Märzveilchen - Sarah Kirsch - E-Book

Märzveilchen E-Book

Sarah Kirsch

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Beschreibung

Neues von der Grande Dame der Poesie, nonkonformistisch und unverwechselbar

Plappernder silberner Wind, Hagelschlangen, grüne Kraken im Januargarten – Sarah Kirsch gehört ohne Zweifel zu den Großen der deutschsprachigen Lyrik. Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind immer ein Eintauchen in die Welt der Poesie und zeugen von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Das Leben im Wechsel der Jahreszeiten verbindet sie mit eigenen Assoziationen, die oft mit Witz und Ironie gefärbt sind. Ein idyllischer Kosmos, in den allerdings die Außenwelt einbricht: Die Auswirkungen von 9/11 oder auch Überschwemmungen in Ostdeutschland finden Eingang in die Notate von Dezember 2001 bis Herbst 2002. So werden Sarah Kirschs Tagebücher zu einem schillernden, persönlich kommentierten Zeitdokument, und sie bezeugen das unvermindert hochkarätige Schaffen der großen Lyrikerin.

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Seitenzahl: 103

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Inhaltsverzeichnis

10. Decembre 2001, Mohntag12. Decembre 2001, Mistwoch13. Dezembrius 2001, Donner14. Dezembrius 2001, Freitag15. Dezembrius 2001, Samstag16. Dezembrius 2001, Sonntag17. Decembre 2001, wieder Mohntach18. Decembre 2001, Dienstag19. Dezember 2001, Mistwoch21. Decembre 2001, Freitach22. Dezember 2001, Samstag23. Dezember 2001, Sonntag24. Decembre 2001, Mohntach25. Decembre 2001, Dienstag26. Decembre 2001, Mittwoch27. Dezembrius 2001, Donner28. Dezembrius 2001, FreitagCopyright

10. Decembre 2001, Mohntag

Es ist ein herrliches Gefühl nach nahezu einer Woche wieder in Tee gelandet zu sein! Etwas kapores. Drei Vorlesungen zwei Seminare diverse Interviews und noch zwei Tage bei Steidl das ist ne Menge Zoff für ne anständige Landbewohnerin. Bei Steidl ist es sowieso Sträflingsarbeit! Und dann hab ich mir noch einen Ausflug in die Kindheit gestattet! Wolfgang Altenkirch war in der Poetikvorlesung und wir haben uns anschließend niedergehockt und über unsere Jugendzeit lange gesprochen. Seine Schwester kam 1943 aus Berlin als Ferienkind zu uns nach Halberstadt, um mal ohne Fliegerangriffe leben zu können. Als diese 1944 in Berlin immer häufiger wurden, lud meine Mutter Frau Altenkirch und ihre beiden Kinder zu uns ein, und der Vater kam sie manchmal besuchen. Ist alles an anderer Stelle abgehandelt, ausführlich beschrieben. Frau Altenkirch hat ihrem Mann aller zwei Tage berichtet, was in Halftown so alles geschah. Diesen Briefwechsel will Wolfgang Altenkirch mir demnächst schicken, wenn er ihn aus dem Nachlass seiner Schwester hervorgeholt hat. Er ist Biologe geworden, befindet sich nun im Ruhesstand. Ja das war molto interessante, und immer diese Berliner Sprüche wie vor Jahren! Als er mir die Autotür uffriss: »Immer rin in die jute Stube!« Ach war das schön! Die Schwester war jünger als ich der Bruder älter. In Halftown hätten wir oftmals gespielt der Bruder und icke wir waren König und Königin, Gudrun stets nur die Dienerin, nicht etwa das Kind. Das war mir entfallen! Wir haben stundenlang geredet und es ist aufwühlend gewesen. Der Kontakt muss unbedingt weitergehen! Das Islandbuch kann sich noch mausern, kommt erst Herbst 2002. Und für Die Geschichte vom teuren Brot von Laxness, was mit 15 Miniillustrationen von mir erscheinen soll, haben wir ooch noch die ganze Arbeit gemacht. Ende Februar kommt es auf den Markt, am 23. April ist der hundertste Geburtstag des Meisters.

Sechs Fasaninnen Gewährten mir ein Stück sie zu begleiten.

12. Decembre 2001, Mistwoch

Hab wieder einmal im Schlafrock mit einem Affenzahn die Mülltonnen rausgerollt, hatte ich gestern vergessen. Der Tag beginnt im Nebel. Schön diese Gummizelle! Und ich muss für das Islandbuch noch ein paar Blätter mit Farbspritzern herstellen, eine Art Vorsatzpapier soll es werden. Sah neulich solch einen herrlichen Kissenseestern im TV: ein Blau mit zarten orangefarbenen Tupfern, daran will ich denken für diese Papiere.

13. Dezembrius 2001, Donner

In Tora Bora gehen die Bombardements weiter. Bin Laden soll seit zehn Tagen in Pakistan sein. In Neu Delhi gab es eine Schießerei im Parlament mit Schnellfeuergewehren und Handgranaten. Zehn Tote, viele verwundete Polizisten. Kriminal-Tango. War schönes Licht, darin hab ich meine Pünktchen-Papiere erschaffen. Ich war danach sölber gepunktet, das Gesicht, die Pfoten, meine frisch gewaschene Hose. In Tora Bora sollen sich eintausend Talibankämpfer aufhalten. Es wären auch amerikanische Bodentruppen an Ort und Stelle. Um siebzehn Uhr wurde von CNN das besagte Video ausgestrahlt. Ein sehr dicker Hund! Also Bin Laden in Schwarzweiß kommt zu einem anderen Scheich in ein Gästehaus, eher eine Art Jugendherberge, eine räudige Höhle, und etwa zehn Leute, irgendwann Mitte November, begrüßen ihn und alle haben prächtige Laune. Sie bedanken sich für die Unterkunft und für alles was er fortwährend doch für sie tut. Es ist wie bei Karl May in Bad Segeberg. Allah sei Dank, Allah sei gepriesen. Bin Laden lässt sich schwungvoll neben einem bis zur Hüfte gelähmten Shaikh nieder uff ne Art Steppdecke mit ein paar elende Kissen. Er hat eine großspurige Gestik. Stellt mit die Hände dar wie die Flieger in die Türme fliegen. Sagt dass »sie« seit Donnerstag das Datum die Uhrzeit gewusst hätten.

Bin Laden: wir haben im Voraus die toten Feinde kalkuliert, und ich war der Optimistischste anhand meiner Kenntnisse. Dass die Türme gänzlich eingestürzt wären, das sei eine freudige Überraschung. Sie hatten mit den vier obersten Stockwerken gerechnet, Allah sei Dank! Allah sei gepriesen! Zur Vorgehensweise sagt er, dass nicht alle beteiligten Attentäter wußten was erfolgt. Mohammed Atta, er war der Leiter. Die anderen wurden nach Amerika bestellt, und erst kurz vor den Flügen erfuhren sie was ihre Aufgabe war, was erfolgen musste. Sie wären hervorragend geschult gewesen. Bin Laden sagt wie er mit irgendwelchen Getreuen Radio hörte, als der erste Flieger in den Turm ging, wie alle gejubelt haben und wie er gesagt habe: wartet ab, was noch kommt! Allah sei gepriesen Allah sei Dank murmeln alle Anwesenden, und einer hatte einen schaurigen Husten.

14. Dezembrius 2001, Freitag

Liebe ist wie der Mond, wenn sie nicht zunimmt nimmt sie ab. Wenn ich nach links aus meinem Fenster sehe, so fährt ein Ballon von Süden in meine Richtung. Hellblau vor grauen geschuppten Wolken. Ach sieht das fesch aus! Nun driftet er nach Osten.

15. Dezembrius 2001, Samstag

Knapp über Null und Glatzeis. In Spanien so heftige Schneefälle, dass Menscher darin umgekommen sind. Franzosen, Iren und Niederländer bekamen gestern schon Tütchen mit Euromünzen. Die Niederländer als Geschenk! Hier gibt es Montag dergleichen für 20.- Deutschmark. Keine Geschenke.

16. Dezembrius 2001, Sonntag

Es ist wieder kälter geworden. Ich muss etwas Weihnachtspost loslassen, unbedingt. Überall Schnee in D., nur nicht in T. Die See unsere Heizung. Minus drei Grad und die Sonne ging uff. Alles reifüberzuckert. Später nebelte es sich ein und so blieb es biss dass es dunkel wurde. Ich muss noch einen Strumpf for Willie fertigstricken, Kasperlestrümpfe wie immer. Maxe hat böhmisches Sauerkraut hingelegt, ganz erstaunlich. Abends bei Rosamunde Pilcher ausgeharrt, und siehe! es gab Cockington zu sehen! Den großen Park und den Rosengarten wo wir doch gingen. Wau war das schön! Hätt ich gleich wieder auf das Schiff springen können. Die Kaltblut-Kutschpferde sie waren ooch im Bilde, die schlechten Schauspieler stören natürlich a bisserl, aber dennoch! Hab Maxe von draußen begeistert ringeschrien, der gerade Jupiter im Fernrohr hatte.

17. Decembre 2001, wieder Mohntach

Schneekatastrophe in Griechenland, der Türkei, Italien, Spanien. In Barcelona gingen sie mit schwarzen Schirmen im weißen Schnee, was sehr schön ausgesehen hat. Das Packerl an Susie und Willie es ist wenigstens heute noch weggekommen, wurde auch Zeit.

18. Decembre 2001, Dienstag

Vier Heizkörper speichern nicht, habe dem Elektriker alles verklickert, er will vorbeischaun. Eu Gott, immer dieser Verfall. Und mehr als drei Poststücke schaffe ich nimmer. Dann verlässt mich dermaßen die Lust dass ich nur aufhören kann. Und heute kommt schon wieder wer: die Gartenfreundin um Signaturen also keene innige Versenkung an diesem Tage, der Elektriker muss hier ja auch noch hindurch. Alles gewesen. Der Elektriker brauchte nur das Haus zu betreten, da liefen die Heizungen wieder. O-Ton Palästina: als Mutter eines Märtyrers hab ich Anspruch im Paradies im Luxus zu leben. Ein hübscher zunehmender Mond stehet am Himmel.

Es ist die Zeit des grauen Mondes der Weg

Zweigt in die Erinnerung ab Und der Tod fährt Güllefässchen im Zwielicht.

19. Dezember 2001, Mistwoch

Wehet ein mäßiger Wind der sich zum Sturm auswachsen soll. Dunkele Wolken auf silbernem Himmel im Momang. Pfützen und überlaufende Gräben. Mit dem Salzburger telefoniert, der außerordentlich freundlich war, er fährt zitternd nach Italium nun zu seiner Freundin in sein halbes Haus, wo es nur Streit gibt. Ich werd ihm die Daumen drücken, die Zehen am besten ooch. Ich habe keine Freunde mehr, sagte ich. Ich habe sie alle umgebracht. Der Sturm ist nun eingelangt. Nach dem Sturm soll es schneiben, wie der sog. Österreicher sagt.

21. Decembre 2001, Freitach

Hier schneibt es nicht bisher. Herrschen minus drei Grad. Alle Heizungen schnurren. Echter Winteranfang. Der Sturm schmeißt sich von allen Seiten ans Haus. Kamen ein paar Kritiken zu Schwanenliebe. Diese schlappohrigen Kritiker! Auf eine gute kommen drei Verrisse. »Früher wär ich gut gewesen«. Bloß früher haben sie es miserabel gefunden. Herr Heise der Großkünstler aus Kiel hat mir ooch verrissen.

22. Dezember 2001, Samstag

Kein Schnee in Tee so weit ich seh. Aber bis Heiligabend ist ja noch Zeit. Heute fängt die Übergangsregierung in Afghanistan an. Wird sie vereidigt. Die amerikanische Armee hat 65 Menschen, die Stammesführer auf dem Weg zu dieser Zeremonie, zu Tode gebombt. Wären Al-Qaida-Anhänger gewesen. Mit Maxe herrliche Fotuls aus Kanada angesehen, die Karte daneben. Nur den Bär an der Bushaltestelle hatte er nicht uffgenommen. Bei Sonnenuntergang weit spaziert. Fischschuppenwolken, ein durchgesäbelter Mond und krachendes Eis in den Gräben. Ein paar Schafe interessierten sich für mich, sonst keener will ich mal sagen.

23. Dezember 2001, Sonntag

Minus acht Grad an einem himbeerfarbenen Morgen. Die Kälte törnt die Heizung an. Ein amerikanischer Flieger aus Paris mit 197 Passagieren ist in Boston notgelandet: ein Reisender mit Plastiksprengstoff in den Socken wollte gerade ein Streichholz anzünden. Konnte überwältigt werden. Hatte falsche englische Papiere. Die mutige Stewardess wurde vom Terroristen in die Hand gebissen. Es wird für Schließlich-Holzbein wieder Schnee versprochen.

24. Decembre 2001, Mohntach

Er hatte zwei Sprengsätze, der achtundzwanzigjährige Terrorist, in jedem Schuh einen. Sturm und Schneereste, auf die es nun regnet. Die Fehmarnbrücke ist wegen fürchterlicher Windverhältnisse gesperrt. Maxe hat schon mit dem Wildschweinbraten zu tun, der sehr gut gedieh bis nach unsere Bescherung. Vorher hatten wir noch Weihnachtspapier von vor zwei Jahren gefunden, von Lisa, »für Sarah« stand druff. Die Kassette wie die Muppets Weihnachten feiern haben wir auch noch gesehen. War wieder sehr hübsch, besonders wenn Miss Piggy den Nerz kriegt.

25. Decembre 2001, Dienstag

Mein Weihnachtsbild im Fenster des Ostsalons: am anderen Eiderufer ein dunkles Pferd mit Reiterin und Hündchen. Alle Drei schauten lange über das Wasser. War ein fauler Tag. In allen Büchern gelesen die ich bekam. Schöne Filme im TV. Da Marlene gleich hundert wird, Shanghai-Lilly und Der große Bluff.

26. Decembre 2001, Mittwoch

Ein frühlingshaftes Lüftchen, sieht alles noch grün aus was die Koppeln betrifft. Hellblauer Himmel, firnweiße Wölkchen. Hier hat es eine Stunde kräftig geschneit ohne dass etwas liegenblieb. Ich spazierte unter dem Mond der fast voll ist. Es gab viele Kinofilme und Reisen durch den Kaukasus oder nach Ostpreußen rin mit Fritz Pleitgen.

27. Dezembrius 2001, Donner

Es schneit und schneit jetzt wo alles zu spät ist, und Bin Laden der schon tot sein sollte schickt neue Botschaften im frisch gebügelten Kampfanzug aus. Erst steigt der Schnee, dann die Temperatur. Nun ist die Normalität wieder angesagt, was mich erfreut. Ich muss die Eistreppe freilegen, dass der Postbote nicht auf die Nase fliegt. Beschäftige mir mit alle möglichen Texte. Noch einmal die Islandici durchzählen dass nix fehlet. Ein dichtes Schneegestöber in welchem Maxe grad geht, sofort ganz verschluckt ist. Später muss ich Büsche und Hecken abschütteln dass nicht alles zusammenbricht.

28. Dezembrius 2001, Freitag

Die Landschaft schön weiß bei minus zwei Grad. Es schneit weiter stellt sich heraus als es hell wird. Wir müssen das Wasser im Stall abstellen. Um zehn Uhr wurde aus dem Schnee profaner Regen. »Nordmilch« eiert vorüber. Hab dann bis in die Dunkelheit rin mein Sir V. S. Naipaul zuende gelesen. Das Rätsel der Ankunft, die Ankunft in England auf dem Lande in der Nähe von Stonehenge. Ein sehr schönes Buch, eines der schönsten Bücher welches ich kenne. Hat sich der Nobeller sehr gelohnt. Jacks Garten, und wie er entsteht und vergeht. Die Furcht des Zugezogenen, dass alles kaputtgemacht wird, die kenne ich auch.

1. Auflage

Copyright © 2012 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Walbaum

eISBN 978-3-641-09714-1

www.dva.de

www.randomhouse.de

Leseprobe