sowjetunion, die nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zeichen des Kalten Krieges zum global operierenden Antagonisten des kapitalistischen Westens avancierte, lag es für die antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen gleichsam auf der Hand, auf den Marxismus in irgendeiner Form zurückzugreifen. Daraus entwickelten sich seit den vierziger und fünfziger Jahren diverse Spielarten des Marxismus – etwa in China, Kuba, Algerien und einigen Staaten des Nahen Ostens –, die im vierten Kapitel wenigstens summarisch dargestellt werden sollen.

Parallel zum Marxismus in der Sowjetunion, der sich siebzig Jahre lang an der Staatsmacht halten sollte, bildete sich diejenige Gestalt des Marxismus heraus, die unter dem Namen eines »demokratischen Sozialismus« das bis heute weitaus erfolgreichste marxistische Modell geblieben ist – auch wenn dieser |22|»Erfolg« mit weitreichenden Konzessionen gegenüber dem Privateigentum an Produktionsmitteln erkauft wurde. Jedenfalls ist es keineswegs übertrieben, das 20. Jahrhundert als »sozialdemokratisches« (Ralf Dahrendorf) zu kennzeichnen. Auch wenn vielfach behauptet wird, die moderne Sozialdemokratie habe mit dem originären Marxismus nichts oder fast nichts mehr gemein, muss dagegen gehalten werden, dass noch nie Einigkeit darüber bestand, was der Marxismus »eigentlich« sei. Bekanntlich hat schon Marx dementiert, Marxist zu sein (MEW 35, S. 388). Und so wenig man Leninismus, Stalinismus oder Maoismus vom Marxismus abtrennen kann, so wenig legitim wäre es, den sozialdemokratischen Weg als unmarxistisch abzutun. Deshalb gebührt ihm im Rahmen dieser Einführung ein eigener Abschnitt (Kapitel 5).

Hundert Jahre lang hat der Marxismus speziell auf Intellektuelle eine große Anziehungskraft ausgeübt. Soweit sich Intellektuelle sozial sensibilisieren ließen, erschien vielen von ihnen das marxistische Denken als eine Erkenntnisquelle (und manchmal auch als Handlungsanleitung), die es ihnen erlaubte, die soziale Welt und deren handelnde und leidende Akteure besser zu verstehen. Umgekehrt haben dieselben Intellektuellen – oft, nicht immer, außerhalb der etablierten marxistischen Parteien – keine Anstrengung gescheut, auf dem Wege theoretischer Arbeit und Kritik die Fehler, Irrtümer und Leerstellen des Marxismus namhaft zu machen und mögliche Alternativen aufzuzeigen. Was man intellektuellen Marxismus nennen könnte – von Antonio Gramsci bis Rossana Rossanda, von Georg Lukács bis Ernst Bloch, von Jean-Paul Sartre bis Theodor W. Adorno –, ist der immer wieder unternommene Versuch, dem latent Theoriefeindlichen des Marxismus, seiner häufig auf pure »Praxis« reduzierten instrumentell und pragmatisch verkürzten Vernünftigkeit einen vollen Begriff von Vernunft entgegenzuhalten, einer Vernunft, die auch noch einschließt, was üblicherweise durch den Rost der instrumentellen Vernunft fällt und |23|von Adorno etwa unter dem Titel des »Nichtidentischen« verhandelt wird. Das abschließende sechste Kapitel ist also dem intellektuellen Marxismus gewidmet.

1

Eric J. Hobsbawm, Industrie und Empire. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750, Frankfurt/M. 1969

2

Vgl. E.P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt/M. 1987; Michael Vester, Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792–1848, Frankfurt/M. 1970

3

Vgl. Renate Karst-Matausch, »›La nature s’en va‹: Auf den Spuren einer Naturforscherin und Ökologin«, in: Gislinde Seybert/Gisela Schlientz (Hg.), George Sand – jenseits des Identischen, au-delà de l’identique, Bielefeld 2000, S.249ff.

4

Vgl. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1974

5

Vgl. Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt/M. 1965, S. 71; vgl. ders., Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie