»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt« - Sarah Kirsch - E-Book

»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt« E-Book

Sarah Kirsch

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Beschreibung

»Liebe liebe Christa schön daß Du noch hier geblieben bist auf dem beknackten Planeten!«, schreibt Sarah Kirsch im Herbst 1988 an ihre Freundin, die eben eine lebensgefährliche Krankheit überwunden hat. Ein Jahrzehnt zuvor konstatiert Christa Wolf nach einem Treffen in West-Berlin, kurz nach Kirschs Ausreise aus der DDR: »Ich bin froh, daß ich bei Dir war und jetzt ganz ruhig an Dich denken kann.«
Zwei Autorinnen von internationalem Rang sind hier fast drei Jahrzehnte lang, von 1962 bis 1990, miteinander im Austausch: über das Schreiben, den Literaturbetrieb im Osten wie im Westen, über die Männer, die Kinder, die Arbeit im Garten und die politischen Systeme, in denen sie leben. Letztere sind es wohl, die diese Freundschaft an ein Ende bringen, nach vielen Jahren des vertrauensvollen Miteinanders.
Streng und verspielt, heiter und verzweifelt, schnoddrig und ehrlich – Sarah Kirsch und Christa Wolf beim Schreiben und Leben über die Schulter zu schauen ist ein Geschenk.

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Seitenzahl: 692

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Sarah Kirsch Christa Wolf

»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«

Der Briefwechsel

Herausgegeben von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf

Suhrkamp

Inhalt

Anhang

Undatierter Brief von Sarah Kirsch an Christa Wolf

1 Von Raben und anderen Vögeln

2 Zaubersprüche und andere Ruf-Formeln

3 Spielraum Erde – fremder Planet

Nähe und Ferne

Unschärferelationen

Grünes Land

Schreibweisen

Literarisches

Auswahlbibliografie

Abkürzungen und Siglen

Verzeichnis der Briefe

Gerhard Wolf Ausschweifungen und Verwünschungen Zu Motiven bei Sarah Kirsch

Nachwort Sarah Kirsch und Christa Wolf. Facetten einer Freundschaft

Editorische Notiz

Danksagung

Zeittafeln

Bildnachweis

Personenregister

1 Sarah Kirsch (mit Rainer Kirsch) an Gerhard Wolf

[Halle (Saale), vor dem 16. ‌10. ‌1962]

//Lieber Gerhard,

von uns die allerfeinsten Geburtstagsglückwünsche aus dem traditionsreichen Halle. Und wünschen wir Dir, daß Deine Zähne nicht stumpf werden.1

Wir haben uns sehr über den Krumbholz-Artikel geschafft, Ihr auch?2

Schöne Grüße

Eure Kirschen//

1Gerhard Wolf, der am 16. ‌10. seinen 34. Geburtstag begeht, arbeitet u. ‌a. als Lektor für den Mitteldeutschen Verlag und als Essayist und Kritiker. 1959 leitete er in Halle die Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren beim Bezirksverband Halle des Schriftstellerverbandes, an der Sarah und Rainer Kirsch mitwirkten.

2Vermutlich ist Eckart Krumbholz' Beitrag Fünf Berliner. Günther Brendel, Dieter Tucholke, Ronald Paris, Horst Bartsch, Walter Womacka gemeint, erschienen in der Zeitschrift Junge Kunst (6/1962, S. 25-31). Krumbholz analysiert die Entwicklung der genannten Künstler und ermuntert sie, »das neue ideale Bild der Menschen unserer Zeit« (S. 27) zu gestalten.

2 Sarah Kirsch an Gerhard Wolf

[Halle (Saale), 8. ‌11. ‌[1962]]1

//Lieber Gerhard,

bevor wir Dir ausführliche Protoköllchen über das Leben in Halle schicken,2 nur soviel, daß Willi Sitte für meine Verslein 3 Illustrationen schaffen will,3 dann sind die Bilder doch gut! Wart Ihr schon in Dresden und hattet das Erlebnis der V. Deutschen Kunstausstellung?4 Wir hatten es. Schöne Grüße Euch beiden

von Sarah//

1Ort und Datum des Poststempels.

2Christa und Gerhard Wolf sind im September 1962 mit ihren beiden Töchtern von Halle nach Kleinmachnow gezogen. In Halle, dem Wohnort von Sarah und Rainer Kirsch, hatten sie drei Jahre gelebt.

3Solche Illustrationen sind weder im Nachlass Sarah Kirschs noch im Nachlass Willi Sittes nachgewiesen.

4Die V. Deutsche Kunstausstellung findet vom 22. ‌9. ‌1962 bis 6. ‌3. ‌1963 in Dresden statt. Neben Malerei, Grafik und Plastik werden auch Formgestaltung, Kunsthandwerk und Mode gezeigt. Der zum Freundeskreis der Kirschs gehörende Maler und Grafiker Willi Sitte ist mit einem Werk vertreten.

3 Sarah Kirsch an Gerhard Wolf

Halle, am 25. ‌11. ‌62

Lieber Gerhard,

ich hab bisher vergessen, Dir meine kleine magere Biographie zu schicken, sicher kommt sie noch zurecht.1 Ich bin bis zum 1. ‌12. in Petzow zur individuellen Lyrikbetreuung mit Reiner Kunze, falls Du noch etwas von mir wissen mußt, kannst Du mich also erreichen.2

Eine Verbandssekretärin haben wir noch immer nicht, Dichter Döppe sitzt in der Baderei und erledigt die Geschäfte.3

Apropos Dichter Döppe:

ÜBER DICHTER DÖPPE

Dichter Döppe hat ein Haus,

bei der Mondlaterne

zählt er seine Silben aus

und sortiert die Sterne.

Dichter Döppe liebt die Kunst,

hütet ihre Halme;

doch wenn einer sie verhunzt,

geht er auf die Palme.

Dichter Döppe hat ein Pferd

mit zwei weißen Flügeln,

wenn er es mit steaks ernährt,

ist es nicht zu zügeln.

So, das wäre es. Rainer ist fleißig und schreibt Hörspiel. Die Korrekturfahnen von der NDL mit 10 Gedichten hat er schon bekommen.4

Schöne, schöne Grüße für Euch!

//Deine Sarah//

1Gerhard Wolf bereitet für den 17. ‌12. ‌1962 – als Kooperation des Mitteldeutschen Verlags mit dem Leipziger Literaturinstitut – eine Arbeitstagung junger Lyriker in Leipzig vor. Sarah Kirsch nimmt daran teil; das zur Veranstaltung erscheinende Sonderheft der »Blätter des Instituts für Literatur ›Johannes R. Becher‹« Tauchnitzstraße 8 enthält ihr Gedicht Quergestreiftes. Darüber hinaus ist die Anthologie Sonnenpferde und Astronauten in Vorbereitung, die Gerhard Wolf herausgibt und die 1964 erscheint (vgl. Anm. 12 zu Brief 8). Das Typoskript einer Kurzbiografie Sarah Kirschs ist überliefert in der entsprechenden Lektoratsakte im Archiv des Mitteldeutschen Verlags im Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg (I 129, Nr. 1258, Bl. 41).

2In Petzow am Schwielowsee betreibt der Deutsche Schriftstellerverband (ab 1973 Schriftstellerverband der DDR) ab 1955 in der »Villa Berglas« das Schriftstellerheim »Friedrich Wolf«, in dem Arbeits- und Urlaubsaufenthalte möglich sind.

3Friedrich Döppe, dessen Prosa überwiegend beim Aufbau-Verlag erscheint, ist von 1959 bis 1963 Vorsitzender des Bezirksverbandes Halle des Deutschen Schriftstellerverbandes. Der Verband hat seinen Sitz »An der Baderei 1« in der Nähe der Moritzkirche. Die Straße und das Gebäude existieren heute nicht mehr.

4In Heft 1/1963 der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur (NDL; S. 93-99) erscheinen unter der Überschrift Neue Gedichte folgende Gedichte Rainer Kirschs: Motto, Picasso: Sylvette im Sessel, Jazz Me Blues, Der sehr Weise, Die Philosophen besteigen den Baum der Erkenntnis, Alte Kisten, Ausflug machen, Gespräch, 2005 und Meinen Freunden, den alten Genossen.

4 Rainer Kirsch mit Sarah Kirsch an Gerhard Wolf

[Halle, zwischen dem 2. und 10. ‌12. ‌1962]

Lieber Gerhard,

ich habe nun rausgesucht, was so da ist, und säuberlich abgeschrieben und mit einem feinen Titelblatt versehen. Bloß kommt mir das ganze ein bißchen mager vor. Ich werde versuchen, über Weihnachten noch ein bißchen dazuzudichten.

Wir kommen zu der Hermlin-Lesung nach Berlin, wahrscheinlich mit Sitte.1 Ich hoffe, wir werden uns da sehen, dann kannst du mir ja sagen, ob dreißig oder dreiunddreißig Stück zu wenig sind für ein Bändchen.

Sarah hat eben die Gisela-May-Platte (Brecht-Eisler) eingekauft und spielt sie furchtbar laut.2 Wenn die Vorstandssitzung über Kinderliteratur am 13. ist, kommen wir auch hin; vielleicht können wir Euch dann besuchen. Wir schicken dann noch ein Telegramm.3

Gestern hatten wir Kinderliteratur-Sektions-Tagung; und am Abend beehrte uns aus heiterem Himmel die gute Tante Edith4 und hat zwei Stunden lang das kurioseste Zeug erzählt; wir haben uns im Stillen geschafft (hinterher laut) und nur ganz wenig gesagt, was sie zu den seltsamsten Schwenkungen veranlaßte. Denkt aber nicht, wir wären unfreundlich gewesen.

Sonst hört man wenig voneinander; nur Jochen Rähmer kommt manchmal vorbei; die anderen sitzen schön in ihren Stübchen und haben mehr oder weniger Wut aufeinander. Da haben wir-s gut, weil wir keine Wut zu haben brauchen.

Jetzt schreibe ich weiter an meinem dicken Hörspiel.

Schöne Grüße an Christa

\\Euer Rainer\\

//und Sarah//

1Gemeint ist die Lyrik-Lesung in der Akademie der Künste am 11. ‌12. ‌1962, zu der Stephan Hermlin eingeladen hat. Neben Gedichten von Sarah und Rainer Kirsch sowie Joachim Rähmer kommen Texte u. ‌a. auch von Wolf Biermann, Volker Braun, Uwe Greßmann, Bernd Jentzsch und Karl Mickel zu Gehör; die Lesung wird live im DDR-Rundfunk übertragen (vgl. bibliografische Nachweise in: DRA-Info Audio 2010/1, S. 157). Für Hermlin hat der Abend Konsequenzen. Nach parteiinternen Vorwürfen, insbesondere gegenüber der auf der Veranstaltung laut gewordenen Kritik an der kulturpolitischen Linie des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, tritt er am 13. ‌1. ‌1963 von seinem Amt als Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Akademie zurück und scheidet auch aus dem Beirat der Akademie-Zeitschrift Sinn und Form aus (vgl. u. ‌a. Zwischen Diskussion und Disziplin. Dokumente zur Geschichte der Akademie der Künste (Ost) 1945/1950-1993, hg. von der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Henschel Verlag, Berlin 1997, S. 258-273). Wegen einer Terminverwechslung – in Zeitungsannoncen wird die Veranstaltung für den 14. ‌12. ‌1962 angekündigt – verpassen die Wolfs den Leseabend in der Akademie.

2Gisela May singt Lieder von Hanns Eisler nach Texten von Bertolt Brecht (Eterna 1960).

3Im Vorfeld der Sitzung, die nicht am 13., sondern am 14. ‌12. ‌1962 in Berlin stattfindet, sind die Kirschs um eine Meinungsäußerung über den Stand der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR und um Verbesserungsvorschläge gebeten worden. Eine ausführliche Stellungnahme zum Thema senden sie in einem Brief vom 19. ‌11. ‌1962 an die Nachwuchsabteilung des Schriftstellerverbandes (in: RKA 857).

4Gemeint ist die Kinderbuchautorin Edith Bergner.

5 Rainer Kirsch mit Sarah Kirsch an Christa und Gerhard Wolf

[Vor Weihnachten 1962] //Heute 2220 Halle

Liebe [Wölfe]1!//

\\Hier kommen die Verse, die wir heute schrieben, und Sie werden kahl vor Ihnen stehn.2 Alle halten Schimpfreden auf kleine Gegenstände und Parabeln, und es wird Mode, auf die stagnierende Lyrik zu schimpfen. Sonst sind wir froh und auf vielen Lesungen (bloß zu zweit) und Tagungen. Der Brief wird aber zu anstrengend, wenn ich mit der Hand schreibe, deshalb wünschen wir schöne Weihnachtsbäume, denn ein Schnee ist eingefallen, und die Hirten kommen allerwege, auf daß die Schafe auch brav im Krale bleiben und nicht etwa dem bösen Wolf anheimfallen. Macht's gut bis Januar und schreibt schöne Filme!3

Euer Rainer\\

//und Sarah//

1Sarah Kirsch zeichnet hier vier stilisierte Wölfe.

2Rainer Kirsch zitiert hier aus seinem Gedicht 2005, das von Hermlin bei der Akademie-Veranstaltung vorgelesen wurde.

3Wolfs arbeiten mit Konrad Wolf an verschiedenen Filmprojekten (vgl. den Brief von Christa Wolf an Konrad Wolf vom 14. ‌5. ‌1962, in: Christa Wolf, Briefe 1952-2011, Suhrkamp, Berlin 2016, S. 66-69). Während die Verfilmung von Christa Wolfs Moskauer Novelle aufgrund politischer Vorbehalte von Seiten sowjetischer Stellen scheitert, gelingt die Adaption von Der geteilte Himmel (1964).

6 Sarah Kirsch an Christa und Gerhard Wolf

//Halle, am 18. ‌1. ‌63

Liebe Wölfe,

schöne Grüße und einen hübschen Artikel aus Halle an der Saale.1 Es handelt sich bei meinen Gedichten besonders um Quergestreiftes, das als gegen den Personenkult interpretiert wird.2 Meinen Antwortartikel druckt die Freiheit morgen zur Hälfte. (»Quergestreiftes« wird so interpretiert: wer bei uns nicht in der Reihe marschiert, wird beseitigt)

All das, was um Unterstellung und hineindeuten geht, und wogegen ich mich verwahre, wird nicht gedruckt. Auch so etwas nicht: »Niemals sollten wir vergessen, daß es keine Kluft gibt zwischen der Partei und jungen Lyrikern, daß wir zusammenarbeiten … Unterstellungen und Hineindeuten falscher Absichten in Gedichte nützen keinem, sondern können höchstens die westlichen Zeitungsschreiberlinge erfreuen, die gern eine Kluft zwischen Partei und Künstlern sähen …«

Ich hab 2 mal 2 Stunden mit Kaulfuß und der ganzen Kulturredaktion geredet, es war unmöglich! Sie drehen einem das Wort mehrmals im Munde herum. Erst war ich ziemlich fertig, aber nun wird es schon wieder. Im Februar stehen Bernd, Rainer und ich im Verband auf der Tagesordnung, das wird sicher schlimm. Es ist schon gesagt worden, daß man nichts mehr veröffentlichen sollte, was nicht im Verband besprochen ist. Was dann für Lyrik aus Halle gedruckt wird, könnt Ihr Euch ausmalen!

Seid nicht böse, daß ich Euch belästige, nun noch etwas Lustiges, was Franz Bruk auf dem LDPD-Parteitag sagte: (Zitiert aus LDZ vom 15. ‌1. ‌63,3 gemeint wahrscheinlich die Hermlin-Lesung)

»Aphoristisches über Kunst und Kultur

Als Gast sprach auf dem LDPD-Bezirksparteitag Halle der Sekretär der Bezirksleitung der SED Franz Bruk. Aus der Fülle seiner Gedanken seien nachstehend einige Bemerkungen zu Fragen der Kunst und Kultur hervorgehoben.

Wir haben einige junge Lyriker, die die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit nicht richtig beurteilen und damit zu falschen Auffassungen kommen. Sie schreiben Gedichte, in denen die DDR Schwarz in Schwarz dargestellt wird. Man machte einen Lyrikabend, auf dem 30 Gedichte vorgetragen wurden. Alle 30 behandelten den Personenkult. Ist das etwa unser Hauptproblem? Unter dem Mantel der Freiheit der Kritik wird hier die Substanz, wird der Sozialismus angegriffen. Deshalb müssen wir in Fragen der Kunst und der Literatur sehr aufmerksam sein.

Wir haben neben vielen guten Arbeiten in der Malerei auch manche Erscheinungen des Modernismus, des Expressionismus und des Abstraktionismus, die wir zu überwinden haben. Denn falsche Betrachtungsweise der Wirklichkeit führt zu einer Malweise schwarz in schwarz, die den Optimismus vermissen läßt.

Wir haben auch erklärt, daß wir nichts gegen den Twist haben. Wer ihn schön findet, soll ihn tanzen. Wenn man ihm nichts entgegenzusetzen hat, muß man ihn dulden. Aber unsere Volkstanzgruppen könnten schöne moderne Tänze – wenn wir sie haben – einstudieren, damit zu den Jugendlichen gehen und sie davon überzeugen, daß sie schöner sind als Twist.«

So sieht es also in Halle aus. Auf der Lyriklesung hier im Hofjäger4 hat der Rainer ungeheuer viel – und den meisten von uns allen – Beifall gekriegt, für Auszüge aus der Oberschulkantate5 etc. Das war schön, manchen hat es gar nicht geschmeckt. –

Wir müßten mal wieder zusammen sprechen können, damit man nicht verzweifelt. Das wird ja auch mal wieder klappen. – Ich lege doch meine Antwort auf die Freiheit vom 15. bei, was ich durchstreiche, wird nicht gedruckt. Schickt Ihr mir den Durchschlag gelegentlich zurück?

Laßt es Euch gutgehen und hoffentlich besser als [es] uns in Halle geht.

Viele Grüße für die Wölfe6 von den Kirschen7.

Eure Sarah//

[6a Beilage]

In einem in der »Freiheit« vom 15. Januar erschienenen Artikel von Kurt Kaulfuß werden unter anderem schwere Vorwürfe gegen Gedichte von mir erhoben, zu denen ich Stellung nehmen möchte.

Wir hatten im Schriftstellerverband über das betreffende Gedicht bereits am 11. Januar eine Aussprache. Ich habe dort eingesehen, daß das Gedicht mißdeutbar ist. Meine Absicht war, ironisch darzustellen, wie es manchem mitunter ergeht, der – in einem Betrieb oder anderswo – neue Arbeitsmethoden einführen will, den aber die zeitweilige Mehrzahl der Bequemen nicht zum Zuge kommen läßt, weil es mit der alten Methode ja bisher auch ganz gut gegangen ist.

Dabei habe ich jedoch mein Gedicht zu allgemein angelegt und zudem unexakte Bilder verwendet, so daß es auch so ausgelegt werden kann, als würden bei uns »mißliebige« Diskussionen grundsätzlich abgeschnitten. Das wäre natürlich eine falsche Aussage, die ich nicht will. Sie kam mir beim Lesen meines Gedichtes deshalb nicht in den Sinn, weil ich immer meine Konzeption vor Augen hatte. (Übrigens kannten dieses Gedicht eine ganze Reihe Menschen, von denen keiner auf die zweite Auslegungsmöglichkeit kam.) Immerhin gibt es diese Auslegungsmöglichkeit, also ist das Gedicht nicht gut, und ich werde es nicht veröffentlichen.

Das ist die eine Seite der Sache, und ich erkenne die an mir in dieser Hinsicht geübte Kritik vollkommen an. Jedes Gedicht ist ein Wagnis, wie Johannes R. Becher schreibt, und solch ein Wagnis kann mißlingen. Ein Gedicht, in bester Absicht geschrieben, kann danebengehen. Daß mir aber diese gute Absicht zugestanden wird, halte ich für die Grundvoraussetzung einer Diskussion. Und wenn Hans Lorbeer sagt: »Wir haben früher als junge Arbeiterschriftsteller auch oft gestritten, aber niemals darüber, ob wir für oder gegen unser Volk schreiben«, so möchte ich in aller Deutlichkeit erklären, daß es eine solche Alternative für mich ebensowenig gibt wie für Hans Lorbeer.8 Für unser Volk, für unsere Gesellschaft zu schreiben, ist für mich selbstverständliches Bemühen. Inwieweit ich das Bemühen verwirklichen kann, muß jede einzelne Arbeit zeigen. Ich hoffe, daß es mir später besser gelingt als jetzt, wo ich gerade zu schreiben begonnen habe.

Was soll aber die – direkte oder indirekte – Unterstellung, ich – oder Bernd Jentzsch, von dem ich mit Bestimmtheit weiß, daß er das auch nicht will und den ich für einen der begabtesten Poeten aus der jüngsten Generation halte – wollten gegen das Volk schreiben? Warum folgert Hans Lorbeer auseinemmißlungenen Gedicht, wir hätten dem Volk nichts zu sagen?

Man kann nämlich in ein Gedicht auch – bewußt oder unbewußt – etwashineindeuten, was nie und nimmer darin gesagt ist. Ich verwahre mich auf das Entschiedenste dagegen, ich oder Gedichte von mir wären »gegen unsere Kunstpolitik gerichtet« oder wollten gar »alles, was unser Volk im entbehrungsreichen Kampf für den Sieg des Sozialismus leistet, verunglimpfen und in den Schmutz ziehen«.

Ich sehe durchaus ein, daß wir in der heutigen Situation besonders wachsam gegen das Eindringen feindlicher Ideologien sein müssen. Aber diese notwendige Wachsamkeit darf doch nicht zu Mißtrauen werden! Ich habe als Arbeiterkind studieren können, ich bin in unserer Gesellschaft aufgewachsen, und ich habe Vertrauen zur Partei. Ich bemühe mich, bei der Verwirklichung ihrer Politik mit meinen Mitteln zu helfen, so gut ich es kann. Ich brauche aber – und das gilt für alle jungen Lyriker – auch das Vertrauen der Partei! Wir alle wünschen uns Diskussionen über unsere Gedichte, in denen wir uns um die Darstellung des sozialistischen Zeitalters und seiner Probleme bemühen. Diese Diskussionen sollen sachlich, prinzipiell und, wenn es nottut, auch hart geführt werden. Niemals sollten wir aber vergessen, daß es keine Kluft gibt zwischen der Partei und uns jungen Lyrikern, daß wir zusammenarbeiten und für ein Ziel arbeiten. Daß es dabei über Einzelheiten Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen gibt, ist nur natürlich. Unterstellungen aber und Hineindeuten feindlicher Absichten in Gedichte nützen keinem, sondern können höchstens die westlichen Zeitungsschreiberlinge erfreuen, die gern eine Kluft zwischen Partei und Künstlern sähen.

Walter Ulbricht sprach auf dem Parteitag auch von den jungen Lyrikern, die in Berlin, Halle und Leipzig Gedichte lasen und von denen er sagte: Das waren doch Lyriker unserer neuen Zeit.9 Da ich auch mit in Halle und Berlin gelesen habe, rechne ich mich zu diesen Lyrikern. Notwendig ist jetzt, glaube ich: gegenseitiges Vertrauen, Gespräche mit den kritisierten Lyrikern, nicht nur über uns, und eine Atmosphäre der prinzipienfesten, sachlichen Auseinandersetzung.

Sarah Kirsch10

1Beigefügt ist ein Ausschnitt aus der halleschen SED-Bezirkszeitung Freiheit vom 15. ‌1. ‌1963. Unter der Überschrift In unserer Kunst muß das Gute siegen berichtet Kurt Kaulfuß über eine »Aussprache« mit »leitenden Genossen der halleschen Künstlerverbände«. Namentliche Attacken gelten dem Maler Willi Sitte, dem Stilmittel »der spätbürgerlichen Dekadenz« vorgeworfen werden, sowie Sarah Kirsch und dem Lyriker Bernd Jentzsch.

2Sarah Kirschs Gedicht Quergestreiftes hat Hermlin am 11. ‌12. ‌1962 auf der Lyrikveranstaltung in der Akademie der Künste gelesen (vgl. auch Anm. 1 zu Brief 4). Im Gerhard-Wolf-Archiv (GWA 52) ist das Gedicht als Typoskript überliefert:

»Quergestreiftes

Es waren einmal dreißig Streifen, / Davon konnten zwei nicht begreifen, / Daß sie nur längs zu laufen hatten – / Wie's ewig alle Streifen taten. // Bitte keine Abweichung, / Meine Herren (Streifen)! / Von jenen Streifen der eine / Hatte Allüren, ganz kleine: / Er schlängelte sich etwas zur Seite – / Doch merkte man's nicht aus der Weite. // Na, das mag hier / Gerade noch durchgehn! // Der andere aber, vermessen, / Wollte das Herkömmliche vergessen: / Er sprang davon um sechzig Grad, / Was keiner ihm verziehen hat. // Er wurde schnell herausgeschnitten, / Wegen der Harmonie.«

3Die Chefredaktion der Liberal-Demokratischen Zeitung (LDZ), des Publikationsorgans der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, hat ihren Sitz in Halle.

4Der Hofjäger ist eine Gaststätte und ein Veranstaltungshaus in der südlichen Innenstadt von Halle (Saale), offiziell Jugendclubhaus »Philipp Müller« benannt. Dort fand die Lyriklesung vom 11. ‌1. ‌1963 statt, an der neben Rainer und Sarah Kirsch auch Bernd Jentzsch, Heinz Czechowski und Erik Neutsch teilnahmen.

5Zu Rainer Kirschs Kantate Der Tag fängt morgens an vgl. Anm. 5 zu Brief 11.

6Sarah Kirsch zeichnet hier einen Wolf.

7Sarah Kirsch versieht die Unterschrift mit der Zeichnung einer Doppelkirsche.

8Der Arbeiterschriftsteller Hans Lorbeer wird von der Freiheit als Kronzeuge gegen die jungen Lyriker und deren »gedankliche Verworrenheit« und »verschrobene Bilder« angeführt.

9Vom 15. bis 21. ‌1. ‌1963 findet in Ost-Berlin der VI. Parteitag der SED statt. In seiner Eröffnungsansprache, abgedruckt im Neuen Deutschland vom 16. ‌1. ‌1963, kritisiert Walter Ulbricht »Formalismus« und »Schematismus« bei einigen Künstlern, die ihren »Irrweg« einer individualistischen Auffassung zur »Richtung des Kunstschaffens in der DDR« zu erheben versuchten. Die künstlerischen Resultate zeigten ein »verzerrtes Bild der Wirklichkeit« (alle Zitate a. ‌a. ‌O., S. 9).

10Die Stellungnahme von Sarah Kirsch erscheint in der Freiheit vom 19. ‌1. ‌1963 (S. 11) unter dem Titel Die Kritik ist berechtigt, um die hier markierten Passagen gekürzt, mit leicht verändertem Anfang.

7 Christa Wolf an Sarah und Rainer Kirsch

Kleinmachnow, d. 23. ‌1. ‌63

Liebe Kirschen!

Euer Brief ist traurig und kann einen traurig machen. Ich könnte Euch auch was über Stimmungen erzählen. Aber wißt Ihr, man muß glaub ich drüberwegkommen, muß sich nochmal alles genau ansehen, was man geschrieben hat, muß sich selbst überprüfen, ob man es ohne Hintergedanken geschrieben hat und es immer und überall verteidigen könnte. Wenn man überzeugt ist: das kann man, dann soll man es auch tun. – Dein Artikel, Sarah, in der »Freiheit« ist anständig, noch besser wäre er, wenn er im Ganzen gedruckt worden wäre. Ich aber halte Dein Gedicht nach wie vor für ordentlich. Ich kam nicht auf die Idee, es anders zu deuten, als Du selbst es in dem Artikel tust. Leider ist aus Gründen, die mir selbst noch nicht völlig klar sind, eine Situation eingetreten, in der die Mißdeutungen von Gedichten tatsächlich zu einem politischen Faktor werden und sich auf einmal, ohne daß der Dichter vorher daran gedacht hat, gegen das richten, wofür er schreibt. Wir können das bedauern, aber wir müssen damit rechnen und dafür sorgen, daß wir völlig eindeutig sind, daß es gar keinen Zweifel geben kann, wofür eine Sache steht, daß wir auch in der Thematik genau überlegen, was man veröffentlichen soll. Ich weiß, daß bei dieser Gelegenheit wieder ein ganzes Schock für kürzere oder längere Zeit in Opportunismus abrutschen kann, aber Ihr versteht mich sicher richtig, daß ich Euch nicht das rate, sondern nichts weiter als: Größte Klarheit. Unter Umständen kann einem selbst der Zwang dazu nützen, wenn das auch aussieht, als hieße es, aus der Not eine Tugend machen. Zwei große Gefahren gibt es: Daß man sich selbst gegenüber mißtrauisch wird und anfängt, Sachen zuzugeben, an die man im Traume nicht gedacht hat (ich würde Euch bis zum Letzten gegen den Vorwurf des Genossen Machacek verteidigen, Ihr würdet »alles das, was unser Volk im entbehrungsreichen Kampf für den Sieg des Sozialismus leistet, verunglimpfen und in den Schmutz ziehen«);1 und die zweite: Daß man im Feuer der Kritik, die oft unsachlich ist und mit falschen Methoden geführt wird, die Selbstkritik verliert. Das ist die schlimmste Folge falscher Kritik, denn ohne Selbstkritik können wir alle, die wir ja erst anfangen zu schreiben, keinen Schritt weiterkommen.

Wir müssen wohl damit rechnen, daß, vor allem in nächster Zeit, die richtige kulturpolitische Linie der Partei nicht überall richtig ausgelegt wird. Herr Quermann, dem ich einen geharnischten Brief geschrieben habe, hat ja das Signal zum fröhlichen Holzhacken geblasen.2 Wer sich dagegen wehrt, tut das nicht nur für sich selbst, sondern er schützt die Partei vor Leuten, die sie, unter dem Deckmantel, ihr zu dienen, diffamieren. Die Situation ist also etwas kompliziert, aber wir müssen uns in ihr zurechtfinden.

Und vor allem: Arbeiten. Wir alle, die wir auf dem Parteitag waren,3 sind mit der Devise rausgegangen: Arbeiten! Ich glaub, ich hab in den Tagen ein paar Pfund abgenommen, das geht mir immer so, wenn ich mich sehr aufrege. Andererseits gab's dort natürlich eine Menge von Problemen – zum Beispiel die ganze sehr schwierige China-Frage4 – die uns unsere eigene Problematik ein bißchen mehr in einem größeren Zusammenhang zeigten. Wir müßten wirklich mal länger drüber sprechen, bei mir setzt es sich auch erst langsam alles … Versucht, mit Leuten, die Euch sowieso das Wort im Munde rumdrehen, nicht zu diskutieren und sucht dafür die selteneren aufrichtigen Diskussionen. – Nach meiner Ansicht läßt sich die Idee, nur das zu veröffentlichen, was im Verband besprochen worden ist, nicht halten. Sollen denn die Redaktionen überhaupt keine Verantwortung mehr haben?

Grüß Euch!5

1Kurt Kaulfuß zitiert in seinem Freiheit-Artikel vom 15. ‌1. ‌1963 einen Ausspruch von Ernst Machacek, dem damaligen Leiter der ideologischen Kommission der SED-Bezirksleitung Halle (vgl. Anm. 1 zu Brief 6).

2Am Nachmittag des 20. ‌1. ‌1963 findet in der Berliner Dynamo-Sporthalle im Rahmen des VI. SED-Parteitags eine Veranstaltung statt mit Konzert, Rezitationen, Artistik. Neben Ulbricht sind u. ‌a. auch Nikita Chruschtschow und Władysław Gomułka anwesend. Heinz Quermann nimmt in seiner Conférence Stephan Hermlins lyrische Unproduktivität aufs Korn und attackiert in scharfer Form einige Gedichte von Günter Kunert. Christa Wolf verteidigt die Kollegen in ihrem Brief an Quermann vom 23. ‌1. ‌1963 gegen dessen »ordinäre Verunglimpfungen« und »persönliche Diffamierungen« (in: Christa Wolf, Briefe 1952-2011, a. ‌a. ‌O., S. 73f.).

3Auf dem Parteitag werden einerseits Kursänderungen in der Wirtschaft in Richtung erhöhter Flexibilität und Eigenverantwortung beschlossen, um der ökonomischen Misere zu begegnen. Andererseits attackiert man missliebige Entwicklungen im Kulturbereich. Neben einzelnen Schriftstellern, darunter außer den Genannten etwa Peter Hacks, werden auch die Akademie der Künste und deren Literaturzeitschrift Sinn und Form unter ihrem Chefredakteur Peter Huchel getadelt (vgl. u. ‌a. Matthias Braun, Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, v. ‌a. S. 173-181, sowie Zwischen Diskussion und Disziplin, a. ‌a. ‌O., S. 212-235). Auf dem Parteitag wird Wolf zur Kandidatin des ZK der SED gewählt, die sie bis 1967 bleibt.

4Der Bruch zwischen China und der Sowjetunion zeichnet sich hier bereits ab.

5Der Brief wird vermutlich nicht abgeschickt. Sowohl das Originaltyposkript als auch der maschinenschriftliche Durchschlag befinden sich im Christa-Wolf-Archiv.

8 Rainer und Sarah Kirsch an Christa und Gerhard Wolf

Halle, am 13. März 1963

Liebe Christa, lieber Gerhard,

in Sarahs Kalender steht, Du (Christa) hättest am Montag Geburtstag; dazu gratulieren wir beide aus vollem Halse. Irgendwer sagte, Du hättest Lungenentzündung; das hat uns ein bißchen geschockt. Wenn wirklich, gute Besserung und gute Träume!

Hier geht so alles seinen Gang. Auf unserer Verbandstagung war es verhältnismäßig friedlich; Neutschs Referat1 war im Ganzen recht anständig, wenn auch etliches nicht stimmte, z. ‌B.: Gerhard hätte uns Kunert als einziges Vorbild hingestellt bzw. außer Kunert noch Celan und Bachmann oder so. Ich habe auch was dazu gesagt, bin auch nicht von meiner Meinung abgegangen. Und jetzt diskutieren wir möglichst gar nicht, besonders nach Nikitas Rede, nach der erst mal ein bißchen Zeit vergehen muß. Eigenartig, daß er grade den Jewtuschenko lobt, wo der sich in Westdeutschland doch wirklich dumm und mies aufgeführt hat, und ausgerechnet Babij Jar kritisiert. Dodekaphonie=Kakophonie ist auch schön, und Jazz von Dunajewski haben wir uns schon immer gewünscht.2

Mein Hörspiel ist kurz vorm Ende, Klaus Helbig kommt heute abend, und wir wollen es gemeinsam fertig machen. Wie es aussieht, soll es auch angenommen werden, was uns retten würde (finanziell). Wir haben jeder zwei Gedichte für die Kultur- und Fortschritt-Anthologie übertragen, ich eins von Mandelstam, der ein ganz großer Dichter ist und sich deshalb schwer übersetzen ließ.3 In den Februar- und Märzheften von Fröhlich sein und singen ist meine versifizierte Geschichte der Mathematik drin.4

Was sagt Ihr zu Ilberg im SONNTAG?5 Hätte ich ihm nie zugetraut. Die FDJ will sowohl in Berlin als auch in Halle neue Lyrik-Abende machen; vielleicht sehen wir uns dann in Berlin. Neulich haben wir in der evangelischen Akademie gelesen und diskutiert und die marxistische Ästhetik verteidigt. Und heute haben wir mit Freude gelesen, daß die Sektion Dichtkunst und Sprachpflege endlich einen würdigen Sekretär bekommen hat.6 Wenn mein Hörspiel fertig ist, mache ich den Kuba-Stoff als Theaterstück für's Kindertheater hier.7 Willi Sitte malt wie ein Berserker, ein Bild schöner als das andere. Sindermann und Machacek waren neulich bei ihm, und Sindermann fand das abgelehnte Jugend-Bild gut, und M. soll dafür sorgen, daß es an einem würdigen Platz aufgehängt wird.8 Na?!

Ihr guten Wölfe, lebt wohl und laßt es Euch gut gehen und ärgert euch nicht zu sehr und macht schöne Filme und schöne Literatur. (Übrigens haben wir gejubelt, als wir in Berlin das Plakat von der Lyriklesung sahen. Bloß hörten wir, Kunert wäre krank, und Kahlau fastete schon für die Blinddarmoperation, als wir da waren.) Bei Nahkes waren wir auch einen Abend, es war ganz hübsch, nur muß man sich erst immer an Nahkes Redeweise gewöhnen. Man muß bei ihm sozusagen intuitiv hinhören.

Wir hatte eine Menge Handwerker, die Küche hat einen neuen Fußboden (Beton), auf den noch PVC kommt. Unter mein Arbeitszimmer haben sie die Flaschenreinigungsmaschine eingebaut, so daß wir daraus geflohen sind und es zum Schlafzimmer degradiert haben. Da nun das frühere Schlafzimmer mein Zimmer wurde, mußte dort ein Ofen gesetzt werden. All dies brachte furchtbaren Dreck mit sich, und nun kommt auch noch der Tapezierer. Im Mai fahren wir an die See und hoffen, daß da gutes Wetter wird. Zum Literaturinstitut haben wir uns beworben.9

Auf meine »Linsenkette«10 sind bei FORUM und WOCHENPOST gräßliche Schmäh- und Schmutzgedichte eingegangen, unter anderem eins von einem Wächtler, der am Literaturinstitut studiert. Er schrieb im Begleitbrief ans FORUM: »Liebe Freunde …, ihr habt doch Hamur? \nicht verdruckt\ Oder muß ich das übersetzen?«

Nahke wollte, ich sollte mit einem Antispottvers erwidern, aber ich lasse es. Was soll man sich mit Schmierfinken einlassen.

So, habt einen schönen Geburtstag, um mit einem Anglizismus zu schließen, was daher rührt, daß ich den Iwan Denissowitsch jetzt in englischer Sprache lese (Sowjetliteratur 2).11 Gerhard soll mal vorbeikommen, wenn er beim Verlag ist.

Seid sehr gegrüßt

\\Euer Rainer\\

//und von mir auch. Wie ich von Cecho gehört hab, sind die Streifen noch in der Anthologie.12 Wollen wir es wagen? Mir ist es recht, aber wenn Gerhard deshalb Ärger bekäme – das würde sich wahrlich nicht lohnen. Vielleicht geht es noch auszutauschen? Ich schicke noch was mit, zu dem ich gern gelegentlich eine Meinung hören täte.

Wegen des Kohle-Gedichtes wurde ich wieder angeschossen (von Allert!!), wo denn das Heldentum sei.13

Mein Baggertrickfilm ist fertig gedreht, er ist sehr hübsch und von Rodenberg sehr gelobt worden. Als er im Vorspann meinen Namen las, hat er sich schnell das Szenarium geben lassen. Solche Erfolche erringen nur deutsche Molche!14

Laßt es Euch gut gehen, heult weiter.

Eure Sarah//

\\PS Übrigens hat sich der Allert ziemlich gräßlich aufgeführt auf der Verbands-Tagung, er erinnerte mich immer an irgendeine Kafka-Figur (aber nicht an K.)

Ich schicke zwei Leserbriefe mit, die ich vom Sonntag bekommen habe.15 Bitte wieder zurück! R.\\

1Der Schriftsteller Erik Neutsch ist bis 1965 Bezirksvorsitzender des Schriftstellerverbandes Halle.

2Die Rede Nikita S. Chruschtschows vom 8. ‌3. ‌1963 im Kreml vor Partei- und Regierungsmitgliedern und Künstlern ist in der Sonderbeilage zu Heft 4/1963 der Zeitschrift Sowjetwissenschaft. Kunst und Literatur. Zeitschrift für Fragen der Ästhetik und Kunsttheorie vollständig abgedruckt. Unter der Überschrift In hohem Ideengehalt und künstlerischer Meisterschaft liegt die Kraft der sowjetischen Literatur und Kunst fordert der sowjetische Parteiführer von Kunst und Literatur, die Menschen zum Kommunismus zu erziehen, und zieht scharf gegen »Abstraktionismus«, »Formalismus« und »andere bürgerliche Verirrungen« zu Felde. Den Lyriker Jewgenij Jewtuschenko betreffend äußert er aber »die Gewißheit, daß er im Stande sein wird, seine Schwankungen zu überwinden« (S. 22). Dieser war im Januar 1963 auf Lesereise in der Bundesrepublik, trat u. ‌a. in Hamburg und Tübingen mit überwältigendem Erfolg auf und wurde auch vom Bundesinnenminister empfangen. Sein Poem Babij Jar (1961; ins Deutsche übersetzt von Paul Celan) thematisiert das Massaker an der jüdischen Bevölkerung von Kiew im Jahr 1941. Von sowjetischer Seite wurde dem Autor vorgeworfen, seine Anklage nicht gegen die deutschen Faschisten, sondern gegen die eigenen Landsleute gerichtet zu haben, die sich mit den jüdischen Opfern nicht identifizierten. Die Zwölftonmusik (»Dodekaphonie«) disqualifiziert Chruschtschow als »Musik der Geräusche«, gleichzusetzen mit Kakophonie, die als »Müll« hinwegzufegen sei (S. 26). Nicht normal sei die aktuelle Begeisterung für Jazzmusik, darunter Musik, »von der einem schlecht« werde. Isaak O. Dunajewski dagegen habe »für Jazzorchester gute Musik schreiben« können (S. 26). Rainer Kirsch spielte Mitte der 1950er Jahre im Jazzclub Jena Klavier (vgl. Siegfried Schmidt-Joos, Die Stasi swingt nicht. Ein Jazzfan im Kalten Krieg, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2016, S. 324-327).

3Gemeint ist Sternenflug und Apfelblüte. Russische Lyrik von 1917 bis 1962 (hg. von Edel Mirowa-Florin und Fritz Mierau, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1963). Rainer Kirsch übertrug von Swetlana Jewsejewa Poeten ins Deutsche (S. 431), Sarah Kirsch Mitternachtstrolleybus von Bulat Okudshawa (S. 384) und Auf der französischen Ausstellung von Rimma Kasakowa (S. 416). Rainer Kirschs Übertragung von Ossip Mandelstams Gedicht Stanzen ist in der Anthologie nicht enthalten (vgl. Brief 11).

4Rainer Kirschs Ballade Wie die Mathematik in die Welt kam ist in den Heften 2 und 3/1963 der Kinderzeitschrift Fröhlich sein und singen abgedruckt.

5Der Schriftsteller Werner Ilberg repliziert mit seinem Beitrag Meinen Freunden, den jungen Genossen (in: Sonntag, 10/1963, S. 12) auf Rainer Kirschs Sonett Meinen Freunden, den alten Genossen, das auf der Akademie-Veranstaltung gelesen worden ist und stark kritisiert wurde. Ilberg fordert, keinen »Keil zwischen alt und jung« zu treiben.

6Nachfolger von Stephan Hermlin als Sekretär der Sektion für Dichtkunst und Sprachpflege in der Akademie der Künste ist Alfred Kurella (vgl. Anm. 1 zu Brief 4).

7Eine Theaterfassung von Rainer Kirschs Hörspiel Das Alphabet kommt in die Berge (1962), das von der Alphabetisierung der Bevölkerung in den kubanischen Bergprovinzen handelt, ist nicht belegt.

8Sittes Bild Sozialistische Jugend ist für die V. Deutsche Kunstausstellung in Dresden ausjuriert worden.

9Das Institut für Literatur »Johannes R. Becher«, 1955 in Leipzig gegründet und seit 1958 im Status einer Hochschule, bietet jungen Schreibenden die Möglichkeit, sich in ästhetischen, gesellschaftspolitischen, literatur- und kulturhistorischen wie handwerklichen Fragen künstlerisch weiterzuentwickeln. Stipendien sichern eine relativ gute Existenz. Trotz der vorherrschenden Lehre vom »sozialistischen Realismus« in der Kunst existieren auch kreative Freiräume. Eine prägende Gestalt für die Generation der Kirschs ist der Dichter Georg Maurer, der von 1955 bis 1970 die Lyrik-Seminare gibt.

10Rainer Kirsch hat sein Liebesgedicht Beobachtung von deinem Hals aus, das mit den Worten »Heute war ich eine Linse …« beginnt, in der Akademie-Veranstaltung vom 11. ‌12. ‌1962 gelesen. Die Zeitschriften Forum (3/1963) und Wochenpost (5/1963) drucken es, auch in der Anthologie Auftakt 63. Gedichte mit Publikum (Verlag Neues Leben, Berlin 1963) ist es enthalten.

11Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, in der russischen Originalsprache erstmals erschienen in der Zeitschrift Nowy Mir (November 1962), speist sich aus autobiografischen Erfahrungen mit dem sowjetischen System von Straf- und Arbeitslagern. Die Erzählung verbreitet sich in der kurzen »Tauwetterphase« unter Chruschtschow rasch international. Rainer Kirsch bezieht sich auf den Abdruck unter dem Titel One Day in Soviet Literature Monthly (2/1963, S. 3-95).

12Der Schriftstellerkollege Heinz Czechowski, Lektor Sarah Kirschs im Mitteldeutschen Verlag, weist offenbar auf die Anthologie Sonnenpferde und Astronauten hin, die Gerhard Wolf herausgibt (Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1964). Unter den neun Gedichten Sarah Kirschs darin ist Quergestreiftes nicht enthalten.

13Unter der Überschrift Kohlengedichte erscheint Sarah Kirschs Gedicht Panorama – neben je einem Gedicht von Heinz Czechowski und Joachim Rähmer – in der Freiheit vom 9. ‌2. ‌1963 (S. 10). Dietrich Allerts Äußerung auf einer Arbeitstagung des halleschen Schriftstellerverbands wird in der ZEIT (12/1963) wie folgt zitiert: »Wären wir aber alle völlig zu Haus in der Kohle, hätten wir einen besseren Blick für die darzustellenden Probleme bekommen. Daher sehen wir an einigen der Gedichte sehr deutlich, welchen Zeitverlust wir im Verband haben.« (Vgl. https://www.zeit.de/1963/12/noch-nicht-ganz-zu-haus-in-der-kohle, abgerufen am 30. ‌12. ‌2018.)

14Das DEFA-Studio für Trickfilme in Dresden produziert den Puppentrickfilm Vom Bagger, der nicht warten wollte, Buch und Regie: Katja Georgi, Szenarium: Sarah Kirsch. Der Vertrag vom 22. ‌2. ‌1961 über eine Skizze dazu lautet unter dem Alternativtitel Das Abenteuer des Schaufelbaggers auf Rainer und Sarah Kirsch (in: RKA 1170). Am 17. ‌1. ‌1964 wird der Film erstmals ausgestrahlt. Der Regisseur und Kulturfunktionär Hans Rodenberg ist 1963 stellvertretender Kulturminister der DDR.

15Im Nachlass Rainer Kirschs existieren sechs Leserbriefe (in: RKA 1044), die sich auf sein Gedicht Meinen Freunden, den alten Genossen und eine Diskussion mit Bernt von Kügelgen im Sonntag (7/1963) beziehen. Bis auf eine Ausnahme enthalten die Briefe nur Lob zu Aussage und Gestaltung des Gedichtes. Kügelgen hatte zuvor im Sonntag (1/1963, S. 2) unter der Überschrift Nach einem Abend die Lyrik-Lesung in der Akademie vom Dezember 1962 kommentiert und in Rainer Kirschs Gedicht und anderen gelesenen Texten ein »Mißbehagen an unserer Umwelt« festgestellt und kritisiert. Rainer Kirsch weist in einem offenen Brief Vom scheinbar nebensächlichen Streit zur prinzipiellen Frage die Kritik zurück; auf derselben Seite im Sonntag (7/1963, S. 5) sind Kirschs Gedicht und Kügelgens Replik Von Schwere und Glück abgedruckt.

9 Sarah Kirsch mit Rainer Kirsch und Klaus Helbig an Christa und Gerhard Wolf

[Halle (Saale), vor dem 10. ‌5. ‌1963]

//Liebe Wölfe,

einen schönen Gruß von uns, weil wir am 10., wenn Christa in Halle liest,1 nicht da sind, weil wir nämlich etwas Urlaub machen. Dies tun wir an der Ostsee, weil wir optimistisch veranlagt sind. Rainer und Klaus Helbig arbeiten Rainers Hörspiel um, es muß in 1,5 Stunden fertig und etwas entschärft sein. Sicherheitsventile wurden eingebaut und sie fluchen sehr.2

Laßt es Euch wohlergehen, bis wir uns mal wiedersehen, und dann auch noch.

Schöne Grüße also!

Eure Sarah+

Rainer+

Klaus.//

1Christa Wolf liest am 10. ‌5. ‌1963 im Kulturbundclub Halle aus Der geteilte Himmel (vgl. Anm. 1 zu Brief 11).

2Mit dem Dramaturgen Klaus Helbig arbeitet Rainer Kirsch an dem Hörspiel Berufung.

10 Rainer Kirsch mit Sarah Kirsch an Christa und Gerhard Wolf

\\Dierhagen-Ost, 18. Mai 1963

Liebe Wölfe,

wir sind hier an der Ostsee und sonnen uns und spielen Federball. Manchmal kaufen wir auch Zeitungen im Nachbarort, da haben wir Christa im Sonntag gelesen und sehr bejubelt.1 Schöne Glückwünsche, und heult weiter so gut! Uns wollten sie schon mal wieder nicht zum Literaturinstitut lassen, aber wir haben das Einsicht-in-die-Notwendigkeit-Spiel diesmal nicht mitgemacht. Ansonsten traure ich um mein schönes Hörspiel, das schon angenommen war, [von] [[den]] den lieben Vorgesetzten der Dramaturgie aber nicht zur Produktion freigegeben wurde. Wir schicken es mal zum Lesen, wenn wir wieder in Halle sind (ab 26.). Grüße und alles Gute

Eure Rainer3 +2 Sarah1\\2

1Ein Beitrag von oder über Christa Wolf im Sonntag vom 11. ‌5. ‌1963 (Nr. 19) ist nicht belegt. In anderen Medien wird ab dem 11. ‌5. über die Verleihung des Heinrich-Mann-Preises an Christa Wolf berichtet. In Nr. 20/1963 des Sonntag (19. ‌5. ‌1963, S. 1, 9) ist eine ausführliche positive Besprechung von Der geteilte Himmel durch Eduard Zak, Tragische Erlebnisse in optimistischer Sicht, abgedruckt.

2Die Vorderseite der Postkarte mit einem Ostsee-Motiv (Kunstmaler am Strand ‌), aufgenommen von Fritz Wegscheider, Ahrenshoop, hat Rainer Kirsch mit Randglossen versehen: »Die Staffelei aus Bitterfeld / Wird dicht am Leben aufgestellt. // Ist der Gegenstand gering / Dichtet man wie Zimmering. // Nur Seher kommen hier darauf / Wo Kunst fängt an, Natur hört auf. // So ist das, wenn der Mensch voll Kraft / Mit Farben Realismus schafft.«

11 Rainer Kirsch mit Sarah Kirsch an Christa und Gerhard Wolf

Halle, am 27. Mai 1963

Liebe Christa, lieber Gerhard,

schönen Dank für das Buch mit Widmung – wir haben uns gefreut. Lesen es jetzt, haben im Forum nur Teile gelesen, von denen wir äußerst angetan waren. (Das haben wir wohl schon gesagt.)1

Ich schicke Euch, wie angekündigt, mein Hörspiel. Die Dramaturgie hatte es angenommen, aber die Abteilungsleitung hat es nicht zur Produktion freigegeben. Ein paar Kleinigkeiten stimmen juristisch nicht (wirklich nur Kleinigkeiten, Formulierungen), und die Hanna ist auch nicht gelungen. Sonst, finde ich, ist es zwar keine große Kunst, aber ganz anständig. Schreibt mal, was Ihr denkt, wenn Ihr es gelesen habt.

Der Rundfunk (Abteilungsleitung) sagt, man hätte den Eindruck, daß ein Einzelner gegen eine gewaltige Maschinerie ankämpft; er setzt sich zwar durch – aber wer ist schon so bockbeinig und charakterfest wie Santner? Also würde das ganze negativ wirken, da sich keiner mit Santner identifizieren kann. Und überhaupt wäre das ganze viel zu wenig freundlich – man vergleiche doch den »Heiligabend« – da wäre auch Schärfe, aber so viel Freundlichkeit!2

Nun haben Klaus Helbig und ich das Spiel noch mal umgemodelt, aber die zweite Fassung, die auch produziert ist, schicke ich nicht mit. Ich habe sie gestern noch mal durchgelesen und bin nicht über die dritte Seite gekommen, weil sie furchtbar ist (die 2. Fassung) und mir der heiße Schweiß ausbrach; das ist nicht gelogen. Aus Santner ist ein suchender Bittsteller geworden, der sich vertrauensvoll an die Staatsanwältin wendet, und fast alle Stationen Santners (die Fußballerszene, die Szene mit dem Zimmermannsgesellen, die zweite Brigadierszene) bekommt jetzt die Staatsanwältin – damit man sieht, wie unsere Justiz auch arbeitet und das Recht sucht. Und Reichel gibt Santner Urlaub, und die Rentnerszene ist raus, und dann noch ein paar Kleinigkeiten.

Dabei ist die Fassung, die ich euch schicke, schon entschärft – das Delikt war nämlich anfänglich nicht Niederschlag, sondern versuchte Westflucht (aber kein Grenzdurchbruch oder so). Warum wir (Klaus und ich) nicht wie der Santner der ersten Fassung geblieben sind, sondern geändert haben, liegt darin begründet, daß sowohl Klaus als auch ich wahrscheinlich ziemlichen Kladderadatsch bekommen hätten, wenn die Sache geplatzt wäre. Und wenn man jetzt zu einem Hacks im Kleinformat gemacht wird, ist das wohl nicht gerade günstig.3 Das Ganze nennt der Philosoph eine objektive Antinomie, der Volksmund wie man's macht ist's falsch. Also, man braucht eben viel mehr Schläue, um die Wahrheit andeutungsweise sagen zu können.

So, nun habe ich Euch gesagt, wie gräßlich mir zu Mute ist. Laßt es Euch nicht verdrießen und lest mein opus, wenn Ihr Zeit habt.4

Vom 1. bis 13. September fahren wir noch mal nach Petzow, da werden wir vorbeikommen.

Am 6. Juni wird hier in Halle meine Oberschul-Kantate feierlich uraufgeführt.5

Ich hatte für die Kultur- und Fortschritt-Anthologie einen Mandelstam übersetzt, den haben sie wieder herausgenommen. Sie haben nämlich in Moskau (wirklich!) angefragt, ob man den Mandelstam drucken dürfe. Im Prinzip ja, haben die gesagt, er war sehr begabt, und wir bringen auch einen Band von ihm heraus, aber – er war zwar ein begabter russischer Dichter, aber einen sowjetischen Dichter kann man ihn nicht nennen. Also raus, aber in Zeitschriften darf ich das Gedicht veröffentlichen – selbst danach haben sie sich erkundigt. Daß Leute, die unter Stalin umgebracht worden sind, nun nicht einmal mehr Sowjetbürger sind, ist auch eine schöne Version. Ich schicke Euch meine Übersetzung auch mal mit.6

So, macht's gut. Wir sind schön braun geworden, alle staunen uns an, und auch der Geist hat sich erholt, und wir sind für die nächsten harten Schläge gewappnet. Zum Literaturinstitut sind wir nun offiziell angenommen.

Seid schön gegrüßt

//1. von Eurer Sarah//

\\2. von mir\\7

1Der Vorabdruck von Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel in der Zeitschrift Forum (47-51/52, 22. ‌11.-20. ‌12. ‌1962) findet ein riesiges Leserecho. Als Buch erscheint der Text 1963 im Mitteldeutschen Verlag, Halle (Saale), mit Illustrationen von Willi Sitte.

2Das Hörspiel Und das am Heiligabend nach einer tschechischen Vorlage von Vratislav Blažek ist in deutscher Bearbeitung vom Rundfunk der DDR produziert und am 24. ‌5. ‌1961 erstmals gesendet worden.

3Vielleicht spielt Rainer Kirsch auf Peter Hacks' Probleme nach der Aufführung seines Stückes Die Sorgen und die Macht (1962) am Deutschen Theater in Berlin an. Wegen scharfer Kritik der SED wird die Inszenierung im Januar 1963 abgesetzt, Hacks gibt seine Stellung als Dramaturg am Deutschen Theater auf, der Intendant Wolfgang Langhoff tritt zurück.

4Rainer Kirschs Hörspiel Berufung (Regie: Helmut Hellstorff) hat am 16. ‌6. ‌1963 im Rundfunk der DDR Premiere.

5Der Chor der Gerhart-Hauptmann-Oberschule Wernigerode bringt die Kantate Der Tag fängt morgens an (auch: Wir freun uns auf den Wind von morgen), getextet von Rainer Kirsch und komponiert von Rolf Lukowsky, zur Uraufführung.

6Vgl. Anm. 3 zu Brief 8 sowie die Korrespondenz Rainer Kirschs mit dem Verlag Kultur und Fortschritt (in: RKA 1115).

7Dem Brief liegt ein Artikel aus der Freiheit vom 11. ‌5. ‌1963 mit handschriftlichen Unterstreichungen bei: »Der Bezirksverband Halle des Deutschen Schriftstellerverbandes trat gestern zu seiner Jahreshauptversammlung zusammen. Im Rechenschaftsbericht wies der bisherige Vorsitzende, Dr. Friedrich Döppe, darauf hin, daß als wichtigste Aufgabe die Ueberwindung einer spürbaren Stagnation vor den Mitgliedern des Verbandes steht. Es genüge nicht, nur zwei hervorragende Werke wie ›Der geteilte Himmel‹ von Christa Wolf und ›Die Spur der Steine‹ von Erik Neutsch (noch nicht erschienen) herauszubringen. Der Bezirksverband müsse auf allen Gebieten beispielgebend für die anderen Bezirksverbände sein. Die Mitglieder des Verbandes wählten Erik Neutsch zum Vorsitzenden und Edith Bergner als Stellvertreter. Neuer Parteisekretär ist Joachim Rähmer.« Drei Tage später, am 14. ‌5. ‌1963, resümiert das gleiche Blatt unter der Überschrift Unsere Schriftsteller berieten, dass »im Schaffen einzelner Lyriker mangelnde Parteinahme und unkritische Uebernahme von Elementen aus der Lyrik des Westens spürbar« seien. Namentlich genannt werden in diesem Zusammenhang Rainer und Sarah Kirsch, Heinz Czechowski und Bernd Jentzsch.

12 Gerhard Wolf an Sarah und Rainer Kirsch

[Kleinmachnow,] \\3. ‌6. ‌63

Cherrys1!

Wir haben eure Kunstkampfgrüße von Ostsee und dem Saalestrand bekommen, vielen Dank. Der Mandelstamm ist wirklich gut (es erscheint übrigens eine Auswahl seiner Gedichte übers. von Celan),2 und die Sache mit dem Hörspiel wenig erfreulich, aber typisch für manche unsere Institutionen derzeit, das wird nicht anhalten, bei allem Pessimismus. Ich hab das Hörspiel nur angelesen und fands offen gesagt nicht gut und hörspielmäßig geschrieben, aber ich will nicht urteilen, bevor ichs durchhabe, aber Du solltest mehr mit der Form des Hörspiels arbeiten. Was macht ihr sonst? Ich mache euch den endgültigen Vorschlag, nächstes Jahr einen gemeinsamen Lyrikband herauszubringen, das wäre doch gut und dick genug würde er auch dann. Stellt doch bitte alles zusammen, was ihr habt, schon sauber getippt, zwei Durchschläge dazu, wenns geht! Ich bin sicher am 7. ‌7. in Halle, wenn Christa da matiniert,3 da können wir sicher sprechen. Ich möchte das Manuskript spätestens im Herbst abliefern, dass es im 1. Quartal 64 herauskommt. Es wird Zeit, daß ihr endlich einen Band habt. Wer soll illustrieren?4

Grüße bis dahin zunächst

\\Euer Gerhard

Übrigens das Holzhaus ist fertig, auch für einen Sonntag nur!5\\

1Handschriftlich ist das y, offenbar von Christa Wolf, verbessert zu »(ie)«.

2Erst 1975 erscheint ein Band mit Gedichten Ossip Mandelstams in der DDR, darunter auch solche in der Übertragung Paul Celans sowie Rainer Kirschs. Die Auswahl unter dem Titel Hufeisenfinder bei Reclam Leipzig besorgt Fritz Mierau.

3Zum Pressefest der SED-Zeitung Freiheit wird am 7. ‌7. ‌1963 eine literarisch-musikalische Matinee »Damit die Welt auch die unsere werde« veranstaltet.

4Der gemeinsame Gedichtband von Sarah und Rainer Kirsch Gespräch mit dem Saurier erscheint 1965 im Verlag Neues Leben mit Illustrationen von Ronald Paris. Weil ihr Vertrauensverhältnis zum Mitteldeutschen Verlag gestört ist, ziehen die Kirschs ihr Manuskript von dort ab (vgl. den Brief von Sarah und Rainer Kirsch an Heinz Sachs vom Mitteldeutschen Verlag, 11. ‌3. ‌1964, RKA 1766, sowie Akte im Bundesarchiv, SAPMO DR1/5013a).

5Gemeint ist ein Gartenhäuschen, das sich gegenüber dem Wohnhaus der Wolfs in der Förster-Funke-Allee 26 in Kleinmachnow befindet und fortan als Gästequartier dient.

13 Gerhard Wolf an Sarah und Rainer Kirsch

[Kleinmachnow, nach dem 26. ‌10. ‌1963]

Liebe Kirschen,

hier die Befürwortung gleich ins Haus, obs bei Briefen auch knackt?1 Wie bei Nüssen???? Ei, ei sagte das Eichhörnchen und stellte seinen buschigen Schwanz in die Höhe, der diesmal nicht quergestreift war! Es ist schon eine liebe Not.

Sobald ich Näheres über euer Opus höre, sage ich Bescheid, sonst wieder mal mündlich nach Möglichkeit, ihr wart wohl um den 25./26. ‌10. nicht da?2

Grüße

\\Gerhard\\

[13a]3

Gerhard Wolf

28. ‌9. ‌63

Gutachten zu dem Gedichtband von Sarah und Rainer Kirsch

Der Band faßt in einer Auswahl die besten Gedichte beider Autoren zusammen, die sie in den letzten Jahren geschrieben haben und durch die sie – meist auf den großen Lyrikforen – bereits bekannt wurden, nachdem wir sie mit ersten Gedichten in den Anthologien »Gedichte junger Menschen« vorgestellt hatten.4 Beide Lyriker haben eine eigene Sprache und Form gefunden und bereichern durch humorvolle, ironische und kritische Verse vor allem unsere neue Lyrik, durch schöne stimmungsvolle Liebesgedichte und Sinngedichte in Form von lyrischen Parabeln und Gleichnissen. Sie preisen, was es in unserem sozialistischen Leben zu preisen gibt, sie greifen kämpferisch mit ihren Mitteln in die große Diskussion ein, das zu verändern, was noch der Veränderung bedarf. Als ganzes kann man diesen Band als lebendige Demonstration zu vielen Passagen des Jugendkommuniques des Politbüros der SED betrachten und sollte es auch in der Anwendung so zu nutzen verstehen.5 Als geschlossenstes und auch von der Anlage her naturgemäß als umfassendstes Stück ist dabei die Kantate »Wir freuen uns auf den Wind von morgen« von Rainer Kirsch aufzufassen, die alle Seiten seines Talents entfaltet und vereint, was zuvor in einzelnen Gedichten nach dieser oder jener Richtung anklingt.

Sarah Kirschs Verse überraschen durch den eigenen humorvollen schelmischen Ton. Der graue Hintergrund einer Vergangenheit lebt nur noch in der Vorstellung, die man wachhält (Mond vor meinem Fenster, Der Saurier), um sich in der heiteren Gegenwart umso wohler zu fühlen (Schöner Morgen, Die Stadt, Sterne). In der ironischen Versfabel greift sie liebenswürdig auf, was sie durch heitere Satire überwinden will (Hierzulande, Känguruh und Laus), keineswegs von einer nur-kritischen Position, sondern sich selber in den Prozeß einbeziehend oder ihn in weiteren Versen schon aufhebend (Liebes Pferd). Hier hat sich ein wirkliches Talent entfaltet und nach einigen ziellosen Vorstößen, die es zeitweilig auch gab, eine eigene Ausdrucksweise gefunden, die der Haltung vieler junger Menschen wirklich entspricht, die ganz selbstverständlich bei uns leben, »und auch sonst nicht untätig« sind.

Noch weiter wird der Bereich unseres Lebens bei Rainer Kirsch abgesteckt. In dem großen programmatischen Gedicht »Polemik mit dem Saurier« wird der Grundakkord seiner Dichtung angeschlagen: Selbstverwirklichung des Menschen gegen die Entfremdung. Richteten sich ältere Gedichte, die hier noch einmal erscheinen, weil sie den Weg dieses Lyrikers besonders deutlich machen, gegen die Erscheinungen der Entfremdung in der Klassengesellschaft (Das jüngste Gericht, Weinen, Einigen Vätern), so schaltet er sich in anderen Gedichten in den Prozeß unserer Gesellschaft ein, mitzuhelfen, wendet sich gegen lebensfremde Theorien (Die Philosophen besteigen den Baum der Erkenntnis), dogmatische Lehrmethoden (Missionieren) und bringt eigentlich in zugespitzte Verse, was das Jugendkommunique in vielen Punkten als Ziel setzt, greift damit selbst in diese Auseinandersetzung ein. Dabei ist diese Polemik nicht einseitig, sondern richtet sich in gleicher Weise gegen bürgerliche Relikte in Handeln und Denken (Der sehr Weise, Gespräch). Um viele dieser Verse haben sich schon bei Lesungen fruchtbare Diskussionen entsponnen. Umstritten war besonders das Gedicht »Meinen Freunden, den alten Genossen«, zu dem der Autor selbst einen gutbegründeten Kommentar schrieb (den man ev. als Nachwort generell zu diesen Gedichten bringen kann) und der durch die deutlichen Aussagen des Kommuniques inzwischen bestätigt wurde. Um das Gedicht – das selbstverständlich nicht die vielseitigen Probleme seines Themas erfassen kann – vor allen Mißverständnissen zu schützen, hat der Autor auf Grund der Diskussion ein weiteres Gedicht »Meinen Feinden …« geschrieben, das allen klarmacht, wo er steht. Auch wird das Thema noch einmal in größerem Maße und damit gültiger in der Kantate aufgenommen und hier in einem größeren Zusammenhang behandelt, und was im einzelnen Sonett nicht zu erreichen war, im Zyklus vollendet, den man als ganzes wohl zu den gelungensten Zyklen des letzten Jahres zählen kann. Ein Gedichtband sollte auch zeigen, wie sich solche Prozesse beim Lyriker selbst abspielen, und die Beherzigung der Kritik durch Kirsch scheint dafür ein echter Beweis.

Gerade der Zusammenklang zweier, wenn auch verwandter, Begabungen ermöglicht diesem Band eine vielseitige Sprache und Versform, die beweist, wie die jüngere Generation unserer Lyrik auf dem Wege ist, sich in verschiedenen echten Talenten zu profilieren. Der Erfolg dieser Gedichte beim Publikum ist durch die zahlreichen Lyrikveranstaltungen, auf denen fast alle Gedichte schon zur Diskussion vor die Öffentlichkeit gebracht wurden, zudem schon erwiesen.

1Gerhard Wolf spielt hier wohl – sicher auch mit Blick auf die DDR-Verhältnisse – auf einen Abhörskandal in der BRD an, der am 6. ‌9. ‌1963 durch einen Artikel in der ZEIT, Sagte Höcherl die Wahrheit? – Der Verfassungsschutz bricht seit Jahren das Postgeheimnis öffentlich gemacht und breit diskutiert wird. Die DDR-Presse kommentiert die Affäre süffisant, u. ‌a. mit einem fiktiven Interview Hallo, Herr Minister, was knackt da in Ihrer Leitung? (in: Freiheit, 23. ‌10. ‌1963, S. 7).

2Seit dem 16. ‌9. ‌1963 studieren Sarah und Rainer Kirsch am Literaturinstitut Leipzig, sie wohnen aber weiter in Halle.

3Das Gutachten von Gerhard Wolf liegt nicht im Rainer-Kirsch-Archiv vor; im Gerhard-Wolf-Archiv ist ein Durchschlag erhalten.

4In Bekanntschaft mit uns selbst. Gedichte junger Menschen (hg. von Werner Bräunig und Gerhard Wolf, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1961) ist nur Rainer Kirsch vertreten, anders als im drei Jahre später erschienenen Sonnenpferde und Astronauten. Gedichte junger Menschen (hg. von Gerhard Wolf, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1964), das auch Gedichte von Sarah Kirsch enthält.

5Das Jugendkommuniqué ist vom Politbüro der SED am 21. ‌9. ‌1963 verabschiedet worden und leitet eine kurze Liberalisierungsphase in der Jugendpolitik der DDR ein.

14 Gerhard Wolf an Sarah und Rainer Kirsch

Kleinmachnow \\2. ‌4. ‌64

Liebe Freunde, \\(der Jugend und der Lyrik!)\\

Ich \\bin\\ aufgefordert für den DS eine Studio-Sdg. über unsere Lyrik zu machen, mit neuen Sachen. Nun sehe ich zu, obs überhaupt neues gibt. Da rechne ich auch auf euch und bitte, mir etwas zu schicken, so ihr habt, meinetwegen auch etwas direkt zum Pfingsttreffen, falls es sich sprechen läßt.1 Die Verlagsleute, die hier waren, bez. Rainer als »überheblich« – ich habe es bestritten – das könnt ihr doch auch vertreten, nicht? Übrigens, das Neue Ged. kommt wohl dieser Tage \\5. o. 6. ‌4.\\ im DS \\mit euren Versen\\, schaut mal nach, ich höre ja selten Rundfunk.2

Schickt mir also was Scheenes, spätestens zu Pfingsten werden wir uns ja wohl sehen. Unser Besuch im Westen war sehr interessant und brachte wesentliche Weltbildergänzungen, – es ist eben alles anders.3

Grüße und schickt

\\Euer Gerhard\\

1Diese Produktion unter dem Titel »So wenden wir die Welt um«. Eine Betrachtung zur jüngsten Lyrik von Gerhard Wolf wird am 17. ‌5. ‌1964 vom Deutschlandsender ausgestrahlt. Rezitiert werden Gedichte von Georg Maurer, Walter Werner, Hanns Cibulka, Günter Kunert, Heinz Kahlau, Wolf Biermann, Volker Braun, Bernd Jentzsch, Uwe Greßmann und Ingeborg Bachmann. Zum »Deutschlandtreffen der Jugend in der Hauptstadt der DDR« vom 16. bis 18. ‌5. ‌1964 steuern Sarah und Rainer Kirsch Texte für die Bildreportage Berlin – Sonnenseite von Thomas Billhardt bei (Verlag Neues Leben, Berlin 1964).

2In der Folge vom 5. ‌4. ‌1964 aus der Reihe »Das neue Gedicht« im Deutschlandsender werden die Gedichte Die Stadt und Dreistufige Drohung von Sarah Kirsch sowie Polemik mit dem Saurier und Kosmonautin 1963 von Rainer Kirsch gelesen.

3Vom 17. bis 22. ‌3. ‌1964 unternahmen Wolfs eine Reise in die Bundesrepublik, der Club Voltaire hatte Christa Wolf zu einer Lesung eingeladen. In Frankfurt a. ‌M. beobachteten sie eine Verhandlung des Auschwitz-Prozesses, nahmen am Ostermarsch teil und trafen sich mit Vertretern des SDS.

15 Rainer Kirsch an Gerhard Wolf

Halle, am 18. November 1964

Lieber Gerhard,

hier die Gedichte, wir haben uns geschafft und noch mal abgetippt.

Der Titel wird Dir wohl nicht sehr zusagen, ich fand keinen besseren, höchstens noch »Kleine Parabel über den Baum der Erkenntnis«. Widersinnige Arbeit ist eben die schwerste.

Wir grüßen Euch beide und werden uns Freitag von Sitte aus melden.

Vom Zyklus scheint mir auf jeden Fall »Empfang in meiner Heimatstadt« herauslösbar.1

\\Rainer\\

1Dieses Gedicht ist, als Teil des Zyklus Marktgang 1964, im Band Gespräch mit dem Saurier enthalten (S. 77-81; vgl. auch Anm. 4 zu Brief 12). Die ursprünglich vom Mitteldeutschen Verlag für 1964 angekündigte Auswahl wird in der Ausgabe beim Verlag Neues Leben noch stark erweitert.

16 Sarah Kirsch an Gerhard Wolf

[Halle (Saale),] //16. Jan. 66

Lieber Gerhard,

hier kommen Werke mit Autogrammen.1 Kann ich einen Kommentar bekommen, so einen richtigen strengen? Schöne Grüße für die ganze Familie + Christa gute Besserung. Ansonsten: »Uns hat der winter geschat überall …«2 Es grüßt also

Sarah3//

1Die Beilage ist nicht belegt; vermutlich handelt es sich um die Gedichte, die Gerhard Wolf im folgenden Brief aufführt.

2Sarah Kirsch zitiert aus dem gleichnamigen Gedicht von Walther von der Vogelweide.

3Neben ihren Namen zeichnet Sarah Kirsch eine kleine Katze.

17 Gerhard Wolf an Sarah Kirsch

[Kleinmachnow, Ende Januar 1966]

Liebe Sarah!

Du hast einen dicken Kuß verdient, laß ihn Dir von Rainer geben, wenns ihm nichts ausmacht. Wirklich, da sind Klassegedichte dabei! Und das sagt man nicht alle Tage. Das wiegt alle Völlereien der letzten Zeit auf (Völlerei ist meine freie Übersetzung eines lat. Wortes, das heute für bestimmte Anlässe gebraucht wird!)1 Also da ist – eigentlich fast aus Deiner Art geschlagen – »Lilja« ohne Kommentar gut, und mehr. Ich habe gezögert, ob man 13 und 14 umstellen sollte, aber das hast Du sicher vorher gerade gemacht und es ist vielleicht gut so. Völlig rund scheint mir weiterhin »Ausflug« und beide Ged. würde ich sofort für die Anth. nehmen, wenn sie überhaupt noch kommen sollte, was zur Zeit nicht so aussieht.2

Schneelied ist fertig (ein bißchen gelaskert), schön sind die Bobr[owski] gewidmeten Gedichte. Dann werden wir kein Feuer brauchen … ist mal eine wirklich schöne Zukunftsvision, bei der ich fast schade finde, daß sie hinten auf Paradies ausgehen sollte (Spiritual-Thema), was ja die Geschichte ein bißchen parodiert, warum? Sollte man nicht eine schönere, originellere Schlußzeile finden, die das Gegenteil von Paradies meint und ruhig das ganze Gedicht durchgehend in der Hochstimmung hält, die ja ohnehin ein Paradiestraum ist? Im »Bärenhäuter« verwendest Du die »Seide« noch einmal in einem ähnlichen Bild wie hier. Warum ist dieser »Bärenhäuter« so ernst am Ende, das bringt das Gedicht ein bißchen um, wenn da plötzlich todernst der Mond ins Herz springt? Das Hirtenlied wird mir am Schluß, wenns auf die Herde zu sprechen kommt, zu direkt, man sucht dann wirklich Bezüge und da fällt das Gedicht aus seinem Vergleich. Ich würde hier raten nach »… bleibe ich wach« einfach Schluß zu machen, man muß ja das Gedicht nicht sozusagen wie [eine] Rechenaufgabe durchführen mit den 4 Elementen! Vielleicht sollte man dann, wenn Dir das einleuchten sollte, die Zeilen des letzten Blocks anders brechen? Das Seestück lasse ich passieren, obgleich mir da fast zu viele Seiltänzereien vorkommen, Ahrenshooper Sommer ist natürlich ein Spaß böser Art, wobei der Vorgang nicht ganz exakt beschrieben ist (Du meinst z. ‌B. sicher, daß sie die Scheinwerfer aus der Leinwand wickeln in der 2. Strophe. Durch das Einrollen wird etwas anderes assoziiert). Sowohl den Herbst wie auch die Mohnkapsel \\Die Mohnkapsel gefällt Annette, sie wird eben 14!!! ‌\\ geben mir zu wenig, im Vergleich zu den anderen Gedichten, ich mache da keine Vorschläge, sicher sollte man von den Ideen davon mal irgendwas verwenden. Das Breughel-Bild schließlich bleibt mir fast zu sehr bei der Beschreibung, das kommt nicht richtig von der Leinwand los, obgleich mans nach den Anfangszeilen glaubt, irgendwie fehlt mir die »Zutat« von heute zu Breughel.

Ja, das sind fast nur positive Urteile, denn daß ein bißchen was auf der Strecke bleibt, ist schon mehr als normal. Ich würde Dir jetzt raten, alles schön zu sammeln und nichts mehr herauszulassen, wenn Du nicht gerade Geld brauchst, sondern einen schönen Band zu machen, den ich sich runden sehe, wenn man ein paar Sachen übernimmt und nochmal soviel dazu schreibt – Du scheinst im Zuge zu sein. Außerdem gibts ja auch einige Übertragungen, die genau in deine Intention passen, die man dazu geben sollte. Was meinst? Dann sollte man bei Schreck anklopfen.3 Aber wie gesagt, ich würde an Deiner Stelle nicht jetzt schon alles herauslassen, sondern die Leute dann ein bißchen überraschen, was Dir durchaus gelingen könnte.

Das also dazu. R. scheint ja mit seiner Confessio noch einigermaßen über die Runden gekommen zu sein,4 gottlob, sonst herrscht allg. Hysterie. Berndchens Anth. ist völlig geplatzt, und das ist wirklich schade.5 Was platzt jetzt nicht? Nun, meldet euch, wenn ihr in die Gegend kommt, oder ruft mich abends mal – klick – an, denn Christa ist schon eine Woche in Falkenstein im Sanatorium6 und ich glucke so dahin. Lese eben einen Mickel-Band7 und frage ob Gutachten nur dazu8

1Hier spielt Gerhard Wolf vermutlich auf den Begriff »Symposium« an, der in der Antike für »Gastmahl« stand.

2Gerhard Wolf arbeitet an einer Anthologie deutscher Lyrik seit 1945 in zwei Bänden – Ost und West –, angesiedelt bei Reclam Leipzig. Das Vorhaben unter dem Titel »Inventur« kommt nicht zustande. Eine Rekonstruktion der Sammlung legt im Jahr 2011 Bernd Jentzsch vor (Verbotenes Projekt: Inventur, Chidher Verlag, [Euskirchen]).

3Joachim Schreck betreut im Aufbau-Verlag die Lyrikproduktion. In seiner Zusammenstellung Saison für Lyrik. Neue Gedichte von 17 Autoren (Aufbau-Verlag, Berlin 1968) ist Sarah Kirsch mit zehn Gedichten vertreten. Der Herausgeber wird in der Folge entlassen (vgl. Anm. 3 zu Brief 49 und Carsten Wurm, Anthologien im Aufbau-Verlag 1945-1990, S. 37f., in: Günter Häntzschel (Hg.), Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien. Ein Symposium, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2005).

4Rainer Kirsch hat seine »Poetische Konfession«, die theoretische Abschlussarbeit am Literaturinstitut Leipzig Kunst und Verantwortung. Probleme des Schriftstellers in der DDR, vorab in der Schweizer Zeitschrift neutralität. kritische schweizer zeitschrift für politik und kultur (Nr. 11, Dez. 1965, S. 4-7) veröffentlicht. Während Georg Maurer und Werner Bräunig am Institut die Arbeit mit »Sehr gut« bewerten, lehnt eine Mehrheit der Lehrkräfte sie ab. Rainer Kirsch verlässt das Institut somit ohne Abschluss. Er und Sarah Kirsch haben sich darüber hinaus gegen die Relegation Helga M. Novaks gewandt, die 1965 wegen regimekritischer Texte und ihres Eintretens für Dieter Mucke vom Literaturinstitut verwiesen wird (vgl. den Brief der Kirschs an die Direktion und die Parteileitung des Literaturinstituts vom 21. ‌12. ‌1965, Durchschlag in: RKA 930). Wie Sarah Kirsch in einem Brief an Kurt Bartsch vom 11. ‌9. ‌1987 berichtet (in: AdK, Kurt-Bartsch-Archiv 206), habe sie damals die Annahme ihres Diploms aus Solidarität mit Rainer verweigert. Ihre »Poetische Konfession« Im Spiegel wird in Heft 6/2013 von Sinn und Form erstveröffentlicht.

5Vermutlich ist Bernd Jentzschs Projekt Das Wort Mensch gemeint. Die Anthologie erscheint in veränderter, zensierter Gestalt erst 1972 im Mitteldeutschen Verlag (vgl. die Dokumentation von Bernd Jentzsch, Akte Das Wort Mensch. Chronik einer Zerstörung, 4 Bde., Edition Gablenz, Euskirchen 2011).

6Christa Wolf hält sich vom 24. ‌1. bis 15. ‌2. ‌1966 in einer Klinik in Falkenstein/Vogtland auf. Nach den Aufregungen des 11. Plenums hat sie einen Herzanfall erlitten und absolviert eine Erholungskur (vgl. u. ‌a. Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, überarb. und erw. Neuausg., Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 189). Das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 geht wegen seiner sorgfältig inszenierten Angriffe gegen Künstler und Autoren als »Kahlschlag-Plenum« in die Geschichte ein (vgl. ausführlich: Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, hg. von Günter Agde, 2., erw. Auflage, Aufbau-Verlag, Berlin 2000).

71966 kommt Karl Mickels Gedichtband Vita nova mea heraus (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar).

8Der Originalbrief ist nicht erhalten; der Durchschlag bricht nach dieser Zeile ab.

18 Sarah Kirsch an Gerhard Wolf

Halle/Saale 7. ‌2. ‌66

Lieber Gerhard,

schönen Dank für Deinen Brief, den ich, da er mich lobte mit großem Vergnügen gelesen hab. Deine Vorschläge werde ich alle in meinem Herzen bewegen. Aber »Dann werden wir kein Feuer brauchen« hast Du entweder falsch verstanden oder ich hab nicht deutlich genug gemacht, daß es sich so verhält, daß »dann« die Zeit nach einem Atomkrieg ist, die schöne Zukunftsvision ist also das Gegenteil von sich selbst oder soll es wenigstens sein. Siehst Du Dir das Werk darauf hin noch einmal an?

Dein Vorschlag, die Gedichte jetzt zusammenzuhalten, ist richtig, nur hab ich gerade vorher einen Schwung an den Aufbau-Verlag geschickt, weil ich mir einbildete, in die »Neuen Texte« zu müssen.1