Matzewe in meinem Garten - Dominika Rank - E-Book

Matzewe in meinem Garten E-Book

Dominika Rank

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Beschreibung

Eigentlich sollte der junge Gymnasiallehrer Jakob Sandler, Enkel einer Holocaustüberlebenden, sich nicht groß von anderen ›Heritage‹-Touristen unterscheiden: Flug aus Deutschland zum Flughafen im westukrainischen Lemberg, weiter mit dem Bus zum Schtetl – oder wie auch immer die dort den Geburtsort seiner Oma jetzt nennen –, ein Foto ihres früheren Hauses machen, das mitgebrachte Essen aus einer seiner Konservendosen irgendwo im Park verzehren, falls es dort überhaupt Parks gibt, sonst ginge auch eine saubere Gehwegkante, rasch ein Souvenir aus irgendeinem Schtetl-Kiosk gekauft – und schnurstracks zurück zum Lemberger Flughafen und von dort nach Deutschland, und fertig, wieder zu Hause in Sicherheit. Doch sein Plan erweist sich in der ukrainischen Realität als vollkommen untauglich. Alles lief aus dem Ruder, nicht zuletzt Jakobs Vorstellungen über Juden und Ukrainer, über ihr Neben-, Gegen- und Miteinander, über ihre gemeinsame Vergangenheit, über ihre beiderseitige historische Erinnerung – und über seine eigene Rolle auf dem Schlachtfeld zweier historischer Narrative und schließlich darüber, wie weit zu gehen er bereit ist, um die Scherben einer untergegangenen Welt in dem kleinen ukrainischen Dorf Skolyvka zu kitten. — Ein faszinierender biographischer Roman über die Suche nach der Vergangenheit in der Ukraine der Gegenwart, der uns zutiefst berührt.

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Seitenzahl: 449

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ibidem-Verlag, Stuttgart

„Die Liebe zum Vaterland, früher häufig Objekt meines Spotts, erscheint mir – seit sie seit Februar 2022 in zahlreiche Blutbäder getaucht wurde – nun in einem anderen Licht.

 

In einem Licht, das sich in drei Bestandteile zerlegen lässt: Schmerz, Stolz, Schuld.“

Inhalt

Vorwort

Teil 1

Teil 2

Epilog

Vorwort

„Heritage-Tourismus“ ist viel mehr als die Besichtigung bzw. Bewunderung unterschiedlicher durch Google oder eine Reiseagentur vorgeschlagener Orte und Objekte mehr oder weniger anerkannten kulturellen Erbes. Unter Heritage-Tourismus verstehen viele die Suche nach der eigenen Familiengeschichte in Ländern, in denen die Familie schon seit einer, oft auch zwei Generationen nicht mehr lebt und zu denen sie nicht mehr gehört. Außer diesem engen Fokus besitzt der Heritage-Tourismus noch andere interessante Eigenschaften, die ihn von anderen Tourismus-Zweigen unterscheiden.

Den alten, innen und außen schön verzierten Opernhäusern, Banken, prächtigen Villen und Denkmälern lokaler Größen – kurz gesagt: alles, worauf die lokale Bevölkerung ach so stolz ist – gönnen Heritage-Touristen höchstens ein paar flüchtige Blicke. Stattdessen drängen sie sich (oft einzeln reisend) durch enge, dunkle Gassen, fahren in klapprigen Bussen, welche noch nie „den TÜV“ gesehen haben und ihn nie bestehen würden, durch urige Gegenden, weit entfernt von den mit besonderem Komfort angelegten und durch Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe geadelten Touristen-Routen. Ein kleines, ärmliches Häuschen in irgendwelchen Dörfern und Siedlungen, in verschlafenen Städtchen, an Waldrändern, zwischen alten Ruinen ist oft das Ziel ihrer strebsamen Suche. Dort sollen ihre Oma, ihr Opa oder gar schon die Ureltern geboren worden sein. Diese nährten ihre Enkel und Urenkel mit endlosen Geschichten über ihre glückliche Kindheit in engen und gemütlichen grünen Gassen, in geräumigen, mit Kinderlachen gefüllten Höfen – so lange, bis diese, sich von einem alternden, nach der eigenen Kindheit sehnenden Hirn ausgedachten Geschichten in den Köpfen der Enkelkinder die Vollkommenheit einer realen Welt bekommen; einer Welt, die man heute mit einem Reisepass, einem lokalen Stadtführer und ein paar Flugtickets wirklich besuchen kann.

So bekamen die Enkelkinder, heute schon selbst Erwachsene, meist gut gebildet und häufig auch wohlhabend, ein persönliches „Atlantis“. Und wie wohl jeder vertriebene oder geflüchtete Besitzer, fragen sie sich: Was wäre, wenn das Haus, die Gasse, die Stadt, das Land, die Menschen von zwei Kriegen, Deportationen, von Holocaust und Genozid, von Zwangsindustrialisierung und Dammbauten, von Hunger und Wirbelstürmen sowie von Diktaturen verschont geblieben wäre? Wie würde dann mein Leben heute aussehen? Was und wer wäre ich? Wo wäre ich? Mit wem und gegen wen wäre ich? Was würde mir gehören? Heritage-Tourismus bietet praktische Antworten auf diese Fragen, so wie Gott den Menschen den Himmel anbietet.

Heritage-Tourismus im Sinne der Suche nach dem eigenen Familienerbe zeichnet sich außer durch diese ungewöhnlichen Fragen noch durch eine Komponente aus, die anderen Tourismusarten in Europa meist fehlt: Menschen! Gewöhnliche, alltägliche Menschen. „Einheimische“, also nicht die kitschigen Tanzgruppen in Restaurants, nicht irgendwelche Rezeptionistinnen und Rezeptionisten, keine Kellnerinnen und Kellner, sondern ganz normale, im „Jetzt“ lebende Menschen.

Im Unterschied zu für Touristen herausgeputzten Opernhäusern und breiten Prachtstraßen befinden sich die Objekte, welche für Heritage-Touristen von Interesse sind, üblicherweise in privatem Besitz. Dementsprechend muss man, um ein solches Objekt zu besichtigen, (es spielt keine Rolle, dass das Haus früher im Besitz der eigenen Familie war!), in Kontakt zu seinen heutigen Besitzern treten. Oft sind erste zaghafte Kontakte dieser Art bereits bei der Suche nach der gewünschten Adresse unvermeidlich: Verschiedene Regierungswechsel brachten neue Straßennamen mit sich; Archive haben manchmal die schlechte Neigung, in Flammen aufzugehen – und so müssen sich die Suchenden oft auf die mündlichen, fantasiereichen Anweisungen der heutigen Stadtbewohner verlassen. Dazu kommt noch die Suche nach einem Restaurant, Hotel oder Laden und bisweilen nach einem Arzt. Nicht selten sind solche Gespräche für beide Seiten, sowohl für Touristen als auch für Einheimische, ein Erstkontakt mit der anderen, unbekannten Welt und seinen Repräsentanten. Beide beschenken sich reich mit vorsichtiger, fast schon misstrauischer Aufmerksamkeit. Das Auftauchen eines Fremden in einer verschlafenen Kleinstadt, die früher zum Beispiel mal ein jüdisches Schtetl beherbergte, verursacht viel Aufregung. Kirchgänger, Verkäuferinnen oder Taxifahrer kratzten sich verlegen am Kopf zum Beispiel bei der Frage, wo man das Haus der Rubinstein-Familie finden könne, oder wo die „Mitzwa“ stehe, und schicken die Fragenden immer in eine andere (meist nicht die korrekte) Richtung. Warum kommt jemand hierher in ihr Dorf, das viele doch einfach am liebsten schnell verlassen würden? Was wollen die beiden Fremden? Was nur kann man auf im Sommer staubigen und in den anderen drei Jahreszeiten matschigen Straßen zwischen dem Tante-Emma-Laden und den Ruinen eines mit Löwen und sechseckigen Sternen geschmückten Gebäuden suchen? Wie verrückt muss man sein, um die Zeit, die man dem wunderschönen Opernhaus widmen könnte, lieber der Besichtigung eines alten Friedhofs zu widmen, obwohl dort nur noch die Zipfel alter Steine aus dem hohen Gras zu sehen sind?

Natürlich hat dieser Kulturschock auch seine unvermeidliche Reziprozität: er ist immer beidseitig. Die Heritage-Touristen kennen besser als viele lokale Hobby-Heimathistoriker die Karte des Vorkriegs-Schtetls, kennen sich in Gassen und auf Plätzen aus, wo einst die kleine Reisele oder der blasse Jankele, oder die heute auf einem Hunderte oder Tausende Kilometer weiter westlich gelegenen Friedhof ruhenden Rosa und Jakob damals spielten. Gleichzeitig zeigen sich diese Besucher oft ehrlich überrascht oder ernsthaft schockiert, wenn keine einzigen Koordinaten ihres „Atlantis“ heute mehr stimmen. Und das ist noch eine Besonderheit dieses Heritage-Tourismus: er verlangt eine gewisse Blindheit und Vergesslichkeit. Das vollkommene Eintauchen, die sinnliche Verbindung mit der Vergangenheit, all das sind Dinge, die diese Touristen typischerweise begehren. Dinge, die ihnen die wenigen Reiseagenturen mit „Heritage“-Profil auch versprechen. Diese Besonderheit verlangt zumindest ein wenig, die Realität der Gegenwart hintanzustellen. Der imaginäre Bildschirm mit einem darauf projizierten „Hollywood“-Film, mit einer Bühne, auf der einst ein Kantor sang, erschwert den Touristen das virtuelle Wiedererleben der alten Synagoge ihrer Vorfahren. Deswegen bevorzugen sie, alle möglichen Erscheinungen der Jetztzeit so weit wie es nur irgendwie geht zu ignorieren. Darunter eben auch die letzten immerhin bald achtzig Jahre neuerer, anderer Geschichte auf dem Territorium der untergegangenen Schtetl ihrer Vorfahren.

Viel stärker als jeder Gegenstand aber erschweren vor allem die jetzigen Bewohner das Wiederbeleben des imaginierten „Atlantis“. Denn sie leben dort, wo früher das Schtetl war, sie atmen seine Luft, laufen durch seine verwinkelten Gassen, sogar wenn sie diese anders benennen (und nicht mal wissen, wie sie früher hießen). Sie eröffnen Kinos oder Ladengeschäfte in verlassenen Synagogen, oft ohne die geringste Vorstellung davon, von wem oder wozu diese Gebäude und Gassen einst gebaut wurden. Sie sind die Verkörperung der modernen Geschichte in ihrer unerträglichsten Gestalt: kollektiven Vergessens.

Wie tief in jedem von uns der Drang nach der Aufklärung der Anderen sitzt, dies wissen die Begleiter dieser Touristen nur zu gut. Kaum jemand ihrer Kunden versäumt es nämlich, zufällig an ihnen vorbeikommenden Passanten, also den aktuellen Bewohnern des ehemaligen Schtetls, Fragen wie die folgenden zu stellen: „Wissen Sie, wer hier früher gewohnt hat? Wer in dieser Schule studiert hat? Wer auf diesem Friedhof begraben liegt? Nein, nicht? (Der oder die) war ein talentierter Wissenschaftler/in, eine weltberühmte Sängerin oder es waren einfach nur ganz normale Mitmenschen, die in nahen Wäldern, in flachen und namenlosen, von ihnen selbst ausgegrabenen Gräbern, ihre ebenfalls getöteten Kinder umarmend, mit einer Kugel im Kopf liegen. Die haben doch zumindest eine flüchtige Erinnerung oder Erwähnung durch diejenigen, die jetzt in ihren Häusern leben, verdient?!“

„Natürlich wissen wir, wer hier gewohnt hat“ antworten empört die Einheimischen, bleiben stehen, stellen ihre schweren, mit Obst und Gemüse gefüllten Taschen – Geschenke der fetten Schwarzerde – auf den Boden, richten ihre müden Rücken auf, reiben die breiten Handteller gegeneinander, um das Blut wieder zirkulieren zu lassen, und zeigen mit dem Zeigerfinger links oder rechts auf diese oder jene Statue: „Der war unser großer Dichter; die da – unsere wichtigste Schriftstellerin; der dort – das war unser erster Arzt; und der wiederum – ein tapferer Revolutionär und Kämpfer für unsere Unabhängigkeit.“ Ein wenig schadenfroh beäugt der Reisebegleiter sodann, wie sein Schützling um das Denkmal herum läuft und nach bekannten Buchstaben sucht. Er übersetzt die Inschriften dankbarer Nachfahren an ihre Vorfahren, die so viel für das Erstarken des heutigen, modernen Staats getan haben. Kein einziger jüdischer Name darunter, weder unter den Dankenden noch unter den Gestorbenen. Viele der Heritage-Touristen finden diese Tatsache ziemlich enttäuschend.

Jedes Volk hat seine Helden und Märtyrer, aber in jeder Stadt gibt es eben nur einen Hauptplatz. Wem wird die Inschrift am Sockel des dort stehenden Denkmals gewidmet? Warum nicht einfach zwei Denkmäler? Fragen dieser Art verwirren den Enkel oder die Enkelin des Holocaustüberlebenden…: „Warum kann man denn nicht ein Holocaustdenkmal neben einem Denkmal zur Erinnerung an Deportierung, Genozid, Hungerkatastrophe oder welch anderes Unglück auch immer errichten?“ „Wenn schon nicht zwei unterschiedliche Helden Platz nebeneinander finden, warum können dann hier nicht wenigstens zwei Märtyrer friedlich nebeneinander in Stein oder Bronze verewigt stehen?“ Alle zucken bloß mit den Schultern.

Der Tourist empört sich über die Gleichgültigkeit seines Reisebegleiters, die Ignoranz der ehemaligen Nachbarn seiner Großeltern, er empört sich über die Stadtverwaltung und die Landesregierung, über die Verantwortungslosigkeit und Gedächtnisschwäche dieser einfachen Leute, gestern noch Bauern, die ihresgleichen Denkmäler stellen, Personen, deren Namen man niemals außerhalb des betreffenden Dorfes oder Städtchen hören wird. Nichts kann ihn über diese Enttäuschung hinwegtrösten: Weder die leckeren weißen Brötchen mit in Rum eingelegten Rosinen, noch die verkleinerten Kopien Shabbat-Challas, ebenfalls nicht eine kleine Gedenktafel an der örtlichen Schule mit jüdischen Namen darauf. Und es trösten auch nicht die wenigen in die fremde Sprache übernommenen jiddischen Worte, die der Wind sanft aus den Lippen auf der Straße spielender Kinder bis zu den Ohren des Besuchers trägt.

Die Suche nach den eigenen Wurzeln, nach dem einstigen elterlichen Haus führen den Enkel und seinen Begleiter weiter. Sie befragen Menschen – je älter, desto besser – sie bleiben vor hohen Holztoren stehen, werden manchmal hereingebeten, trinken dann warme, soeben gemolkene Milch, essen kräftiges, leicht nussiges Brot mit duftend knusprigem Rand. Der Tourist ist höflich und interessiert, sein Begleiter versteht sich gut darauf, betagte Menschen redselig zu stimmen, das gehört schließlich zu seinen beruflichen Aufgaben. Und so, nach einer Tasse Milch, oder besser noch: einem Gläschen Hausbrand, strömt der Fluss der Zeit in die entgegengesetzte Richtung. Längst Verstorbene werden wieder in Erinnerung zum Leben erweckt, Ruinen wieder zu Elfenbeintürmen, man ist in eine Zeit zurückversetzt, in der Autos durch Pferdewagen und das Internet durch Gespräche verdrängt werden. Und früher oder später hört der zu Besuch gekommene Enkel auch von diesen, ihm fremden Menschen endlich all die Namen, die er bis jetzt nur von seinen Großvätern oder -müttern gehört hatte. „Ja, (so und so) lebte dort, hinter der alten Mikwe, die jetzt eine Wäscherei ist. Er hat immer mit meinem Onkel Fußball gespielt und meine Tante nach dem Tanzen nach Hause begleitet. Sein Haus findet ihr zwischen der Wäscherei und der alten Bushaltestelle, dort wo früher das Haus meiner Eltern stand, bevor sie von den Sowjets deportiert wurden…“ Und bevor der Enkel es schafft, all die Anweisungen und Orientierungspunkte zu notieren, kehrt der Gedankenfaden des Zeitzeugen in seine einzige wahre Bahn zurück – zum Ich. „Als ich noch klein war“ - „als sie meine Mutter festgenommen hatten“ - „als ich allein geblieben war…“ Ungewollt und ungefragt ergießen sich über die beiden Zuhörer immer neue Geschichten aus einem fremden Leben, die mit ihrer eigentlichen Frage nichts zu tun haben. In diesen Geschichten offenbaren sich dem Touristen die Wunden des ihm fremden Volkes. Er stellt sich vor, dass fast jede Familie einen Angehörigen verloren hat. Einer ist in Sibirien erfroren, ein Anderer im Gulag gestorben, ein Dritter wiederum an der Front erschossen. Die Wunden bluten, verursachen bis heute Albträume, Angst, Schmerz und Rachlust. Das ganze Städtchen ist mit diesem Pestrauch durchtränkt. Von Versöhnung redet niemand, so als ob dies auch nicht nötig wäre. Wäre es nötig? Schulbücher in seinem Heimatland sind voll von Predigten über Versöhnung und Vergangenheitsaufarbeitung, Verantwortung, Analysen der eigenen Fehler. Kollektive Wunden wurde auf verschiedene Weise über mehrere Generationen in Therapien behandelt und so fest bandagiert, dass der darin versteckte Schmerz nicht herauskommen kann. In diesem toten Schtetl blühen die bedrohlichen fleischfressenden Blumen der alten Traumata.

Nach dem Abschied, nach dem Obstschnaps noch leicht wackelig auf den Beiden, versucht der Enkel einer Holocaustüberlebenden zwei unterschiedliche Schmerzen der vormaligen Generation zuzuordnen, sie vermischen sich, gleichen sich, verstärken sich und werden schließlich ihm zu groß, unerträglich. Der Begleiter bringt ihn ins Hotel, morgen soll die Suche weiter gehen. Er schläft fest, sieht im Schlaf gestreifte Roben, rote Sterne und Hakenkreuze, hört Jiddisch, Russisch und Ukrainisch gleichzeitig in einem langen Schrei. Wacht auf, gießt lange Wasser über sein geschwollenes Gesicht, frühstückt schon morgens um sieben mit seinem Begleiter im dunklen Foyer, und macht dann um acht ein Foto von den durch hohe Fliederbüsche überwucherten Ruinen, die sein Atlantis sein sollten. Er steigt um neun in den Bus, und schon am gleichen Abend fliegt er ab. Er verabschiedet sich noch schnell von seinem Begleiter – der zeigt sich weder beleidigt noch überrascht. Beim Heritage-Tourismus sind solche Enttäuschungen möglich, wie Regenwetter während des Sommerurlaubs: nicht erwünscht, aber durchaus wahrscheinlich.

Im Flugzeug geht der Tourist seine alten Fragen nach. Doch das Spiel „Was wäre wenn…“ verliert seine Attraktivität. Wenn nicht im Ghetto, dann im Gulag; wenn nicht in der Gaskammer, dann in NKWD-Gefängnis; wenn nicht nach Israel, dann nach Kanada. Der fruchtbaren Erde war es offensichtlich egal, welche der Söhne und Töchter zu begraben waren und in welcher Sprache sie von ihrem Tod schrien. Die Vergangenheit verbirgt unzählige Schmerzen, Heritage-Tourismus ist ein probates Mittel, diese zu wieder zu erleben.

***

Mit dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges kam der spärliche Strom der Touristen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine nach Spuren ihrer Familiengeschichte suchen, vorerst zum Erliegen. Das ist aber nur eine geringe Sorge. Alte Wunden wurden nun vollständig geöffnet, aber nicht, um behandelt und geheilt zu werden. Nein: es wurde Salz in sie gestreut und frisches Blut wurde vergossen. Sie brennen unsäglich, voll Wut und Rache. Sie geben den Menschen Kraft und Mut, welche aber leider nur für das Kampffeld taugen. Was auch nicht gerade wenig ist, unter den Umständen. Was aber wird mit den Wunden geschehen, wenn der Krieg vorbei ist? Wer wird sie behandeln? Wie? Wie lange werden sie noch schmerzen?

Dieser Krieg hat eine neue Generation zukünftiger Heritage-Touristen geboren: sie wissen es selbst noch nicht. Sie gehen jetzt, seit ein paar Monaten, in neue Schulen in einem fremden Land, sie lernen neue Sprachen. Sie gewöhnen sich an ihr neues Heim und an neue Freunde, sie hören nachts ihre Mütter leise weinen, aber früher oder später, gut gebildet und oft wohlhabend, kommen sie oder ihre Kinder in das Land ihrer Eltern und Ureltern und werden nach deren altem Haus suchen, und das Spiel „was wäre aus mir geworden, wenn…“ in Gedanken spielen. Dieses Gedankenspiel gehört fest zur Grundausrüstung eines jeden „Heritage-Touristen“….

 

 

Teil 1

Es war kein Passagierbus, und es sollte nie einer werden. Und es war nicht nur Jakobs visuelle Wahrnehmung, sondern der feste Schluss seines Hinterns. Der harte kleine Sitz, angelötet an die Metallhalbkugel, unter welcher sich das hintere Rad drehte, leitete eindeutige Signale über jede Spurrinne und jedes Steinchen direkt an Jakobs Wirbelsäule weiter. Die aus dem Gehäuse des alten VW-Busses ausgesägten Fenster waren nicht dazu vorgesehen, geöffnet zu werden.

In Erwartung des Erstickungstodes und um sich von Schlägen auf seinen Hintern und Rücken abzulenken, betrachtete Jakob die bunten Sitzbezüge mit ihren wilden Ornamenten, die ihm dank der geringen Passagierzahl in die Augen stachen. Jeder Sitzbezug wurde aus anderem Stoff genäht. Manche Polster und Lehnen waren sogar aus mehreren Flicken zusammengesetzt und ähnelten einem bunten Kaleidoskop. Jakob, der seine heimliche Liebe zu Ornamenten nur durch die wachsende Sammlung von Büchern und Alben verschiedenster Muster aus der ganzen Welt zeigte, bewunderte die Fantasie der unbekannten Näherin, die alle diese Stoffreste zu einer lebendigen quirligen Einheit, zu einem Sitzbezug zusammengenäht hatte. Allerdings demonstrierten die anderen Passagiere ein äußerst geringes Interesse an dieser Erscheinung der primitiven Kunst und als sich eine gut gepolsterte Dame mit einer riesigen karierten Plastiktüte neben Jakob hinsetzte, war seine Möglichkeit, das Innere der Buskabine zu betrachten, auch schon zu Ende.

Von Lemberg bis nach Skolywka sind es etwa 46 Kilometer, bestimmt weniger als eine Stunde Fahrt. Damit konnte sich Jakob, gequetscht zwischen die Dame und das Fenster, am Busrad, dessen Radkranz fast im direkten Kontakt mit seinem Hintern war, ein bisschen trösten. Doch als die erste Stunde längst vorbei war, befand er sich immer noch in der Lemberger Vorstadt. Erst dachte er, dass es so eine Art der Überlandfahrt sein sollte, wie zum Beispiel von Halle nach Schochwitz, wenn man auch eine Stunde braucht, bis alle Omas aus allen umliegenden Dörfern, ihre Ziele zu Yoga-Kursen in Nachbardörfern erreichen. Eine meditativ langsame Fahrt durch Rapsfelder mit Yoga-Omas an Bord.

Heute war das aber nicht der Fall. Der Bus rollte tapfer durch Lemberger Straßen, holperte über Schlaglöcher und die Passagiere sprangen in den und aus dem Bus, wenn die Türen erst halb geöffnet waren. Und genau dieser lebendige Strom von Passagieren verlangsamte den Bus. Jede Ampel, jede Straßenecke, jede fünfzig Zentimeter Platz zwischen zwei geparkten Autos waren eine spontane Bushaltestelle. Die ersten Kilometer schrieb Jakob der Menschenliebe und dem Mitgefühl des Fahrers zu, denn die Armen standen oft auf den Straßen mit schweren Taschen ungeschützt vor dem kalten, herbstlichen Nieselregen und schmutzigen Spritzern von Autorädern. Doch als die Zahl der Passagiere im Bus sogar die Gütertransport-Kapazität überschritt, unterstellte Jakob dem Fahrer grenzenlose Gier und Bosheit. Das kleine weiße Papierstück, das man wahrscheinlich als Fahrschein identifizieren könnte, besaß außer Jakob niemand. Alle bezahlten direkt beim Fahrer, und nur Gott weiß, welcher Teil davon als offizielles Einkommen am Abend gemeldet sein wird. Doch Ordnung ist nichts anderes als eine natürliche Balance zwischen Möglichem und Unmöglichem und als die Kapazität des alten Buses erschöpft war, schloss der Fahrer endgültig die Türen, und fuhr los.

Inzwischen verstauten schon alle sitzenden Passagiere ihr Gepäck, das weder Damen- noch Aktentaschen ähnelte, im Gang oder auf ihren Schößen. Die quadratische Tüte von Jakobs Nachbarin, in die ein zehnjähriges Kind hineingepasst hätte, belegte nicht nur ihren Schoß, sondern zum Teil auch den von Jakob. Er konnte sich nur leise freuen, dass er nur seinen alten Rucksack als Reisegepäck mithatte und deshalb mit keinem Koffer belastet war. Außerdem wäre es, selbst wenn er einen hätte, wegen der schlechten Straßen der letzte Tag seines Koffers auf Rädern gewesen. Den Rucksack stellte Jakob auf seinen Schoß, es war sowieso der einzig mögliche Platz, denn das Rad auf welchem Jakob saß, ließ ihm keinen Platz vor der Rücklehne des Sitzes vor ihm.

Seine Beine rutschten vom Radkasten und seine Knie erreichten mindestens die Mitte seiner Brust. So wurde Jakobs neue Welt, die er eigentlich zu erforschen und zu verstehen wünschte, mindestens von drei Seiten verbarrikadiert. Vorn sah er nur die braungrüne abgewetzte Zeltplane seines Rucksackes, hinter sich hörte er das Gemurmel einer Nachbarin, ohne sie zu sehen oder zu verstehen und links von ihm ragte das Sortiment eines Miniaturbauernmarktes aus einer einzigen Tüte: Aus der Tasche seiner Nachbarin wölbten sich rote Tomaten hervor, gemischt mit gelben und grünen Paprikaschoten und Papiertüten. Die Fettflecken auf einer weißen Papiertüte verrieten als Quelle eines atemberaubenden Dufts eine geräucherte Wurst. Stangensellerie, dessen lange aromatische Stöcke bis zu seinem linken Ohr reichten, erschlossen ihm nun die richtige Bedeutung des Namens, ihre Stangen konnte er mühelos, ohne den Kopf zu bewegen, in den Mund stopfen. Er lächelte bei diesen Gedanken über sich selbst. Durch den Selleriedschungel blinkte etwas Goldenes zu seinem Lächeln zurück. In seiner verbarrikadierten Position schaffte es Jakob nur, seinen Hals leicht nach links zu drehen und er erblickte die goldenen Zähne seiner Mitreisenden. Ein weiteres unsicheres Lächeln war die Antwort auf ihren goldenen Gruß.

Abgesehen von der Passkontrolle am Flughafen war es der zweite Augenkontakt seit seiner Anreise heute früh. Die erste Bekanntschaft mit der ukrainischen Kommunikations- und der nicht weniger wichtigen Esskultur fand in einem fabelhaften Wiener Café statt. Um sieben Uhr morgens, grade gelandet und von sehr argwöhnischen Zoll- und Grenzbeamten wieder entlassen, fühlte Jakob starke Sehnsucht, wenn schon nicht nach seiner Dortmunder Heimat, die er erst vor ein paar Stunden verlassen hatte, so doch zumindest nach einem guten Frühstück. Das Geld zu wechseln dauerte fünf Minuten, Hunger und Müdigkeit ließen Jakob von seiner ursprünglichen Absicht, die Wechselkurse zu vergleichen, absehen und schon nach weiteren zwanzig Minuten stieg er aus dem Bus im Herzen der größten Stadt der Westukraine, Lemberg.

Er schaute sich verwundert um und das Erste was er bereute, waren die Fleischkonserven, mit denen er und seine Bobe1 seinen Rucksack für die Reise vollgestopft hatten. Dutzende Cafés und Restaurants in den Erdgeschossen schöner alter Jugendstilgebäude mit und ohne Terrassen lockten die Passanten mit duftendem Kaffeearoma und Vitrinen voller goldgelbem Gebäck. Von beiden Seiten des langen, prächtigen Boulevards zweigten enge, schattige Nebenstraßen ab. Am Ende der Promenade befand sich ein Opernhaus, von dessen Barockfassade sich Atlanten und Karyatiden2 mit ihren in Falten herabhängenden Togas und von Blumenkränzchen umrankte Engelchen mit Harfen zu den Passanten herabbeugten. Und Jakob bereute es jetzt schon, dass er sich für diese Reise nur vier Tage Zeit genommen hatte. Vier Tage, von denen er zwei in einem gottverlassenen Dorf verbringen musste.

Über seine Dummheit den Kopf schüttelnd, betrat Jakob das erste schon geöffnete Café, setzte sich an einen kleinen freien Tisch und schmiss seinen schweren Rucksack auf einen Stuhl. Die Konservendosen schepperten und zu diesem Geräusch erschien vor Jakob eine Kellnerin. Sie trug eine Uniform, die der Tracht katholischer Nonnen ähnlich war: ein mindestens dreißig Zentimeter unter die Knie reichendes, schokoladenfarbiges Kleid mit langen Ärmeln und hohem zugeknöpftem Kragen, über dem Kleid eine blendendweiße Schürze mit fein gehäkelter Spitze. Die Erscheinung mit ihrem langen Zopf, ovalen Gesicht mit weichen Zügen, großen ungeschminkten Augen wurde von einer sanften Stimme ergänzt. Das Mädchen sprach Jakob sofort auf Englisch an, überreichte das Frühstücksmenü, nahm die Bestellung auf und verschwand hinter der großen Holztheke.

Ungläubig betrachtete Jakob die anderen Kellnerinnen und ihre Gäste. War er zufällig in das Bühnenbild für irgendein historisches Theaterstück geraten? Auf Schritt und Tritt hübsche Frauen, alle in Kleidern oder Röcken, feminin, elegant. Die Kellnerinnen schwebten mit angeborener Eleganz zwischen kleinen runden Tischen, wiegten leicht ihre schweren Zöpfe und lächelten sanft ihre nicht weniger aufgetakelten Kunden an.

Jakob rückte ein bisschen verlegen sein Hemd zurecht und steckte seine Beine tiefer unter den Stuhl, in der Hoffnung, seine abgetragenen Wanderschuhe zu verstecken.

Wahnsinn, wie authentisch dort alles aussah, überall nur Holz und Glas, gerade so, als hätten sie noch nie etwas von Plastik gehört. Das Frühstück kam auf einem Serviertischlein und Jakob vergaß jede andere Wahrnehmung außer seinem Geschmackssinn: Kaiserschmarrn mit Rosinen und Äpfeln in Vanillesoße, nicht weniger als ein halbes Kilo Kohlenhydrate, aber wer würde ihm dies jetzt korrekt berechnen, und ein Cappuccino mit dem dicksten Milchschaum, den er je gesehen hat. Dazu kam ein gekochtes Ei, das Eigelb genauso, wie er es bestellt hatte, drei Stück frisches Baguette mit Käse, Marmelade und Butter.

Jakob verspreiste sein königliches Frühstück und vor seinen Augen erschien Joseph Roth`s Galizien3. Die österreichische k.u.k.-Monarchie, Jugendstil, schmachtende Blicke geheimnisvoller Damen, in höflicher Verbeugung verharrende Männer. Er erlaubte sich für einen Augenblick, sich selbst als Teil dieser schönen alten Welt vorzustellen. Sanfte, weiche Weiblichkeit, verlockende Linien und Rundungen versteckt in Falten weicher Stoffe, leise Stimmen und unter langen Wimpern hervorschauende Blicke. In dieser Atmosphäre fühlte Jakob seine Schultern etwas breiter, die Muskeln stärker und die Stimme tiefer. Ein ganz neues und sehr angenehmes Gefühl für einen schüchternen Gymnasiallehrer. Gegenüber seinen Schülerinnen war er es sonst, der seinen Blick vor mit Plastik-Streifchen verlängerten Wimpern, lila gefärbten Haaren und überheblich ausgebreiteten Schultern versteckte.

Mit Bedauern verließ Jakob das Café und bald das Stadtcentrum mit seinen Karyatiden, den mit schwarzen glatten Steinen gepflasterten Straßen und dem gedämpften Klang der Kirchenglocken. Der Busbahnhof nach Skolywka lag am Stadtrand und schon bald betrat Jakob die graue Industriezone, grau wie alle Industrieviertel der Welt. Und doch konnte er bestimmte Unterschiede schon sehen. Anstatt riesiger Fabrikgebäude und Hallen, die ihre Eingeweide in eng geparkte LKWs ausgossen, begegneten ihm hier nur kleine Autowerkstätten, Reifenservices, die mit Hilfe aller möglicher an ihren Wänden hängender Autoteile warben. Kleine Geschäfte, Steinmetze und Schlüsseldienste lichteten die dichten Reihen der Werkstätten. Das Bild änderte sich auch nach der Abfahrt vom Busbahnhof nicht sonderlich. Von dem leckeren Frühstück und den langen Wimpern der Kellnerin war Jakobs Laune noch immer sehr positiv gestimmt und so schaffte er es, die graue Landschaft mit den vereinzelten Mustergrabsteinen der hier ansässigen Steinmetze sogar zu genießen.

Die Reise war weder gewünscht noch lange geplant. Ganz im Gegenteil, es sollte sein erster Urlaub werden, den er als erwachsener, fast selbständiger, freier, gut ausgebildeter Gymnasiallehrer, genau in seinem dreißigsten Lebensjahr, das erste Mal ohne seine Mutter und seine Großmutter, die Bobe, die letzte Oktoberwoche genießen wollte. Und dafür hatte er sich Mallorca auserkoren. Ohne ewiges: „Jascha,4 setzt dich nicht auf diesen Platz, dort zieht es! Warst du nicht gerade lange genug krank!?“ Oder: „Jascha, dreh dich von der Frau weg, sie hustet genau in deine Richtung, soll sie pischn mit Borscht!5“. Die erwähnte, sich leicht räuspernde Frau, sich ihrer Verurteilung nicht bewusst, beugte sich von ihrem Nachbarsitz zu Jakob und fragte mit freundlichem Interesse: „Welchen Dialekt spricht ihre Oma? Bayrisch?“ Jakob fand damals keine Kraft, diese Vermutung zu verneinen. Er nickte und nuschelte etwas, was die Frau bestimmt für noch einen anderen deutschen Dialekt wahrnahm. Sein Aussteigen an der Haltstelle ähnelte eher einer Flucht, was seine Bobe natürlich mit einer weiteren spitzen Bemerkung begleitete.

Dieses Mal sollte es endlich anders sein. Dalmatien, Kreta, alpine Gletscher oder Mallorca, egal wohin. Jakob war nicht wählerisch, er sehnte sich nur nach einem Stückchen Freiheit. Eine Woche Herbstferien, sorgfältig gespartes Geld und der Wunsch, nur eine Woche, ohne bekümmerte Seufzer und Ächzer seiner Mutter und seiner Bobe an irgendeinem Strand zu verbringen, das alles war eine perfekte Mischung, sich Zeit zu nehmen und eine Reise anzutreten. Natürlich konnte sein Plan ohne einen kleinen Trick nicht funktionieren. Wie zum Beispiel eine dringende, unvorhergesehene Vertretung seines Kollegen, dessen Frau, nehmen wir mal an, einen Autounfall hatte und deswegen zu Hause von ihrem Mann betreut werden musste. Um diesen Plan zu verwirklichen, musste sich Jakob sogar mit einem Kollegen anfreunden, der seine Legende, wenn es dazu käme, dass die Bobe seine Fährte doch aufnähme und den Kollegen anriefe, bestätigen könnte.

Eigentlich war Jakob in der Schule als ein unkollegialer Einzelgänger bekannt, er nahm an keinerlei Aktivität teil und verbrachte alle Pausen allein, was in einem Gymnasium mit tausend Schülern wirklich schwierig durchzusetzen dar. Doch Jakob schaffte es, immer eine leere Ecke zu finden und von allen Lehrertreffen mehr oder weniger diskret zu verschwinden. Um aber mit seinem Verschwinden niemanden zu beleidigen, erledigte er immer vorher all seine Aufgaben. Deswegen, und darauf hoffte Jakob sehr, wurde er vom Herrn Direktor geschätzt und was noch wichtiger war, in relativer Ruhe gelassen. Außerdem hatte Jakob den peinlichen Verdacht, dass er sich für diese schweigende Nachsicht bei seiner Bobe bedanken musste. Sie hatte schon ein paar Mal, wenn Jakob in der Schule länger als sonst brauchte, den Direktor angerufen und ihn gefragt, ob er ihr einziges Enkelkind zwingen dürfe, so lange zu arbeiten und sich nicht bewusst sei, dass zwei hilflose, bedürftige Frauen Jakobs Anwesenheit zu Hause dringend bräuchten? Nach jedem dieser Anrufe, wenn der Direktor sich höflich bei ihm nach der Gesundheit der geehrten Frau Sandlers erkundigte, bekam Jakob das komische Gefühl, als ob die Antwort: „Es geht ihr gut, Danke“ als eher schlechte Nachricht wahrgenommen wurde, und das von den beiden.

Mit fröhlichem Herzen, aber traurigem Gesicht hatte Jakob seine Vertretung schon vor ein paar Wochen zu Hause verkündet. Er hat Klagen, Anschuldigungen und Flüche an die Adresse des Herrn Direktor, seines Kollegen und dessen verunglückter Frau, die ohne Zweifel nur eine egoistische schikse6 sei, die das Leben der anderen absichtlich verderbe, angehört und abgenickt. Jakobs Abwesenheit bedeutete, dass die Bobe in diesem Herbst nicht wie sonst fast jedes Jahr an die Ostsee fahren würde, um dort ihre kranken Knie behandeln zu lassen und das war ein großer Schlag für sie. Da musste Jakob ganz scharf intervenieren.

Natürlich sollte sie mit seiner Mutter an die Ostsee fahren. Die beiden hatten das verdient, lange darauf gewartet und sich sehr gefreut! Im Sommer waren die Strände immer überfüllt und die Unterkünfte überteuert, der Oktober aber bot leere Promenaden und preiswerte Pensionen. Er würde sie hinbringen, bei der Anmeldung helfen, ihre Sachen auspacken und dann nach Hause zurückkehren, um seinem armen Kollegen zu helfen. Auf gar keinem Fall sollten die beiden seinetwegen auf den Urlaub verzichten, er könnte sich das nie verzeihen! Sein Bedauern, Kummer und seine Opferbereitschaft hatten ihre Wirkung gezeigt und die zwei Frauen begannen, ohne mit ihrem Fluchen und Klagen aufzuhören, ihre Reise vorzubereiten.

Das Gleiche machte auch Jakob. Heimlich sammelte er touristische Broschüren und Prospekte, blieb vor den Schaufenstern der Reisebüros stehen, genoss mit den Augen die bunte Werbung griechischer weißer Städte, der blauen kroatischen Adria, leuchtender Diskokugeln in Mallorcas Clubs. Er wünschte sich nichts Besonderes, einfach eine schöne Reise eines Junggesellen ins Warme. Und wer weiß, wahrscheinlich wartete auf ihn die Bekanntschaft einer jungen braungebrannten Frau, die sich vor keinem Luftzug fürchtete und ihn Jakob und nicht Jascha nennen würde. Aufregende Gedanken schwirrten durch seinen Kopf und er fühlte sich wie ein Achtzehnjähriger, in seinem ersten Sommer ohne Eltern. Ein Sommer, der bei Jakob zwölf Jahre verspätet im Oktober endlich wahr werden sollte.

Jakob war das einzige Kind, noch schlimmer, der einzige spätgeborene, lang erwartete Sohn in der ganzen Familie, also das einzige Enkelkind. Und als ob das nicht genug wäre, ist sein ganzes Auserwähltsein in einer jüdischen Familie passiert. Was für ein schweres Schicksal! würde jeder sagen, der vom Phänomen „jüdische Mutter“ schon etwas gehört hat, und noch größeres Mitleid und vielsagendes Schweigen von denen bekommen, die schon mal eine „jiddische Bobe“ in Aktion gesehen haben. Jakobs Leben war ihr Meisterwerk und Jakob durfte sie nicht enttäuschen. Es fiel ihm leider sehr schwer, denn von Tag zu Tag kam von ihm nichts Geniales und der Druck ließ nicht nach. Es durfte nicht passieren, dass die Mutter und die Großmutter, die ihr ganzes Leben auf den Altar seines zukünftigen Erfolgs gelegt hatten, am Ende mit leeren Händen ausgingen. Eine Woche ohne: „Bertas Sohn wurde zum Leiter seiner Abteilung befördert…“ mit darauffolgendem vielsagendem Schweigen, die drei Wochen haben viel zu bedeuten. Ohne die Bobe mehrmals pro Woche um das Viertel herum spazieren zu führen, damit alle ihre geliebten und ungeliebten Bekannten von ihren Rollatoren aus bewundern können, was für ein sorgsames und pflegliches Enkelkind sie habe. Jeder neidische Blick wurde registriert und abends an seine Mutter weitergegeben.

Endlich traute sich Jakob, das Reisebüro, dessen Schaufenster er schon seit Monaten so gierig ableckte, zu betreten und sich als ein äußerst interessierter Klient vorzustellen. Lange saß er dort und durchforstete Kataloge, hörte das höfliche Zwitschern der Reiseverkäuferin, genoss im Voraus die wunderschönen Tage an warmen Stränden mit exotischen Cocktails in Gesellschaft von Frauen, die seinen Humor und Charme anerkennen würden.

Nach guten zwei Stunden entschied sich Jakob für Kroatien. Der Landesname klang so exotisch, wie eine indonesische Insel, eine Woche war im Preisbereich eines Wochenendes in München und soweit er sich erinnern konnte, war bisher keiner von seinen Kolleginnen und Kollegen in Kroatien gewesen, was wiederum bedeutete, dass Jakob mit gebräunter Haut und cooler Brille auf der ersten Lehrerversammlung nach den Ferien gewiss beneidet und bewundert werden würde.

Mit dem Rucksack voller Reiseführer, Broschüren, einem Hawaii-Hemd, dem ersten in seinem Leben, Sonnenbrille im schicken Lederetui kam Jakob bestens gelaunt nach Hause. Die ihm bevorstehende Lüge bereitete ihm keine großen Sorgen. Er log oft, meistens aus überlebenswichtigen Gründen. Bei der 40-Grad-Hitze log er, dass er ein Unterhemd angezogen hätte, er log, dass er mit Kollegen ins Kino ginge, während er endlich, endlich ein Date mit Monika hatte, er log, dass er seinen Vater schon seit einem Jahr nicht gesehen hätte, obwohl die beiden vor einem Monat zusammen Kaffee getrunken hatten. Fairerweise sollte man zugeben, dass die letzte Initiative, das heißt zu lügen, und nicht Kaffee zu trinken von seinem Vater ausgegangen war.

Thomas war eine blasse Gestalt in Jakobs Biografie. Er hat sich von seiner Frau nicht wirklich getrennt, es gab keine klassische Scheidung mit folgender Vermögens- oder Sorgerechtsteilung, nein, sein Vater hatte einfach die Flucht ergriffen und sich in einer anderen deutschen Stadt, hunderte Kilometer von seiner Schwiegermutter entfernt, versteckt. Schon mehr als zwanzig Jahre treffen sich Vater und Sohn (und wie Jakob vermutete sogar auch die eigentlich getrennten Eheleute) heimlich außerhalb des Lebensraums ihrer persönlichen Ordnungshüterin, der Bobe.

Für einen kurzen Moment spielte Jakob sogar mit dem Gedanken, seinen Vater mit nach Kroatien zu nehmen. Es könnte eine schöne Vater-Sohn-Zeit werden. Doch genau so könnte es seine Rolle als ein aktiv Suchender im Kreis weiblicher Urlauberinnen an kroatischen Stränden negativ beeinflussen. Und eine erfolgreiche Suche wäre für seine physische und psychische Lage zurzeit wichtiger als das Vater-Sohn-Tratschen. Jakobs Gedanken wanderten schnell zu anderen Dingen, die er für diese Suche brauchte: eine Sonnenbrille, einen neuen Deoroller und – er fühlte ein leichtes Kribbeln im Bauch – sogar eine Kondompackung. Natürlich dürfte er auch seine Dokumente nicht vergessen. Die Reisebüromitarbeiterin brauchte seine Passnummer und eine neue Reiseversicherung. Den Pass konnte er heute früh daheim in keiner Schublade finden, Hauptsache, er hatte den noch ungestempelten Pass nicht verloren. Bei diesem Gedanken beschleunigte Jakob seinen Schritt.

„Jascha, mein Goldener, komm zu deiner alten Bobe.“ Wie bei einem Jagdhund waren alle Sinne Jakobs alarmiert, als er die sanft leidende Stimme seiner Großmutter hörte. Heute mal ohne: „Hast du schon Strom bezahlt? Warum lässt du deine Fußnägel so lang wachsen, willst du mich beim Sockenstopfen sterben sehen?“ Die heutige streichelnd sanfte Tonlage verkündete bevorstehenden Donner, das war Jakob aus Erfahrung gut bekannt. Schnell steckte er den Rucksack voller Reisebroschüren in den Kleiderschrank im Flur, streichelte kurz die Nachbarskatze, die ohne jeglichen Respekt vor privatem Eigentum immer wieder durch die geöffnete Balkontür in seine Wohnung schlich und den Lieblings-Ficus der Bobe als ein etwas überdimensioniertes Katzengras und den Topf als ein Katzenbett missbrauchte. Dann betrat er die Residenz der Bobe, ihre kleine Küche.

Die Bobe saß am Tisch, den Rücken zum Fenster, das abendliche Licht malte einen Heiligenschein in ihre silbernen leicht lockigen Haare. Augen, die nie eine Brille kennen gelernt haben, schauten Jakob durchdringend an.

„Siehst du, wie schwach ich geworden bin? Ich fühle meine Beine fast nicht mehr, und mein Blutdruck macht Pirouetten wie ein betrunkener Kutschman7, ich sehe schon, dass mein Todesengel seine Flügel ausgebreitet hat, der Erbarmungslose wartet auf meinen letzten Atemzug…“ Jakob, wusch sich, um Zeit zu gewinnen, während des ganzen Monologs die Hände im Küchenwaschbecken, ohne der Bobe am Tisch Gesellschaft zu leisten und schaute sie verdächtig an. Gestern hat dieser sterbende Schwan, der jetzt mit solch tragischer Stimme die jiddische Version des Nibelungen-Lieds vorbrachte, einen richtigen Ausflug in den russischen Laden unternommen, der gut drei Kilometer von zu Hause entfernt ist. Jakob wusste es ganz genau, nicht nur, weil die silbernen Bonbonpapiere von trockenen Pflaumen in Schokolade, Bobes Lieblingssüßigkeiten, im Mülleimer durch Bananen- und Kartoffelschalen schimmerten, sondern weil die Verkäuferin, die leider Jakobs Arbeitsplatz kannte, ihm heute früh einen Besuch abgestattet hat. Seine Großmutter wolle nicht den ganzen Preis bezahlen, sie behauptete, dass sie letztes Mal betrogen worden sei, was ihrer Meinung nach einen automatischen Abzug vom Bonbonpreis beim gestrigen Einkauf gerechtfertigt hätte.

Diese große und laute Frau jagte Jakob Angst ein. Er wollte sie so schnell wie möglich loswerden, damit seine ohnehin schon nicht besonders respektvolle elfte Klasse diese Szene nicht mit anhören konnte. Er gab der Frau die geforderten drei Euro und versprach ihr, mit der Großmutter über ihr Benehmen in der Öffentlichkeit zu sprechen. Letzteres war aber ein Ding der Unmöglichkeit, wovon die russische Verkäuferin wiederum nichts wissen konnte. Außerdem bewiesen leere Insulinpatronen im gleichen Mülleimer, dass die Bobe sich selbst, wenn schon nicht für die eigene konfliktgeladene Kommunikation, so doch für den unangemessenen Zuckerverzehr schon bestraft hatte.

Noch länger konnte er nicht die Hände waschen, sonst riskierte er, sich von der obersten Hautschicht zu verabschieden. Nach langem und sorgfältigem Händetrocken setzte sich Jakob endlich an den Tisch seiner Bobe gegenüber: „Ist die Mama schon da?“ „Nein, und sie kann mir in meiner Not nicht helfen.“ Dina, Jakobs Mutter, wurde auch selten von der Bobe als ernste Hilfe oder überhaupt als eine ernstzunehmende Mitwirkende des Familienlebens wahrgenommen.

„Jascha, ich weiß, dass du diese Vertretung in der Schule machen musst, doch habe ich für dich eine wichtigere Aufgabe, mehr sogar, ich werde dir jetzt meinen letzten Willen verkünden und hör bitte endlich auf, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Wir haben erst vor einem Monat neue Sitzpolster gekauft.“ Das konnte nur bedeuten, dass die Bobe ihn doch als Begleiter an die Ostsee mitnehmen wollte. Er klammerte sich fest an den Tischrand, der Tag des entscheidenden Kampfs war gekommen. Der Ball war aber immer noch auf Bobes Feld, und bis sie ihren Schlag machte, würde er schon Gegenargumente parat haben. Sie schaute direkt in seine Augen, nahm zwei Briefe, die neben ihr auf dem Tisch lagen, und gab einen davon Jakob. Im Brief lag ein Flugticket mit seinem Namen, Dortmund-Lemberg, Abflug in zwei Tagen. Alle Passdaten waren eingetragen. Eine gute Nachricht: Er hatte seinen Pass also doch nicht verloren.

„Von Lemberg nach Skolywka findest du einen Bus und wenn du in Skolywka ankommst, wirst du Darka Bogun besuchen. Sie hat ein paar meiner Sachen noch von vor dem Krieg aufbewahrt, jetzt kann ich sie endlich zurückbekommen. Vier Tage sollten dir reichen, ich möchte nicht, dass du dich dort länger aufhältst. Ich habe Skolywka unter Polen, Russen und Ukrainern erlebt und niemals habe ich mich als Jüdin dort sicher gefühlt, doch Darka behauptet, dass es jetzt sicherer geworden ist. Außerdem bist du Deutscher und Deutsche haben dort immer die beste Gunst genossen. Und wenn du einen deutschen Pass besitzt, wird dir keiner in deine Hosen reingucken, ob du beschnitten bist oder nicht. Trotzdem wird es besser sein, denke ich, wenn du durch eine Reiseagentur alles organisiert bekommst. Dann werde ich auch besser schlafen, wenn sich dort jemand um dich kümmern wird. Erinnerst du dich an das Reisebüro, das hinter dem alten Kino ist? Wahrscheinlich haben sie auch ein paar Touren in die Ukraine. Und mit Geld, mein Goldener, werde ich dich nicht im Stich lassen.“

Skolywka, Lemberg, Ukraine, Kroatien, Ostsee und deutscher Pass, Jakob gab sich große Mühe den geografischen Brei in seinem Kopf in eine einfache Karte für Erstklässler zu bekommen. Das Einzige, was ihm klar geworden war, war die Tatsache, dass sich die von der Bobe genannten Orte wahrscheinlich nicht in einer Reisebroschüre finden würden, was er auch vollkommen logisch fand. In diesem Moment erinnerte er sich mit einiger Erleichterung an die Insulinpatronen im Mülleimer: „Bobe, ich wollte dich eigentlich fragen, wie es dir heute geht, hast du eigentlich deinen Zuckerspiegel gemessen? Seine sanfte Stimme und die empathische Frageintonation eines Seelenklempners verfehlten leider ihre Wirkung. „Jakob, mach mir keinen schwangeren Kopf“, die Bobe winkte ab, ohne seine Frage zu beantworten. „Ich habe jetzt nicht das Ganze angefangen, um von dir Meschugge8 gemacht zu werden?“ Für eine Meschugge klagte sie leider zu entschlossen und selbstbewusst. Der Todesengel- falls der sich überhaupt traute, sich der Bobe anzunähern – hatte seine Flügel, die die Bobe erst vor kurzem über sich spürte, wieder zusammengefaltet und sich an friedlichere Orte zurückgezogen. Er wollte wahrscheinlich auch der Bobe nicht in die Quere kommen. Jakob auch nicht. Vor seinem inneren Auge schmolzen die braungebrannten Frauen an den weißen kroatischen Stränden mit den exotischen Cocktails in ihren zierlichen Händen wie eine Fata Morgana.

„Was soll ich mit Skolywka? Wer ist Darka? Warum soll ich jetzt so Hals über Kopf in die Ukraine fliegen? Bobe, ich habe schon meine eigenen Pläne…“ Er merkte nicht, wie seine Stimme in hohe kreischende Töne eines Teenagers abdriftete.

Und Teenager konnte Bobe zum Frühstück verzehren. Als ob alles schon entschieden wäre, führte sie ihre Gedanken weiter: „Du wirst einen kleinen Koffer von Darka bekommen, dort liegen die Sachen, die ich von meinem Vater in der letzten Nacht bekommen habe, bevor er mit dem ganzen Ghetto in den Wald gebracht wurde und dort ohne Kaddisch9 in das von ihm selbst ausgehobene Grab hineingestoßen wurde. Als ich aus Skolywka floh, hatte ich nur Moische in meinen Händen, er war schwer, ich sollte alles andere stehen lassen. Mit einem dreijährigen Kind hast du auf der Flucht keine Hand frei. Den Koffer habe ich Darka übergeben, sie versteckte mich und Moische fast zwei Jahre bei sich auf dem Dachboden. Jahre danach, schon aus Deutschland habe ich ihr viele Briefe geschrieben, niemand hat sie mir beantwortet. Meinen letzten Brief habe ich vor drei Jahren nach Skolywka geschickt, eher aus Gewohnheit, als in der Hoffnung eine Antwort zu bekommen. Ich erzählte ihr über mein Leben hier, über Dina und dich. Dass Moische noch auf der Flucht an Typhus gestorben ist, hatte ich ihr schon früher mitgeteilt, doch alles blieb unerwidert. Bis vor zwei Tagen. Am Montag habe ich endlich ihre Antwort bekommen. „Du kannst den Koffer abholen.“ So hat sie angefangen. Sie will, dass du kommst, nicht Dina, und sie will noch etwas…“ Die Bobe machte eine Pause, und Jakob, der sowieso schon angesichts aller unerwarteten schlagartigen Offenbarungen, die die Bobe ihm nie zuvor erzählt hatte, nur ratlos nach Luft schnappte, sah einen Schatten von Befangenheit auf dem Gesicht der Bobe. Es war ihm schon klar, dass ab jetzt alles nur noch schlimmer werden würde. Die Bobe glättete unsichtbare Falten auf der Tischdecke. „Sie will, dass du ihre Enkelin als Kahlah10 mit hierher bringst.“

„Meinst du das ernst?“ Soweit durfte es nicht gehen. Dass die Bobe ihm schon lange eine Braut suchte, war Jakob bewusst. In den letzten zehn Jahren konzentrierte sich die Bobe in ihrem Gesellschaftskreis nur auf diejenigen Kontakte, die ihr ihre unverheirateten Enkelinnen, mit guten Manieren und richtiger Herkunft liefern konnten. Doch dass sie so weit gehen würde und sich am Menschenhandel beteiligte, entsprach einer ganz anderen Liga.

„Ich finde es auch übertrieben, Jascha“; das Entsetzen auf seinem Gesicht ließ sie eilig etwas Beruhigendes auf den Tisch bringen: „Ich würde von dir auch auf keinen Fall verlangen, die Kleine zu heiraten! Schließlich musst du es nicht jetzt entscheiden, nimm dir Zeit. Bei ihr zu Hause kannst du sie besser einschätzen. Und wenn sie dir nicht gefällt, dann lässt du sie in Skolywka zurück. Hauptsache, Jascha“, die Bobe klang todernst: „Du bringst mir den Koffer. Darin ist mein ganzes Leben.“

Am nächsten Tag saß Jakob im gleichen Reisebüro. Dieses Mal mit dem Reisepass. Düster erklärte er der verwunderten Mitarbeiterin, dass er jetzt dringend eine Reise in die Ukraine organisiert haben wollte. Die Flugtickets habe er schon, er bräuchte nur ein Hotel, Transport und einen Begleiter, bzw. einen Leibwächter, um in das kleine Dorf zu fahren.

„Wozu brauchen Sie einen Leibwächter? Was wollen Sie denn in der Ukraine unternehmen?“ Die Frau weigerte sich, in diesem ganz und gar durchschnittlichen, grauen Kerl einen Tatverdächtigen zu erkennen. „Ich werde den Geburtsort meiner Großmutter besuchen, es ist ein kleines Dorf in der ukrainischen Provinz, und ich will unterwegs keine Unannehmlichkeiten bekommen.“

Die Dame runzelte die Stirn: „Ich werde noch mal nachschauen, aber meines Erachtens brauchen Sie für die Ukraine keinen Leibwächter. Somalia, Eritrea, Kabul würden einen erfordern, aber wir organisieren sowieso keine Reisen in Hochrisikogebiete. In die Ukraine eigentlich auch nicht. Krakau wäre der östlichste Ort gewesen, wahrscheinlich wollen Sie, Herr Sandler, nach Krakau und dort eine Reiseagentur für die Weiterreise suchen?“

Doch für Jakob klang das zu kompliziert und zu riskant: „Wären Sie bitte so lieb, noch mal nachzuschauen, ob es nicht doch eine organisierte Reise in die Ukraine gibt, der ich mich anschließen könnte, mit Ausnahme eines Tages, an dem ich meine persönliche Angelegenheit in Skolywka erledigen werde?“

Die Frau sah die Angebote in ihren Katalogen durch. Sie runzelte nochmals die Stirn, presste ihre Lippen zusammen und gab endlich ein siegreiches Quietschen von sich. „Nicht bei uns, aber bei unserem Partner in Berlin können Sie eine Reise nach Tschernobyl buchen. Sehr spannend, nicht wahr? Eine Reise in die postapokalyptische Welt? Sie findet in drei Wochen statt. Eine Krankenversicherung, welche radioaktive Strahlung abdeckt, ist erforderlich.“

„Tschernobyl? Das kaputte Atomkraftwerk? Wer will denn dorthin reisen? Ist das nicht gefährlich?“

„Wahrscheinlich nicht, sonst wäre die Tour nicht genehmigt worden.“ Die nette Dame hatte keine besonders überzeugende Stimme: „Außerdem werden sie auch versichert...“ Hier steht: „Ein Tag aus dem Film „I am a legend!“ Erleben Sie Furcht und Schrecken der Atomexplosion unter sicherer und gewissenhafter Begleitung unseres Teams! Shopping-Tour in Kyjiw und Strahlungsmesser sind inbegriffen.“ Sie schüttelte verwundert den Kopf: „Die Tour ist aber sehr nachgefragt. Den ersten freien Platz bekommen sie nicht früher als in drei Monaten.“

„Das ist mir zu spät, außerdem brauche ich auch keinen Strahlungsmesser. Und noch weniger einen Grund, um die Strahlung zu messen.“ Enttäuscht verabschiedete sich Jakob von der Verkäuferin des sicheren Todes und schloss hinter sich die Tür des Reisebüros.

Also war die Zeit für Jakob gekommen, eine nicht organisierte Reise zu unternehmen. Er war früher auch kein Bettenburg-Tourist, der sich in der „all-inklusiven“ Türkei den Bauch vollstopfte, doch mit dem Rucksack durch wilde Steppen, dunkle Wälder zu wandern, wo sich vielleicht noch Kosaken und Partisanen versteckt hielten, war ihm auch zu viel. Zu Hause machten er und die Bobe eine Einkaufsliste: Fleischkonserven, Erste-Hilfe-Set, Tabletten für Wasserreinigung. Beide seine Frauen, die Mutter und die Großmutter, begleiteten jede seiner Bewegungen mit traurigen Augen, jeder seiner Wünsche wurde im Voraus erfüllt. Jakob fühlte sich wie ein Soldat vor dem Kampf. Er sammelte Kontakte zur deutschen Botschaft in Kyjiw, zum Konsulat in Lemberg, kaufte einen Russisch-Deutsch/Deutsch-Russischen Sprachführer. Als seine Bobe 1945 Lemberg verließ, spracht man dort schon Russisch als Staatssprache und außerdem stieß Jakob, als er einen Deutsch-Ukrainischen Sprachführer finden wollte, in allen Buchläden auf die gleiche Reaktion wie im Reisebüro.

Mit fest aufeinander gepressten Lippen betrat er den Dortmunder Flughafen, weinend standen die beiden, die Mutter und die Bobe, noch lange vor der Sicherheitskontrolle und winkten, bis Jakob hinter Dutzenden anderen Reisenden, die nichts von den ihm bevorstehenden heroischen Taten wussten, aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Einen halben Tag später fand Jakob ihren pathetischen Abschied am Flughafen zum Lachen. Lemberg erwies sich als eine echte europäische Perle, voll schöner historischer Gebäude, schattiger Gassen, geschweige denn verlockender Gastronomie, deren Künste Jakob noch zufrieden in seinem Magen spürte. Sogar den umgebauten Bus fand er kreativ und lustig, die goldzahn-lächelnde Frau war für ihn eine exotische Indigene, mit der man vorsichtig Kontakt aufnehmen könnte. Die Reise versprach, sich in ein angenehmes, exotisches Erlebnis zu verwandeln, mit welchem man auch vor den Kollegen und Kolleginnen im traumatischen ersten Treffen nach den Herbstferien im Lehrerzimmer prahlen könnte. Natürlich würde er nicht von allem erzählen. Nicht von seinen kindischen Ängsten, seinen schlechten Kenntnissen der modernen politischen und kulturellen Lage der Ukraine, dieser versteckten Perle im Herzen Europas, die er als Erster aus Delitzsch wenn nicht aus ganz Sachsen entdeckt hat. Das mitgebrachte Dutzend Fleischkonserven würde er auch verschweigen, wahrscheinlich würde er sie einfach vor einem Obdachlosen ausladen, wenn er einen träfe. Und den leeren Rucksack würde er mit verschiedenen Leckereien aus einem der Lemberger Cafés auf dem Rückweg zum Flughafen vollstopfen.

Beruhigt und entspannt entschied sich Jakob dafür, das bevorstehende Gespräch besser vorzubereiten. Dazu hatte er ein gewisses Instrument von seiner Bobe bekommen, ein kleines, altes, durch viele Länder und über viele Grenzen, durch Ghettos und den Krieg nah am Herzen getragenes Fotoalbum. Nur zwölf Fotos, alle in Postkartengröße, alle zerrissen und wieder zusammengeklebt. Jedes Bild mit weißer Unterschrift: wer, wo, wann, aus welchem Anlass. Alle Bilder stammten aus den Vorkriegsjahren. Und bis vorgestern, den letzten Abend vor der Abreise schloss die Bobe ihre Geschichte auch mit dem Jahr 1939 ab.

Seitdem Jakob sich erinnern konnte, erzählte ihm Bobe an endlosen Tagen und Abenden, die er zu Hause einsam verbrachte, (denn wie hätte sie so einen kleinen und schwachen, aber zugleich so begabten Jinge11 in den Kindergarten, zu frechen und bestimmt unerzogenen Kerlen schicken können?) über ihre in den Wäldern von Skolywka gebliebene Familie. So verbrachte Jakob seine Kindheit: umhüllt von selbstgestrickten Schals und Westen, von Jochl12gesättigt, mit chassidischen Märchen mal bespaßt, mal erschreckt, in der Gesellschaft von aufgeweckten Verwandten der Bobe, deren Eltern: Jakob und Fruma Nierenstein und ihren fünf Kindern: Josef, Falik, Elischewa, Hana, und endlich der ältesten und der einzigen Schoah13-Überlebenden: die Bobe Reizel selbst. Die Namen kannte Jakob auswendig, ihre Charaktere, Gewohnheiten, ihr Aussehen. Er brauchte keine Notizen und keine Dokumente, um nach ihren Namen zu suchen. Jeder stand lebhaft vor seinen Augen. Der besondere Wert des Albums lag darin, dass manche Fotos draußen gemacht wurden. Das dritte Foto war aus dieser Sicht besonders wichtig, da es das Elternhaus der Bobe mit einem Stückchen der Zolota-Straße zeigte. Das vorletzte Foto im Album war eine Postkarte mit der polnischen Überschrift Skolówka. Jede neue Herrschaft, die sich in diesem Gebiet mit bewundernswerter Beständigkeit wechselten, brachte immer eine neue Sprache mit sich. Aber in jeder Sprache, Deutsch, Ukrainisch, Polnisch, Russisch, bedeutete der Name immer das Gleiche: Splitter. Und wie ein Splitter, sagte die Bobe Jakob an ihren letzten gemeinsamen Abend vor seiner Abreise, saß das Schtetl14 in ihrem Herzen.

Auf der polnischen Postkarte waren ein Teil vom quadratischen Hauptplatz, mit einer katholischen Kirche und das Rathaus von Skolywka zu sehen. Andere auf der Karte sichtbare Gebäude waren schöne zwei- oder dreistöckige Villen, die den Platz umrahmten. In der Mitte des Platzes befand sich ein großes, flaches Gebäude: die Kaufhalle von Skolywka. Das zweistöckige Haus füllte fast den ganzen Platz aus, und ließ nur einen ziemlich engen Weg für Menschen und Kutscher ringsum. Der erste Stock sah wie eine lange Arkadenkette aus, deren jedes Segment ein Ladeneingang war. Der zweite Stock mit kleinen Fensterchen diente manchmal als Lager, manchmal als Wohnetage oder Gastherberge der Händler und Handwerksleute von Skolywka. Kleine schwarze Figuren bewegten sich zwischen den Arkaden, eine Kutsche stand vor dem Kirchtor, alltägliches Leben eines kleinen Provinzstädtchens.

Außer dem Album, diesem improvisierten Reiseführer, konnte sich Jakob bei der Suche nach der Gegenwart in seinem Zielort, nur auf einen Wiki-Artikel verlassen. Mit Hilfe des Google-Übersetzers, da Ukrainisch die einzige verfügbare Option im Sprachenmenü war, informierte er sich über Skolywkas heldenhafte Geschichte. Sein erster Gedanke war, dass er wohl den falschen Ort gefunden hatte, doch die geografischen Koordinaten in der oberen Ecke seines Bildschirms stimmten. Dann dachte er, dass er etwas übersehen hatte und ließ das Übersetzungsprogramm noch mal laufen: Nein, die Geschichte blieb unverändert. In allen Epochen wurden irgendwelche ukrainischen Helden geboren, tragisch getötet, ehrenvoll beerdigt und im Gedächtnis der folgenden Generationen wiederbelebt. Es stand nirgends etwas darüber, dass die heutige Kleinstadt früher ein jüdisches Schtetl gewesen ist, dass fast alle seine Bewohner Juden waren, oder wohin sie alle im Krieg verschwanden. Trotz längerer Suche fand Jakob keine weitere Information zu Skolywka im Internet.

Jetzt im Bus erinnerte sich Jakob plötzlich an einen Stolperstein vor der Bäckerei an der Ecke vor seinem Haus. „Hier wohnte Sarah Heilberg, geboren im Mai 1896, deportiert im September 1941, ermordet 1942 in Auschwitz“. Jedes Mal, wenn er die Bäckerei betrat, las er diese Inschrift, die er schon längst auswendig kannte. Es war sein symbolischer Tribut des Gedenkens an die arme Sarah Heilberg und alle anderen Holocaust-Opfer. Wie viele Stolpersteine müssten dann wohl in Skolywka liegen? In einem Schtetl, wo Juden laut seiner Bobe mehr als achtzig Prozent aller Bewohner ausgemacht hatten? Jakob stellte sich einen Weg vor, der völlig mit Stolpersteinen gepflastert war. Wie lange hätte Gunter Deming15gebraucht, um die alle zu verlegen? Zehn Jahre? Sind alle Namen bekannt? Sind alle Adressen noch vorhanden?

In Lemberg hatte Jakob während seines kurzen Aufenthalts auch keine Stolpersteine gesehen. Reist Deming auch nur mit deutschen Reisebüros? Oder ist hier diese Art des Gedenkens an die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkrieges noch nicht bekannt? Ist es in Skolywka auch so? Was wartete dort überhaupt auf ihn? Bis jetzt fühlte sich Jakob in relativer Sicherheit, seine ethnische Zugehörigkeit schien niemanden zu interessieren oder die Bobe hatte doch Recht, dass er mit seinen hellblauen Augen und mausgrauen Haaren seine jüdische Herkunft mit Leichtigkeit verbergen konnte.

Sicherheitshalber schaute Jakob sich im Bus um. Er war wahrscheinlich nicht der unauffälligste Passagier hier, aber jedenfalls auch nicht im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, und mehr konnte man sich in dieser Situation nicht wünschen.

Er konzentrierte sich weiter auf das Familienalbum. Dessen erstes Foto zeigte Jakobs Bobe noch als junges Mädchen mit ihrer kleinen Schwester Hanna auf dem Schoß, sie saß neben ihrer Mutter Fruma und zwei Brüdern, Falik und Josef. Die zweitjüngste Schwester Elischewa stand links von der Mutter. Hinter ihr stand der Vater der Bobe, Jakob Nierenstein. Alle starrten wie gebannt in die Kamera, so ernsthaft und konzentriert, dass Jakob ihre Spannung durch Zeit und Raum spüren konnte. Sich fotografieren zu lassen hatte in Vorkriegszeiten in Skolywka eine unschätzbare Bedeutung. Man brauchte Geld für schöne Kleidung und um einen Photographen zu bezahlen, viel Zeit um alle Kinder sauber zu waschen und in diesem Zustand bis zum Ende der Aufnahme zu halten und schließlich die Ausdauer, um voller Würde und Gnade und ohne zu zwinkern ins Objektiv zu starren.

Jakobs Großvater, nach welchem Jakob benannt wurde, war Schuster. Ein so guter und so feindliker16, dass seine Kunden – Polen, Juden und Ukrainer – sogar aus Lemberg zu ihm nach Skolywka kamen. Polnische Adlige, erzählte Bobe, die in Wirklichkeit kaum Geld zum nackten Überleben hatten, pflegten ihr Äußeres über alles. Der Zeide17