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Treten Sie ein, es ist geöffnet! An jedem ersten Montag im Monat findet im Café Marble eine Teeverkostung der besonderen Art statt: Es gibt kleine süße Köstlichkeiten und zwei Sorten Matcha Tee, die die Bitterkeit des Lebens besänftigen sollen. Der umsichtige Besitzer hat für alle Gäste ein offenes Ohr. Da ist die junge Verkäuferin, die seit dem Neujahrsfest vom Pech verfolgt scheint. Die Modedesignerin, die mit ihren Entscheidungen hadert. Und die Großmutter, die sich mit ihrer Enkelin überworfen hat ... Alle Besucher sind an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie Halt und Trost brauchen. Oder einfach einen guten Rat. Und so wird das Café zu einem Ort unerwarteter Begegnungen und zu einem Ausgangspunkt für Neubeginn und zweite Chancen.
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Seitenzahl: 170
Veröffentlichungsjahr: 2025
Michiko Aoyama
Roman
Treten Sie ein, es ist geöffnet!An jedem ersten Montag im Monat findet im Café Marble eine Teeverkostung der besonderen Art statt: Es gibt kleine süße Köstlichkeiten und zwei Sorten Matcha-Tee, die die Bitterkeit des Lebens besänftigen sollen. Der umsichtige Besitzer hat für alle Gäste ein offenes Ohr. Da ist die junge Verkäuferin, die seit dem Neujahrsfest vom Pech verfolgt scheint. Die Modedesignerin, die mit ihren Entscheidungen hadert. Und die Großmutter, die sich mit ihrer Enkelin überworfen hat ... Alle Besucher sind an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie Halt und Trost brauchen. Oder einfach einen guten Rat. Und so wird das Café zu einem Ort unerwarteter Begegnungen und zu einem Ausgangspunkt für Neubeginn und zweite Chancen.
Ein Roman über die Kraft menschlicher Beziehungen – der neue Bestseller von der Autorin von «Frau Komachi empfiehlt ein Buch».
MICHIKO AOYAMA, geboren 1970 in der Präfektur Aichi, lebt heute in Yokohama. Nach ihrem Universitätsabschluss arbeitete sie zwei Jahre lang als Reporterin für eine japanische Zeitung in Sydney. Nach ihrer Heimkehr war sie zunächst als Zeitschriftenredakteurin in einem Tokioter Verlag tätig, bevor sie sich ganz dem literarischen Schreiben widmete. Nach dem internationalen Erfolg von «Frau Komachi empfiehlt ein Buch» und «Donnerstags im Café unter den Kirschbäumen» folgt hier ein weiterer Bestseller von Michiko Aoyama.
SABINE MANGOLD, geboren 1957, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Japanologie. Sie hat zahlreiche japanische Autorinnen und Autoren – darunter Haruki Murakami, Yoko Ogawa und Kazuaki Takano – ins Deutsche übertragen. Für ihre langjährige Arbeit wurde sie mit diversen Stipendien und 2019 mit dem Übersetzerpreis der Japan Foundation ausgezeichnet.
Die japanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Getsuyoubi no matcha cafe» bei Takarajimasha Inc., Tokio.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Getsuyoubi no matcha cafe» Copyright © 2021 by Michiko Aoyama. All rights reserved
Redaktion Heike Brillmann-Ede
Foto der Autorin: courtesy of the author
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg
Coverabbildung Riccardo Gola
ISBN 978-3-644-02089-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Tokio – Eismond (Januar)
Eben noch hatte ich die Hände vor der Brust zusammengelegt und gebetet, mir möge etwas Schönes widerfahren. Aber an wen hatte ich meinen Wunsch gerichtet? Nun, da ich mich in einem Schrein befand, vermutlich an die Götter. Das dachte ich zumindest …
Aber wo steckten diese Götter?
Etwa neben der Kollekte?
Oder gar im Himmel?
Oder ganz woanders?
Es war bereits Mitte Januar, aber für mich war es das erste Mal in diesem Jahr, dass ich im Tempel betete, was man eigentlich schon in der Neujahrsnacht tat.
Ich arbeitete in einem Mobilfunkshop in einem Einkaufszentrum, der über die Feiertage geöffnet blieb, sodass ich keinen Urlaub bekam. Unser Chef hatte zwar gestaffelte Schichten für die Mitarbeiter eingerichtet, aber Singles wie ich übernahmen freiwillig die Arbeitszeiten der Kolleginnen und Kollegen mit Familie – und machten Überstunden.
Meine Eltern beklagten sich, dass ich ihnen nicht einmal bei den Vorbereitungen zum Neujahrsfest behilflich sein konnte.
«Also wirklich, Miho. Mit sechsundzwanzig!»
Was wollt ihr? Verschont eure Tochter doch bitte damit, ich bin schließlich auf dem Gipfel meiner Leistungsfähigkeit. So heißt es doch, oder?
Seit meiner Kindheit bin ich vernarrt in technische Geräte, und die Beschäftigung mit Smartphones ist mir alles andere als zuwider.
Allerdings fiel der Schichtplan dieses Jahr so unübersichtlich aus, dass ich mich vertan hatte. Ich erschien heute in aller Herrgottsfrühe im Laden, obwohl ich eigentlich freigehabt hätte. Echt frustrierend! Ich hätte ausschlafen und gestern Abend länger aufbleiben können!
Da ich mich nicht dazu durchringen konnte, gleich wieder nach Hause zu marschieren, schlenderte ich noch ein wenig durchs Einkaufszentrum.
Es gibt jedoch Tage, da klappt einfach gar nichts.
Der Daunenmantel, mit dem ich geliebäugelt hatte, war ausverkauft. Als ich daraufhin in einem Fast-Food-Restaurant Trost suchte, kleckerte ich Ketchup auf meinen Pullover. Auf der Toilette wollte ich dann den Fleck rauswaschen, musste aber feststellen, dass ich mein Stofftaschentuch zu Hause vergessen hatte.
Heute ging wirklich alles schief. Und abgesehen davon, dass mein Leben ohnehin nicht gerade mit Glück gesegnet war, gestaltete sich dieser Tag besonders schlimm.
Ob es daran lag, dass ich noch kein Neujahrsgebet gesprochen hatte?
Man musste schon eine gewisse Strecke vom Einkaufszentrum zum Schrein zurücklegen, aber ich nahm den Fußmarsch in Kauf, auch wegen der spirituellen Reinigung.
Mitten im Gebet fiel mir dann plötzlich das Café Marble ein.
Der kleine Laden befand sich in der Nähe des Schreins, da, wo die Kirschbaumallee am Ufer des Flusses endet. In dem Café herrschte stets eine gemütliche Atmosphäre, und der jugendliche Kellner war mir sehr sympathisch. Die Innenausstattung und das Geschirr bewiesen Stil, und natürlich schmeckten Kaffee und Tee ausgezeichnet.
Normalerweise konnte ich meinen geheimen Rückzugsort nur aufsuchen, wenn ich mal Frühschicht hatte. Aber an solch einem Pechtag wie heute musste ich unbedingt dorthin, um meine Stimmung aufzuhellen.
Ich verließ also den Tempel und spazierte die Allee mit den kahlen Kirschbäumen entlang. Atemwölkchen schlugen mir aus dem rot karierten Wollschal entgegen, den ich mir bis unter die Nase fest um den Hals gewickelt hatte. Tief vergraben in den Manteltaschen lagen meine vor Kälte tauben Hände.
Endlich erkannte ich durch die Bäume hindurch die Markise des Cafés.
Nur schnell hinein und aufwärmen, dachte ich – als ich plötzlich stockte.
Oje, heute war ja Montag. Das Café hatte Ruhetag.
So was Blödes! Den Weg hätte ich mir sparen können. Erst jetzt, fast am Ziel, war es mir wieder eingefallen.
Na gut, sagte ich mir und seufzte, dann eben nicht. Doch gerade als ich mich auf den Rückweg machen wollte, ging die Tür des Cafés auf. Eine Frau mit einem Pixie-Haarschnitt trat heraus, ihr aschbraun gefärbtes Haar glänzte. Sie schien etwas älter als ich.
Als sie an mir vorbeilief, wagte ich sie anzusprechen.
«Entschuldigung …»
Ihre mandelförmigen Augen blickten mich fragend an.
«Ist das Café Marble heute nicht geschlossen?»
«Doch», erwiderte sie amüsiert, «es ist aber trotzdem geöffnet. Geh einfach rein.»
Ihre rauchige Stimme gefiel mir.
Wow, ist die cool, dachte ich, während sie schon flotten Schrittes weitereilte.
Ich ging also zum Eingang und spähte unauffällig durch die Fensterfront. Es saßen tatsächlich einige Leute drinnen, und an der Theke blätterte ein Mann in einer Sportzeitschrift.
Als ich die Tür öffnen wollte, fiel mein Blick auf das Ladenschildmit dem Namenszug Café Marble. Die letzten vier Buchstaben «rble» waren mit weißem Band überklebt. Stattdessen stand dort mit schwarzem Filzstift «tcha» geschrieben. Der Name lautete also: Café Matcha.
Café Matcha? War das ein Witz?
Verwundert über die etwas schlampige Ausführung schüttelte ich den Kopf.
Plötzlich ging die Tür auf, und ein kleiner älterer Mann lugte durch den Spalt.
«Hereinspaziert», forderte er mich auf und winkte mit seiner Zeitschrift.
Als ich das auffällige Muttermal auf seiner Stirn sah, erkannte ich ihn wieder. Der sympathische Kellner des Cafés hatte ihn immer mit Master angesprochen, als wäre er sein Chef. Doch so wie er kurz zuvor am Tresen gemütlich in einer Sportgazette geblättert hatte, wirkte er eher wie ein Gast. Vielleicht war Master nur sein Spitzname.
«Heute wird hier ausnahmsweise nur Matcha-Tee serviert», sagte er. «Wenn Sie nichts dagegen haben, kommen Sie rein.» Er machte eine einladende Geste.
Ich liebe Matcha! Matcha-Latte. Matcha-Pudding. Matcha-Eiscreme. Ich war gerettet!
Erleichtert betrat ich das Café. Weiter hinten saß ein Pärchen am Tisch. Hinter dem Tresen stand ein Mann in einem dunkelblauen Kimono. Ich wählte einen Platz in seiner Nähe und zog den Mantel aus.
Schon fühlte ich mich besser. Mein Gaumen, meine Augen, mein gesamter Körper lechzten nach einem warmen, süßen, milchig-grünen Matcha-Latte.
«Willkommen», begrüßte mich ein mir unbekannter Kellner. Er stellte ein Glas Wasser an meinen Platz und reichte mir die Speisekarte.
Darin lag ein gefalteter Bogen Washi-Papier, auf dem in kalligrafischer Handschrift stand:
Koicha 1.200 Yen
Usucha 700 Yen
Beide Getränke werden mit japanischem Gebäck serviert.
Ich war ganz verblüfft. Statt Matcha-Latte oder Matcha- Pudding gab es tatsächlich nur diese beiden Sorten Grüntee, dem Namen nach stark oder schwach.
«Äh … Haben Sie nichts anderes?»
«Nein», erwiderte der Kellner knapp.
Er bediente mich zwar, schaute jedoch stur in eine andere Richtung. Schmales Kinn, gerade Nase. Ich schätzte ihn etwa fünf Jahre älter als ich. Offensichtlich war er es gewohnt, einen Kimono zu tragen. Er benahm sich ein bisschen wie ein blasierter Schnösel und wartete mit ausdrucksloser Miene auf meine Bestellung.
Ich warf noch einmal einen Blick auf die übersichtliche Getränkekarte. Auf Pudding musste ich also verzichten, das traditionelle Gebäck klang aber auch nicht übel. So ganz war mir der Unterschied zwischen beiden Teesorten nicht klar, aber der teurere schmeckte wahrscheinlich besser. Und da ich eben im Schrein gewesen war, wo ich für mein Glück gebetet hatte, sollte ich mir zur Feier des Tages etwas gönnen.
«Dann bitte koicha», sagte ich und sah auf.
Unsere Blicke begegneten sich kurz – und sofort schaute er wieder weg.
«Koicha, sehr wohl», brummte er mit tiefer Stimme und eilte zurück zum Tresen.
Wieso behandelt der mich so komisch, so von oben herab? Seine unverhohlene Abneigung kränkte mich und verdarb mir restlos die Laune. Vielleicht hätte ich doch nicht herkommen sollen.
Ich blickte mich um.
Master war wieder in sein Sportmagazin vertieft. Das Pärchen sprach leise und ruhig miteinander. Aus der Ferne wirkten die beiden ganz jung, bei genauerem Hinsehen schätzte ich sie aber doch schon auf Ende dreißig. Beide trugen schlichte Ringe an der linken Hand. Vermutlich waren sie miteinander verheiratet.
Beneidenswert! Solch eine intime, stabile Partnerschaft. Ich würde auch gern mal jemanden kennenlernen, mich verlieben und so leben wie sie …
Verstohlen musterte ich das glückliche Paar, als Master mich vom Tresen her ansprach.
«Dein Schal ist heruntergefallen.»
Er war zu einer vertraulichen Ansprache übergegangen.
Ich blickte nach unten, wo mein Schal, den ich mir locker in den Schoß gelegt hatte, schlaff am Boden lag. Ich hob ihn auf.
«Bist du öfter hier in meinem Café?», fragte Master.
Aha! Er war wohl doch der Inhaber.
«Hin und wieder. Heute bin ich zufällig hergekommen, weil ja eigentlich Ruhetag ist. Veranstalten Sie solche Events öfters? Ich meine in der Art des ‹Café Ma-tcha›?»
«Gelegentlich schon. Entweder am Ruhetag oder nach Ladenschluss.»
Das hatte ich nicht gewusst. Das Café war echt kultig, machte jedoch keinerlei Werbung, auch nicht in den sozialen Medien.
«Warum habt ihr eigentlich keine Website oder kündigt solche Veranstaltungen wie ‹Café Matcha› auf Twitter an? Dann hättet ihr viel mehr Zulauf.»
Master verzog leicht die Mundwinkel und gab ein schnaubendes Lachen von sich.
«Ich finde es spannender, wenn die Gäste zufällig kommen. So wie du heute.»
«Sie meinen, wenn das Schicksal einen herführt?»
«Ja, könnte man so sagen», erwiderte Master und hob den Zeigefinger. «Jede Begegnung ist ein Werk des Schicksals, das uns mit einem Menschen oder einer Sache verbindet. Diese Verbindung ist wie ein Samenkorn. Der Samen mag winzig klein und unscheinbar sein, doch sobald er ausgesät ist, erwachsen aus ihm wunderschöne Blumen oder köstliche Früchte. Etwas, das man sich beim Anblick des bloßen Samens nicht hätte träumen lassen.»
Mir kam der ausverkaufte Daunenmantel in den Sinn, der mir entgangen war.
«Aber manchmal bleibt es bei dieser einen Begegnung, ohne dass daraus etwas entsteht», entgegnete ich.
Er nickte. «Das heißt ja aber nicht, dass es keine Verbindung gab, sondern nur, dass diese Verbindung flüchtig war. Stell dir vor, du knabberst zum ersten Mal Sonnenblumenkerne. Allein die Erfahrung, sie gekostet zu haben, könnte in irgendeiner Form zu etwas anderem führen.»
Sonnenblumenkerne? Die hatte ich nie probiert.
Über meinen entgeisterten Gesichtsausdruck musste Master schmunzeln.
«Ich öffne meinen Laden nicht am Ruhetag, um mehr Profit zu machen, sondern weil ich Freude schenken will. Und dabei ist mir egal, wie viele Gäste hier eintrudeln.» Er verbeugte sich leicht. «Also willkommen im Café Matcha an diesem Montag.»
War das etwa doch ein Scherz?
Während ich ein ungläubiges Brummen von mir gab, kam der Kellner mit einem schwarz lackierten Tablett zurück.
«Entschuldigen Sie die Wartezeit», sagte er und stellte eine Schale Tee und einen Dessertteller vor mir ab. «Hier ist Ihr starker Tee. Das Gebäck nennt sich kanbotan.»
Kanbotan?
An seinem Akzent erkannte ich, dass er aus der Kansai-Region stammte.
Ich betrachtete die Süßspeise. Es war eine Pastete aus Bohnengelee in der Form einer Pfingstrose in lieblichem Rosa. In ihrem Blütenkelch waren gelbe, filigrane Staubfäden zu sehen.
«Trotz der bitteren Kälte vermag diese Blume so kraftvoll zu blühen», bemerkte Master und setzte seine Lektüre am Tresen fort, wo er wieder in der Zeitung blätterte.
Das Ehepaar hinten am Tisch erhob sich, und der junge Mann ging zur Kasse, während seine Frau die Auslage mit den Teepackungen studierte und eine am Tresen kaufte.
Nachdem die beiden gegangen waren, waren wir nur noch zu dritt im Café.
Ich betrachtete das hübsche Blumen-Konfekt. Daneben stand die Schale mit dem starken Tee. Wie zu erwarten war, hatte er ein intensives Dunkelgrün.
Als ich die Schale mit beiden Händen hob, bemerkte ich die dickflüssige Konsistenz des Tees, die mich an Lackfarbe erinnerte. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Er schmeckt bestimmt sehr gut, dachte ich.
Doch als ich einen Schluck gekostet hatte, setzte ich die Schale abrupt ab.
«Uaaa!», brach es ungewollt aus mir heraus.
Es war gar nicht mal so laut gewesen, aber da ich der einzige Gast im Raum war, hallte meine Stimme ungewohnt.
Der Geschmack war sehr intensiv und neu für mich. Weder herb noch bitter, sondern derart streng, dass mir kein passendes Wort dafür einfiel.
Master lachte. «Du solltest zuerst die Süßigkeit essen.»
Hastig schnitt ich das kanbotan in zwei Hälften und steckte mir eine davon schnell in den Mund. Eigentlich hatte ich das Gebäck genüsslich verspeisen wollen – das hatte ich nun vermasselt.
Ein süßes Aroma breitete sich in meinem Mund aus, sodass ich einen erneuten Versuch wagte. Diesmal war der Geschmack des Tees erträglicher, doch nach wie vor fand ich seine Intensität irritierend. Aber stehen lassen wollte ich dieses Getränk für stolze 1200 Yen nun auch wieder nicht.
Mein Blick fiel auf das Glas Wasser. Ich leerte es gierig, als ein Handy am Tresen klingelte. Der Kellner griff sofort danach und versuchte, das Klingeln abzustellen. Hektisch tippte er auf dem Display herum.
Ich kam ihm zu Hilfe. «Sie müssen nach oben wischen, um das Gespräch anzunehmen», erklärte ich.
«Wie, wischen?» Er warf mir einen verzweifelten Blick zu.
«Na, mit dem Finger auf dem Display nach oben streichen», sagte ich.
Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich zu melden, bevor der Klingelton verstummte. Sichtlich erleichtert nahm er das Gespräch an.
«Ja … ja … nein, ich habe dich nicht angerufen.»
Typischer Anfängerfehler bei Smartphone-Neulingen: den eingehenden Anruf nicht annehmen zu können und stattdessen selbst einen Anruf zu starten.
Ich steckte mir die andere Hälfte des Pfingstrosen-Gebäcks in den Mund und leerte tapfer die Schale mit dem Tee.
Ich hatte extra die teure Sorte bestellt, um mich aufzuheitern, und nun entpuppte sich auch das als ein Fehlschlag. Heute war echt nicht mein Tag.
Als der Kellner sein Handy weglegte, fragte ihn Master: «War das dein Vater?»
«Ja, das Ding hat sich selbstständig gemacht und bei ihm geläutet. Deshalb rief er mich zurück.» Er wedelte verächtlich mit dem Apparat. «Vor zwei Wochen bin ich endlich vom Klapphandy auf ein Smartphone umgestiegen, aber es ist wirklich frustrierend. Ständig werde ich aufgefordert, irgendwelche Updates vorzunehmen, und wenn ich das befolge, ändert sich der Zustand der Apps. Und nichts funktioniert mehr. Ich dachte, ich hätte ein brandneues Modell gekauft!»
Unfähig, meine Klappe zu halten, mischte ich mich ein. «Ein Smartphone ist nie ganz fertig.»
Der Kellner und Master drehten sich zu mir um.
«Ich arbeite in der Branche und erlebe das tagtäglich. Die Welt der Smartphones ist ständig in Bewegung. Immer wieder gibt es notwendige Updates, es tauchen neue Viren auf, mal ist das Netz instabil, oder die Bedürfnisse der Anwender ändern sich. Smartphones müssen sich einfach weiterentwickeln, um sich an eine veränderte Welt anzupassen. Schritt für Schritt.»
Master nickte.
Ermutigt fuhr ich fort: «Es stimmt, manchmal kommt es durch fehlerhafte Updates zu unglücklichen Pannen, aber auf lange Sicht wird die Qualität trotz dieser Missgeschicke immer weiter verbessert.»
Ich kam richtig in Fahrt.
«Ohne das Gerät gegen ein moderneres Modell austauschen zu müssen, kann man mit ihm neue Dinge ausprobieren und seine Möglichkeiten erweitern. Das finde ich total faszinierend. Es kommt mir vor wie ein lebender Organismus. Ich denke dann immer: Was für ein interessantes kleines Ding!»
Ups! Ich stockte und schlug mir die Hand vor den Mund. Da war ich wieder mal zu schwatzhaft gewesen. Bei Handys passierte mir das häufig. Eine ganz dumme Angewohnheit!
Der Kellner senkte den Blick.
«Möchten Sie vielleicht den usucha probieren?», fragte er mich vorsichtig.
«Usucha?»
«Ja, das ist die leichtere Teesorte. Es handelt sich um den üblichen, aufgeschäumten Matcha, den die meisten Leute kennen. In der Regel ist er bekömmlicher. Und als Dankeschön dafür, dass Sie mir erklärt haben, wie man am Smartphone ein Gespräch annimmt, möchte ich Ihnen gerne eine Schale spendieren.»
Master warf mir einen Blick zu. «Willst du ihm nicht dabei zuschauen, wie er den Matcha zubereitet?», fragte er ohne Umschweife.
«Darf ich? Ja, das würde ich gern sehen.»
Neugierig drehte ich mich um Richtung Tresen, worauf der Kellner mit einem leichten Nicken einwilligte.
«Prima!» Schmunzelnd faltete Master sein Sportmagazin zusammen. «Kennst du den Ausspruch ‹Spontaneität und Glück stehen in direktem Verhältnis zueinander›?»
Ich schüttelte den Kopf. «Von wem stammt der?»
«Von mir», sagte er leichthin.
Dann ging er mit dem Magazin in der Hand rüber zum Zeitschriftenständer neben der Kasse.
Ein komischer Kauz.
Kurz darauf brachte der Kellner ein Tablett und einen Wasserkessel und stellte beides vor mir auf den Tisch. Auf dem Tablett befanden sich eine Teeschale, eine Art kleiner Schneebesen und ein Löffel, beides aus Bambus, sowie ein Teesieb. Die leere Teeschale war offenbar bereits vorgewärmt, die Spitze des Schneebesens leicht angefeuchtet.
«Gut», sagte er, «fangen wir an.»
Mit dem Löffel, der wie ein überdimensionaler Ohrenreiniger aussah, füllte er zuerst anderthalb Portionen Matcha-Pulver ins Teesieb. Klümpchen wurden mit der Unterseite des Löffels sorgfältig zerrieben. Dann goss er vorsichtig heißes Wasser über das fein gesiebte Pulver in der Teeschale und griff zum Schneebesen.
«Man schlägt den Tee nach vorne und nach hinten und wiederholt das, als würde man ein M schreiben.»
«Ein M?»
«Ja, der Buchstabe M. Aus dem Alphabet?»
«Aha.» Meine Frage schien ihn aus dem Konzept zu bringen. Ich überlegte laut: «Wie hat man das wohl beschrieben, bevor das Alphabet in Japan bekannt war? Zum Beispiel zu Zeiten des Teemeisters Sen no Rikyū?»
Der Kellner schmunzelte. «Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht.»
Sieh an! Wie süß der auf einmal aussieht, wenn er lächelt, dachte ich. Das sollte er öfter tun.
In meiner Brust entfaltete sich ein wohliges Gefühl, als würde ein Eisblock schmelzen.
Was war denn plötzlich mit mir los?
Nun peitschte der Kellner die Mischung auf, immer im Zickzackmuster. Anschließend ließ er den Bambusbesen sanft über die schaumige Oberfläche gleiten, um die größeren Blasen zu glätten, bevor er ihn ein letztes Mal tief eintauchte.
«Zum Schluss zieht man einen Kringel wie das Zeichen の.»
Er zog den kleinen Besen direkt aus der Mitte heraus und strahlte übers ganze Gesicht.
«Vielleicht hat Sen no Rikyū dieses Zeichen ja auch geschrieben.»
Endlich schaute er mich direkt an. Aber diesmal konnte ich seinem Blick nicht standhalten. Nervös ließ ich meine Augen durch den Raum schweifen.
Er ging zum Tresen und kam mit einer anderen Süßspeise auf einem Teller zurück.
«Das ist ein yuki usagi», erklärte er und stellte ein Reisküchlein in der Form eines kleinen Schneehasen auf den Tisch. Das niedliche weiße Mochisah aus, als würde es über verschneite Berge hüpfen.
Genüsslich naschte ich diesmal zuerst die Süßigkeit, bevor ich den leichteren Tee trank.