Meerweh im Gepäck - Birgit Schlieper - E-Book

Meerweh im Gepäck E-Book

Birgit Schlieper

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Beschreibung

Hör auf dein Herz, folge ihm ans Meer Nach dem Verlust ihrer Mutter will Emma nur noch eins: weg aus der Großstadt. Sie nimmt kurzerhand ein Jobangebot an der Nordsee an. Hier will sie beruflich neu Fuß fassen und zugleich Wellen, Wind und Meer genießen. Doch sie hat kein Glück – ihre Unterkunft ist nach einem Wasserschaden unbewohnbar. Kurzfristig kann sie sich auf einem Hausboot einmieten und muss die nächtlichen Bekanntschaften ihres Mitbewohners in Kauf nehmen. Ihr neues Leben hat sich Emma ganz anders vorgestellt – wäre da nicht Nils, der ihr bei einem Strandspaziergang den Kopf verdreht. Die Nordsee scheint es doch gut mit Emma zu meinen, aber sie ahnt nicht, dass ihre Liebe zu Nils schon bald auf die Probe gestellt wird und nicht nur das Meer stürmisch sein kann.

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Meerweh im Gepäck

Die Autorin

BIRGIT SCHLIEPER lebt seit zehn Jahren mit Mann, Sohn und Tochter in einem Dorf in der Nähe von Zürich. Mittlerweile erschrickt sie auch nicht mehr, wenn plötzlich eine Kuh im Garten steht. Ihre Lust am Schreiben begann mit Gedichten, zog sich über den Journalismus bis zu Romanen – am liebsten mit Happy-End. Wenn sie schreibt, kann sie nicht stricken – was die Kinder extrem freut. Die Autorin schätzt an der Schweiz besonders, dass bei Elternabenden Wein gereicht wird. Und auch deswegen will sie dort erstmal für immer bleiben.

In unserem Hause ist von der Autorin außerdem erschienen:

Neuanfang mit Meerblick. Ein Nordsee-Roman

Das Buch

Hör auf dein Herz, folge ihm ans Meer

Nach dem Verlust ihrer Mutter will Emma nur noch eins: weg aus der Großstadt. Sie nimmt kurzerhand ein Jobangebot an der Nordsee an. Hier will sie beruflich neu Fuß fassen und zugleich Wellen, Wind und Meer genießen. Doch sie hat kein Glück – ihre Unterkunft ist nach einem Wasserschaden unbewohnbar. Kurzfristig kann sie sich auf einem Hausboot einmieten und muss die nächtlichen Bekanntschaften ihres Mitbewohners in Kauf nehmen. Ihr neues Leben hat sich Emma ganz anders vorgestellt – wäre da nicht Nils, der ihr bei einem Strandspaziergang den Kopf verdreht. Die Nordsee scheint es doch gut mit Emma zu meinen, aber sie ahnt nicht, dass ihre Liebe zu Nils schon bald auf die Probe gestellt wird und nicht nur das Meer stürmisch sein kann.

Birgit Schlieper

Meerweh im Gepäck

Ein Nordsee-Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH,Berlin April2023 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-95818-757-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1.

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8.

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18.

Leseprobe: Küstenglück und Meeresrauschen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1.

1.

»Ich gehe weg aus Berlin.«

Billys Augen werden etwas größer, und ich kann sehen, wie die Worte in ihrem Kopf einen Krater hinterlassen. Wie in Zeitlupe setzt sie die Kaffeetasse ab. Neben die Untertasse. Ihre Augen fixieren mich, dann zieht sich ganz langsam ihr linker Mundwinkel nach oben.

»Mensch, Emma. Das ist einer von deinen komischen Scherzen, oder? Ich wäre fast drauf reingefallen.«

Sie hebt die Kaffeetasse hoch und wischt den Rand auf dem Tisch mit dem Finger weg.

»Kein Scherz.«

Ich schüttle den Kopf und presse die Lippen aufeinander. Ich weiß, dass ich Billy traurig mache. Dass sie mich nicht verstehen wird. Aber ich kann nicht anders.

»Seit dem Tod meiner Mutter ist hier alles zu leer und gleichzeitig zu voll. Ich fühle mich wie ein Statist in einem Film mit einem Drehbuch, das ich nicht kenne. Alle um mich herum wissen ihren Text und wann sie wo sein müssen.«

Billy lehnt sich nach vorne.

»Emma, ist doch klar, dass dich ihr Tod umgehauen hat. Aber jetzt auch noch all deine Freunde zurückzulassen, halte ich für keine gute Idee. Das macht dich noch einsamer. Dann fehlt dir nicht nur deine Ma, dann ist da gar nichts mehr.«

»Mein Freundeskreis? Das bist du. Ich habe noch ein paar nette Kolleginnen. Das war’s.«

»Vielleicht hast du dich in den letzten Jahren ein bisschen zu viel um deine Mutter gekümmert. Du musst unter Leute.«

»Ich bin hier unter Leuten. Unter viel zu vielen Leuten. Und alle gründen gerade Start-ups oder sind auf dem Weg zu einer Filmnacht oder einer Finissage. Mir ist das zu hektisch. Außerdem kotzt mich mein Job an. Naturpädagogin in Berlin. Großartig. Ich halte fast alle meine Seminare auf Friedhöfen ab. Das hebt nicht gerade die Stimmung. Für den Großteil der Teilnehmer ist Natur nur interessant, wenn sie rauchbar ist. Der Rest stellt sich einen Strauß auf den Tisch und guckt den Blumen beim Sterben zu. Es reicht. Ehrlich.«

»Und deswegen ziehst du jetzt in den Schwarzwald und wirst Frutarierin oder kaufst dir einen Demeter-Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern?«

»Nein. Ich habe einen Job an der Nordsee angenommen. Am 1. Mai fange ich an.«

»Und warum erzählst du mir das erst jetzt?«

»Weil du versucht hättest, es mir auszureden. Davor hatte ich Angst.«

Billy trinkt ihren Kaffee, der mittlerweile bestimmt schon kalt ist, was ihr allerdings nichts auszumachen scheint.

»Das sind keine vier Wochen mehr.«

»Ich weiß.«

»Nur noch drei Mal Pilates neben dir.«

Ich ziehe entschuldigend die Schultern hoch. Was soll ich sagen? Billy wird mir fürchterlich fehlen. Ich habe sie vor drei Jahren beim Pilates getroffen und sofort ins Herz geschlossen.

Spätestens als mitten in der Achtsamkeitsübung mit geschlossenen Augen ein lauter Pups durch den Raum hallte und wir beide als Einzige losprusten mussten, waren wir irgendwie verbunden. Es stimmt übrigens nicht, dass laute Pupse nicht stinken.

Ich bin – glaube ich – die Einzige in ihrem Umfeld, die weiß, dass sie eigentlich Sybille heißt. Vor zwei Jahren sind wir zusammen nach Griechenland geflogen, und ich habe einen Blick auf ihren Pass und somit auf ihren richtigen Namen erhascht. Daraufhin hatte sie drohend den Zeigefinger gehoben.

»Sybille klingt wie eine ansteckende Geschlechtskrankheit. Ich bin Billy. Okay?«

Es klang nicht wirklich nach einer Frage, und ich nickte damals sofort.

»Wir können ja skypen. Und du kannst mich besuchen«, schlage ich vor. »Außerdem ist es auf ein Jahr befristet.«

»Ein ganzes Jahr«, stöhnt Billy. »Da kann so viel passieren. Vielleicht lernst du einen Schäfer kennen und schwups hast du zwei bis vier Kinder. Oder du triffst einen Seemann und schwups bist du mit dem nach Australien gesegelt.«

»Ich glaube, Seemänner segeln nicht«, gebe ich zu bedenken.

Billy lässt sich nicht beeindrucken.

»Oder du verliebst dich in den Leuchtturmwärter und hast innerhalb von sechs Monaten Waden wie ein Profi-Radfahrer.«

»Vielleicht verliebst du dich auf einer langen Filmnacht über Polarlichter in einen finnischen Lkw-Fahrer und erlernst die Kunst des Eisfischens«, halte ich dagegen.

»Was ist das überhaupt für ein Job?«

»Weiterhin Naturpädagogin, aber in einem Weiterbildungshaus mit Hotel direkt am Meer. Da kommen jeweils wochenweise neue Gäste, die sich nach unterschiedlichen Schwerpunkten weiterbilden können. Ich bin halt Schwerpunkt Natur.«

»Das heißt, du machst demnächst jeden Tag eine Wattwanderung und trägst ausschließlich gelbe Ölmäntel und trinkst nur noch Tee mit einem Klumpen Kandiszucker? Klingt ja total spannend«, mault Billy.

Als wir uns verabschieden, drückt sie mich ein bisschen länger und fester als sonst.

Als ich die Wohnungstür öffne, habe ich sofort ganz leicht dieses Aroma von ihr in der Nase. Noch immer riecht es ganz fein nach meiner Mutter. Eine Mischung aus ihrem Eau de Toilette, Lakritz und Lavendel. Ich habe es geschafft, das Bett frisch zu beziehen. Ihre herumliegenden Kleidungsstücke in den Schrank zu legen. Mehr nicht. All ihre Cremes, Parfums und Lippenstifte liegen noch im Badezimmer. Ihr Mantel hängt an der Garderobe. Wie lange schon? Wie lange war sie nicht vor der Tür gewesen?

Vor zwei Wochen ist ihre Urne in einem Friedwald beigesetzt worden. Das hatte sie so geplant.

»Emma, ich will nicht, dass du dauernd ein Grab pflegen musst. Hinterher würdest du noch Vergissmeinnicht pflanzen«, hatte sie behauptet.

»Mama, ich bin Naturpädagogin. In meinem Leben kommen keine Vergissmeinnicht-Blumen vor«, hatte ich ihr widersprochen. »Vielleicht möchte ich ja einen Grabstein, an dem ich sitzen und an dich denken kann.«

»Du kannst überall an mich denken. Im Bett, beim Shoppen, auf dem Klo. Dafür braucht es keinen Grabstein. Außerdem will ich nicht, dass du auf mir rumläufst.« Meine Mutter war keine Frau, der man ohne gute Gründe Paroli bietet.

Die Beerdigung war schnell vorbei. Meine Mutter hatte mich darum gebeten. Sie wollte keinen großen Auflauf. »Dann reden alle über mich, und ich weiß nicht was«, hatte sie gesagt.

Außer einer Grabrednerin kamen unser Nachbar und zwei sehr alte Freundinnen meiner Mutter. Eine war auf dem Weg zur Urnenbestattung in einen Hundehaufen getreten, und während der ganzen Zeremonie stank es danach. Ich war anschließend direkt nach Hause gegangen, hatte drei Gläser Rotwein getrunken und Udo Jürgens gehört. Meine Mutter hatte alle Schallplatten (!) und CDs von ihm. Bei »Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden« bildete sich eine Pfütze auf dem Parkett. Ich bin schon mal für weniger Pipi aufs Klo gegangen, als ich an dem Abend geheult habe.

An diesem Abend trinke ich einen heißen und sehr süßen Kakao und gehe früh ins Bett. Für den morgigen Samstag habe ich mir mit fettem Edding »AUSRÄUMEN« in den Kalender notiert. Und zwar so fest, dass die Farbe noch im Juni zu sehen ist. Am Sonntag kommen potenzielle Untermieter zur Besichtigung, und ich will nicht, dass sie persönliche Dinge meiner Mutter sehen.

Ich beginne wie ein Roboter, nehme alle Fotos von ihr ab. Kommen Trauer, Selbstmitleid, Sehnsucht hoch, schlucke ich ganz schnell und recke mein Kinn ein Stückchen nach oben. Die Tränen sollen erst gar keine Chance haben. Meine Mutter war Tänzerin, später Tanz-Choreografin. Sie war in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Auf einem Rückflug von Moskau hatte sie meinen Vater kennengelernt. Sie hatten sich angezogen wie zwei Magnete. Sie war das volle, pralle Leben. Er war der totale Theoretiker und Wissenschaftsphilosoph. Er wusste, wie man lebt. Sie wusste, wie man mit Lust lebt. Zwei Puzzleteile hatten sich gefunden. Weil mein Vater für die Praxis einfach nicht gemacht war, kam er bei einem profanen Unfall ums Leben. Er war in ein Telefonat vertieft über eine Straße gegangen und von einem Lieferwagen frontal erwischt worden. Ich bin sicher, dass er in seinem allerletzten Moment einfach nur erstaunt war. Ich zog danach wieder bei meiner Mutter ein. Alleinsein war nicht ihr Ding. Mein Vater hatte aber vorsorglich unsere wunderschöne Altbauwohnung erworben, sodass wir bleiben konnten. Irgendwann fing meine Mutter wieder an, Leute einzuladen. Sie gab wunderschöne Feste. Feierliche Abendessen, laute Partys. Sie streifte dann gerne ihre Pumps ab und tanzte wild und gleichzeitig grazil. Es gibt einfach Leute, die gehören ins Rampenlicht. Und es gibt Leute, die den Scheinwerfer halten. Für sie habe ich den Schweinwerfer gerne gehalten.

Ich räume die Wolldecken weg, mit denen sie versucht hatte, sich warm zu halten. Sie war immer dünner und kleiner geworden. Wir hatten ihr Bett in das Esszimmer gestellt, das durch eine Schiebetür vom Wohnzimmer getrennt war. Sie lag immer länger und häufiger. Zwei Mal am Tag kam eine Pflegerin. Dann wurde die Schiebetür geschlossen. Nach ihrem Tod hatte ich Unmengen von starken Schmerzmitteln in ihrem Schränkchen gefunden. Ich hatte nicht geahnt, dass sie so starke Schmerzen hatte. Immer, wenn ich an ihrem Bett saß, versuchte sie mich zu verjagen. Ich soll rausgehen, feiern, Spaß haben, flirten. Mich dem Leben hingeben.

Ich halte die Luft an und stopfe ihre gesamten Kleider in einen großen Sack, den ich später beim Roten Kreuz abgeben werde. Bevor ich ihn verknote, ziehe ich noch schnell einen wild geblümten Seidenschal raus und stopfe ihn unter meine Bettdecke.

Das Mittagessen hole ich mir beim Thai-Restaurant um die Ecke. Ich sitze mit den Schachteln auf der Couch und erinnere mich daran, wie oft sie und ich das gemeinsam gemacht haben. Das war eines ihrer Geheimnisse: Sie stand total auf Fastfood. Auf Döner und Pommes mit Mayo. Jedes Mal hatte sie mich verschwörerisch angelächelt und gemeint: Ein Mal ist kein Mal. Ich hatte dann jedes Mal »Mahlzeit« gesagt.

»Das ist ja wunderschön hier«, findet die Frau, die sich am Sonntag als Erste die Wohnung anschaut. Sie hat zwei Kinder. Zwillinge im Alter von zwei oder drei Jahren, die neugierig von Zimmer zu Zimmer hüpfen.

»Ich habe mich gerade von meinem Mann getrennt und einen Job in Berlin als Architektin angenommen«, erklärt sie mir.

Sie begutachtet die Schnitzarbeiten in der Schiebetür und bewundert die Stuckdecken. Bei der aktuellen Mietsituation in Berlin ist die Wohnung ein Traum. In der Küche freut sich die Frau über den Gasherd und den riesigen Kühlschrank, im Bad ist sie total geflasht von Dusche und Wanne.

Mir wird bewusst, wie schlau mein Vater war, diese Wohnung damals zu kaufen. Heute wäre sie unbezahlbar. Ich folge der Frau in die Küche. Sie strahlt mittlerweile über das ganze Gesicht, zeigt auf den kleinen Balkon und meint: »Das ist ja der perfekte Ort, um morgens einen Kaffee zu trinken.«

Damit hat sie mich. Genau dort habe ich jeden Morgen gesessen und den Tag begonnen. Ich höre, wie die Kinder zwischen Flur, Bad und Wohnzimmer hin und her laufen und Fangen spielen. Das hätte meiner Mutter gefallen.

»Das ist wohl ein eher ruhiges Haus«, mutmaßt die Besucherin.

»Gewesen«, lache ich.

»Sie meinen, ich hab die Wohnung?«

»Haben Sie. Bis auf mein Zimmer. Ich habe alle persönlichen Dinge in Kartons gepackt und dort gelagert. Den Raum würde ich abschließen«, erkläre ich ihr.

Nachdem sie gegangen ist, hänge ich einen Zettel »Untermieter schon gefunden« unten an die Haustür und lasse mich treiben. Die Aprilsonne hat mich getäuscht. Es ist viel kühler, als ich gedacht hatte. Ich frage mich, wie mir dann wohl der Wind an der Nordsee gefallen wird. Werde ich eine chronische Mittelohrentzündung haben und mich schon bald mit der Dorf-Apothekerin duzen?

Am Montag ist tatsächlich der Vertrag mit dem Weiterbildungszentrum Meerblick in der Post. Jetzt wird es ernst. Jetzt muss ich wirklich mit Hanspeter Heimann reden. Das ist der Leiter der Volkshochschule, bei der ich meine Kurse gebe. Er ist nicht mein Chef, weil ich nicht angestellt bin. Aber mitteilen muss ich es ihm natürlich. Alle meine Teilnehmer informiere ich per Mail. Ich erstatte ihnen den Restbetrag und empfehle andere Naturpädagogen in Berlin. Vor dem Gespräch mit Hanspeter habe ich ein ungutes Gefühl. Erstens weil er immer Räucherstäbchen der Duftmarke Moschus in seinem Büro glimmen hat. Moschus ist ein Pulver, das aus einem Sekret des männlichen Moschustiers gewonnen wird. Es riecht schwer nach Brunft und passt zu Hanspeter wie Kuchenrezepte in die Auto Motor und Sport. Zweitens deutet Hanspeter nach jedem zweiten Wort ein Räuspern an. Ich bin immer versucht, ihm mal feste auf den Rücken zu hauen, damit er sich einmal richtig räuspert.

Ich bekomme einen Termin für 15 Uhr.

Um 15.02 Uhr schaut Hanspeter mich mit waidwundem Blick an und streicht bedächtig über seinen gelb-grauen Bart.

»Emma. Du enttäuschst mich.«

Räusper, räusper.

»Du hast hier so eine, räusper, erquickliche Aufgabe.«

Wann habe ich zuletzt das Wort »erquicklich« gehört?

»Das müssen wir dir natürlich in Rechnung stellen.«

Wie bitte? Wenn es ums Geld geht, muss er sich nicht mehr räuspern, fällt mir auf.

Er erklärt mir, dass ich meine Kunden, die ja auch irgendwie Kunden der Volkshochschule seien, quasi zur Konkurrenz geschickt hätte. Damit hätte ich dem Unternehmen (!) nachweislich geschadet. Die Rechtsabteilung würde sich bei mir melden. Auf jeden Fall müsse ich für diesen Imageverlust aufkommen. Außerdem sei er wirklich sehr schockiert, dass ich diese wichtige Aufgabe der Vermittlung von Naturerlebnissen hier nicht mehr anbieten wolle. Den Bewohnern und Bewohnerinnen von Berlin die Schönheit der Natur vor Augen zu führen – und seien es Efeu-Ranken an Plattenbauten – sei doch eine inhaltsschwangere Aufgabe.

»Hanspeter, zu mir kamen Teilnehmer, die hauptsächlich am Anbau von Marihuana auf dem Dachboden oder im feuchten Keller interessiert waren. Zu mir wurden Kinder geschickt, deren Smartphones quasi an den Händen angewachsen waren. Die sollten sich bei mir mal wieder so richtig dreckig und schmutzig machen, während Mama sich den Latte macchiato hinter die aufgespritzten Lippen gekippt hat. Und zu deinem Imageverlust. Ich finde einen Leiter, der wie ein Ochse kurz nach dem Rammeln riecht, wesentlich schädlicher.«

Ob ich will oder nicht. Jetzt muss ich wohl wirklich an die Nordsee.

2.

Nur, um das klarzustellen: Ich laufe nicht mit einem Jute-Beutel durch die Gegend, ich pflücke keinen Löwenzahn am Straßenrand, um mir einen naturbelassenen Salat zuzubereiten. Ich schlappe nicht mit Birkenstocks durchs Leben und habe keine Henna-Tattoos. Nach dem Abi habe ich aus Mangel an Alternativen Soziologie studiert. Ein bisschen das BWL für Leute, die nicht so gut rechnen können. Allerdings hatte ich von Anfang an eine leichte Vorahnung, dass das nicht das Richtige für mich war. Erstens diskutiere ich nicht gerne ab 22 Uhr, weil ich einfach schnell müde werde, und zweitens war da dauernd von »der Gesellschaft« die Rede und ich hatte keine Ahnung, wer das sein soll. Kurz: Ich hatte das Gefühl, in schlechter Gesellschaft zu sein. Zwei Erlebnisse haben dann meine Berufswahl entschieden. Ich war mit einer Freundin unterwegs, die für ihr Patenkind ein Geschenk suchte. Sie kaufte einen Karton mit Holzklötzen für 79,95 Euro. Für unbehandelte Holzklötze. »Geh mit einer Laubsäge in den Wald und du hast deine Klötze«, hatte ich ihr geraten. Sie hatte lieber gezahlt. Endgültig fassungslos war ich bei dem »Wellness-Weg von Tchibo«. Das war eine Matte beklebt mit Plastiksteinen, Plastiksand und Plastikholz. »Aktivieren Sie Ihre Nerven, fühlen Sie die pralle Natur«, stand darunter. Ich hatte einen Kuli gezückt und »Zieht einfach die Schuhe aus« auf den Karton im Regal geschrieben. Wahrscheinlich bin ich auch deswegen Naturpädagogin geworden, weil ich so gerne zelte. Ein Zelt ist eine kleine wunderbare Höhle. Man ist draußen und doch drinnen. Ich bin auf so viele Festivals gefahren, nur weil ich das Zelten liebe. Das habe ich natürlich nie irgendjemandem gesagt. Aber meist war ich mehr im Zelt als vor der Bühne.

Zu Hause nehme ich mir noch mal den Flyer von Meerblick vor. Die Anlage ist wunderschön. Das Haupthaus hat ein tiefes Reetdach. Als hätte es sich eine Wollmütze tief in die Stirn geschoben. Darunter befinden sich Seminarräume. In einem alten Fachwerkhaus sind die Gästezimmer. Die kleinen Apartments für Mitarbeiter – also demnächst für mich – sind in einem Flachbau. Daneben liegt ein schöner Park mit großen alten Bäumen. Und im Hintergrund lacht das Meer. Ich kann fast das Rauschen hören. Dieses ewige Kommen und Gehen. Die Luft wird voller Salz und Möwengeschrei sein. Doch am meisten fasziniert mich die Weite. Bis zum Horizont gucken. Das will ich. Nicht nur bis zum nächsten Haus, zur nächsten Straßenbahn, zum nächsten Supermarkt.

Seit gestern versucht Billy, mir mit regelmäßigen WhatsApp-Nachrichten meine Zukunft madig zu machen. Sie schreibt: »Dann musst du dir die Haare im Salon Gisela schneiden lassen« oder »Kino gibt es da sicher nicht. Vielleicht gibt es ja einen alten Videorekorder«, oder auch »Viel Spaß beim Shoppen im Jeansladen 2000«.

Ich antworte immer nur mit einem Herzchen. Natürlich habe ich auch Schiss. Ich werde abends allein in meinem winzigen Apartment hocken. Da ist keiner, der mit mir noch mal um die Häuser zieht. Vielleicht klauen mir die Möwen beim Spaziergang das Fischbrötchen direkt aus der Hand. Vielleicht regnet es jeden zweiten Tag, und ich kaufe mir tatsächlich einen Ölmantel und Gummistiefel. Vielleicht habe ich nach vier Tagen eine tränende Bindehautentzündung, weil es immer so windig ist. Und trotzdem muss ich das machen. Ich habe Berlin so satt.

Genau das sage ich Billy auch, als wir uns beim nächsten Mal zum Pilates treffen. Die ganze Woche war ich schwer damit beschäftigt, mein Hab und Gut zu kategorisieren. Alles in der Wohnung musste eingeteilt werden in: kann in der Wohnung bleiben, kommt in das abgeschlossene Zimmer, kommt mit an die Nordsee, kann weg.

Manche Sachen waren klar: Die riesige Schallplattensammlung meiner Mutter muss vor den Kinderhänden in Sicherheit gebracht werden, bevor die damit Frisbee spielen. Aber was ist mit Fotoalben? Mit den Bildbänden aus aller Welt? Mit dem Sonntagsservice mit dem goldenen Rand?

Irgendwann hatte die Großzügigkeit gesiegt. Vielleicht auch einfach die Faulheit. Was ist ein Bildband, wenn er nicht angesehen werden kann? Was ist der Wert eines Tellers, wenn er nicht benutzt werden kann? Ich hatte schließlich fast alles in der Wohnung gelassen. Meine Untermieterin hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würde sie beim kleinsten Stress gleich mit Tassen um sich werfen. Als alleinerziehende Mutter würde man in so einem Fall wahrscheinlich ganz schnell auf Plastik umstellen.

»Vielleicht werde ich Berlin wahnsinnig vermissen«, erkläre ich Billy. »Und dann würde ich mit Kusshand zurückkommen und mit dir die Nächte wieder durchmachen, stundenlang Schuhe kaufen gehen (oder sie zumindest anprobieren) und über den Prenzlauer Berg ablästern. Aber dafür muss ich halt erst mal weg.«

»Reicht da nicht ein Urlaub? Fahr von mir aus vier Wochen auf eine Insel und bring drei Kilo Muscheln mit. Muss es echt ein Jahr sein? Ich finde, du übertreibst. Du bist zu jung für Wattwanderungen in C&A-Freizeitkleidung und zu alt, um jetzt noch Plattdeutsch zu lernen.«

Sie zieht eine Schnute.

»Ich will da nicht zu Gast sein. Ich will da zuhause sein. Ich möchte eine eigene Adresse.«

Ich ziehe den Flyer aus meiner Tasche.

»Schau es dir an. Ist das nicht traumhaft? Du kannst mich besuchen. Wir schlendern am Strand entlang, trinken irgendwo einen Tee, holen uns frisches Obst aus dem Garten oder kochen uns was Leckeres.«

»Genau. Und dann holen wir die Stricknadeln raus und legen die CD mit Shanties ein.«

Sie grinst schief.

»Keine schlechte Idee«, lache ich. »In einem Jahr kriege ich bestimmt einen schönen langen Schal für dich hin.«

Ich verabschiede mich bei engen Bekannten per WhatsApp. Ich habe keine Lust auf lange Erklärungen und Umarmungen. Nur bei Oma Mechthild im Erdgeschoss gehe ich persönlich vorbei. Oma Mechthild wohnt schon ewig im Haus, und die meiste Zeit des Tages verbringt sie, die Arme auf ein Kissen gebettet, am Küchenfenster. Am Anfang habe ich mich darüber geärgert. Ich dachte, sie will allen Bewohnern nachspionieren. Wer schließt nach 22 Uhr die Haustür nicht ab? Wer trennt den Müll nicht richtig? Wer kommt erst sehr spät oder auch sehr früh nach Hause? Für mich war sie ein einziges Klischee. Irgendwann hatte sie mir aufgelauert, um mir ihren Restmüll mitzugeben, weil ich gerade auf dem Weg zu den Mülltonnen war. Wir waren ins Gespräch gekommen. Sie hatte gerade eine Rückenoperation hinter sich und konnte nur mühsam laufen.

»Ich bin sowieso nicht mehr gut zu Fuß. Deswegen gucke ich mir so gerne das Leben auf der Straße an. Morgens um kurz nach zehn kommt immer eine Kindergartengruppe vorbei. Die kennen mich schon und winken immer ganz lieb«, sagte sie freudestrahlend.

»Sie könnten ja auch fernsehen«, warf ich schwach ein.

»Fernsehen? Ich bin lahm, aber nicht verblödet. Da kommt doch nur noch Schwachsinn. Es werden gar keine Filme oder Serien mehr gedreht. Ist doch viel billiger, irgendwelche Deppen in Talkshows auftreten zu lassen. Nee, da winke ich lieber den Kindern zu«, hatte sie geantwortet.

Nach dem Tod meiner Mutter hatte sie mir einen wundervollen Brief geschrieben und sich mehrfach entschuldigt, dass sie wegen ihres Rückens nicht zur Beerdigung kommen konnte.

Es dauert ein bisschen, bis sie nach meinem Klingeln die Tür öffnet. Ich halte nichts von langen Vorreden.

»Ich wollte mich verabschieden. Ich ziehe an die Nordsee. In ein paar Wochen kommt eine nette Frau mit ihren beiden Kindern als Untermieterin in meine Wohnung«, erkläre ich knapp.

»Es ist zu leer ohne deine Mutter, oder?«

Ich nicke nur und versuche, an dem dicken Kloß im Hals vorbeizuschlucken.

»An der Nordsee kannst du dir schön die schweren Gedanken aus dem Kopf blasen lassen. Kommst du wieder?«

Diese Frage hatte ich mir bis jetzt verboten. Ich will es eigentlich gar nicht wissen.

»Bestimmt. Irgendwann«, sage ich nur.

Spontan zieht sie mich an ihren faltigen Hals und drückt mich sanft. Es fühlt sich gut an.

Dann dreht sie sich einfach um. Ich bin froh, dass sie es mir so leicht macht.

Das macht Billy leider nicht. Ich habe sie für Samstagabend zum Essen eingeladen. Ich habe den ganzen Tag gekocht. Es gibt einen Salat mir Orangenfilets als Vorspeise, danach einen Lachs-Möhrenauflauf und zum Dessert Quark mit frischer Vanille (!) und Heidelbeeren. Ich habe Kerzen angezündet und den Tisch festlich gedeckt.

Billy kommt rein, schmeißt ihren Mantel auf die Couch und schaut zum Tisch.

»Haben wir ein Date?«

»Läuft ,Je t’ aime̓ im Hintergrund?«, frage ich lachend zurück. »Setz dich. Geht gleich los.«

Nachdem ich den Salat serviert habe, prosten wir uns zu und Billy lobt mein Dressing.

»Erzähl mir von deiner Woche. Wen musstest du schimpfen ,Wer war mal wieder nicht artig̓?«

Billy arbeitet beim Ordnungsamt, was kurios ist. Sie ist das fleischgewordene Chaos. Sie ist kein Messie. Sie hat kein Problem damit, alte Sachen wegzuwerfen. Sie kann nur nicht aufräumen. Alle Dinge in ihrer Wohnung sind heimatlos und wissen nicht, wo sie hingehören. Deswegen ist alles immer überall, und Billy verbringt mindestens eine Stunde pro Tag damit, irgendetwas zu suchen. Beim Ordnungsamt ist sie für den öffentlichen Raum – also Parks, Grünanlagen und so – und für Restaurants zuständig.

»Die Woche war ganz ruhig. Nur am Donnerstag musste ich ein Pärchen von einer Wiese vertreiben. Die hatten es sich auf und unter einer Decke direkt neben dem Kinderspielplatz bequem gemacht.«

»Die Armen. Das war doch bestimmt total peinlich.«

»Das war denen überhaupt nicht peinlich. Die wollten mir erklären, dass Fortpflanzung ganz natürlich sei und deswegen auch in die Natur gehöre. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass sie sich dann mal nicht künstlich aufregen sollen. Und dass die Kinder oben auf dem Klettergerüst es bestimmt sehr lustig fänden, wenn ich mal schnell die Decke wegziehen würde.«

»Das hat sie wahrscheinlich umgestimmt«, mutmaße ich.

»Allerdings. Es gab ein Gefummel und Gezerre unter der Decke, und schon waren sie weg. Du lenkst aber irgendwie ab. Was soll dieses Festmahl heute Abend?«

»Schmeckt es dir etwa nicht?«

»Doch. Aber ich wüsste gerne, was wir hier feiern. Willst du beim Perfekten Dinner mitmachen, und ich bin dein Versuchskaninchen? Oder gehört die Schulküche in diesem Meerblick auch in deinen Arbeitsbereich?«

Ich räume die Salatteller ab, hole den Auflauf aus dem Ofen und murmle: »Ich fahre morgen.«

Billy starrt mich an.

»Das ist hier die Henkersmahlzeit?«

»Mir wäre Abschiedsessen als Titel lieber.«

»Du hast gesagt, du fährst Ende des Monats. Du hast mich angelogen.«

Sie scheint echt wütend zu sein.

»Ja. Habe ich. Und das tut mir auch leid. Aber ich hatte plötzlich Angst, dass du eine Überraschungsparty für mich organisierst. Dass diese melancholische Wolke über uns immer grauer wird. Dass es plötzlich bei allem heißt: Und das ist jetzt das letzte Mal, dass wir bummeln, Kaffee trinken, die Pilates-Matte ausrollen. Das wären mir ein bisschen zu viele kleine Tode gewesen. Und deswegen feiern wir jetzt unsere Freundschaft. Fang an. Der Auflauf wird kalt.«