Mathematik - Das ist doch keine Kunst! - Günter M. Ziegler - E-Book

Mathematik - Das ist doch keine Kunst! E-Book

Günter M. Ziegler

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Beschreibung

So schön kann Mathe sein!

Wo wir nur einen Herrnhuter Stern sehen oder einen kunstvollen Knoten, zeigt uns der »Popstar unter den Mathematikern« Günter Ziegler die Mathematik in ihrer ganzen Schönheit. In diesem außergewöhnlichen Buch betrachtet der Geometrieprofessor 24 Bilder, die nur auf den ersten Blick nichts mit Mathematik zu tun haben.

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Seitenzahl: 318

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KNAUS

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2013

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Layout: Lisa Jüngst

Lektorat und Satz: Heike Gronemeier

ISBN 978-3-641-11326-1

www.knaus-verlag.de

Inhalt

Vorschau: Bilder meiner Ausstellung

– 20 000 – Der Knochen mit den Primzahlen

1498 – Ein Genie macht Fehler

1522/1525 – Eine deutsche Revolution

1557 – Die Erfinder des Gleichheitsszeichens

1801 – Schatzkarte für eine Entdeckung

1820 – Metzger und Mathematiker

1930 – Kalter Krieg

1933 – Fotos einer Dame

1963 – Was ist was?

1970 – F**k you!

1977 – 120 Städte

1990 – Seifenblasen

1992 – Blasse Erinnerung an eine Schulstunde

1993 – Bild eines Mathematikers

1998 – Das Mädchen mit den Taschenrechnern

2001 – Formelkunst

2001 – Patent auf eine Formel

2003 – Ein Chip im Museum

2003 – Mein erster Knoten

2004 – Ertragswinkel

2008 – Berlin Alexanderplatz

2009 – Möbiusbänder liegen im Trend

2011 – Mae West

2012 – Gauß in Russland

Abspann

Danksagung

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

© HanseNet

VorschauBilder meiner Ausstellung

Ich bin Alice. Nicht die Blondine aus der Telefonwerbung, die sich in einem roten Band verfängt, sondern Alice im Wunderland, die sich gleich am Anfang ihrer Reise fragt: Welchen Sinn hat ein Buch ohne Bilder oder Gespräche? Und deshalb präsentiere ich Ihnen hier, ein paar Jahre nach meinem letzten Buch (Darf ich Zahlen? – ohne Bilder und Gespräche), mein Bilderbuch, ein Buch voller Bilder und mit vielen Gesprächen.

Ich bin ein Augen-Mensch: Deshalb fasziniert mich die Geometrie, deshalb sammle ich Bilder, und weil ich Mathematiker bin, sammle ich Bilder aus der Mathematik. Weil ich an die Kraft der Bilder glaube, habe ich im Mathematikjahr 2008 einige Kollegen um »Vorher-Nachher-Bilder« gebeten: Bilderpaare, die zeigen, was Mathematik kann. Zwei dieser Bilderpaare finden Sie in diesem Buch, unter den Überschriften »Ein Chip im Museum« und »Berlin Alexanderplatz«.

Ich bin ein Augenwinkel-Mensch: Bilder fallen mir auf. »Da war doch was!« Deshalb bin ich leider sehr anfällig für Werbung. In den Kapiteln »Ertragswinkel« und »Möbiusbänder liegen im Trend« sehen Sie daher Fundstücke aus der Werbung. Anderes kommt – freiwillig oder nicht – aus der Zeitung.

Eigentlich würde ich gerne sagen: Ich bin nicht der Autor dieses Buches, es sind die Bilder, »die ihre Geschichte erzählen«. Das klingt ja gut, aber so einfach ist das leider nicht. Dieses Buch hat 24 Kapitel, die alle mit einem Bild oder einem Bilderpaar anfangen. Man könnte sich das wie einen Adventskalender vorstellen – auf jedem Türchen ein Bild, und macht man das Türchen auf, so findet man die Geschichte dahinter. Aber in Wahrheit erzählen viele der Bilder von selbst gar nicht so viel. Als ich im September 2012 mit diesem Buch angefangen habe, kannte ich die Geschichten auch nur unvollständig, also habe ich mich auf die Jagd gemacht, in Bibliotheken gestöbert, Bücher gewälzt und viele Menschen befragt, über E-Mail, Internet, Telefon oder persönlich. Die Recherche war für jedes einzelne der Bilder und Themen spannend und immer wieder überraschend: Die Geschichten und die Bild-Interpretationen haben sich immer wieder geändert, manchmal wirklich ins Gegenteil verkehrt. So etwa das Foto von dem kleinen Mädchen mit den Taschenrechnern. Es taucht immer wieder mal auf, wenn gemeldet wird, dass Mädchen Mathe können – mindestens so gut wie die Jungs. Dass das so ist, weiß inzwischen ja fast jeder (und jede), aber was ist mit dem Mädchen auf dem Foto? Kann es Mathe? Das wollte ich wissen. Die Antwort dazu hat mich am 7. Oktober 2012 abends in einem kleinen österreichischen Restaurant namens »Sissi« in Berlin-Schöneberg über facebook erreicht: siehe das Kapitel mit der Jahreszahl 1998.

Meine kleine Ausstellung von Mathematikbildern präsentiere ich hier unter dem Titel Mathematik: Das ist doch keine Kunst! Damit ist natürlich nicht gemeint, Mathe sei einfach, ein Kinderspiel. Zumindest glaube ich das nicht, ganz im Gegenteil. (Der Kindermund hat dazu noch ganz andere, nicht stubenreine Beschreibungen parat – siehe ebenfalls das Kapitel zur Jahreszahl 1998. Und auch berühmte, erwachsene Mathematiker äußern sich gelegentlich dazu recht unfein – siehe unser Kapitel zum Jahr 1970.)

»Das ist doch keine Kunst!« ist also mindestens zweideutig. Mit diesem Satz war übrigens auch ein Bericht von Anna von Münchhausen in der Zeit vom 1. Juni 2011 überschrieben, über einen Kunstfälscher- und Auktionshaus-Skandal. Wie treffend! Wobei Mathematik tatsächlich Kunst hervorbringt, die sich im Museum sehen lassen kann (und dort hin und wieder auch hängt). Aber ist so etwas dann wirklich Kunst? Wir schauen genau drauf auf unsere Bilder: Was sieht man da? Wo steckt die Mathematik? Wer hat das gemacht, und warum? Ist das echt? Und ist das alles richtig? Mathematik ist schwierig, eine Kunst, und deshalb werden beim Mathematik-Machen regelmäßig auch Fehler gemacht, das ist einfach so. Immer wieder werden wir in diesem Buch nach Fehlern suchen – und auch welche entdecken. Auf den Bildern selbst und in den Geschichten hinter den Bildern. Augen auf!

Die Frage, ob das Kunst ist, stellt sich natürlich besonders bei den Bildern, die direkt oder indirekt aus der mathematischen Forschung kommen und (hier) in unserem Museum landen – beantworten Sie die Frage doch zum Beispiel anhand des Ausstellungsplakats von Dietmar Guderian oder bei den Graphiken von John Sullivan und Ina Prinz.

Ist das eine Kunst? Die Frage kann man zum Beispiel da stellen, wo Bilder als Beweis für eine Entdeckung herhalten können oder sollen – in dieser Ausstellung etwa bei den Bildern von Carl Friedrich Gauß, Martin Grötschel, Larry Page oder Maxim Pshenichnikov.

Ist das Kunst, auch wenn’s mathematisch nicht stimmt? Anlass zum Nachdenken geben uns da eine Werbekampagne der Deutschen Bank und Zeichnungen von Albrecht Dürer und Leonardo da Vinci.

Kurz: Dies ist also der Katalog zu einer, zu meiner Ausstellung »Bilder aus der Mathematik«, die es nie gegeben hat, die es vielleicht aber geben sollte und geben könnte: 24 Bilder oder Bilder-Paare aus der Mathematik. Und weil das »Angstgruselhorrorfach der Deutschen« noch nicht genug ist, kombinieren wir es hier mit dem Langweiligsten aus dem Kunstunterricht (Bildbetrachtung) und mit dem Langweiligsten aus dem Deutschunterricht (Bildbeschreibung).

Reizt Sie das? Ich hoffe doch! Und ich glaube, dass diese Kunstausstellung viele Überraschungen für Sie bereithält. Einige der Bilder sind bekannt, einige sind neu, wurden noch nie veröffentlicht. Manche hängen wirklich im Museum, aber das sind die wenigsten. Und zu den Bildern gehören die Menschen, Mathematiker, Künstler, Mathematiker als Künstler und Künstler als Mathematiker – die hier sozusagen neben ihren Bildern in der Ausstellung stehen und viel zu erzählen haben. Hören Sie ihnen zu, nehmen Sie sich Zeit für die Bilder – wenn Sie das denn schaffen, während ich Sie stolz durch meine kleine Privatsammlung führe und immer wieder dazwischenquatsche.

Übrigens: Keiner zwingt Sie, in der vorgegebenen Reihenfolge durch das Museum zu gehen. Das Schöne an diesem Buch ist, dass man’s auch irgendwo in der Mitte aufschlagen und einfach schmökern kann. Das ist wie bei der Schokolade im Adventskalender, Türchen auf und … oder auch alles auf einen Sitz.

Musik zur Ausstellung: »Pictures at an Exhibition« von Emerson, Lake & Palmer – die uns zum Umschlagbild inspiriert und mich schon beim Schreiben begleitet haben (zu laut, findet Barbara, die über mir wohnt). Alice, die neben uns gewohnt hat, ist inzwischen weggezogen.

Nun aber herzlich willkommen: Die Ausstellung ist eröffnet!

Ihr Günter M. Ziegler, Berlin, im Sommer 2013

Aus Lewis Carroll, Martin Gardner: The Annotated Alice: Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking-Glass: The Definitive Edition, Illustriert von John Tenniel, W.W. Norton & Co, New York City 1999/Illustration bearbeitet von Jan Schneider

Foto Thierry Hubin, © Royal Belgian Institute of Natural Sciences, Brussels (WH S. 5)

– 20 000Der Knochen mit den Primzahlen

»Ein einzelner Knochen kann schon zusammenbrechen unter der Last der Vermutungen, die man auf ihn stützt«, schrieb der Mathematik-Ethnologe George Gheverghese Joseph 1992 über die nicht-europäischen Wurzeln der Mathematik. Gemeint hat er damit den sogenannten Ishango-Knochen, den »Knochen mit den Primzahlen«, ein archäologisches Fundstück, das in den fünfziger Jahren in Zentralafrika entdeckt wurde und heute im Museum für Naturgeschichte in Brüssel ausgestellt wird. Das Objekt ist winzig: ein kleiner, dünner, nur 102 Millimeter langer Knochen, an dem sich allerlei Spekulationen und Phantasien emporranken.

Was das für ein Knochen ist? Das wissen wir nicht. Angeblich der Unterarmknochen eines Pavians, das behauptet jedenfalls die englische Version von Wikipedia mit Verweis auf eine nicht mehr existente Webseite eines Mathematikers aus Australien. Das Zehenglied eines Löwen, weiß das deutsche Wikipedia zu berichten und beruft sich auf den belgischen Mathematiker Dirk Huylebrouck. Das Museum in Brüssel, das den Knochen verwahrt, schreibt: »Dieser Knochen wurde verschmälert, abgekratzt, poliert und graviert, so sehr, dass es inzwischen schwierig ist, den ursprünglichen Besitzer zu identifizieren. Es war definitiv ein Säugetier, vielleicht ein Löwe.«

»

Auch wenn das Tier, das seinen Knochen einst (wie auch immer) lassen musste, nicht mehr ermittelt werden kann – so viel immerhin steht fest: Der kleine Knochen stammt aus Zentralafrika. Der Fundort Ishango liegt etwa 15 Kilometer nördlich des Äquators am Nordwestufer des Edward-Sees, an der Grenze zwischen Kongo und Uganda.

Der Edward-See (links) – Ishango lag einst an der Flussmündung am nördlichen Seeufer (rechts). Dort entdeckte Jean de Heinzelin den Knochen von Ishango.

Graphik Jan Schneider

Jean de Heinzelin

© Royal Belgian Institute of Natural Sciences, Brussels (WH S. 7)

Dort, an der Steilküste am Nordufer, hatte der belgische Biologe Hubert Damas 1935 Testgrabungen gemacht und die Proben nach Brüssel geschickt. Darunter war auch das Bruchstück eines frühmenschlichen Unterkiefers, das allemal interessant aussah; was schließlich 1950 dazu führte, dass Victor van Straelen, Direktor des Instituts für die Nationalparks in Belgisch-Kongo, den damals dreißigjährigen Geologen und Archäologen Jean de Heinzelin de Braucourt mit einer großangelegten archäologischen Expe-dition beauftragte. Der Ort Ishango ist eine Art frühzeitliches Pompeji: Er war über Jahrhunderte besiedelt, bevor er durch einen Vulkanausbruch verschüttet wurde. Die Datierung der Siedlungsreste war schwierig, auch wegen der Vulkanasche, die die Artefakte zwar wunderbar konserviert hat, die Ergebnisse der üblichen Radiokarbonmethode aber wegen ihrer sehr niedrigen Konzentration des Kohlenstoff-Isotops 14C verfälschen kann. De Heinzelin schätzte das Alter des Wohnplatzes auf mindestens 8500 Jahre; heute, nach weiteren Grabungen und Untersuchungen aus dem Jahr 1985, wissen wir, dass die Fundstücke etwa 22 000 Jahre alt sind. Über seine Entdeckungen schrieb Jean de Heinzelin:

Das faszinierendste und phantasieanregendste Fundstück aus Ishango ist nicht eine Harpunenspitze, sondern ein knöcherner Werkzeuggriff, an dessen Kopf in einer engen Aushöhlung ein kleines Quarz-Bruchstück befestigt ist. Zunächst einmal legen seine Form und der scharfe Stein an seiner Spitze nahe, dass er zum Gravieren oder Tätowieren verwendet wurde oder sogar zu irgendeiner Art von Schreiben. Noch interessanter sind jedoch seine Markierungen: Gruppen von Einkerbungen in drei Spalten. Das Muster dieser Einkerbungen führt mich zu der Vermutung, dass sie mehr darstellen als Dekoration. Wenn man sie zählt, entstehen mehrere Zahlenfolgen. In einer der Spalten finden sich vier Gruppen von 11, 13, 17 und 19 einzelnen Kerben.

Ein kleiner Knochen also, mit einem Quarz am Ende verziert. Kunst? Ein Werkzeuggriff, wie de Heinzelin meinte? Oder ein Schreibgerät? Das wäre interessant in Zeiten lange vor dem Beginn des Schreibens. Oder doch ein Tätowierstab? Damit hätten wir schon mal vier Theorien auf dem Tisch! Der Mathematiker aber wird ganz sicher bei der fünften Theorie hellhörig werden: 11, 13, 17 und 19 – das sind die Primzahlen zwischen 10 und 20!

Aber wie sollen die Steinzeitmenschen von Ishango Primzahlen verstanden haben, Jahrtausende vor der Entwicklung des Rechnens mit Zahlen? Und es geht ja nicht nur um diese eine Zahlenfolge. Auf dem Ishango-Knochen sind drei Reihen von Einkerbungen in kleinen Gruppen zu erkennen. In einer der drei Reihen finden sich 11, 13, 17 und 19 Kerben – eben die Primzahlen zwischen 10 und 20, die eine Summe von 60 ergeben. In einer zweiten Reihe sind vier Gruppen von 11, 21, 19 und 9 Kerben, insgesamt also wieder 60. Und in der dritten Spalte sieht man 3, 6, 4, 8, 10, 5, 5 und 7 Kerben, mit Summe 48 – wenn nicht die 10 doch eine 9 ist. Jean de Heinzelin schreibt: »Ich kann kaum glauben, dass diese Zahlenfolgen zufällig sind. Die Gruppen in den einzelnen Spalten sind sehr unterschiedlich, und in jeder Spalte finden sich innere Beziehungen, die ganz anders sind als in den anderen.«

Die Kerben auf dem Ishango-Knochen; Schema-Zeichnung des belgischen Archäologen Jean de Heinzelin

Aus J. de Heinzelin, Les Fouilles d’Ishango. Exploration du Parc National Albert, Fasc. 2, 1957, The Institute of the National Parks of Belgian Congo, Brussels 1957, © Royal Belgian Institute of Natural Sciences, Brussels

In der dritten Zahlenspalte beispielsweise sieht Jean de Heinzelin Verdopplungsmuster. Er hält es natürlich für möglich, dass die Muster alle zufällig sind. Aber der Archäologe sagt, es sei sehr viel wahrscheinlicher, dass die Kerbungen einst ganz bewusst angebracht wurden. Wenn dem so ist, stellen sie eine Art von Zahlenspiel dar, entworfen von Leuten, die ein Zahlensystem hatten, das vielleicht auf der Zahl 6 oder 10 oder 12 basierte – und die auch Verdopplung und möglicherweise Primzahlen kannten.

Damit ist das Spiel natürlich eröffnet! Was bedeuten die Zahlen? 11, 13, 17 und 19 sind ja eben nicht nur Primzahlen, das sind auch die Vielfachen von 6, jeweils plus oder minus 1. Die Zahlen 9, 11, 19, 21 wiederum sind Vielfache von 10, wieder jeweils plus oder minus 1. Und die Summen 48 und 60, das sind jeweils Vielfache von 12. Alles Zufall?

Männerphantasien oder der Knochen im Weltall

1968, also vor 45 Jahren, kam »2001: Odyssee im Weltraum« in die Kinos, ein berühmter Science-Fiction-Film von Stanley Kubrick. Das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit Arthur C. Clarke, einem britischen Autor und Visionär mit Mathematik- und Physikstudium, der 1945 die geostationären Kommunikationssatelliten erfunden hat, und im März 2008 neunzigjährig verstorben ist. Der Film hat viele interessante Aspekte, von der Tricktechnik bis zur Musik, er enthält insbesondere aber auch »einen der irrwitzigsten Schnitte der Filmgeschichte«. So jedenfalls steht es auf der DVD-Hülle, also muss es stimmen.

Sehen wir uns die Szene einmal an: Ein Frühmensch hat gerade entdeckt, dass man mit einem Knochen wunderbar Artgenossen erschlagen kann, was man kulturpessimistisch leichtfertig als Moment der Menschwerdung interpretieren könnte. Er schleudert diesen Knochen, die Mordwaffe, in die Höhe – und dann kommt der Schnitt auf einen futuristischen Raumtransporter, der schwerelos und still am schwarzen Himmel steht. Arthur C. Clarke nennt das den »three million year cut«. Das ist vielleicht eine kleine Übertreibung. Wenn der Schnitt vom Beginn der Steinzeit ins Jahr 2001 führt, ist das eher ein »thirty thousand year cut«, aber drei Millionen klingt natürlich besser. (Wie jede Übertreibung kann auch diese noch überboten werden: Im Internet findet man den Schnitt auch als »four million year cut« beschrieben.)

Ein Knochen wird in den Raum geschleudert, sozusagen als Brücke von der Steinzeit ins moderne High-Tech-Zeitalter? Eine typische Männerphantasie als Symbol für den Weg der Menschheit?

Da liegt es doch fast nahe, den Kubrick-Knochen umzuinterpretieren in den Ishango-Knochen. Schließlich trägt er Primzahlen, also genau jene Zahlentheorie, die auch Grundlage ist für die sichere und fehlerfreie Datenübertragung und Kommunikationstechnik, vom Mobiltelefon bis zur Raumfahrt.

Die Verbindung zwischen Ishango-Knochen und Raumfahrt hat als Erster wohl der amerikanische Journalist Alexander Marshack propagiert, der 1958 ein Buch für das »Internationale Geophysikalische Jahr« zu Beginn des Raumfahrtzeitalters schrieb – ein Außenseiter, der mithilfe von damals völlig neuen Mikroskop-Methoden den Ishango-Knochen und andere steinzeitliche Artefakte untersuchen durfte. Weil die beiden äußeren Spalten jeweils die Summe 60 ergeben, interpretierte Marshack die Zahlensysteme als Mondkalender und damit als Grundlage und Anfang von Astronomie und später Raumfahrt.

Großer Wurf: Der »three million year cut« aus »2001: A Space Odyssey«

http://www.thefilmframes.com

Im Jahr 1996 hat dann der belgische Mathematiker Dirk Huylebrouck vorgeschlagen, den »three million year cut« auch außerhalb eines Filmsets zu realisieren und den Ishango-Knochen (oder eine Kopie davon) mit einem Space Shuttle in den Weltraum zu transportieren. Er solle schwerelos im Raum schweben – als Referenz an »2001«, aber auch um sichtbar (!) den Bogen zu spannen von den Anfängen der menschlichen Kultur bis zur Erfindung der Zukunft.

Huylebrouck beschreibt stolz, er habe schon ein Jahr zuvor einem befreundeten Astronauten eine Kopie des Ishango-Knochens zugesteckt – der Astronaut war bis zu den Startvorbereitungen in Houston gekommen, durfte am Ende aber leider doch nicht ins All. 2009 gab es einen weiteren Anlauf in Sachen »großer Wurf«: Huylebrouck und andere wollten erreichen, dass der belgische Astronaut Frank De Winne den Ishango-Knochen in die Internationale Raumstation ISS mitnehmen dür-fe. Was wäre das für ein wunderbares Bild gewesen für das Internationale Jahr der Astronomie!

Aber natürlich kann so ein kleiner Knochen auch zermahlen werden in den Mühlen einer Großbürokratie, wie sie bei der Europäischen Weltraumbehörde ESA vorherrscht. Das bisher Letzte, was ich zu dem Thema gehört habe, stammt aus einer E-Mail von Jules Grandsire, Abteilung »PR & Communications« des European Astronaut Centre der ESA in Köln. Am 25. August 2008 schrieb er: »Danke für Ihre E-Mails und Information über den Ishango-Knochen. Die ESA hat Ihre Anfrage registriert und wird die Machbarkeit untersuchen. Wir melden uns wieder bei Ihnen, sobald das nötig wird.«

Eine kleine Verbindung zwischen »2001: Odyssee im Weltraum« und dem Ishango-Knochen gibt es aber doch. Der Knochen lag nämlich über Jahrzehnte irgendwo versteckt im Archiv des Naturhistorischen Museums und wurde erst 2001 in einer goldenen Vitrine mit Ehrenplatz präsentiert. 2001!

Frauenphantasien oder Mondkalender und Perioden

Der Knochen im Weltall, nichts als eine Männerphantasie! Diese schnöde Erkenntnis hat unter anderem Claudia Zaslavsky (1917– 006) geliefert, die Mutter des Mathematikers Tom Zaslavsky.

In ihrem Buch Africa Counts über Zahlen und Muster in der afrikanischen Kultur beschäftigte sie sich zwar ausführlich mit Alexander Marshacks Interpretation der Kerben als Mondkalender – aber nur, um ein paar Jahre später zu fragen, wer in der Steinzeit denn an Mondkalendern interessiert gewesen sein könnte. Und wer eigentlich Zeit dazu hatte, sie zu erstellen.

Dankenswerterweise beantwortet Claudia Zaslavsky diese Fragen gleich selbst: Wenn die Männer unterwegs und auf der Jagd waren (und ein so traditionelles Rollenbild dürfen wir für diese Zeit vielleicht annehmen), dann blieben die Frauen doch zuhause in der Siedlung, zählten die Tage, versuchten den Zusammenhang zwischen Jahreszeiten, Regenperioden und Mondphasen zu verstehen, und führten den Kalender. Ein solcher Mondkalender könnte für den Ackerbau von Belang gewesen sein, und auch der war vermutlich damals Frauensache. Aber möglicherweise ging es den steinzeitlichen Damen auch um andere Zyklen als nur um die 29,5 Tage für Mondphasen?

Afrika zählt: Eine andere Mathematikgeschichte

Cover von: Claudia Zaslavsky, Africa CountS. Number and Pattern in African Culture, paperback edition, Lawrence Hill & Company, Westport CN, 1979. (Original edition: Prindle, Weber & Schmidt, Boston MA 1973)

Wie dem auch sei, bewiesen wäre damit in jedem Fall: Trotz aller Männerphantasien über Knochen als Waffen, High-Tech im All und so weiter – Frauen waren die ersten Mathematiker. Stellen wir uns also ein Mädchen vor in der Siedlung Ishango am Rand des Sees, das Kerben auf einem kleinen Knochen anbringt, zählt, vergleicht, rechnet. Auf jenem kleinen Knochen, den sein Entdecker, Jean de Heinzelin, mehr als 20 000 Jahre später als Rechenhilfe interpretiert. Hier sehen wir zum allerersten Mal ein Mädchen mit Taschenrechner (aber noch nicht das Mädchen, von dem im Vorwort die Rede war)!

Fra Luca Pacioli, Divina Proportione, Manuskript von 1498 aus der Bibliotheca Ambrosiana di Milano. Fotos Christoph Eyrich, Berlin (WH S. 4)

1498Ein Genie macht Fehler

Fra Luca Pacioli, Divina Proportione, Manuskript von 1498 aus der Bibliotheca Ambrosiana di Milano. Fotos Christoph Eyrich, Berlin (WH S. 4)

Ein halbreguläres Polyeder, aus Dreiecken und Quadraten zusammengesetzt, mit einer dünnen Schnur mit geschwungenen Enden an einem Schild aufgehängt, auf dem VIGINTISEX BASIUM PLANUS VACUUS steht: Wir sehen ein sogenanntes Rhombenkuboktaeder mit 26 Seitenflächen (vigintisex basium) in einer »hohlen« (vacuus) Darstellung. Und ein dazugehöriges Sternpolyeder, mit VIGINTISEX BASIUM ELEVATUS VACUUS bezeichnet: auf die 26 Seitenflächen des Modells ist jeweils eine Spitze aufgesetzt worden (elevatus). Die Polyeder müssen wir uns natürlich etwas genauer ansehen. Sie stammen aus einem im Dezember 1498 fertiggestellten Manuskript für das Buch Divina Proportione des Franziskanermönchs Luca Pacioli. Uns interessiert das Werk wegen der 60 farbigen Bildtafeln im Anhang – allesamt Polyederzeichnungen. Der Autor schreibt, sie seien »mit aller Vollkommenheit der Perspektive auf die Ebene projicirt, wie es nur unnser Leonardo Vinci versteht«.

»

Und ist das Kunst?

Zweifellos! Jedenfalls, wenn man den Urheber der Zeichnungen in die Betrachtung miteinbezieht.

Luca Pacioli stellt sich die Polyeder als Körper gefertigt aus wertvollem Material vor: »Dieselben verdienten nicht aus schlechtem Stoffe (wie es für mich aus Mangel nothwendig gewesen), sondern aus kostbarem Metall und mit feinen Edelsteinen geschmückt zu sein. Aber Euer Hoheit wird die Liebe und die Gesinnung in Ihrem beständigen Sklaven berücksichtigen.« Ein Satz, mit dem er sich an seinen Gönner, Ludovico Sforza, genannt »Il Moro«, wandte. Das Renaissance-Genie Leonardo da Vinci und der mathematikbegabte Mönch Luca Pacioli hatten sich im Vorjahr am Hofe des Herzogs von Mailand kennengelernt. Es war eine in vieler Hinsicht bemerkenswerte Zusammenarbeit, die hier ihren Ausgangspunkt nahm.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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