Maß für Maß - Piero Martin - E-Book
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Maß für Maß E-Book

Piero Martin

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Beschreibung

Eine Ode an den Erfindungsreichtum der Menschheit 

Alles ist messbar: Kaffee und Galaxien ebenso wie Quarks und Schwarze Löcher, der Mensch, die Natur, die Städte – kurz, alles, was uns umgibt. Das Einzige, was man dafür braucht, sind die sieben Maßeinheiten Meter, Kilogramm, Sekunde, Ampere, Kelvin, Mol und Candela. Wie sich auf sie das gesamte Wissen der Welt stützt, warum es gerade diese sieben sind, mit denen wir uns seit Jahrhunderten unsere Umgebung zu erklären versuchen, und wie sie uns helfen können, die Zukunft zu gestalten – davon erzählt der renommierte Physiker Piero Martin und verbindet in seinem Buch so spielerisch wie unterhaltsam wichtige Erkenntnisse der Forschung mit unserem Alltag.  

»Piero Martin gelingt es, Wissenschaft in wunderbare Erzählungen zu kleiden, die höchst unterhaltsam und lehrreich zugleich sind – ein Perspektivwechsel, der Freude bereitet!« Wolfgang M. Heckl, Generaldirektor des Deutschen Museums


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Seitenzahl: 258

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Über das Buch

Sie glauben nicht, dass sich mit nur sieben Maßeinheiten die Welt erklären lässt? Die fesselnden Geschichten, die dieses Buch erzählt, werden Sie vom Gegenteil überzeugen.

Wir haben die Welt schon immer vermessen. Um sie zu erforschen, in ihr zu leben, mit unseren Mitmenschen zu interagieren. Die Menschheit misst, um die Vergangenheit zu kennen, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu planen. Es brauchte jedoch Jahrtausende und zwei Revolutionen, bis wir ein allgemeines Messsystem zu erfinden begannen. Ein wenig bekannter Weg, der jedoch eine der größten wissenschaftlichen und sozialen Errungenschaften der Neuzeit darstellt. Heute messen wir mit nur sieben grundlegenden Maßeinheiten und versuchen, die Komplexität und die Wunder der Natur zu verstehen. Diese sieben sind die Protagonisten faszinierender Geschichten, die uns auf eine Entdeckungsreise durch die Physik mitnehmen – von Galileo bis Einstein, von der Newtonschen Mechanik bis zur Quantenmechanik – und zeigen, wie die Wissenschaft dazu beiträgt, eine nachhaltige und umweltfreundliche Zukunft zu gestalten.

Über Piero Martin

Piero Martin ist Professor für Experimentalphysik an der Universität von Padua und forscht zu Thermonuklearer Fusion, einer Technologie, mit der man saubere, sichere und unlimitierte Mengen an Energie generieren kann. Als Mitglied der American Physical Society war er wissenschaftlicher Direktor großer internationaler Projekte zum Thema und ist seit 2017 in leitender Position beim Executive Board des DTT, Italiens größtem Fusionsexperiment, tätig. 

Julika Brandestini, geboren 1980, studierte Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder, Almería und Macerata. Sie übersetzte u. a. »Accabadora« von Michela Murgia, wofür sie mit dem »Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis« ausgezeichnet wurde. Sie lebt in Berlin.

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Piero Martin

Maß für Maß

Die sieben Einheiten, die unsere Welt erklären

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Einleitung

I. Der Meter

112, MERCER STREET

VOM NIL AN DEN TIBER

ALLONS ENFANTS

DER ANFANG VOM ENDE

EINE NEUE RELATIVITÄT

VON DER ERDE ZUM MOND

»C« WIE UNIVERSELL

II. Die Sekunde

EIN AUGENBLICK DES WAHNSINNS

IST ES LEICHTER, PHILOSOPHEN ÜBEREINZUBRINGEN?

ERKENNTNIS DURCH ZWEIFEL

MUSIK UND ATOME

FÜR ALLE, FÜR JEDEN

DIE ZEIT VERFLÜSSIGEN

DIE RELATIVE GEGENWART

DER SCHATTEN DER RAUMZEIT

DIE RELATIVITÄT DES ALLTAGS

III. Das Kilogramm

BRIEFE

TALENTE UND DIE SAMEN DES JOHANNISBROTBAUMS

RATE MAL, WER MIT AUF HOCHZEITSREISE KOMMT

DREI, ZWÖLF ODER KEINER?

DAS LICHT DES SCHWARZEN KÖRPERS

AUCH NOBELPREISTRÄGER IRREN

IDENTITÄTSKRISE

DER APFEL UND DER MARS

KRISTALLKUGELN UND RAUCHZEICHEN

NICHT NUR DIE KATZEN

21. OKTOBER

QUANTEN UND WAAGEN

PAPIERSCHNIPSEL

IV. Kelvin

PROST!

VOM GEFÜHL ZUM MAß

EINE FRAGE DES GLEICHGEWICHTS

KOCHENDES WASSER UND SCHMELZENDES EIS

LIEBHABER EINES KÜHLEN BIERCHENS

DIE BIERMOLEKÜLE

BRÜDER

EIN UNERREICHBARES ZIEL

HEIßER ALS DIE SONNE

V. Das AmpEre

VOILÀ … VOLTA

DER FEHLENDE BUCHSTABE

DER EIFFELTURM

WUNDER DER WISSENSCHAFT

DRÄHTE, KOMPASSE UND STRÖMUNGEN

ELEKTRISCHER STROM UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNG

DIESE ZEHN PROZENT

VI. Das Mol

ORANGENSCHALEN

MOPLEN!

EIN UNVERDIENT SCHLECHTER RUF

POSTHUME EHRE

WER WIRD MILLIARDÄR?

WER SICH NICHT ZUR ANDEREN SEITE DREHT

VII. Die Candela

PORTRÄT DES NEUNTEN TAGES

ZUCKER UND SAUERSTOFF

ACQUA AZZURRA, ACQUA CHIARA

MIT MENSCHLICHEM MAß

MIT DER GRÖßTEN BEFRIEDIGUNG

Schlussbemerkungen

Dank

Endnoten

Wo nicht anders angegeben und hier verzeichnet, sind die Zitate in diesem Buch eigene Übersetzungen von Julika Brandestini aus dem italienischen Original von Piero Martin.

Weitere Lektürehinweise

Erläuterungen

Impressum

Für Paolo, Schüler und Meister.

Einleitung

An diesem Abend öffneten sich in Hamburg auf der Großen Freiheit 64 die Pforten des Indra Musikclub wie gewöhnlich. Es war der 17. August des Jahres 1960, und in der Nacht würde die Temperatur unter die Zehn-Grad-Marke fallen. Der Sommer ging zur Neige, Elvis Presley entflammte die Charts weltweit mit It’s now or never, während in Deutschland diesen Sommer Dalida reüssierte, mit einer deutschen Cover-Version von Milord, einem im Jahr zuvor veröffentlichten Chanson Edith Piafs.

Für die jungen Männer und Frauen, die vor dem Indra warteten, war es nur schwerlich, nein, wahrscheinlich unmöglich vorherzusehen, dass die unbekannte Band, die sie im Begriff waren zu hören, die Welt der Musik für immer auf den Kopf stellen würde. Ebenso ahnungslos bezüglich der Auswirkungen, die diese Jungs auf ihre Firma haben würden, waren die Köpfe der Electric and Musical Industries, bekannt auch unter dem Akronym EMI. Etwa dreißig Jahre zuvor in London gegründet, hervorgegangen aus einer Fusion der Columbia Graphophone Company und der Gramophone Company und bekannt geworden durch ihr denkwürdiges Label »Die Stimme seines Herrn«, war die EMI eine bedeutende Größe der Musikindustrie. Einer ihrer Ingenieure, Alan Blumlein, ließ 1931 die Erfindung des stereophonen Aufnahme- und Wiedergabeverfahrens patentieren. In den 60er-Jahren produzierte die EMI erfolgreich Platten und verzeichnete bahnbrechende Entwicklungen im Bereich Elektronik, doch als am 17. August John Lennon, Paul McCartney und George Harrison die ersten Töne spielten, begann sich auch für die EMI etwas zu verändern. Harrison, Lennon und McCartney – zusammen mit Pete Best und Stuart Sutcliffe, der später durch Ringo Starr ersetzt werden sollte – hatten kurz zuvor die Beatles gegründet, und der Auftritt in Hamburg war ihr erstes Auslandsengagement. Sie spielten achtundvierzig Abende lang, und dann weitere neun Jahre bis zu ihrem letzten Konzert in London, auf dem Dach des Hauses in der Savile Row 3. Was dazwischen liegt, ist Geschichte.

Zu Ende des Zweiten Weltkriegs bezog sich die Erfahrung der EMI im Bereich Elektronik größtenteils auf militärische Produkte und Geräte, die sie dann in den zivilen Bereich zu übertragen begann. Der finanzielle Erfolg jedoch stellte sich erst mit der Explosion der Rock- und Popmusik in den 50er- und 60er-Jahren ein. Die Übernahme der amerikanischen Capital Records, der Erfolg ihrer Künstler und vor allem der Vertrag, der 1962 mit den Beatles geschlossen wurde, verhalf ihr zu großer Berühmtheit und beträchtlichen Gewinnen. Unter den Projekten, an denen die Ingenieure der EMI in den 60ern arbeiteten, war auch die bahnbrechende Entwicklung der Computertomografie, kurz CT, für die Medizin. Das CT ist heute ein grundlegendes Diagnoseinstrument und erlaubt es, Bilder mit höchster Auflösung aus dem Inneren des menschlichen Körpers zu erstellen. An der praktischen Umsetzung arbeitete in den Labors der EMI der Ingenieur Godfrey Hounsfield auf Grundlage der theoretischen Arbeiten des südafrikanischen Physikers Allan Cormack. Die beiden gewannen 1979 den Nobelpreis für Medizin. Lange ging das Gerücht um – übrigens nicht geschürt durch die Beatles –, dass das Quartett aus Liverpool einen maßgeblichen Beitrag zur Geburt dieses wichtigen Diagnoseinstruments geleistet hätte, besonders durch die großen Gewinne, die die EMI dank ihrer Lieder zu verzeichnen hatte und die zum kleinen Teil in die Entwicklung des CT geflossen seien. In Wirklichkeit kam, wenn man dem 2012 im Journal of Computer Assisted Tomography publizierten Artikel der kanadischen Wissenschaftler Zeev Maizlin und Patrick Vos Glauben schenkt, nur ein sehr geringer Teil der Finanzierung direkt von der EMI, wenn man ihn mit dem Anteil der britischen Regierung vergleicht.

Doch unbestritten bleibt der große Beitrag, den die Beatles zur modernen Kultur geleistet haben, und die Tatsache, dass die Medizin heute dank der EMI über ein unersetzliches Diagnoseinstrument verfügt, das buchstäblich Tag für Tag dazu beiträgt, Menschenleben zu retten. Ein Gerät, das den Absorptionswert von durch den menschlichen Körper geleiteten Röntgenstrahlen misst und aus diesen Daten detaillierte Bilder erstellt. Das CT ist eines von vielen Beispielen, wie eine Vermessung uns Aufschluss über uns selbst zu geben vermag, genauso wie auch die Messung der Körpertemperatur, des Blutdrucks, der Herzfrequenz. All das sind Operationen, bei denen wir Zahlen oder eine Reihe von Zahlen mit einer physikalischen Größe koppeln, also mit der Eigenschaft eines Phänomens, eines Aspekts der Natur oder der Welt, die uns umgibt, dem ein objektiver Wert zugeschrieben werden kann. Ein Wert, der sich durch mithilfe geeigneter Instrumente angestellte Vergleiche der betreffenden physikalischen Größe mit einer anderen Referenzgröße – genannt Maßeinheit – ergibt.

Seit jeher vermisst der Mensch die Welt. Er vermisst sie, um sie kennenzulernen und zu erforschen, um darin zu leben, um mit seinesgleichen zu interagieren, um Gerechtigkeit zu garantieren und zu erhalten, um sich mit den Gottheiten zu verbinden. Von der Antike bis heute bestimmt das Maß das Leben des Menschen – man denke nur an die Messung der Zeit und ihre Verbindung zum Leben –, seine Beziehung zur Natur und seine Beziehung zum Übernatürlichen. Die Menschheit vermisst die Welt, um ihre Vergangenheit zu ergründen, die Gegenwart zu verstehen, in die Zukunft zu schauen.

Vor 30.000 Jahren schnitzte ein menschliches Wesen, das im heutigen Frankreich lebte, in ein Plättchen aus Mammut-Elfenbein etwas, das wir heute als Aufzeichnung der Mondphasen eines Jahreslaufs interpretieren, eine Art Taschenkalender ante litteram.

Der Mensch misst aus freien Stücken, mit Instrumenten, die seinem eigenen Verstand entspringen. In der Natur gibt es Phänomene, die sich periodisch ereignen, wie der Wechsel von Tag und Nacht oder die Jahreszeiten, und es gibt Objekte von auffallend gleichmäßiger Form und Gewicht wie die Samen des Johannisbrotbaums, doch es ist der Verstand des Menschen, der sie zum Messen benutzt hat, der Meridiane, Waagen, Meterstäbe konstruiert hat. Die Natur selbst hingegen funktioniert natürlich auch ganz wunderbar ohne jedes Maß.

Es ist kein Zufall, dass man sich zu Beginn der Zivilisation bei der Entwicklung der ersten Maßeinheiten an etwas gehalten hat, das universell verfügbar war, das alle stets bei sich tragen: den menschlichen Körper. Arme, Beine, Finger, Füße sind bequeme und überall verfügbare Einheiten, die, abgesehen von einer gewissen individuellen Variabilität, mehr oder weniger alle dieselben Maße haben: Fünf Spannen Stoff, gemessen von einer erwachsenen Person zwischen Daumen und kleinem Finger der gespreizten Hand, ergeben in jedem Teil der Welt etwa einen Meter. Daher finden sich Maßeinheiten, die sich auf bestimmte Körperteile beziehen, mehr oder weniger überall. Zum Beispiel entspricht die Elle in etwa einem halben Meter, gemessen vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen, und sie wurde von vielen Kulturen im Mittelmeerbecken benutzt: der ägyptischen, hebräischen, sumerischen, lateinischen und griechischen. Der Fuß findet sich in China, im antiken Griechenland und Römischen Reich. Im antiken Rom gibt es auch den Schritt, der zu Tausenden gezählt die römische Meile (milia passuum, Tausende von Schritten) begründet. Und ebenfalls in der Ewigen Stadt schrieb Marcus Vitruvius Pollio, besser bekannt als Vitruv, der circa von 80 bis 20 v. u. Z. lebte, sein enzyklopädisches Werk De architectura libri decem, Zehn Bücher über Architektur. Im ersten Kapitel des dritten Bandes spricht Vitruv über Symmetrie: »Die Anlage der Tempel beruht auf symmetrischen Verhältnissen, deren Gesetze die Baukünstler aufs Sorgfältigste innehaben müssen. Diese aber entstehen aus dem Ebenmaß (Proportion).«1 Und er vergleicht sie mit den Proportionen des menschlichen Körpers: »Denn die Natur hat den Körper des Menschen so gebildet, daß das Angesicht von dem Kinn bis zu dem oberen Ende der Stirn und den untersten Haarwurzeln den zehnten Teil (der ganzen Körperlänge) ausmacht (…). Der Fuß aber mißt den sechsten Teil der Körperhöhe, der Vorderarm den vierten, die Brust gleichfalls den vierten Teil. Auch die übrigen Glieder haben ihre Maßverhältnisse, deren sich auch die alten angesehensten Maler und Bildhauer bedient und dadurch großen und endlosen Ruhm erlangt haben.«

Eines der berühmtesten und ikonischsten Werke Leonardo da Vincis verdankt Vitruv seinen Namen: Uomo vitruviano, der vitruvianische Mensch, verwahrt in den Gallerie dell’Accademia in Venedig – obgleich hinzuzufügen ist, wie auf der Seite des Museums nachzulesen, dass Leonardo seinerseits durch Leon Battista Alberti und Euklid inspiriert wurde. Mehr oder weniger zur gleichen Zeit wie Leonardo versucht in Deutschland Jacob Köbel, ebenfalls vom menschlichen Körper ausgehend, Maße zu definieren. Er schlägt vor, 16 ausgewachsene Männer sollten sonntags nach Verlassen der Kirche ihre Füße hintereinanderstellen. Diese 16 aneinandergereihten Füße definiert er als 1 Rute, im Englischen das immer noch gelegentlich verwendete Rod. Beides leitet sich wiederum von der römischen Pertica ab.

Die Maßeinheiten der verschiedenen Zeiten erlauben dem Menschen als sozialem Wesen zudem, mit seinesgleichen zu interagieren. Seit Beginn der Zivilisation ist es für die menschliche Gesellschaft somit unabdingbar, das Messen so allgemeingültig wie möglich zu machen. Dadurch konnte es zu einem starken Kleber der Gemeinschaft werden. Je größer diese wird und je mehr sie an Struktur gewinnt, desto mehr entsteht die Notwendigkeit eines Messsystems, das die engen Grenzen der lokalen Gemeinden überwindet. Deshalb ist es kein Zufall, dass in den großen Zivilisationen der Vergangenheit – der ägyptischen, der assyrisch-babylonischen, der griechischen und der römischen – große Sorgfalt auf die Definition von Maßeinheiten verwendet wird. Pharao Sesostris III. z. B., der circa 1850 v. u. Z. mit großer Hingabe ein System zur Vermessung der fruchtbaren Felder am Ufer des Nils erstellte, um eine effiziente Steuererhebung durchzuführen. Der sumerische König Gudea von Lagash, ein berühmter Bauherr seiner Zeit, ist heute als nicht minder berühmte, im Louvre verwahrte Statue mit einem Meterstab in der Hand zu bewundern. Auch die Meilensteine entlang der Römerstraßen, die stets die jeweilige Entfernung nach Rom angaben, und die Göttin Nemesis, die mit einer Waage und einem Meterstab dargestellt wird, zeugen von der Sehnsucht der Menschen nach der Vermessung der Welt. Und in der Bibel heißt es nicht umsonst: »Waage und rechte Waagschalen sind vom HERRN; und alle Gewichte im Beutel sind sein Werk.« Denn das Maß und die Fähigkeit, es allgemein und gültig zu machen, sind Insignien der Macht, der Verbindung mit dem Göttlichen, sind Zeichen von Zugehörigkeit und gegenseitigem Vertrauen.

Davon zeugen König Gudea mit dem Meterstab im Schoß, die Waage, die das Herz der verstorbenen Ägypter wog und so ihr Schicksal bestimmte, und die Steintafeln auf dem Marktplatz der Republik Venedig, die die minimal erlaubte Länge der verschiedenen verkauften Fische anzeigten. Und auch in der Moderne wurden die Modelle der Maßeinheiten – wie der Meterstab oder der Prototyp eines Kilogramms – stets in den Hauptstädten nahe dem zentralen Regierungssitz aufbewahrt. Maß bedeutet Macht, gleichzeitig aber auch gegenseitiges Vertrauen. Dank der von vertrauenswürdigen Institutionen verwalteten Referenzgrößen drängt es uns nicht danach, selbst ein Messgerät bei uns zu tragen, wenn wir etwas nach Gewicht oder Größe kaufen. Auch wenn wir wohl alle zugeben müssen, dass uns, wenn der Angestellte am Flughafen beim Check‑in eine zu schwere Tasche für die Handgepäckrichtlinien moniert, schon einmal der Gedanke gekommen ist, die Waage könnte nicht richtig funktionieren.

Das Einheitensystem ist ein Spiegel der historischen Ereignisse. Als Europa mit dem Fall des Römischen Reiches in die dunklen Jahrhunderte des Mittelalters eintrat, wirkte sich der soziale und politische Verfall der Gemeinschaften in einem allmählichen Zusammenbruch der Maßsysteme aus, die wieder zunehmend lokaler wurden. Nicht zufällig wurden Ereignisse von visionärer Tragweite sehr häufig von dem Versuch begleitet, das Einheitensystem in immer größerem Maßstab zu vereinheitlichen. Dies versuchte auch, jedoch ohne Erfolg, der große Visionär Karl der Große. Die englische Magna Charta einige Jahrhunderte später war ein weiterer Versuch, Regeln für das Messen von Volumen, Längen und Gewichten für den Handel festzulegen; in der Klausel 36 ist zu lesen: »In unserem ganzen Reich soll nur ein Maß für Wein und eines für Bier sein; ebenso nur ein Maß für Getreide, das Londoner ›quarter‹; eine Breite für gefärbtes Tuch, Russets und Haberjects, 2 Ellen innerhalb der Sahlleiste; und wie mit dem Maß, so soll es auch mit dem Gewicht gehalten werden.«

Doch das Maß ist mit Sicherheit nicht allein die Domäne der westlichen Zivilisationen. Wie Robert Crease in seinem 2012 veröffentlichten Buch World in the Balance erzählt, tauchten in China bereits vor 2000 v. u. Z. erste Messverfahren auf. Einer der frühesten Erlasse von Qin Shi Huangdi – dem ersten Kaiser des vereinigten China – bestand darin, das System von Gewichten und Maßen zu zentralisieren. Ebenfalls beschreibt Crease die Entwicklung eines Messsystems bei den Akan-Völkern an der Westküste Afrikas, basierend auf kleinen Skulpturen, die als figürliche Gewichte fungierten und bereits vor dem 14. Jahrhundert für den Handel mit Goldstaub benutzt wurden.

Man muss jedoch ins 17. Jahrhundert springen, um mit der Galileischen Revolution und der Verbreitung der entsprechenden wissenschaftlichen Methode und dann im 18. Jahrhundert mit der Französischen Revolution auf zwei entscheidende Etappen für die Definition eines universellen Einheitensystems zu stoßen. Denn die moderne Wissenschaftsmethodik basiert unstrittig auf Experimenten und Beobachtungen und ihrer Reproduzierbarkeit. Um sie zu beschreiben, um durch sie neue Theorien aufzustellen oder existierende Theorien zu validieren oder sie zu widerlegen, braucht es eine gemeinsame Sprache: die der Maßeinheit. Die Französische Revolution basiert auf einem universellen, anti-aristokratischen Geist. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit konnten nicht in einer von Einzelinteressen bestimmten Gesellschaft wachsen, die sich unter anderem in wenig transparenten und konfusen Maßsystemen ausdrückten – man schätzt, dass es damals in der französischen Welt Abertausende verschiedener Maßeinheiten gab. Dieser Zustand bevorteilte diejenigen, die dieses verwirrende System verwalteten und aus der Konfusion auch noch Gewinn schlugen, während jene, die täglich gezwungen waren, es zu benutzen, alle Nachteile zu spüren bekamen.

Die Revolution benötigte dagegen ein universelles System, das für alle gleich ist. Eine Notwendigkeit, die bereits im vorrevolutionären Frankreich deutlich wird und die darum auf fruchtbaren Boden fällt. In den Cahiers de doléances (Beschwerdeheften) an die Generalstände, 1789 von König Ludwig XVI. notfallmäßig zusammengerufen, findet sich häufig die Forderung nach einheitlichen und überwachten Messsystemen, vor allem vonseiten des Dritten Standes – freie Bürger und Bauern –, für den die Messprozesse integraler Bestandteil der Arbeit und des Lebensunterhalts darstellen. Es ist darum kein Zufall, dass die Schneider fordern, es solle »dieselben Gewichte und dieselben Maße im ganzen Reich« geben, »ebenso wie ein einziges Gesetz und einen einheitlichen Zoll«, und dass die Schmiede nach »demselben Gewicht, demselben Maß, denselben Gesetzen« verlangen.

Das alles trug dazu bei, dass im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts in Paris das metrische Dezimalsystem erfunden wurde, das sechs Einheiten vorsah: den Meter als Längenmaß, das Ar als Flächenmaß, den Ster – entsprechend einem Kubikmeter Feuerholz – als Volumenmaß, den Liter als Flüssigkeitsmaß, das Gramm als Gewichtsmaß und den Franken als Währungseinheit. Von diesen Einheiten werden einzig das (Kilo)Gramm und der Meter bis in unsere Tage überdauern und sind demnach Kinder der Revolution. Letzterer wurde in der Sitzung der Nationalversammlung vom 30. März 1791 als Zehnmillionstel der Entfernung zwischen dem Nordpol und dem Äquator festgelegt, gemessen entlang des Meridians, der durch Paris verläuft. Von der komplexen Theorie ging man sofort zur Praxis über, doch Gewohnheiten ändern sich langsam. So musste man noch beinahe ein halbes Jahrhundert warten, bis 1837 Minister Guizot ein Gesetz erließ, das formal das metrische System in Frankreich einführte.

Vom postrevolutionären Frankreich aus verbreitete sich der Wunsch, Grenzen zu überschreiten – wenigstens was die Maßeinheiten anging –, auf internationaler Ebene: Am 20. Mai 1875 unterschrieben 17 Nationen in Paris die Convention du Mètre, womit eine permanente Organisation ins Leben gerufen wurde, die im gegenseitigen Einvernehmen über alle die Maßeinheiten betreffenden Belange entscheiden sollte. Von diesem Zeitpunkt an intensivierten sich die metrologischen Aktivitäten, auch dank dem neu gegründeten Bureau International des poids et mesures. Eine große Zahl von Ländern besitzt heute offizielle Institute für Metrologie. In Italien ist es das Istituto Nazionale di Ricerca Metrologica (Inrim) mit Sitz in Turin, das als nationales Institut für Metrologie fungiert, in Deutschland die Physikalisch-Technische Bundesanstalt mit Sitz in Braunschweig und Berlin.

Die Woche, die mit dem 10. Oktober 1960 begann, brachte zwei Debüts.

Eines ereignete sich am Samstag, dem 15., in der Hamburger Kirchenallee. John, Paul, George und Ringo machten im Akustikstudio ihre erste gemeinsame Aufnahme: der Klassiker Summertime von George Gershwin. Das andere Debüt hatte schon am Mittwoch, dem 12., stattgefunden: mit dem Beginn der Elften Generalkonferenz für Maß und Gewicht in Paris. Bei dieser Gelegenheit wurde das internationale Einheitensystem – kurz SI – eingeführt, das erste wirklich universelle System. Auf seinem langen und beschwerlichen Weg machte das Maßsystem wichtige Meter gut. Ausgerechnet in den Jahren des Kalten Krieges, als die Grenzen zwischen den Nationen undurchlässiger werden, fallen die Grenzen der Einheitensysteme. Auch wenn viele vielleicht meinen, die Geschichte des 20. Jahrhunderts sei stärker durch das erste der beiden beschriebenen Debüts beeinflusst worden, ist es in Wirklichkeit das zweite, das unseren Dialog mit dem Universum radikal auf den Kopf gestellt hat.

Das internationale Einheitensystem besteht ursprünglich aus sechs Maßeinheiten: dem Meter für die Länge, der Sekunde für die Zeit, dem Kilogramm für die Masse, Ampere für den elektrischen Strom, Kelvin für die Temperatur und Candela für die Lichtstärke. Eine endlich kohärente Architektur, die mit sieben Einheiten – 1971 wird das Mol als Einheit der Stoffmenge, fundamental wichtig für die Physik, hinzugefügt – eine universelle und vollständige Sprache definiert, um nicht nur unsere kleine Welt, sondern die gesamte Natur zu vermessen, von den geheimsten subatomaren Winkeln bis zu den Grenzen des Universums.

Gesellschaft, Wissenschaft und moderne Technologie könnten ganz einfach nicht existieren ohne das Maß. Die Zivilisation des 21. Jahrhunderts ist undenkbar ohne Messinstrumente. Zeit, Längen, Entfernungen, Geschwindigkeiten, Richtung, Gewicht, Volumen, Temperatur, Druck, Kraft, Energie, Lichtstärke, Leistung sind nur einige der physikalischen Eigenschaften, für die täglich akkurate Messungen stattfinden.

Das Maßnehmen ist eine – wenn auch meist uns unbewusste – alltägliche Handlung und durchdringt jeden Aspekt unseres Lebens, eine Tatsache, die wir üblicherweise für selbstverständlich halten, und erst wenn die Messinstrumente ausfallen oder nicht verfügbar sind, wird uns bewusst, wie wichtig sie sind. Ohne eine Messung der Zeit gäbe es keine Uhren und Wecker am Morgen, ohne Volumenmessung wüssten wir nicht, wie viel Benzin in unserem Auto ist, ohne eine Messung von Standort oder Geschwindigkeit funktionierten weder Züge noch Flugzeuge, ohne Messung unserer Vitalparameter wäre im Krankheitsfall unsere Gesundheit stark gefährdet, ohne Elektromessungen funktionierte kein einziger elektrischer Apparat.

Wissenschaft und Technologie haben Riesenschritte getan, seit die französischen Revolutionäre das metrische System als Dezimalsystem definierten. Heute leben wir mit einer unvorstellbaren Menge an Präzisionsmessungen, die die Verifizierung neuer Theorien erlauben, Grundlage für zukünftige Nobelpreise bilden – die Messung des Higgs-Boson oder die Entdeckung der Gravitationswelle beispielsweise –, die unabdingbar sind für Spitzenforschungen in allen Bereichen der Wissenschaft, die uns erlaubt haben, die Covid‑19‑Pandemie zu bekämpfen, und das Funktionieren modernster Technologien garantieren, von Satelliten hoch oben bis hin zu den Smartphones, die in unsere Taschen passen.

All diese Messungen basieren auf dem Internationalen Einheitensystem, dessen Einheiten physische Entsprechungen in beispielhaften Objekten oder Phänomenen finden, also in etwas, das für alle zugänglich ist. Beispielsweise haben wir gesehen, dass der Meter ursprünglich als ein Zehnmillionstel der Entfernung zwischen Nordpol und Erdäquator definiert war. Aus praktischen Gründen wurde er 1889 neu definiert als Entfernung zwischen zwei in einen Stab aus einer Platin-Iridium-Legierung eingravierten Kerben, der im Bureau International des poids et mesures in Sèvres deponiert wurde. Ein Stab, der fortan als Standard dienen sollte, mit dem jeder andere auf der Welt hergestellte Meterstab verglichen werden konnte.

Die Sekunde wurde zunächst definiert als Bruchteil der Zeitspanne der Erdrotation, dem mittleren Sonnentag. 1960 fiel jedoch auf, dass diese Definition nicht ausreichend präzise war, da die Länge der Tage in der Zeit variiert, und die Sekunde wurde anhand der Rotation der Erde um die Sonne neu berechnet. Nur wenige Jahre später revidierte man die Sekunde erneut und definierte sie nun als Vielfaches der Frequenz eines bestimmten atomaren Übergangs des Caesiumatoms, immer in dem Bestreben, noch präziser zu werden.

Ebenfalls in Sèvres wird der Kilogramm-Prototyp aufbewahrt, das sogenannte International Prototype Kilogram (IPK), ein kleiner Zylinder aus 90 % Platin und 10 % Iridium, etwa vier mal vier Zentimeter groß. Dieser Zylinder ersetzte die französische Definition des Kilogramms als Entsprechung eines Liters destilliertem Wasser bei einer Temperatur von vier Grad Celsius.

Trotz der Sorgfalt, mit der sie verwahrt werden, sind Stäbe und Zylinder, wenn sie aus Metall bestehen, mit der Zeit Veränderungen unterworfen. Der Kilogramm-Prototyp wurde 1889 zusammen mit fünf weiteren identischen Exemplaren hergestellt. Im Vergleich zu ihnen hat er im Laufe ungefähr eines Jahrhunderts circa ein Fünfzigmillionstel Kilogramm eingebüßt. Das mag klingen wie eine Kleinigkeit, es geht schließlich etwa um das Gewicht eines Salzkörnchens. Doch wenn man sich die Präzision vor Augen hält, die die moderne Wissenschaft erfordert, und die Tatsache, dass das Kilogramm Grundlage für die Definition abgeleiteter Einheiten ist – wie die der Kraft und der Energie –, handelt es sich um eine Abweichung, die in der Lage wäre, das gesamte internationale Einheitensystem auf den Kopf zu stellen. Der Verfall der Artefakte ist, wenngleich philosophisch folgerichtig hinsichtlich des Verfalls derer, die sie geschaffen haben – der Menschen –, absolut inkompatibel mit der Universalität und der Zuverlässigkeit, die die Wissenschaft fordert. Man drohte also dadurch in ein neues wissenschaftliches Mittelalter abzurutschen, ohne gesicherte Maßeinheiten.

Das haben die Wissenschaftler abzuwenden gewusst, die am 16. November 2018 beschlossen, die Größen des internationalen Einheitensystems nicht länger auf Grundlage materieller Objekte oder Ereignisse zu definieren, sondern ausgehend von universellen physikalischen Konstanten wie der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum oder der Planck-Konstante. Konstanten, die zur Basis grundlegender physikalischer Theorien und Gesetze werden: Die Lichtgeschwindigkeit beispielsweise ist Grundlage für den Elektromagnetismus oder die Relativitätstheorie, während die Planck-Konstante unabdingbar für die Quantenmechanik ist.

Eine wahrhaft kopernikanische Revolution: Man hat in der Tat postuliert, den grundlegenden physikalischen Konstanten zu vertrauen, das heißt, ihren Wert als unveränderbar anzunehmen, und die Größen des internationalen Einheitensystems auf ihrer Grundlage neu definiert. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Naturgesetze, die das Universum regieren, unveränderlich sind und als viel solidere Grundlage eines Einheitensystems dienen können als jene, die Objekte oder Ereignisse zur Grundlage nehmen, die wir sehen oder anfassen können. Ein epochaler Wandel für die Wissenschaft und die gesamte Menschheit, der noch wenig bekannt ist und den wir gemeinsam entdecken wollen.

Sieben Einheiten, eine Hymne an die Natur.

I. Der Meter

112, MERCER STREET

Die Hausnummer 112 der Mercer Street in Princeton, New Jersey, und die Fakultät für Physik der Lincoln University in Pennsylvania trennen in etwa 148.000 Meter Straße. So ausgedrückt wirkt die Summe enorm, doch übersetzt in 148 Kilometer ist die Entfernung weit weniger beängstigend. Heute sagt uns Google Maps, dass man mit dem Auto eine Stunde und vierzig Minuten braucht, um sie zurückzulegen, aber 1946 war eine solche Reise mit Sicherheit schwieriger, vor allem wenn derjenige, der sie unternahm, auf die Siebzig zuging und einige gesundheitliche Probleme hatte. Wenn man bedenkt, dass der Grund der Reise die Verleihung eines Ehrendoktortitels war – die Art von Ereignissen, die Albert Einstein der übermäßigen Formalitäten und Aufgeblasenheit wegen überhaupt nicht liebte –, so hätte es nicht verwundert, wenn der Vater der Relativitätstheorie die Einladung der Lincoln University wie üblich abgelehnt hätte. Denn darüber hinaus war diese damals eine recht kleine Universität, mit ihren nur etwas mehr als 2.000 Studenten.

Und doch nahm Professor Einstein die Einladung an, sogar gerne. Weil, so seine Worte, diesem Besuch am 3. Mai 1946 »ein wertvoller Zweck« zugrunde lag. Die Berühmtheit der Lincoln University überstieg bei Weitem ihre vergleichsweise begrenzten Dimensionen: Sie war die erste amerikanische Universität, die einem afroamerikanischen Studenten ein Studium ermöglichte. Gegründet 1854, bekam sie bald den Spitznamen »Das schwarze Princeton«, wegen der Verbindung ihrer Gründungsväter und ersten Dozenten mit der weitaus bekannteren Universität in New Jersey, und weil sie eine Anlaufstelle für afroamerikanische Studenten war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die afroamerikanische Gemeinschaft noch immer durch die Rassentrennung unterdrückt. Obwohl eine ernüchternde Mehrheit der weißen Amerikaner vorgab, dieses Drama nicht zu sehen, erhob Einstein offen Anklage. Bereits 1937 trat seine Ansicht klar zutage: Er beherbergte bei sich Marian Anderson, eine der berühmtesten Opernsängerinnen des 20. Jahrhunderts, die zu einem Auftritt in Princeton aufgrund ihrer Hautfarbe im dortigen Hotel kein Zimmer bekam. Auch in einem Artikel von 1946 für die Zeitschrift Pageant – hauptsächlich gelesen von Weißen – schrieb Einstein über die Rassentrennung: »Je mehr ich mich als Amerikaner fühle, desto mehr schmerzt mich diese Situation.« Und er fügte hinzu: »Dem Gefühl, mitschuldig zu sein, kann ich nur entkommen, indem ich meine Stimme erhebe.« An jenem 3. Mai 1946 nahm der Nobelpreisträger – dessen ausgezehrtes Gesicht und bescheidenes Auftreten ihn beinahe wie eine biblische Gestalt wirken ließen, wie sich ein Student von damals erinnert – an der Verleihung der honoris causa teil und hielt eine Dankesrede, die Berühmtheit erlangen sollte. Er fand deutliche Worte gegen Rassismus und die Rassentrennung, die er als »keine Krankheit der Schwarzen, sondern eine Krankheit der weißen Menschen« definierte. Und er fuhr fort: »Ich habe nicht die Absicht, darüber zu schweigen.«

Es sollte noch weitere neun Jahre dauern, bis die wenigen Meter, die die vorderen und die hinteren Sitze der Autobusse trennten – Erstere den Weißen vorbehalten, Letztere den Schwarzen –, zum Auslöser für die Bürgerrechtsbewegung für die Rechte der Afroamerikaner wurden, dank der mutigen Rosa Parks, die sich weigerte, ebendiese Meter zurückzulegen. Das geschah am 1. Dezember 1955, den Einstein leider nicht mehr erlebte, denn bereits im April jenes Jahres war der Protagonist einer der größten Revolutionen der modernen Physik verstorben. Dieser Wissenschaftler hat mit der Relativitätstheorie nicht nur seine eigene Disziplin auf den Kopf gestellt hatte – und bis heute eine ganze Reihe von Nobelpreisträgern inspiriert, die Forschungen auf der Grundlage seiner Theorie anstellen, für die er selbst, es mutet an wie eine Ironie des Schicksals, gar nicht den Nobelpreis bekam. Sondern er revolutionierte das gesamte menschliche Wissen und ließ die Physik zu einem Bezugspunkt für Künstler, Philosophen, Intellektuelle und Popikonen werden.

Es ist also ganz natürlich, dass Einsteins Einfluss auch im Bereich der Maßeinheiten deutlich ist. Die Relativitätstheorie beschreibt kein isoliertes Phänomen, sondern die Umgebung, in der alle physikalischen Phänomene stattfinden: die Raumzeit. Einstein schreibt also nicht nur einen Teil des großen Drehbuchs der Natur, sondern legt damit die allgemeinen Regeln des übergeordneten Schauspiels fest. Die Relativitätstheorie ist eine Theorie über Raum und Zeit, und als solche hat sie Vorrang vor allen anderen, die mit ihr kohärent sein müssen.

Wenn man in Betracht zieht, dass der menschliche Verstand seit Jahrtausenden danach strebt, ein globales und universelles System von Einheiten zu entwickeln, um die Welt und die uns umgebende Natur zu beschreiben und zu verstehen – ein System, das Grenzen und Herrschaftsgebiete überwindet und gemeinsamer Besitz aller ist –, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Relativitätstheorie zu einem Meilenstein in der Entwicklung eines universellen Meters geworden ist. Und deshalb beginnen wir mit dieser Einheit unsere Entdeckungsreise, Maß für Maß.

Der Begriff des Meters selbst steht ikonenhaft für das Prinzip des Messens, sowohl in etymologischer Hinsicht – abgeleitet vom griechischen Wort μέτροv (metros – Maß) – als auch dadurch, dass er dem ersten internationalen Traktat über die Maßeinheiten, der Convention du Mètre, 1875 unterschrieben in Paris von 17 Nationen, seinen Namen gab. Ein Ereignis, das selten in den Geschichtsbüchern auftaucht und doch einen ersten Fixpunkt auf dem jahrtausendelangen Weg darstellt, der zu Anbeginn der Zivilisation seinen Anfang nahm.

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