Maschinendämmerung - Thomas Rid - E-Book

Maschinendämmerung E-Book

Thomas Rid

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Beschreibung

Wir leben längst in der schönen neuen Cyberwelt. Das "Internet der Dinge" wird bald zum Alltag gehören, selbstfahrende Autos und Containerschiffe, Assistenzroboter oder permanentes Lifelogging stehen vor der Tür. Kontrollieren wir noch unsere Maschinen, oder kontrollieren sie längst uns? Wie kam es überhaupt dazu, dass Maschinen nicht mehr nur unsere Muskeln, sondern auch unser Gehirn ersetzen? In seiner spannenden Kulturgeschichte der Kybernetik schildert Thomas Rid, international renommierter Cyber-Experte, die Entwicklung intelligenter Maschinen von den Anfängen bis heute. Es begann mit militärischen Erfordernissen im Zweiten Weltkrieg, setzte sich fort im Wettrennen zur Eroberung des Weltraums und führte zur Entfaltung der virtuellen Welt des Cyberspace, zum Internet und zum zunehmend automatisierten Cyber War. Ohne Kenntnis dieser Geschichte, so Rid, lässt sich die spezifische Gestalt unserer heutigen Cyberwelt nicht verstehen. Die erste Kulturgeschichte der Cyberwelt, die nicht nur die technologische Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg in den Blick nimmt, sondern auch die Phantasien, die die Idee menschlicher Maschinen in der Literatur oder im Kino ausgelöst haben.

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Das Buch

Sind wir auf dem Weg in eine schöne neue Cyberwelt? Vernetzte Haushaltsgeräte und selbstfahrende Autos könnten bald so alltäglich sein wie permanentes Lifelogging und Maschinen, die unsere Gedanken lesen. Wie ist es eigentlich dazu gekommen?

Wie wurden Maschinen nicht nur Ersatz für unsere Muskelkraft, sondern ein unverzichtbarer Begleiter, dem wir sogar das Denken überlassen? Kontrollieren wir noch unsere Maschinen, oder kontrollieren sie längst uns?

In seiner spannenden Kulturgeschichte der Kybernetik schildert Thomas Rid, Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College, wie die wirkmächtigen Mythen entstanden sind, die seit den Siebzigerjahren die Entwicklung des Internets bestimmen.

Der Autor

Thomas Rid, aufgewachsen im württembergischen Aach, forscht und lehrt seit 2011 am Department of War Studies am King’s College London. Davor arbeitete er zehn Jahre in international führenden Think Tanks in Berlin, Paris, Washington und Jerusalem.

Thomas Rid

Maschinendämmerung

Eine kurze Geschichte der Kybernetik

Aus dem Englischenvon Michael Adrian

Propyläen

Die Originalausgabe erscheint 2016

unter dem Titel Rise of the Machines. A Cybernetic History

bei W. W. Norton & Company, New York.

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Für die freundliche Abdruckgenehmigung des von Michael Adrian ins Deutsche übertragenen Gedichts All Watched Over by Machines of Loving Grace von Richard Brautigan (© 1976 Richard Brautigan und 1995 Ianthe Brautigan Swenson) bedanken wir uns herzlich bei der Estate of Richard Brautigan.

ISBN 978-3-8437-1310-8

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Lektorat: Burkard Miltenberger

Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Umschlagmotiv: getty images / James Graham

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort

Was genau bedeutet »Cyber« eigentlich? Und woher kommt dieser seltsame Begriff?

Seit geraumer Zeit werde ich das immer wieder gefragt, von meinen Studentinnen und Studenten am King’s College in London, aber auch von »Cyber warfare«-Offizieren der amerikanischen Luftwaffe oder von Pentagon-Strategen und Kongressabgeordneten. Verschwiegene britische Spione zeigen sich genauso neugierig wie Bankangestellte, Hacker und Wissenschaftler. Sie alle beschäftigt der allgegenwärtige Siegeszug vernetzter Computer und die Frage, was dieser Wandel für unsere Sicherheit und Freiheit bedeutet. Und sie alle fügen das Präfix »Cyber« vor ein bereits bestehendes Wort, wie in »Cyberspace« oder »Cyberkrieg«, damit es technischer klingt, moderner, zeitgemäßer, dringlicher – und manchmal auch ironischer.

Ich hatte keine gute Antwort für sie parat, obwohl ich umfassend über Internetsicherheit – »Cybersecurity« – geschrieben habe. Das war frustrierend. Wie so viele andere konnte ich nur vage auf eine eigenartige Ursprungsgeschichte verweisen, nämlich die aus einem Science-Fiction-Roman von Mitte der achtziger Jahre, William Gibsons Neuromancer. Der Cyberspace war ein Produkt seiner lebhaften Phantasie, so hieß es, und Gibson habe anschließend die Zukunft in seine olivgrüne Reiseschreibmaschine gehämmert, eine Hermes Baujahr 1927. Für Gibson war dieser neue elektronische Raum in der Maschine so bedeutungslos wie suggestiv und damit ein perfekter Ersatz für den Weltraum als phantastische Projektionsfläche, auf der sich die Figuren seiner Romane tummeln konnten. Ihm ging es schlichtweg um eine unverbrauchte Bühne für seine Einbildungskraft. Diese Cyber-Ursprungsgeschichte wurde unzählige Male wiederholt, so wenig plausibel sie auch sein mochte. Eine der größten Sicherheitsbedrohungen des 21. Jahrhunderts wurde immer wieder auf eine erfundene Geschichte um einen Drogenabhängigen zurückgeführt, der sich in halluzinatorische Computernetzwerke flüchtet.

Konnte das stimmen? Das klang so, als hätte im Jahr 1984, als der Roman veröffentlicht wurde, eine Phantasterei das Schwungrad der Technikgeschichte in Gang gesetzt. Eine umfassendere Darstellung war vonnöten, die die kulturellen und technischen Entwicklungen aufzeigte, in die sich Gibsons Roman einfügte. Wie genau hatte der »Cyberspace« den Sprung von seiner einsamen Schreibmaschine ins futuristische und personell gut ausgestattete »Cyber Command« des Pentagons geschafft? 2010 wurde ein rasch wachsender Anteil der Tätigkeit der National Security Agency (NSA) – und ihres britischen Pendants, des Government Communications Headquarters (GCHQ) in Cheltenham – als »cyberbedingt« ausgewiesen, was immer das heißen mochte.

Dann kamen die großen Geheimdienstenthüllungen des Jahres 2013. Die öffentlich gewordenen technischen Fähigkeiten in den Händen von NSA und GCHQ empörten Datenschutzaktivisten und nicht wenige Verbündete – und lehrten einige der gefürchtetsten Nachrichtendienste der Welt Bescheidenheit; »die Leaks zeigten uns eine Kompetenzlücke auf«, wie mir ein chinesischer Geheimdienstoffizier in jenem Jahr in Peking erzählte. China hatte Nachholbedarf. Unterdessen kam es immer häufiger zu massiven Einbrüchen in Computernetzwerke, bei denen ausländische Spione und Kriminelle geistiges Eigentum und sensible persönliche Informationen in rauen Mengen abschöpften. 2015 lag der Umsatz des globalen Markts für Cyber- bzw. Netzsicherheit, auf dem Firmen oft bruchstückhafte Sicherheitslösungen anbieten, mit seinen zweistelligen Wachstumsraten erstmals über 75 Milliarden US-Dollar. Die neuen Bedrohungen werden für so unmittelbar und schwerwiegend gehalten, dass selbst in Zeiten wirtschaftlicher Knappheit und Sparpolitik die diesbezüglichen Haushaltsposten von Regierung und Militär nicht nur vor Einsparungen sicher waren, sondern rasch wuchsen.

Bei all dem blieb die wirkliche Geschichte einer der aufregendsten, teuersten und bedrohlichsten Ideen der Welt ein Rätsel. Woher also kommt »Cyber«? Was ist die Geschichte dieser Idee? Und was bedeutet das Wort eigentlich?

Ich fing an nachzuforschen. Maschinendämmerung ist das Ergebnis.

»Cyber« ist ein Chamäleon. Politiker in Washington denken bei dem Wort an Stromausfälle, die jederzeit ganze Städte ins Chaos stürzen könnten. Nachrichtendienstler in Maryland hingegen an Konflikt und Krieg – und an Daten, die von russischen Verbrechern und chinesischen Spionen gestohlen werden. Manager in der Londoner City verbinden damit massive Sicherheitsverletzungen, Banken, die finanziell bluten müssen, und Unternehmen, deren Ruf im Handumdrehen ruiniert sein kann. Für Erfinder in Tel Aviv beschwört es Visionen von Menschen herauf, die mit Maschinen verschmelzen, von verkabelten Prothesen mit empfindungsfähigen Fingerspitzen und von Silikonchips, die unter zarte menschliche Haut implantiert werden. Science-Fiction-Fans in Tokyo assoziieren es mit einer eskapistischen, aber retropunkigen Ästhetik, mit Sonnenbrillen, Lederjacken und abgenutzten, verschrammelten Geräten. Romantische Internetaktivisten in Boston sehen darin ein neues Reich der Freiheit, einen Raum jenseits der Kontrolle repressiver Regierungen und Polizeiapparate. Ingenieure in München assoziieren es mit stählerner Kontrolle und einem Fabrikbetrieb von der Computerkonsole aus. Alternde Hippies in San Francisco denken nostalgisch an Ganzheitlichkeit und Psychedelika, und wie sie ihre grauen Zellen »antörnten«. Und für die bildschirmsüchtige Jugend dazwischen bedeutet »Cyber« einfach Sex per Videochat. Das Wort verweigert sich der Festlegung auf Nomen oder Präfix. Seine Bedeutung ist genauso schwer zu fassen, schemenhaft und undeutlich. Worin auch immer sie besteht, sie ist immer in Bewegung, sie hat immer mit der Zukunft zu tun und ist zugleich immer schon Vergangenheit.

Dieses Buch erzählt die faszinierende Geschichte einer der folgenschwersten und zentralsten Ideen des 20. Jahrhunderts, einer Idee, deren Vermächtnis mit dem Voranschreiten des 21. Jahrhunderts sogar noch gewichtiger werden dürfte: der Kybernetik. Die Kybernetik war eine allgemeine Theorie der Maschinen, eine eigentümliche wissenschaftliche Disziplin der Nachkriegszeit, die sich darum bemühte, den raschen Einzug des computerisierten Fortschritts zu bewältigen. Von ihrer Geburtsstunde in den vierziger Jahren an drehte sie sich um Computer, Steuerung, Sicherheit und die permanente Weiterentwicklung der Interaktion von Mensch und Maschine.

Als ein entscheidender Moment erweist sich der Zweite Weltkrieg – insbesondere das Luftabwehrproblem, das im Zuge dieser gewaltigen Konfrontation auftauchte. Um die tödlichen neuen Bomber abzuschießen, war die bodengestützte Flugabwehr auf komplexe ballistische Berechnungen angewiesen, die schneller und präziser durchgeführt werden mussten, als menschliche »Rechner« das leisten oder auch nur von den vorab erstellten Schusstafeln ablesen konnten. Man musste also Maschinen für diesen Zweck erfinden. Und bald begannen »mechanische Gehirne« zu »denken«, wie es in der überheblichen Sprache der Zeit hieß. Der Aufstieg der Maschinen hatte begonnen.

Inmitten dieses Geschehens trug sich eine merkwürdige Begebenheit auf dem ausgedehnten Campus des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu. Norbert Wiener, ein exzentrischer Mathematiker, las von Haubitzen und Granaten und war beschwingt: Die Vorstellung, mit Hilfe von ratternden Computern in den blauen Himmel zu schießen, gefiel dem behäbigen Professor. Nach dem Krieg bediente er sich bei Elektroingenieuren und Waffenkonstrukteuren mit einem Wust von Ideen, entwirrte ihn, verpackte ihn neu und warf die so entstandene Theorie mit großzügiger Geste einem begierigen Publikum vor die Füße wie Süßigkeiten einer Horde hungriger Kinder.

Der Zeitpunkt war perfekt gewählt. Am Ende des Jahrzehnts hielten die technologischen Wunder, die aus den Kriegsanstrengungen hervorgegangen waren, nach und nach in Industrie und Privathaushalten Einzug. Jemand musste die neuen Apparaturen und ihre Bestimmung erklären. Dies war die Stunde der Kybernetik, der kühnen Theorie zukünftiger Maschinen und ihres Potentials. Wiener und seine begeisterten Gefolgsleute sollten die Maschine verzaubern; von ihrer eigenen Theorie verführt, statteten sie sie mit Geist und einer Anziehungskraft aus, die ans Kultische grenzte. Ingenieure, Militärplaner, Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Aktivisten begannen, ihre Hoffnungen und ihre Befürchtungen auf die neuen Denkmaschinen zu richten.

Der Aufstieg der Maschinen nach dem Krieg spannt einen weiten Bogen, dessen wichtigste Verankerung die Veröffentlichung von Wieners epochemachendem Buch Kybernetik in den späten vierziger Jahren darstellte. Der flapsige Gelehrte mit dicker Hornbrille und Tweedjacke offenbarte die Magie von Rückkopplungsschleifen, von Maschinen, die ihr Verhalten selbst anpassen und die lernen konnten. Von nun an hatten Automaten ein Ziel und konnten sich sogar selbst reproduzieren, zumindest theoretisch. Die Maschine wirkte plötzlich sehr lebendig.

Hieran knüpft sich eine bemerkenswerte Geschichte: Die angesagte neue Disziplin verwandelte im Lauf des nächsten halben Jahrhunderts sogar den Computer selbst – aus Maschinen der gegenseitig zugesicherten Vernichtung des Kalten Krieges wurden »Maschinen voller Liebe und Güte«, wie es in einem berühmten Gedicht hieß. Ab den späten vierziger Jahren zogen kybernetische, sich selbst anpassende Systeme vom Scharlatan bis zum Waffenkonstrukteur jeden in ihren Bann – von der Scientology-Kirche bis hin zur Boeing Corporation, die sich für den Kalten Krieg rüstete. Die Kybernetik versprach, ungelenkte Raketen in ihr Ziel und verwirrte Seelen zur Selbstfindung zu geleiten. Zu Beginn der sechziger Jahre legte sie die Konstruktion von »Exoskeletten« zum Beladen von Atombombern nahe, stiftete aber genauso tiefe Verbindungen zwischen ganzheitlichen Hippies. Sie erhöhte die Abschussraten von Jagdfliegern in Vietnam und »törnte« gleichzeitig San Franciscos Gegenkultur elektronisch an.

Um 1980 öffnete sich ein kybernetischer Raum innerhalb der Maschine, der mythische Ort einer freieren und besseren Gesellschaft – und zugleich eine Zone erbitterter Kämpfe und vermeintlicher Kriege. Diese verflochtene kybernetische Geschichte bestimmt maßgeblich, was wir im 21. Jahrhundert von Technologie, Sicherheit und Freiheit erwarten. Letztlich sollte die – heute oft zu »Cyber« verkürzte – Kybernetik ihrerseits genau die Züge jener mythischen Maschinen annehmen, die sie seit Mitte des Jahrhunderts vorhergesagt hatte: Die kybernetische Idee war selbstanpassend, von ständig wachsender Breite und Reichweite, unkalkulierbar und bedrohlich, zugleich aber verführerisch, voller Versprechen und Hoffnungen sowie stets auf der Flucht in die Zukunft.

Maschinendämmerung ist mein Versuch, sieben verschiedene historische Entwicklungsstränge der Kybernetik in hoher Auflösung darzustellen. Die Hauptstränge dieser Geschichte konzentrieren sich jeweils in einem bestimmten Jahrzehnt, die Kapitel sind daher chronologisch angeordnet, wobei sich die Fragestellungen überschneiden können: Die Themen des Buches sind breit gefächert und reichen von autonomen Robotern, Exoskeletten und Walking Trucks bis zu Virtuelle-Realität-Brillen und Remailers.

Ein Wort zur deutschen Begrifflichkeit: Die Kybernetik war zuerst eine vor allem amerikanisch und britisch inspirierte Disziplin, die sich schließlich international verbreitet hatte. Wieners Wortschöpfung lautet im Original cybernetics. Seit den frühen fünfziger Jahren haben Autoren und Kommentatoren dieses etwas sperrige Wort immer wieder spielerisch zu cyber verkürzt. Im Englischen gestaltete sich der Übergang von cybernetics zu cyber historisch, konzeptuell sowie ästhetisch immer etwas eleganter als im Deutschen. Der Leser sei also auf den Übersetzungseffekt hingewiesen: Was im Englischen als weicher, geschichtlicher Überblendungseffekt erscheint, der sich über drei Jahrzehnte zieht, tritt im Deutschen stets mit übersteigerter Schärfe hervor.

Da die Geschichte der kybernetischen Mythen den Schwerpunkt des Buches bildet, sind einige Bemerkungen zu dieser mythischen Dimension angebracht. Kybernetische Mythen sind tief in in unserem kollektiven Gedächtnis verankert; sie formen unser Verständnis von Technologien auf Schritt und Tritt, auch wenn wir uns dieses Palimpsestes, dieses tiefen und verborgenen Vermächtnisses der Kybernetikgeschichte nicht bewusst sind. Anders als im alltäglichen Gebrauch – wie er sich auch in einer prominenten Tradition der politischen Theorie formuliert findet1 – ist die Rede vom Mythos hier nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass ein faktischer Irrtum vorliegen muss. Mythen widersprechen den Tatsachen nicht, sie ergänzen sie. Die Feststellung, dass etwas als Mythos fungiert, bedeutet nicht, dass es sich »nur« um einen Mythos handelt, im Gegenteil. Politische und technische Mythen sind höchst relevant und haben enorme Auswirkungen. Ein Mythos stellt sich der nackten Tatsache nicht entgegen, vielmehr kleidet er sie, verleiht ihr in gewisser Weise eine zusätzliche Größe und erst dadurch Verführungskraft – in dreierlei Hinsicht.

Erstens greifen Mythen über die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Grenzen von Tatsachen, Erfahrungen und Technologien hinaus. Der Aufstieg der Maschinen wurde immer in die Zukunft projiziert, nicht in die Gegenwart oder Vergangenheit. Empirische Beweise waren stets Mangelware. Das Versprechen der Kybernetik war natürlich weder richtig noch falsch. Keine Version der Zukunft ist falsch oder wahr, bis die vorhergesagte Zukunft – oder ein schwacher Abglanz von ihr – tatsächlich eingetreten ist. Um sich den kybernetischen Erzählungen zu verschreiben, brauchten ihre Anhänger mehr als empirische Beweise: Sie mussten an sie glauben. Der Mythos half ihnen dabei. Von Natur aus ungewiss, camoufliert mit der selbstsicheren Sprache von Wissenschaft und Technik, verschwamm die Grenze zwischen Wissenschaft und Kult im Lauf der Jahrzehnte immer wieder – auf so subtile wie verführerische Weise.

So mächtig war der Mythos, dass ihm seine eigenen Schöpfer immer wieder verfielen. Technologische Mythen haben die Form eines festen Versprechens: Der Cyborg wird gebaut werden; wir werden Maschinen mit übermenschlicher Intelligenz erfinden; der Cyberspace wird frei sein. Der Mythos ist nur im Ansatz durch Tatsachen bestimmt, und doch gibt er sich sicher und unumstößlich. Er tritt auf wie ein empirischer Beweis. Der technologische Mythos ist Glaube im Gewand der Wissenschaft.

Zweitens bestechen kybernetische Mythen nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Form. Die Grundlage des Mythos scheint eine ganz auf Erfahrung beruhende, unschuldige und unbezweifelbare Realität zu sein: Computer werden immer schneller, Maschinen immer vernetzter, Verschlüsselungstechniken immer stärker. Zugleich aber macht der Mythos einen Sprung und konstruiert eine Bedeutung von ganz eigentümlicher und stets emotionaler Form. Solche Mythen sind deshalb schlüssig, weil sie an tiefe Überzeugungen, Hoffnungen und oft auch Ängste appellieren, die wir mit der Zukunft der Technologie und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft verbinden.

Diese Überzeugungen sind durch Visionen und Projektionen geprägt, durch Kultur, Kunst, Literatur, Science-Fiction, Theaterstücke, Filme und Geschichten. Doch bedient sich der Mythos gerne stillschweigend bei literarischen Quellen, ohne diesen kulturellen Trick offenzulegen. So bezog beispielsweise die amerikanische Diskussion über die nationale Sicherheit in den neunziger Jahren ihre Inspiration aus Science-Fiction-Romanen. Manchmal waren es sogar die nüchternen Experten selbst, die Romane verfassten, um dystopische Visionen zukünftiger Konflikte frei von der unerträglichen Bürde der Tatsachen auszubuchstabieren. Die Kryptoaktivisten der neunziger Jahre, eine Bewegung glühender und einflussreicher Eiferer, die die mannigfaltigen Segnungen einer Verbreitung von Verschlüsselungstechniken anpriesen, empfahlen ungeniert Science-Fiction-Geschichten als »Quellen« und wichtigste Inspiration für die anzustrebende Anarchie im »Cyberspace«.

Das dritte und entscheidendste Merkmal kybernetischer Mythen besteht darin, dass sie die Gegenwart überschreiten. Mythische Erzählungen schlagen für gewöhnlich einen Pfad von der Vergangenheit in die Zukunft, um die geteilten Erfahrungen einer Gemeinschaft in lebendiger Erinnerung zu behalten. Politische und historische Mythen wie etwa die der deutschen Luftangriffe auf die Londoner City während des »Blitzes« sind vor allem fest in der Vergangenheit verankert. Der politische Mythos zieht eine klare Linie von einem vergangenen Ereignis in die Zukunft und versteht die Gegenwart als einen Punkt auf dieser Linie. Er bildet das Bindegewebe der zeitübergreifenden Identität einer Gemeinschaft. Der Mythos vom »Blitz« etwa wird immer wieder in Gottesdiensten in der St.-Pauls-Kathedrale und jährlichen Flugparaden über der Stadt heraufbeschworen.

Für kybernetische Mythen gilt das Gegenteil: Sie sind fest in der Zukunft verankert, oder genauer, in einer geteilten, aber vagen Vorstellung von dieser Zukunft – die nicht zu nah und nicht zu fern sein darf. Der goldene Zeitabstand scheint bei rund zwanzig Jahren in der Zukunft zu liegen, was nahe genug ist, um das Künftige von der Vergangenheit abzuleiten, und gleichzeitig fern genug, um kühne neue Zukunftsvisionen zuzulassen. Das Resultat ist nicht weniger effektiv als beim politisch-historischen Mythos. Der technologische Mythos zieht eine klare Linie aus der Zukunft in die Vergangenheit und versteht die Gegenwart als einen Punkt auf dieser Linie.

Der Mythos der Kybernetik erzeugte stets die wirkmächtige Illusion, die Zukunft ließe sich voraussagen. Glaubt mir, sagt der Mythos, so wird die Zukunft aussehen. Dies ist keine Fiktion oder Wahrsagerei, sondern eine schlichte Tatsache, die nur noch nicht eingetreten ist. Um sich einen technologischen Mythos als effektiven und gangbaren Weg in die Zukunft zu bewahren, muss das mythische Versprechen immer wieder erneuert werden, so dass es seine spirituelle Überzeugungskraft aufbaut und bewahrt. Es erfordert »Arbeit am Mythos«, wie der Philosoph Hans Blumenberg in seinem gleichnamigen Buch so treffend bemerkte.2

An diesem Punkt setzt Maschinendämmerung an. Jener mythische Pfad in die Zukunft kann schnurgerade sein und klar markiert wirken, oder er kann verworren sein, sich zurückwenden, statt weiter voranzuführen, und auf Hindernisse stoßen, die bereits überwunden waren. Kurz gesagt: Die Arbeit am Mythos kann Irrtümer der Vergangenheit wiederholen oder überwinden. Sie kann vernebeln oder erhellen, rückschrittlich oder fortschrittlich sein, eine Falle oder ein Ausweg. Dieses Buch versteht sich als Arbeit am Mythos.

Thomas Rid, London,im Februar 2016

Der Aufstieg der Maschinen

Noch einmal das Gepäck überprüfen. Endlose Wege im Flughafen zurücklegen. Den Ausweis griffbereit halten. Schlange stehen an der Sicherheitsschleuse, dann Schuhe und Gürtel ausziehen. Warten am Gate. Schließlich das Ritual des Boardings: Gruppe 3. Sitz 37B. Den Rollkoffer ins Gepäckfach hieven. Gedränge, die Luft ist stickig, die Sitze sind zu schmal, die Bildschirme fürs Bordfernsehen zu klein. Die Chromschnalle des Sicherheitsgurts rastet ein und mit dem metallischen Klick schießt einem der scharfe Gedanke in den Kopf: Sobald sich die Räder von der Startbahn lösen, wird das eigene Leben für die nächsten acht Stunden von dieser Maschine abhängen. Von ihren Motoren, ihrem Rumpf, ihren Rudern und Klappen, ihren Instrumenten, ihrer Luftzufuhr, ihrem Navigationssystem, ihrem Fahrgestell, ihren Computern samt Software und weiß Gott was noch allem. Man ruft sich in Erinnerung, dass Fliegen statistisch gesehen sicherer ist, als über die Straße zu gehen. Doch es bleibt eine nervenaufreibende Tatsache: Man hat soeben sein Leben, das einzige, das man hat, einer mit Elektronik vollgestopften Black Box anvertraut, die in einer Höhe von 10000 Metern durch Luft fliegt, die man nicht atmen könnte, und dabei eine Strecke von 3000 Kilometern über todbringendem offenen Wasser zurücklegt. Und nichts daran ist mehr zu ändern.

Im Laufe der nächsten acht Stunden vergisst man dieses Unbehagen, während man sich von einem seichten Film berieseln lässt. Wenn das Flugzeug schließlich auf der Landebahn aufsetzt und mit einem kräftigen Ruck das Bremsmanöver einleitet, fühlt man sich für einen Moment daran erinnert, dass man – endlich – das Geschehen fast wieder unter Kontrolle hat. Während die Maschine zum Gate rollt, holen die Passagiere, wie zur Feier des Augenblicks, ihre Handys heraus. Man schaltet den Flugzeugmodus aus und wartet auf das vertraute Symbol des Mobilfunkbetreibers. Sobald das Handy Empfang hat, gehen ein paar Benachrichtigungen ein. Ein verpasster Anruf. Eine Kurznachricht von einem geliebten Menschen. E-Mails. Spam wegwischen. Ein kurzer Blick in ein soziales Netzwerk. Bevor man auch nur aus dem Flugzeug ausgestiegen ist, weiß man schon, dass die Person, die einen abholt, mit ein paar Minuten Verspätung eintreffen dürfte. Man weiß, was der eigene Freundeskreis so getrieben hat und was die Kollegen gelesen haben, während man selbst über Grönland schwebte.

Maschinen verkörpern Kontrolle. Maschinen verhelfen Menschen zu mehr Kontrolle: Kontrolle über ihre Umwelt, Kontrolle über ihr eigenes Leben, Kontrolle über andere. Um durch Maschinen Kontrolle zu erlangen, müssen wir diese freilich an die Maschinen abgeben. Das Werkzeug zu nutzen heißt, dem Werkzeug zu vertrauen. Und immer leistungsfähigere, immer kleinere, immer stärker vernetzte Computer haben unseren Instrumenten zu immer mehr Autonomie verholfen. Wir verlassen uns auf das Gerät, das Flugzeug wie das Smartphone, und vertrauen ihm unsere Sicherheit und unsere Privatsphäre an. Die Belohnung: Ein Apparat fungiert als Erweiterung unserer Muskeln, unserer Augen und Ohren, unserer Stimmen und Gehirne.

Maschinen verkörpern Kommunikation. Ein Pilot muss mit dem Flugzeug kommunizieren, um es fliegen zu können. Aber auch das Fluggerät muss mit dem Piloten kommunizieren, um geflogen werden zu können. Zusammen bilden sie eine Einheit: Der Pilot kann nicht ohne Flugzeug, das Flugzeug nicht ohne Piloten fliegen. Doch handelt es sich dabei nicht mehr um isolierte Gebilde aus Mensch und Maschine. Die Beschränkung darauf, dass ein Mensch und eine Maschine mechanisch durch Steuerknüppel, Gashebel und Messinstrumente verbunden sind, gibt es nicht mehr. Vielmehr enthalten die Maschinen einen – oder viele – Computer und sind mit anderen Maschinen in einem Netzwerk verbunden. Das bedeutet, dass viele Menschen mit vielen und durch viele Maschinen zusammenwirken. Das Bindegewebe ganzer Gemeinschaften ist mittlerweile technisiert. Apparaturen sind nicht bloß mechanische Erweiterungen unserer Muskeln und Gehirne, sie sind Erweiterungen unserer Beziehungen zu anderen, zu unseren Familien, Freunden, Kollegen und Landsleuten. Die Technik spiegelt diese Beziehungen wider und prägt sie zugleich.

Kontrolle und Kommunikation begannen sich im Zweiten Weltkrieg grundlegend zu verändern. Damals kam ein Begriff auf, um diesen tiefgreifenden Technikwandel zu erfassen: Die Kybernetik. Norbert Wiener, ein notorisch exzentrischer Mathematiker am MIT, prägte den Begriff, ausgehend von dem griechischen Verb κυβερνώ (kyvernó), das steuern, lotsen oder herrschen bedeutet.1Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine,2 Wieners bahnbrechendes Buch, erschien im Herbst 1948. Das Werk wartete mit allerhand tollkühnen Prophezeiungen über Maschinen auf, die sich selbst anzupassen verstünden, die denken und lernen und irgendwann klüger sein würden als »der Mensch«. Respekteinflößende mathematische Formeln und ein imponierender technischer Jargon verliehen Wieners wagemutiger Analyse eine unwiderstehliche Glaubwürdigkeit. Zur Überraschung seiner Verleger wurde das Werk ein Bestseller. »Alle Jubeljahre einmal erscheint ein wissenschaftliches Buch, das in einem Dutzend verschiedener Wissenschaften sämtliche Glocken läuten lässt«, hieß es im Dezember jenes Jahres in einer enthusiastischen Besprechung im Time-Magazin.3 Die Zeitschrift brachte später sogar eine Titelgeschichte über die »ungeheuer aufregende« neue Disziplin, die mit der Karikatur eines als Marineoffizier verkleideten Mark-III-Computers illustriert war: »The Thinking Machine«.4

Die Öffentlichkeit feierte Wiener als den Propheten einer zweiten industriellen Revolution. In der ersten hatten Motoren und Fertigungsmaschinen die menschlichen Muskeln ersetzt; jetzt, in der zweiten Revolution, würden Steuer- und Kontrollmechanismen die menschlichen Gehirne ersetzen, schwärmte Time: »Sie schlafen nie und sind auch nie krank, betrunken oder müde. Wenn solche Mechanismen fachgerecht konstruiert werden, begehen sie keine Fehler.« Wiener sollte in seinen eigenen Schriften zu ähnlich hochfliegenden Vergleichen greifen. Sowie die Menschen bessere Rechenmaschinen konstruieren würden, erklärte er, und ihre eigenen Gehirne besser verstünden, würden sich beide immer ähnlicher werden. Das Magazin verhehlte auch nicht den Pessimismus des MIT-Professors angesichts des heraufziehenden kybernetischen Zeitalters: »Der Mensch, glaubt er, erschafft sich neu, in monströser Vergrößerung und nach seinem eigenen Bilde.«5

Wiener hatte einen außergewöhnlichen Strauß von Ideen, die zutiefst praktisch und zutiefst philosophisch zugleich waren. Es war kein Zufall, dass die neue Disziplin im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen der vierziger Jahre aufkam: Die Geschwindigkeit des Kampfgeschehens beschleunigte sich im Zweiten Weltkrieg vor allem im Bereich der Luftwaffe dramatisch. Bomber und Kampfflugzeuge abzuschießen erforderte schnellere und komplexere ballistische Berechnungen, schnelleres und gezielteres Artilleriefeuer sowie eine schnellere und immer ausgedehntere Kommunikationstechnik. Der Krieg wurde zum Vater einer Palette an Innovationen, die die Beziehung von Menschen zu Maschinen, insbesondere zu Computern, für immer verändern sollten.

Die Kybernetik entstand in Reaktion auf diese Neuerungen. Eine immer größer werdende Schar von Wissenschaftlern entwickelte schon bald eine »allgemeine Maschinentheorie« – nicht nur eine Theorie der Maschinen, die es bereits gab, sondern eine Theorie aller Maschinen, einschließlich derer, die noch gar nicht erfunden worden waren.

Maschinen verkörpern auch die Zukunft. Und die Kybernetik war, gestählt durch den Krieg, das Instrument, mit dessen Hilfe eine Zukunft immer intelligenterer Automaten entworfen und vorhergesagt werden konnte. Zwei gegensätzliche Kräfte prägten die Diskussion über die kybernetischen Prophezeiungen. Die erste war geleitet von der Hoffnung auf eine bessere und friedlichere Welt, auf humanere Arbeitsbedingungen, auf unterhaltsamere Spiele, auf eine unabhängigere Politik und auf weniger blutige Kriege. Denkende Maschinen brachten Fortschritt, in jenem damals anschwellenden, zutiefst modernistischen Zukunftsglauben.

Aber auch eine entgegengesetzte Kraft prägte die kybernetischen Visionen des kommenden technologischen Wandels: die Angst vor einer Welt voller Roboter, die die Arbeiter um ihre Erwerbsquelle bringen, vor intelligenten Maschinen, die sich gegen ihre menschlichen Erschaffer auflehnen, vor lebenswichtigen Systemen, die zusammenbrechen, vor Massenüberwachung und dem Verlust der Privatsphäre, vor einem mechanisierten Rückschritt. Ein im Grunde modernistisches Spannungsverhältnis begann sich abzuzeichnen zwischen Optimismus und Pessimismus, Befreiung und Unterdrückung, zwischen Utopie und Dystopie.

Das vorliegende Buch untersucht, was es heißt, die Kontrolle Maschinen zu überlassen und mit ihnen sowie mittels ihrer zu interagieren. Befreien die Maschinen die Menschheit endlich von der Notwendigkeit, schmutzige und monotone Arbeiten zu verrichten, in zermürbenden Verkehrsstaus zu stehen, und machen sie Arbeit, Leben und Freizeit sozialer, vernetzter, aber auch sicherer? Oder schlafwandeln unsere modernen Gesellschaften in eine gefährliche »schöne neue Welt« hinein, die allmählich ihrer Kontrolle entgleitet? Schaffen wir ungewollt vernetzte Ökonomien, die uns buchstäblich in unsere Taschen greifen und die jeden Moment jäh zum Stillstand kommen, ja uns womöglich an ihren automatisierten Knotenpunkten um die Ohren fliegen könnten? Welche Risiken gehen hochentwickelte Gesellschaften ein, wenn sie die Kontrolle immer weitgehender in die virtuellen Hände immer stärker vernetzter und scheinbar immer intelligenterer Maschinen legen?

Niemand kann diese Fragen beantworten. Diese Zukunft hat noch nicht stattgefunden. Aus heutiger Sicht ist die Zukunft verschwommen, dunkel, formlos. Aber die Fragen nach ihr sind nicht neu. Die Zukunft der Maschinen hat eine Vergangenheit. Und um unsere Zukunft mit den Maschinen zu beherrschen, müssen wir unsere Vergangenheit mit den Maschinen beherrschen. Wenn wir zwanzig, vierzig oder sogar sechzig Jahre zurückblicken, zeichnet sich die zukünftige Nachwelt in schärferen Konturen ab, mit der übertriebenen Deutlichkeit einer Karikatur, die ihre bezeichnendsten und markantesten Merkmale drastisch hervorhebt. Eine treibende Kraft bei der Gestaltung dieser Charakteristika war die Kybernetik. Die besagte kybernetische Spannung zwischen dystopischen und utopischen Visionen ist bereits sieben Jahrzehnte alt. Und doch wird die Geschichtsschreibung der wirkmächtigsten Ideen zur Zukunft der Technik oft vernachlässigt. Sie geht nicht wie Diplomatie und Außenpolitik in die Archive ein.

Für sehr lange Zeit herrschten utopische Vorstellungen vor – seit Wieners Tod im März 1964 bestimmte die blauäugige Vorstellung von einer besseren, automatisierten, computergestützten, grenzenlosen, vernetzten und freien Zukunft die Liebesaffäre des Menschen mit der Maschine. Maschinen, unsere eigenen kybernetischen Schöpfungen, würden die angeborenen Schwächen unseres mangelhaften Körpers, unseres fehlbaren Geistes und unserer schmutzigen Politik überwinden können. Der Mythos der sauberen, unfehlbaren und übermächtigen Maschinen war übersteuert, aus dem Gleichgewicht geraten. Diese kybernetische Übersteuerung fand insbesondere in Kalifornien in den siebziger und achtziger Jahren einen kulturellen Resonanzboden, der bis heute in der globalen Technikbegeisterung mitschwingt und ihr unerwartete Tiefe gibt.

Doch in den neunziger Jahren kehrte die Dystopie zurück. Die Vorstellung eines digitalen Kriegs, Konflikts oder Missbrauchs, der Massenüberwachung und des Verlusts der Privatsphäre kann – auch wenn sie weithin übertrieben wird – als entscheidendes Korrektiv für den überwältigenden utopischen Reiz der Maschine dienen. Allerdings nur dann, wenn die durch den kybernetischen Mythos verdeckten Widersprüche offengelegt werden. Die Enthusiasten, die hoffnungsfroh dem Hype nachgaben, überschätzten die Möglichkeiten der neuen und sich abzeichnenden Computertechnologien. Viele nahmen das technische Heilsversprechen wörtlich und erwarteten ungeduldig die kommende gesellschaftspolitische Utopie. Die Skeptiker, die oft von Furcht und schlimmen Vorahnungen lebten, überschätzten die dystopischen Auswirkungen dieser Technologien und prophezeiten die kommende Apokalypse. Manchmal vereinten sich Hoffnung und Furcht sogar, besonders im Schattenreich von Spionen und Generälen. Fehlgeleitete Zukunftsvisionen wurden und werden indes schnell vergessen und im Mülleimer der Ideengeschichte entsorgt. Doch ignorieren wir sie auf eigene Gefahr. Unwissenheit ist nämlich mit dem Risiko verbunden, dieselben Fehler zu wiederholen.

Die Kybernetik ist zweifellos eine der großen Ideen des 20. Jahrhunderts, eine veritable Maschinenideologie, die aus dem ersten wahrhaft globalen industriellen Krieg hervorging, der selbst ideologisch motiviert war. Wie alle großen politischen Ideen war sie quecksilbrig genug, um mehrfach ihre Gestalt zu ändern, während sie im Laufe ihrer gewundenen Entwicklung Jahrzehnt für Jahrzehnt neue Schichten anlagerte. Diese Schichten, die wie in einen kulturtechnischem Palimpsest immer wieder beinahe vollständig ausradiert und überschrieben wurden, möchte das vorliegende Buch sichtbar machen. Es ist nämlich diese fast vergessene historische Tiefe, die auch heute noch in der allgegenwärtigen Verwendung des Wortes »cyber« durchscheint, jener schillernden und zugleich hochelastischen Kurzform des englischen »cybernetic«.

Seine Vorgeschichte beginnt, als sich deutsche Bomber im Sommer 1940 auf dem Weg nach London in den Himmel erheben. Der Krieg mit seinen gigantischen Forschungsanstrengungen bildete den entscheidenden Hintergrund für den schwindelerregenden Aufstieg der Kybernetik und die von ihr ausgelösten Hoffnungen und Befürchtungen, wie das erste Kapitel, »Kontrolle und Kommunikation im Krieg«, umreißt. Das zweite Kapitel, »Kybernetik«, zeichnet den anfänglichen Aufstieg der neuen Disziplin nach. Jedes der verbleibenden sieben Kapitel widmet sich den Hauptthemen aus der weitschweifenden Geschichte der Kybernetik und richtet sich dabei grob an dem Jahrzehnt aus, in dem es aufkam.

Die fünfziger Jahre erlebten eine blauäugige Debatte über die Automatisierung, die zwischen Schwarzmalen und Verklären oszillierte und in der die Optimisten schließlich die Oberhand über die Pessimisten gewannen. Ab 1960 beflügelte ein weiterer kybernetischer Mythos die populäre Phantasie: Mechanisierte Organismen würden die Menschen nunmehr in die Lage versetzen, das Werk ihres eigenen Schöpfers zu verbessern, und die Maschinen wiederum dazu befähigen, das Werk der Menschen zu vervollkommnen. Endlich schien der Mensch nun in der Lage, den Übermenschen zu schaffen. In den siebziger Jahren entdeckte die Gegenkultur das heilsame, sich immer wieder erneuernde und spirituell befreiende Potential der Kybernetik, der »Maschinen voller Liebe und Güte«, in der bekannten Wendung eines Hippiepoeten: »the Machines of Loving Grace«.6 Dieser Perspektivwechsel war der Anlass für eine noch kuriosere Entwicklung. In den achtziger Jahren kam die berauschende Idee auf, dass vernetzte Computer den Zugang zu einem neuen, unbekannten, wahrhaft freien und gesetzlosen virtuellen Raum ohne Grenzen eröffneten. In den Neunzigern wurde dieser Gedanke mit der Verbreitung allgemein zugänglicher Kryptographie politisch: Maschinen, die von den richtigen Algorithmen gespeist wurden, vermochten eine überlegene und wahrhaft libertäre politische Ordnung zu schaffen, die Kryptoanarchie. Als sich das Jahrhundert schließlich dem Ende neigte, fand eine abrupte Rückbesinnung statt und der maschinelle Niedergang rückte in den Vordergrund. In den späten neunziger Jahren kehrte die Dystopie zurück, und der letzte kybernetische Mythos zeigte seine hässliche Fratze: der Krieg. Schadsoftware konnte ganze Nationen in die Knie zwingen und das Wesen militärischer Konfrontationen für alle Zeiten verändern. Der lange Fall der Maschinen hatte begonnen.

Kontrolle und Kommunikation im Krieg

Der Abendhimmel über London beschrieb einen weiten, tiefblauen Bogen, in dem sich nur vereinzelte Wolken verloren. Es war Herbst 1940. Die Ruhe trog. Plötzlich zerriss das Heulen der Luftschutzsirenen die Dämmerung. Das Kreischen des Alarms war für die Bewohner Londons so nervenzerrüttend wie vertraut. Nachtangriffe waren zur Gewohnheit geworden. Zwischen dem 23. August 1940 und dem Silvesterabend jenes Jahres hatte es nur acht ruhige Nächte ohne deutsche Luftangriffe auf Großbritannien gegeben. Dass die Deutschen zu Nachtflügen übergegangen waren, erschwerte es dem Oberkommando der Royal Air Force (RAF), die eindringenden Bombergeschwader zu jagen, und Londons Verteidigern, sie abzuschießen. Andererseits waren Angriffe im Dunkeln in der Regel ungenau. Die Piloten bombardierten damals noch auf Sicht, wobei sie oft leichte Brandbomben benutzten, um Ziele für den anschließenden Abwurf der schweren Sprengkörper zu markieren. Die Deutschen hatten es auf Stätten von militärischer Bedeutung wie Industriegebiete und Verkehrsknotenpunkte abgesehen.1 Kein Licht drang aus den verdunkelten Fenstern Londons. In mondlosen Nächten lockerte die Luftwaffe die Einsatzregeln.

In jener Nacht aber ging der Mond auf und tauchte die Landschaft der Hauptstadt mit ihren roten und braunen Hausdächern in seinen sanften, silbrigen Schimmer. In der Fleet Street 85 griffen zwei Journalisten nach ihren Stahlhelmen und stiegen auf das Dach des Büros der Chicago Tribune in der fünften Etage, gleich neben der 1672 von Sir Christopher Wren errichteten St. Bride’s Church. Die beiden amerikanischen Reporter, Joseph Cerutti und Larry Rue, warteten auf den bevorstehenden Luftangriff.

Sie schauten nach oben. »Die scharfen Strahlen der Suchscheinwerfer durchbohrten das Firmament.«2 Dann sahen sie im Londoner Südosten »eine glitzernde Kette von Leuchtspurgeschossen in den Himmel«3 aufsteigen. Als Nächstes war das Knallen der Flugabwehrbatterien zu hören, deren Granaten hoch oben im Himmel explodierten, wie Sternschnuppen in umgekehrter Richtung. Erst jetzt hörten sie das »unerbittliche Brumm-Brumm-Brumm«4 Dutzender mit Spreng- und Brandbomben beladener deutscher Bomber. Hoch über der Stadt öffneten die Piloten ihre Luken. Pfeifend fiel ihre tödliche Fracht herunter, unsichtbar erst, dann schlugen die Sprengköpfe donnernd ein. Um die Einschlagstellen der Brandbomben wälzten sich grellweiße Flammen in alle Richtungen. Der rote, zunächst von Rauchwolken gedämpfte Feuerschein war zu einem vertrauten Anblick geworden. Schwärme von Stadtvögeln, Stare, Spatzen und Tauben, flatterten in den brennenden Himmel empor. Von dem Feuer, das schnell um sich griff, hob sich die gewaltige Kuppel von Londons majestätischer St.-Pauls-Kathedrale »in grausiger Deutlichkeit ab«.5

Erst die heraufziehende Dämmerung brachte Erleichterung. Das allmählich zurückkehrende Tageslicht schien die unerbittlichen Angreifer abzuschrecken. »Jetzt sind wir durch«, sagte Rue, der Leiter des Londoner Büros der Tribune, der schon viele Luftangriffe erlebt hatte. »Das war’s da oben.«6 Plötzlich hörte Cerutti das Geräusch eines einzelnen Flugzeugs, das in geringer Höhe kreiste. Eine einzige große Bombe sauste herab.

Sie traf ein massives Bürogebäude in einer benachbarten Straße. Ich stand wie festgenagelt hinter einer niedrigen Steinbrüstung. Die Bombe explodierte mit ohrenbetäubendem Krachen, und im Blitz der Explosion sah ich, wie die gesamte Fassade des Gebäudes, scheinbar intakt, einen sanften Satz in die Höhe machte. Die Fenster und Gesimse stachen deutlich hervor, als sie vielleicht 15 Meter emporstieg, bevor sie auseinanderbarst und ihre Trümmer weiträumig niederregneten.7

Die berühmte Luftschlacht um England, die im Juni 1940 begann, entfaltete sich in Etappen. Am 1. August erließ Adolf Hitler die Weisung Nr. 17, die der Luftwaffe auftrug, »mit allen zur Verfügung stehenden Kräften die englische Luftwaffe möglichst bald niederzukämpfen«.8 Im Laufe des Augusts wurden die Bombenangriffe ausgeweitet. Nach einem Strategiewechsel Anfang September bestimmte Hitler London als Hauptziel. Am 15. September nahmen zweihundert deutsche Bomber mit einer starken Jägereskorte Kurs auf die Hauptstadt des Empire. Die Luftangriffe gingen über Monate weiter. Tagsüber fegten deutsche Bomber und Jagdmaschinen über Südostengland. Nachts griffen sie London an. Die Luftwaffe steigerte ihre Anstrengungen noch einmal in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1940, als 235 Bombenflugzeuge auf die Hauptstadt losgelassen wurden. Die britische Flugabwehr versagte kläglich: Mit 8326 Schuss gelang es Londons Verteidigern in jener Nacht lediglich, zwei Flugzeuge vom Himmel zu holen und zwei weitere zu beschädigen.9 Das Jahr endete mit einem großen Brandangriff auf die Londoner City in der Nacht vom 29. auf den 30. Dezember, der bekanntlich die St.-Pauls-Kathedrale in ein Flammenmeer versenkte. Im gesamten Monat Dezember wurden nur 14 feindliche Flugzeuge abgeschossen.

Die Luftschlacht um England war eine »wahrhaft revolutionäre Auseinandersetzung«,10 wie der Militärhistoriker John Keegan anmerkt. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte eine Kriegspartei einen Feldzug in die Lüfte verlegt, um den Widerstand einer anderen Partei zu brechen. Weder Land- noch Seestreitkräfte griffen Großbritannien an, nur die mächtige deutsche Luftwaffe. Das Bedürfnis, dagegen etwas zu unternehmen und die Luftverteidigung zu verbessern, war in England riesig und das wurde auch auf der anderen Seite des Atlantiks so verspürt. In einer merkwürdigen Verkettung von Ereignissen trugen die deutschen Bomben, die aus Londons Nachthimmel fielen, zu einer regelrechten Explosion der wissenschaftlichen und industriellen Forschung in den Vereinigten Staaten bei. Nur vier Jahre später, noch bevor der Krieg in Europa zu Ende war, sollten neue »Denkmaschinen« am Ärmelkanal stationiert werden – Maschinen, die sich gegenseitig bekämpfen und autonome Entscheidungen über Leben und Tod treffen konnten.

I.

Vannevar Bush war einer der begnadetsten Visionäre seiner Generation und ein produktiver Erfinder. Seit 1932 war Bush Vizepräsident des MIT und Dekan des Instituts für Ingenieurwissenschaften. 1936 hatte der Generalstab der Armee ihren eigenen Etat für Forschung und Entwicklung um die Hälfte zusammengestrichen, weil ihm Amerikas Waffentechnik ausreichend erschien und er es für sinnvoller hielt, das Geld für Wartung, Instandsetzung und zusätzliches Militärmaterial zu verwenden.11 Nachdem er einige Erkundigungen eingezogen hatte, musste Bush bestürzt feststellen, dass die Militärführung keinerlei Vorstellung davon hatte, in welcher Weise die Wissenschaft im Krieg nützlich sein konnte – und die Wissenschaftler ahnungslos waren, was das Militär im Kriegsfall benötigen würde.

Bushs Tätigkeit für das National Advisory Committee for Aeronautics (NACA), die Vorgängerinstitution der National Aeronautics and Space Administration (NASA), verhalf ihm zu wertvollen Einsichten in die neuesten flugtechnischen Entwicklungen: 1938 hörte er den Vortrag eines Akademiekollegen namens Charles Lindbergh, der von einer vertraulichen Informationsreise durch deutsche Munitions- und Flugzeugfabriken zurückgekehrt war. Lindbergh zeigte sich beeindruckt von der gewaltigen deutschen Kriegsmaschinerie, insbesondere von den Vorführungen der scheinbar unbesiegbaren Luftwaffe. Und nur wenige erkannten die Fähigkeiten der Flugapparate so gut wie Lindbergh. Elf Jahre zuvor war der Flugpionier als erster Pilot überhaupt ohne Zwischenlandung von New York nach Paris geflogen. Einmal verglich er sein Flugzeug, die »Spirit of St. Louis«, mit einem »menschlichen Wesen«. Hoch in den Lüften finde er zu einer Einheit mit der Maschine, »als teilten wir jetzt die Erfahrung; als fühlte sie Schönheit, Leben und Tod wie ich; als sei unsere Treue, von der alles abhing, absolut gegenseitig. Wir sind quer über den Ozean geflogen – nicht sie oder ich.«12 Wenn es zum Krieg käme, fürchtete er, würde es bei der Einheit zwischen dem Menschen und immer schnelleren, größeren und leistungsfähigeren Maschinen nicht mehr um Schönheit und Leben, sondern um den Tod aus der Luft gehen. Amerika sollte sich aus dem Krieg heraushalten, so die Überzeugung des Piloten.

Bush zog andere Schlüsse. Der kernige Neuengländer hatte feste Überzeugungen und verfügte über Ausdauer und Tatkraft.13 Amerika müsse sich auf den Krieg vorbereiten. Und das bedeute, dass die Wissenschaft ihr Scherflein beizutragen habe. Im Januar 1939 wechselte der damals 50-jährige Bush als Präsident der Carnegie Institution for Science von Boston nach Washington. Er war bereits bestens vernetzt, als er in jenem Winter in der Hauptstadt eintraf: Er hatte eine Abteilung im National Research Council geleitet und war für das NACA tätig gewesen. Bush wollte sich unbedingt in der Forschungsförderung engagieren. Die Büros der Carnegie Institution lagen an der Ecke 16. und P-Straße, zehn Blocks nördlich des Weißen Hauses. In Europa herrschte noch Frieden, als sich Bush im Frühjahr 1939 Sorgen über das »Luftabwehr-Problem« zu machen begann, ein Jahr bevor die Deutschen es im Kampf um England so verheerend auszunutzen wussten.

Durch seine Tätigkeit im NACA erkannte er, dass die Flugzeuge immer stärker, schneller und für größere Flughöhen ausgelegt wurden. Ihm war klar, dass es dadurch schwierig, wenn nicht unmöglich werden würde, die Maschinen mit gewöhnlichen Geschützen vom Himmel zu holen. Die Maschinen direkt mit Artilleriegranaten zu treffen, die beim Aufprall explodierten, war praktisch unmöglich. Die Geschosse mussten zeitlich so abgestimmt werden, dass sie nahe genug am Ziel explodierten, um es herunterzuholen. Die Zeitzünder richtig zu stellen wurde jedoch mit zunehmender Geschwindigkeit und Entfernung immer schwieriger. Im Oktober 1939 wurde Bush zum Vorsitzenden des NACA gewählt, jener Behörde, die die Luftfahrtforschung organisierte. Ein Pendant zum NACA, das die Erforschung der Luftverteidigung koordiniert hätte, gab es nicht. Und so teilte Bush dem amerikanischen Präsidenten mit, es gebe »keine vergleichbare Behörde für andere wichtige Gebiete, vor allem Flugabwehr-Vorrichtungen«.14 Am 27. Juni 1940 gründete Roosevelt das National Defense Research Committee, besser bekannt unter seinem Kürzel NDRC.15 Dessen Aufgabe war es, die wissenschaftliche Forschung zu praktischen militärischen Problemen zu finanzieren. Diesem Auftrag sollte das NDRC spektakulär erfolgreich nachkommen.

Die Ingenieure zogen gerne die Entenjagd zum Vergleich heran, um zu erläutern, warum die Vorhersage der Position eines Ziels eine Schwierigkeit darstellte. Der erfahrene Jäger erblickt die fliegende Ente, seine Augen senden die visuelle Information über die Nerven ans Gehirn, das Gehirn des Jägers berechnet die geeignete Position für das Gewehr, die von seinen Armen justiert wird, wobei sie dem Ziel sogar »vorausgeht«, indem sie die weitere Flugbahn der Ente prognostiziert. Im Bruchteil einer Sekunde mündet der Prozess in die Betätigung des Abzugs. Die Bewegungen des Schützen simulieren ein technisches System: Der Jäger ist Netzwerk, Computer und Auslöser in einem. Ersetzt man die Ente durch ein feindliches Fluggerät und den Jäger durch eine Luftabwehrbatterie, dann ist es eine enorme technische Herausforderung, die Arbeit der Augen, des Gehirns und der Arme zu verrichten.

Diese Problemstellung sollte zur Grundlage der Kybernetik werden. Als Norbert Wiener auf den Vergleich mit der Entenjagd stieß, war er sofort von ihm angetan.16 Immer wieder, und immer wieder zu Unrecht, sollte er später behaupten, er habe das damit zusammenhängende Vorhersageproblem der Flugabwehr gelöst. In Wirklichkeit hatte einer der begabtesten Unternehmer Amerikas diese Nuss bereits geknackt und im Zuge dessen ein ganzes Firmenimperium errichtet. Obwohl er es nie zugab, stand Wieners erfolgreiche Theorie auf den Schultern eines begnadeten Ingenieurs.

Elmer Ambrose Sperry war ein Mann von außerordentlichem Geschäftssinn. 1910 gründete er in der 40 Flatbush Avenue Extension in Downtown Brooklyn die Firma Sperry Gyroscope. Sperrys Vision war es, ein Unternehmen aufzubauen, das Kontrolle zu einer eigenständigen Technik machte, mit der man Schiffe auf Kurs halten, Flugzeuge steuern und Geschützfeuer leiten konnte. Mit Produkten von Sperry würden diese Maschinen auf einem höheren Leistungsniveau zuverlässiger funktionieren, als es bei einer Bedienung von Menschenhand ohne technische Unterstützung möglich wäre.

Sperry verstand, dass sich die Luftabwehrproblematik nicht auf den Boden beschränkte. Die sogenannten Fliegenden Festungen, Amerikas mächtige B-17-Bomber, waren groß und anfällig für schnelle, kleine, ausschwärmende Jagdmaschinen. Die großen Flugzeuge brauchten ein neues Abwehrsystem. Thomas Morgan, Präsident von Sperry in den vierziger Jahren, erklärte, der primäre Wert der militärischen Produkte des Unternehmens liege darin, dass »sie das physische und das geistige Leistungsvermögen der Männer in den Streitkräften erhöhten und es ihnen dadurch ermöglichten, den Feind früher und öfter zu treffen, als er sie treffen kann«.17

Ein Beispiel dafür waren die Sperry-Türme am Bauch von Bombenflugzeugen, drehbare Kugeltürme mit jeweils einem Schützen, der sein 12,7-Millimeter-MG selbständig auf Sicht und relativ nahe Entfernung bediente. Ein luftgestütztes Feuerleitsystem war nicht erforderlich, um aus den hydraulisch gesteuerten Türmen zu schießen. Die Drehbewegung des Turms wurde dabei ausgeglichen und stabilisiert, so dass der MG-Schütze auf der Suche nach feindlichen Jagdflugzeugen abrupte Schwenks vornehmen konnte. Die Abwehr angreifender Flugzeuge war freilich nicht automatisiert, obwohl die Vorrichtung über Sicherungssysteme verfügte, die verhinderten, dass die Schützen in Stresssituationen ihre eigenen Flugzeuge beschossen. Nichtsdestotrotz hoben die Drehtürme das Zusammenspiel von Mensch und Maschine auf eine neue Ebene.

Sperry suchte nach einer neuen Form, die Interaktion von Soldaten und Arbeitern mit Maschinen bildlich darzustellen. Die Abteilung für Technische Graphik der Firma beschloss, einen Künstler anzustellen, der in perspektivischem Zeichnen bewandert war. Die Wahl fiel auf Alfred Crimi, einen bekannten Fresken- und Wandmaler sizilianischer Abstammung aus New York. Nach einer gründlichen Sicherheitsüberprüfung – und nachdem er sich daran gewöhnt hatte, dass der Italiener mit orientalischen Seidenkrawatten und einem Ziegenbart zur Arbeit stolzierte – ließ Sperry Crimi ein eigenes Studio in der Firma einrichten. Zunächst wusste die Firma nicht, wie sie den Künstler sinnvoll einsetzen sollte, was Crimi die nötige Freiheit und Zeit zum Experimentieren verschaffte.

Crimi entwickelte eine Technik transparenter, übereinandergeblendeter Zeichnungen. Seine bekanntesten Abbildungen zeigen Schützen in Drehtürmen, deren maschinelle Apparaturen durch den menschlichen Körper hindurch sichtbar waren, »als sähe man sie durch eine Röntgenaufnahme«,18 wie Crimi erläuterte. Er zeichnete das Zusammenspiel von Mensch und Maschine an der Kriegs- wie an der Heimatfront und zeigte Details wie Sperrys Fließbänder mit Visieren für Navy-Gewehre, Arbeiterinnen, die konzentriert an einem Mikroskop arbeiteten, riesige Kreiselkompasse auf offener See und ein Labor, das eine Höhe von 22 Kilometern simulierte.

Eine von Crimis bekanntesten Bleistiftzeichnungen zeigt einen Schützen, der in einem Sperry-Kugelturm liegt. Diese winzige kugelförmige Kabine, aus der zwei Maschinengewehre herausragten, hing am Rumpf der Fliegenden Festung B-17. Der Turm musste so klein wie möglich sein, um wenig Luftwiderstand zu bieten. Er war mit zwei M2-Browning-MG vom Kaliber 12,7 Millimeter bestückt, die jeweils 250 Schuss pro Minute abgeben konnten. Ein ausgeklügeltes Schachtsystem leitete die Munition von oben durch die Außenhülle der Kugel zu den Gewehren, die auf beiden Seiten des Schützen die volle Länge der Vorrichtung einnahmen. Der Turm verfügte über mehrere dreieckige Fenster sowie ein großes Bullauge von 33 Zentimetern Durchmesser zwischen den Beinen des MG-Schützen. Für einen Fallschirm gab es keinen Platz in dem Turm, den der Schütze mit zwei steuerknüppelähnlichen Handgriffen hydraulisch rotieren lassen konnte. Die Kugel ließ sich vertikal um fast 360 Grad, horizontal um 90 Grad drehen. Dieser große Drehbereich bedeutete, dass der Schütze entweder auf seinem Rücken lag oder quasi auf seinen Füßen stand, während er das Zwillings-MG abfeuerte. Jeder Steuerknüppel verfügte über eine Schusstaste. Der rechte Fuß des Schützen bediente die Taste einer Gegensprechanlage, sein linker ein Spiegelvisier, das einen Lichtzeiger auf das Zielobjekt projizierte. Der Schütze, normalerweise das kleinste Besatzungsmitglied, bestieg den Turm, wenn das Flugzeug auf Kurs und das Fahrgestell eingefahren war. Die Besatzung richtete die MGs gen Erdboden, dann öffnete der Schütze die Tür, zwängte sich in den Turm, schlüpfte in Gurte und rollte sich in Embryonalstellung zwischen den beiden Brownings zusammen. Nach dem Anlegen der Riemen hatte er die schwenkbare Waffe unter Kontrolle.

Entdeckte der Schütze ein feindliches Jagdflugzeug, das seinen Bomber von unten angriff, »wirkte er wie ein Fötus im Mutterleib, kopfüber in seinem kleinen Gewölbe zusammengekauert«,19 wie der bekannte amerikanische Dichter Randall Jarrell es ausdrückte. Jarrell diente während des Krieges als Offizier in der amerikanischen Luftwaffe. 1945 veröffentlichte er ein eindringliches fünfzeiliges Gedicht mit dem Titel »The Death of the Ball Turret Gunner« (Der Tod des Kugelturmschützen). Jarrells Gedicht arbeitete sich an den Folgen der Verschmelzung von Mensch und Maschine in der industriellen Kriegführung ab. Der menschliche Schütze, zusammengekauert im Bauch der Maschine, war nur noch ein Zahnrad, unbedeutend und austauschbar, und wenn feindlicher Beschuss ihn schließlich in Stücke gerissen hatte, wurde er »mit einem Schlauch aus dem Turm herausgespritzt«.20 Wenn auch nicht so drastisch vor Augen geführt, bestimmt dasselbe Motiv Crimis Entwürfe und Zeichnungen für Sperry. Seine Schnittansichten verschmolzen Mensch und Maschine in wahrhaft modernistischem Geist. Auf den Skizzen waren Teile der Maschinengehäuse weggelassen, um die menschlichen Schützen sichtbar zu machen, die in den Türmen als lebendiger Teil der Maschine festgeschnallt waren. Menschliche Körper zeichnete Crimi transparent, um Details wie Einstellräder oder Hebel zu zeigen, oder sie hörten einfach an der Hüfte auf. Unheimlicherweise hatten sie keine Gesichter. Die Zeichnungen erinnerten an die Querschnitte, mit denen Medizinstudenten Anatomie gelehrt wurde. Crimi und die Türme illustrierten, wie Menschen mit Maschinen interagierten, um ihre Muskelkraft zu potenzieren. Doch der Kugelturmschütze gebrauchte immer noch seine eigenen Augen, um nach einem herannahenden Kampfflugzeug Ausschau zu halten, und sein eigenes Gehirn, um zu entscheiden, wohin er zielen musste, um es abzuschießen.

Crimis Schaubilder waren dazu gedacht, die »Moral zu stärken« und »die Eintönigkeit zu durchbrechen, die die Fließbandarbeiterinnen und -arbeiter zu erdulden hatten«.21 Seine Zeichnungen wurden an prominenter Stelle in Time, Illustrated London News, Popular Science, Diesel Progress und anderen Branchenorganen abgedruckt.22 Diese ikonischen Bilder trafen einen Nerv. Sie fingen die öffentliche Erregung über die neuen Formen der Mensch-Maschine-Interaktion, des »mechanisierten Menschen« ein; eine Erregung, an die auch Wieners bahnbrechendes Buch anschloss. In seinen Bildern für Sperry drückte Crimi das aus, was die Kybernetik bald in ihrer eigenen Sprache formulieren sollte: Das Verhältnis zwischen Menschen und ihren maschinellen Werkzeugen begann sich grundlegend zu wandeln.

II.

Unterdessen arbeiteten einige der klügsten Ingenieure der westlichen Welt an der Kontrolle und Kommunikation im Krieg, lange bevor die Kybernetiker diese zu »Rückkopplungsschleifen« erklärten. Der Luftkampf war schwierig genug. Aus der Bodenperspektive aber war das Flugabwehrproblem sogar noch komplizierter. Allein das Ziel zu sehen war schon eine Herausforderung. Wenn eine Junkers Ju 88, ein neuer deutscher Bomber, der im »Blitz« gegen England eingesetzt wurde, in Sichtweite kam, war es wahrscheinlich schon zu spät und das Flugzeug schon zu nah. Sich vom Boden aus gegen schnell und hoch fliegende Maschinen zu verteidigen, war nur möglich, wenn man sie sichten konnte, bevor das menschliche Auge dazu in der Lage war. Die Luftabwehr verlangte nach einer Erweiterung der Sinne, einer Steigerung der Wahrnehmung selbst. Dieses Kunststück vollbrachte der Radar. Die vorhandenen Systeme ließen sich bereits dazu nutzen, Suchscheinwerfer am Nachthimmel zu dirigieren. Doch die besten Radarsysteme taugten 1940 nicht als automatisches Feuerleitsystem gegen feindliche Fluggeräte. Das NDRC war entschlossen, diese Hürde zu überwinden.

Radar war ursprünglich eine Abkürzung für »Radio Detection and Ranging«. Das Hauptziel der Technik bestand darin, den räumlichen Abstand eines Gegenstands zur Radarstation zu bestimmen. Ab 1940 begannen sowohl die Achsenmächte als auch die Alliierten, Kurzwellenradar einzusetzen. Noch hatten sie beide das Problem der viel leistungsstärkeren Mikrowellen-Radartechnologie nicht gelöst. Das aber sollte sich ändern. Bis zum Abwurf der Atombombe hielten die Alliierten den Mikrowellenradar für die mächtigste Geheimwaffe des Krieges, die neue Technologie, die über Sieg oder Niederlage entscheiden würde.

Radar konnte »durch den dichtesten Nebel und die dunkelste Nacht hindurch sehen«,23 wie die New York Times es ausdrückte. Das Grundprinzip war einfach, etwa so, als werfe man einen Stein in ein dunkles Loch und warte, wie lange es dauert, bis er auf dem Boden aufschlägt: Die Radarstation sandte Radarwellen aus, das Zielobjekt reflektierte einen Teil der Energie der Wellen, und eine Antenne fing dieses Echo auf. Die Zeit, die es dauerte, bis das Echo zurückkam, zeigte die Entfernung des Ziels an. Das elektromagnetische Impulssignal bewegte sich mit Lichtgeschwindigkeit, also mit rund 300 000 Kilometern pro Sekunde. War ein Objekt 24 Kilometer von der Radarstation entfernt, traf sein Echo nach 0,00016 Sekunden ein. Die festgestellte Entfernung und Bewegungsrichtung wurden dem Personal der Radaranlage auf einem »Oszilloskopen« angezeigt, einem runden Bildschirm, der einem schwach beleuchteten Ziffernblatt glich. Das Oszilloskop war mit einer Reihe von Kreisen und gegebenenfalls einer projizierten Landkarte versehen. Das Zielobjekt erschien als kleiner Lichtfunke auf dem Radarschirm, als Echozeichen. Sein Abstand vom Mittelpunkt des Schirms hing davon ab, wie lange das Echo brauchte, um zurückzukommen.

Mit Radar konnte man auch die genaue Richtung eines Ziels messen, nicht nur seine Entfernung. Die Position der Antenne zeigte die Richtung an: Die Antenne drehte sich und sandte gerichtete Impulse aus, wie ein Suchscheinwerfer aus Radiowellen. Das Ziel erschien als kleines flimmerndes Echozeichen auf dem runden Radarschirm, wenn die rotierende Antenne direkt auf es wies. Die Höhe des Ziels wurde über den vertikalen Winkel der Antenne errechnet. Natürlich fing die Anlage auch Rauschen auf. Die Radaranleitungen der vierziger Jahre enthielten lange Abschnitte über die Auswertung der Echozeichen (»pips« im Englischen) oder »die Untersuchung und Interpretation aller Arten von Kontakten, die man auf Radaranzeigen sieht«,24 wie ein militärisches Handbuch es definierte. Es war eine Kunst, genannt »pipology«: Die Anwender brauchten ein hochgeschultes Auge für die Größe und die Form eines Echozeichens, für sein Rucken und Flimmern, seine Höhenschwankungen, seine Veränderungen in Entfernung und Kurs. Ihre Aufgabe war respekteinflößend: Wenn sie ein Störgeräusch mit einem Signal verwechselten, konnte das bedeuten, dass auf einen Felsen geschossen wurde – oder auf die eigenen Streitkräfte statt auf die des Feindes.

Das erste Radarsystem der US-Armee, das SCR-268, wurde 1937 entwickelt. Es war ein Klotz. Das SCR-268 hatte ausladende, über zwölf Meter breite und drei Meter hohe Antennen. Es war zudem ungenau. Das Problem des Systems bestand in seiner langen Wellenlänge von 1,5 Metern. Dieses Radar zu benutzen war ein bisschen so, als würde man eine Landkarte aus der Vogelperspektive betrachten, ohne die Möglichkeit zu haben, sie heranzuzoomen und Details zu sehen. Die Lösung war theoretisch einfach, aber praktisch schwierig: kürzere Wellenlängen oder Mikrowellen. Kürzere Wellen mit einer höheren Frequenz verfügten über einen entscheidenden Vorteil. Je kürzer die Welle, umso genauer die Strahlenbündel und damit umso höher die Auflösung des Bildes. Mit dem neuen Radar würden die Nutzer die Landkarte theoretisch mit hoher Auflösung vergrößern können und hätten damit ein unglaublich mächtiges Werkzeug zur Verfügung. Nur gab es einen Haken: Die Physiker wussten, dass Mikrowellen existierten. Aber niemand hatte bislang einen Weg gefunden, hinreichend starke Mikrowellen zu erzeugen und auszusenden, um ein brauchbares Radargerät zu bauen.25 Die deutschen Ingenieure zweifelten sogar an der technischen Machbarkeit eines Mikrowellenradars.26

Die Antwort, die der Krieg dem MIT gab, war nicht ohne Ironie: Die deutschen Angriffe auf England halfen, eine der leistungsfähigsten Waffen zu entwickeln, die Deutschland letztlich zu Fall bringen würde. Die heftigen deutschen Angriffsserien auf London und Südengland bedeuteten, dass Großbritannien seine gesamte Energie auf die unmittelbare Kriegsproduktion konzentrieren musste. Grundlagenforschung zu betreiben wurde zunehmend schwieriger. Also begab sich Sir Henry Tizard, seinerzeit Vorsitzender des britischen Aeronautical Research Committee, auf eine Mission, um es der angewandten Forschung in den Vereinigten Staaten zu ermöglichen, Teile von Englands wertvollster, streng geheimer Mikrowellenforschung zu nutzen. Gegen Ende des Jahres 1939 hatte die Universität von Birmingham eine sensationelle Erfindung gemacht und sie auf den Namen »Cavity Magnetron« getauft.27 Der kleine Apparat war bemerkenswert: Er konnte die begehrten elektromagnetischen Wellen – von unter zehn Zentimetern, sogar bis zu drei Zentimetern Länge – erzeugen. Noch besser war, dass Flugzeuge und Boote die viel kleineren Antennen des Magnetrons an Bord nehmen konnten. Für die amerikanischen Stäbe lag darin ein verlockendes Potential: Nicht nur würden sie den Feind jederzeit in hoher Auflösung sehen können. Die Technologie versprach darüber hinaus, dass der Radar mobil einsetzbar wäre und es ermöglichen würde, Flugzeuge in tiefster Nacht zu fliegen und Schiffe in dichtestem Nebel zu manövrieren. Aber das war noch nicht alles: Es war viel schwieriger, bei einem Radargerät mit 10- oder 3-Zentimeter-Wellen dazwischenzufunken, als bei einer Radaranlage mit längeren Wellen. Das bedeutete, dass die Alliierten das feindliche Radar stören und blenden konnten, während sie gleichzeitig selbst besser »sahen«.

Amerikas Radarprogramm erfuhr am 28. August 1940 eine grundlegende Wende. An jenem Mittwoch fegte ein wilder Tropensturm durch die Mittelatlantikstaaten. Vannevar Bush aß mit Sir Henry Tizard im Washingtoner Cosmos Club zu Abend. Tizard und Bush verstanden sich gut und entdeckten eine gemeinsame Leidenschaft für die angewandte zivile Forschung. Das Abendessen führte letztlich dazu, dass Bushs NDRC die Kontrolle über die Mikrowellenforschung übernahm. Heer und Marine hatten ihre eigene Mikrowellenforschung 1937 eingestellt und widersetzten sich nicht. Mit dem Magnetron, erinnerte sich Bush später, »kam der Ball ins Rollen«.28

Im Oktober 1940 war das Strahlungslabor des MIT eingerichtet, zunächst mit nur einigen Dutzend Forschern und wenigen Räumlichkeiten. Im Laufe der folgenden Monate machte das Labor atemberaubende Fortschritte. Den MIT-Ingenieuren gelang eine weitere brillante Entdeckung: Wenn sich der reflektierte Radarimpuls durch Feedback vergrößern ließ, um die Servomotoren der Radarantenne zu steuern, dann konnte das gleiche schwache Signal – das dank der kürzeren Mikrowellen nun weitaus präziser war – auch eine Haubitze steuern. Wenn eine Radaranlage automatisch ein Ziel verfolgen konnte, dann vermochten auch ganze Geschütze automatisch ihr Ziel verfolgen.

Ende Mai 1941 führte das Strahlungslabor sein experimentelles automatisches Winkelnachführungs-Radarsystem im MIT vor. Zu diesem Zweck hatten die Ingenieure eine 12,7-Millimeter-MG-Turm, der ursprünglich für den B-29-Bomber entwickelt worden war, aufs Dach eines MIT-Gebäudes gehievt und dann an eine ihrer Test-Radarstationen angeschlossen. Sie ordneten das System so an, dass das Maschinengewehr auf ein vorbeifliegendes, vom Radar erfasstes Flugzeug gerichtet sein würde, auch wenn sich dieses über den Wolken befand. »Es war sehr beeindruckend«, erinnerte sich Ivan Getting, der die Vorführung leitete. »Man konnte durch das Teleskop blicken, das auf dem Gestell der Radaranlage angebracht war, und sehen, wie das Flugzeug hinter einer Wolke verschwand, bis nur noch diese Wolke zu sehen war. Als das Flugzeug wieder hinter der Wolke hervorkam, befand es sich mitten im Fadenkreuz, wie von Zauberhand.«29 Die Ingenieure wussten, was zu tun war: Sie mussten das auf dem Dach installierte Gerät umkonstruieren und das automatische Luftabwehrgeschütz auf einen Lastwagen montieren. Anfang Dezember 1941 brachte das Labor seinen Test-Lkw, den XT-1, zur Fernmeldetruppe der US-Armee in Fort Hancock, New Jersey, um ihn dort vorzuführen. Am Freitagabend des 5. Dezember begossen sie den Erfolg ihrer neuen Maschine im Fort mit jeder Menge Bier. Zwei Tage darauf griff Japan Pearl Harbor an.

Im Lauf der nächsten vier Jahre wuchs sich das Labor zu einem Forschungsgiganten aus, der im Bereich Radar in den USA das Ruder übernahm: mit einem monatlichen Budget von vier Millionen US-Dollar und mehr als 4000 Mitarbeitern, unter denen sich ein Fünftel der besten Physiker des Landes befand.30 Das Strahlungslabor betrieb seine eigene Produktionsstätte, seinen eigenen Flughafen (in Bedford, Massachusetts) und unterhielt überall in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt seine eigenen Feldradarstationen. Es wurde zum größten Projekt des NDRC und zu einer der meistgefeierten wissenschaftlichen Organisationen des gesamten Krieges. Bis zum Mai 1945, keine fünf Jahre nach Tizards Mission, hatten Army und Navy zusammen Radarausrüstung auf MIT-Basis im Wert von 2,7 Milliarden US-Dollar geordert. Diese beachtliche Investition legte den Grundstein für Amerikas mächtige Elektronikindustrie nach dem Krieg.

Die bedeutendste Errungenschaft des Labors war der auf einem Lastwagen montierte Mikrowellenradar XT-1. Die Armee gab ihm die neue Bezeichnung SCR-584, die für Signal Corps Radio 584 stand. Es war ein eindrucksvolles Gerät. Mit dem 584 waren fast alle früheren Radarsysteme hinfällig. Die Maschine war präzise genug, um auf ihrem Oszilloskop die Flugbahn eines 155-Millimeter-Artilleriegeschosses auf dem Weg zu seinem Ziel zu verfolgen. Wenn das kleine und das große Echozeichen auf dem Bildschirm zusammenfielen, verschwanden beide einfach.

Die menschliche Muskelkraft durch eine hydraulische Unterstützung beim Zielen zu erweitern war beeindruckend. Die Wahrnehmungsfähigkeit durch Radar zu erweitern war noch beeindruckender. Diese beiden Schritte bedeuteten jedoch noch nicht den Durchbruch. Um einen deutschen Bomber von weitem zu treffen, war mehr erforderlich, als dass man das Flugzeug frühzeitig erspähte und physisch in der Lage war, ein mächtiges Geschütz auf es zu richten. Um einen feindlichen Bomber zu treffen, musste man wissen, wohin man das Geschütz zu richten hatte, bevor man feuerte. Das Geschoss bewegte sich nicht mit Lichtgeschwindigkeit wie der Radarimpuls vom Dach des MIT: Eine 155-Millimeter-Granate konnte bis zu zwanzig Sekunden in der Luft sein, bevor sie die deutschen Junkers-Bomber auf ihrem Weg nach London erreichte, und das anvisierte Flugzeug konnte zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Luftabwehr ihre Granate abschoss, und dem Moment, in dem es von ihr getroffen wurde, bis zu vier Kilometer weit geflogen sein. Wie der Jäger, der auf Enten schießt, musste der Luftabwehrschütze einen Moment in der Zukunft ermitteln und anpeilen. Ein separates mechanisches Gehirn war notwendig, um diesen Moment zu berechnen. Maschinen begannen, nicht nur die Muskeln und die Wahrnehmung, sondern auch den Geist zu erweitern.

Militäreinheiten, die für das Abfeuern schwerer Geschütze zuständig sind, nennt man Batterien. Geschützfeuer zu leiten, mit den komplexen Artilleriekanonen genau zu zielen, war keine leichte Aufgabe. In den frühen Tagen konnten die verschiedenen Bestandteile einer Luftabwehrbatterie je nach Terrain und Taktik Dutzende von Metern voneinander entfernt sein. Die unabhängigen Komponenten der Batterie waren durch Telefonleitungen verbunden. Um ein Zielobjekt zu treffen, musste ein Beobachter telefonisch Daten an einen Offizier übermitteln. Der Offizier gab die Daten dann in einen primitiven Computer ein und erhielt die Ausgangsgrößen. Anschließend rief er die Geschützstellung an und gab die Zieldaten durch. Auf der Grundlage dieser Daten stellten die Schützen den Zünder der Granate ein und richteten das Geschütz aufs Ziel aus, um es anschließend abzufeuern. Funktionierende Nachrichtenwege waren schon die halbe Miete. Vielleicht überrascht es daher nicht allzu sehr, dass ein Telefonunternehmen eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Feuerleittechnik spielte: die Bell Telephone Laboratories, kurz Bell Labs, ein mächtiges Forschungsinstitut, das die American Telephone and Telegraph Company (AT&T) und Western Electric in Manhattan gegründet hatten.

Eine Schusswaffe präzise auf ein bewegliches Ziel abzufeuern erforderte zwei separate Berechnungen: Ballistik und Vorhersage