Schmerzspuren - Birgit Schlieper - E-Book

Schmerzspuren E-Book

Birgit Schlieper

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Beschreibung

Thema Ritzen: Authentisch, packend, emotional

Als sich Ben zum ersten Mal mit dem Zirkel ritzt, tut es höllisch weh. Und höllisch gut. Er braucht dieses Ventil. Denn plötzlich ist nichts mehr, wie es war: Sein bester Kumpel Philipp ist weggezogen. Zu Hause hakt es gewaltig im Getriebe. Und in der Schule auch. Ben ist wütend, rastlos, ruhelos. Dann steigt auch noch Lea aus seiner Band aus. Wieder jemand, der ihn allein lässt. Da greift Ben zum Teppichmesser. Und weiß, dass er es wieder tun wird …

• Hervorragend als Diskussionsgrundlage in der Schule geeignet

• Von der Expertin für sorgfältig recherchierte und packende Themenbücher Birgit Schlieper

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Seitenzahl: 183

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Inhaltsverzeichnis
DIE AUTORIN
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DIE AUTORIN
Birgit Schlieper, geboren 1968 in Iserlohn, hat Amerikanistik, Anglistik und Romanistik studiert, ihr Studium aber abgebrochen, als ihr ein Zeitungsvolontariat angeboten wurde. Seitdem schreibt sie unaufhörlich: Einkaufszettel und Postits, Reportagen, Tagebuch und Gedichte, für Nachrichtenagenturen, die Süddeutsche Zeitung, in Lehrbüchern für den Deutschunterricht – und Bücher. Ihre Hobbys sind Skifahren (wegen des Sauerstoff- und Geschwindigkeitsschubs), Aerobic (wegen der drohenden Orangenhaut), Badminton (wegen der Sauna danach) und Wegwerfen (weil es so befreit). Sie lebt mit ihrer Familie in Dortmund.
Von Birgit Schlieper sind bei cbt erschienen:
Polnisch für Anfänger (30291) Immer tiefer (30368) Herzenssucht (30446)
Ich lege mich auf den Rücken. Auf dem Rücken kann ich nämlich nicht schlafen und ich habe überhaupt noch keine Lust zu pennen. Was für eine geile Party. Der Mond grinst mir fett ins Gesicht. Ich grinse fett zurück. 1.27 Uhr leuchtet der Radiowecker neben mir und ich bin hellwach. Meine Hand tut noch ein bisschen weh. Morgen habe ich bestimmt eine dicke Brandblase. Dabei hat meine Mutter drei Zentimeter ihres »Alles-wird-gute«-Arnika-Gels draufgeschmiert. Aber so ein glühender Baumstamm ist eben einfach irre heiß. Dass meine Eltern uns überhaupt erlaubt haben, zum Abschluss noch ein kleines Lagerfeuer zu machen. Die beiden waren echt cool heute Abend. Sogar als die Polizisten plötzlich im Garten standen, war mein Dad ganz gelassen. Irgendein Nachbar hatte sich wohl über den Lärm beschwert. Spießergegend! Aber wer kann schon behaupten, dass bei seinem 14. Geburtstag sogar die Bullen da waren? Nicht ganz schlecht! Auf dem Schreibtisch kann ich meine neuen Schlagzeugstöcke sehen. Erstens weil der Mond in mein Zimmer knallt. Und zweitens: Die Sticks leuchten im Dunkeln. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass ich die wirklich geschenkt bekomme. Tom und Benny haben mit ein paar andern Jungs zusammengeworfen und mir die Stöcke gekauft. Wahrscheinlich habe ich Tom und Benny einfach zu oft vorgejammert, dass ich die unbedingt haben will. Schade, dass Philipp heute nicht dabei war. Mit dem hätte ich jetzt vielleicht noch im Garten zelten können. Das wäre echt total cool. Ich lasse ein Bein aus dem Bett baumeln und taste mit dem Fuß nach meinem neuen Skateboard, das ich direkt vors Bett gestellt habe. Sofort setzen sich die Rollen in Bewegung. Als ob sie es gar nicht abwarten könnten. So wie ich.
Offenbar kann ich doch auf dem Rücken schlafen. 9.46 Uhr behauptet der Wecker. Von der Terrasse höre ich Kaffeetassengeklapper. Ich möchte am liebsten sofort mit dem neuen Board los. Oder doch lieber erst in den Keller, um ein bisschen mit den neuen Sticks zu trommeln?
»Ben? Schläfst du immer noch? Wir frühstücken.«
Meine Mutter steht unten an der Treppe.
»Komme.«
Board und Schlagzeug müssen warten.
Ziemlich lange. Die Party hat Spuren hinterlassen. Überall im Garten liegen Becher. Der Grillrost ist total verkokelt. Irgendjemand hat ein angebissenes Würstchen mit viel Senf aufs Fußballtor gelegt. Außerdem müssen die Bänke und Tische abgebaut werden. Ich lasse mir die gute Laune nicht verderben. Dafür ist gestern bei mir die Party des Jahres gestiegen.
Meine Mutter kommt mit einer Hose in der Hand raus.
»Ist wieder trocken. Kannst du Benny morgen mit in die Schule nehmen.«
Das hatte ich ja ganz vergessen. Bei seinem Luftgitarrensolo ist Benny rücklings in den Pool gefallen. Mein Vater hatte mein altes Planschbecken aufgepumpt, um die Cola zu kühlen. Plötzlich saß Benny zwischen den Flaschen. Noch witziger sah er allerdings danach in einer von meinen Hosen aus. Ein bisschen wie ein Bockwürstchen kurz vom Platzen. Er ist echt etwas speckig.
Meine erste Fahrt auf dem neuen Board endet fast nach sechs Metern. Nur mit Mühe kriege ich die Kurve vor unserer Einfahrt. Das Teil ist der Hammer! Geht ab wie ein Zäpfchen. Überhaupt nicht zu vergleichen mit dem ausgelullten Ding, mit dem ich vorher gefahren bin. Das war so aggressiv wie ein Bügelbrett auf Rollschuhen. Als ich völlig verschwitzt nach Hause komme, hat meine Mutter schon wieder eine Hose in der Hand. Die ist allerdings von mir und hat Bügelfalten! Es ist die »Oma-kommt-zum-Kaffee«-Hose.
Ganz kurz überlege ich zu streiken. Meiner Mutter mitzuteilen, dass ich diese »helle Hose« nie wieder anziehen werde. Allein schon der Begriff! Die »helle Hose«. Als sei Hell eine Farbe.
Ben, pass auf, du hast die helle Hose an.
Ben, ich habe deine helle Hose gebügelt.
Ben, häng die helle Hose bitte wieder auf einen Bügel. Die knubbelt so schnell.
Ich nehme sie wortlos.
Meine Oma ist wie immer unpünktlich. Sie kommt zu früh. Während meine Mutter Kuchen und Sahne und Würfelzucker und Kaffeesahne rausschleppt, stehe ich mit Oma auf derTerrasse.Wir starren ins Blaue. Sie streicht über meine Haare und ich rieche sofort nach Alte-Frauen-Parfüm.
»Du siehst immer mehr aus wie ein Mädchen. Geh mal zum Friseur.«
Meine Mutter antwortet.
»Lass ihn doch, Mutter.«
Sie zischt richtig. Der Satz schnellt aus ihrem Mund wie die Zunge bei einer Schlange.
Meine Patentante kommt wie immer zu spät. Die Hälfte der Sahne hat sich schon verflüssigt. Mein Vater hat sich bereits in Luft aufgelöst. Tante Doris drückt mir wie immer einen Umschlag in die Hand. Und wie immer darf ich ihn nicht sofort öffnen. Das sieht unhöflich und gierig aus, sagt meine Mutter. Ich weiß trotzdem, dass zwanzig Euro drin sind. Aber das darf ich offiziell erst heute Abend erfahren. Und dann muss ich mich in den nächsten Tagen wieder an den Schreibtisch setzen und eine Dankeskarte schreiben. Auch wenn ich »Danke« sehr, sehr groß schreibe – es reicht nicht. Es füllt nicht. Also muss ich noch was dazuschreiben. Und ich weiß nie, was. Wenn ich dann endlich bei meiner Unterschrift (auch sehr groß) angekommen bin, muss ich den Umschlag beschriften und zur Post gehen. Es wäre doch viel einfacher, wenn ich Tante Doris jetzt direkt eine Dankeskarte in die Hand drücken könnte. Wir würden einfach zwei geschlossene Umschläge austauschen. Wär ein bisschen wie in einem Gangsterfilm.
Ich steige in das Gespräch wieder ein. Zumindest passiv. Meine Oma überlegt gerade, ob ich als Jurist oder als Mediziner Karriere machen soll. Sie ist so süß. Und so langweilig. Meine Hände finden ihren eigenen Takt. Die Stoffhose ist ein fieser Untergrund. Als würde man auf labbrigen Toast hauen. Kein Vergleich zu einer Jeans. Eine Jeans, am besten frisch gewaschen, macht ein leises knallendes Geräusch. Diese Hose hat nichts zu melden. Oma will wissen, ob wir gestern wie sonst auch immer eine Schnitzeljagd gemacht haben. Die letzte Schnitzeljagd gab es, glaube ich, zu meinem neunten Geburtstag.
»Es gab Schnitzel vom Grill, Oma«, sage ich grinsend.
»Mit Kartoffelsalat?«, will sie wissen. Für meine Oma ist Essen ein tagesfüllendes Thema.
»Haben wir versucht. Aber der wird auf dem Grill irgendwie nichts.«
Oma guckt verwirrt, Tante Doris amüsiert.
»Ben. Lass das.« Meine Mutter ist offenbar nicht zufrieden mit meiner Gesprächsteilnahme. Dafür muss sie sich jetzt rechtfertigen. Warum sie die Erdbeeren im Supermarkt gekauft hat und nicht auf dem Markt. Warum sie keinen Vanillezucker in die Sahne tut. Ob der Tortenboden etwa gekauft ist.
»Ich finde den Kuchen super«, beteuere ich.
Meine Mutter kriegt ihren »Du-bist-mein-Sonnen-schein«-Blick.
Tante Doris möchte jetzt auch über meine Zukunft reden. Welche Leistungskurse ich vorhabe zu belegen. Was ich studieren will. Ob ich Zivildienst machen will oder etwa doch zum Bund gehe. Sie gibt mir ungefähr zwei Zehntelsekunden Zeit zum Antworten. Auf alle Fragen. Dann erzählt sie von ihrem Abi. (Schnitt 3,1. So was würde ich ja verschweigen.) Von ihrem freiwilligen sozialen Jahr in einem Altersheim für Blinde. Von dem Studentenleben. Damals in Münster. Augen kann man zumachen. Ohren nicht. Die Worte rollen durch meinen Kopf, stoßen wie Billardkugeln an. Lauter Laute, die mich nicht interessieren. Die Zinken meiner Kuchengabel finden irgendwie meinen linken Handballen. Die rechte Hand drückt fester. Ich spüre, wie die Haut sich dehnt, schmerzhaft dehnt, wie mein Mund leise lächelt. Kurz vorm Bersten ziehe ich die Hand zurück.
Meine Beine erinnern sich an die Tour mit dem Skateboard heute Morgen. Sie haben noch die Kurven im Blut. Ich kann sie kaum ruhig halten. Ich schlage sie übereinander, mal nach rechts, mal nach links. Ziehe ein Bein unter den Hintern. Meine Füße haben Fluchtgedanken. Ich kann irgendwie überhaupt nicht still sitzen. Das macht mich ganz kirre. Ich habe das Gefühl, als ob Tante Doris immer lauter wird. Die Worte gehen durch mich durch. Als wäre ich nicht da.
Der Gedanke kommt aus dem Nichts. Ich setze ihn sofort um. Ich kippe meinen Teller, den ich in der Hand balanciere, und ein fettes Stück Erdbeertorte landet auf meinem Oberschenkel. Auf dem Oberschenkel der hellen Hose, um genau zu sein. Meine Oma kreischt kurz. Meine Mutter guckt entgeistert. Tante Doris ist still. Endlich. Dann sind sich alle einig, dass das nie wieder rausgeht. Oder wenn, dann nur mit Gallseife oder Zitronensaft oder Salz oder was weiß ich. Meine Mutter zerrt mich rein und nötigt mich noch im Wohnzimmer, die nicht mehr so helle Hose auszuziehen. Das finde ich extrem unangenehm. Als ich in meiner Jeans wieder runterkomme und meine Mutter im Waschbecken an dem Fleck rumrubbelt und selber bereits rote Flecken im Gesicht hat, tut sie mir leid.
»Die Hose war eh schon ein bisschen eng«, sage ich und berühre vorsichtig ihren Arm. Sie zuckt zurück.
»Ich hab doch noch die schwarze Stoffhose.«
»Geh zu Oma«, faucht sie.
Oma hat schon mit dem Aufbruch begonnen. Pünktlich um kurz vor sechs. Länger bleibt sie nie. Sie wolle noch im Hellen zu Hause sein. Bei dem Wort »hell« zuckt meine Mutter wieder. Wie immer versucht sie, Oma noch zum Bleiben zu überreden. Dieses Gespräch habe ich schon hundertmal gehört. Mindestens.
»Ich bin nicht so gern im Dunklen unterwegs.«
»Mutter, es ist Sommer. Es wird frühestens in drei Stunden dunkel.«
»Ich habe ja auch eine lange Fahrt vor mir.«
Meine Oma hat ein Appartement in einer Seniorenwohnanlage, die genau vier Haltestellen mit dem Bus entfernt ist.
»So lange dauert die Fahrt doch nicht«, sagt dann meine Mutter gepresst.
»Mit dem Auto vielleicht nicht«, zickt meine Oma zurück.
»Soll Peter dich später mit dem Auto bringen?«
»Lass nur. Der hat doch immer so viel um die Ohren.«
Dass ihr eigener Sohn offenbar so viel um die Ohren hat, dass er noch nicht mal beim Kaffee war, scheint meine Oma nicht zu stören. Ich stelle mir kurz vor, wie meine Mutter irgendwann später mal mit meiner Frau und meinem Sohn zusammensitzt und ich in der Zeit in Ruhe Skateboard fahren kann. Wenn ich dann noch Lust habe.
Der zweite Akt des Verabschiedungstheaters findet im Flur statt. Oma schält sich mühsam in ihren Sommermantel und schlingt sich ein Tuch um die Schulter, um festzustellen:
»Ihr habt ja wirklich viel Platz.«
Diese Bemerkung hat dann stets den dritten Akt zur Folge, in dem die Protagonisten mein Vater und meine Mutter sind.
Die Rolle meiner Mutter besteht darin, sich über Oma zu beschweren. Die sei immer noch beleidigt, dass sie nicht hier wohnen könne. Sie fühle sich abgeschoben in ein Heim. Aber sie – meine Mutter – könne keine 24 Stunden am Tag mit Oma zusammen sein. Länger schon gar nicht. Und überhaupt sei sie es leid, sich für gekauften Tortenboden zu rechtfertigen.
Der Text meines Vaters: »Reg dich nicht auf. Musst du ja gar nicht.«
Teile des Dialogs kann ich schon mitsprechen. Will ich aber nicht.
Der Rest ist Schweigen. Fieses, schwarzes Schweigen, das auch kein Fernseher übertönen kann.
Als ich abends auf dem Weg zum Schlagzeug bin, sehe ich an der Wäscheleine meine Hose baumeln. Meine Mutter hat den fetten Fleck nicht rausbekommen. Gott sei Dank.
Tom haut mir anerkennend auf die Schulter.
»Das war echt eine geile Fete«, betont er.
Ich grinse.
»Stimmt. War nicht ganz übel«, freue ich mich.
Sogar Johanna und Katharina kommen in der großen Pause zu mir.
»War super bei dir am Samstag. Deine Eltern sind echt cool.«
Ein Typ aus der Nachbarklasse will sogar wissen, ob tatsächlich die Bullen mit einem Mannschaftswagen bei mir vorgefahren sind. Da hat wohl einer ein bisschen was dazugedichtet.
»Klar. Mit Wasserwerfern und einer Spezial-Eingreiftruppe. Die haben sich vom Dach abgeseilt«, sage ich ernst.
Der Typ fühlt sich irgendwie verarscht. Sein Problem. Philipp hätte gelacht.
Als Benny und ich unsere Hosen – seine getrocknete, meine zu kleine – austauschen, kommt Tom dazu.
»Was ist denn das? Spielt ihr Tote Hosen?«
»Schön wär’s. Unsere Band ist toter als die Toten Hosen. Wir sind eher ein Trio banal. Was ist mit dem Sänger, den du organisieren wolltest?«, frage ich Benny.
Der verdreht die Augen.
»Ich hab den Typen gefragt. Der will auch gern in einer Band singen. Allerdings mehr so Justin-Timberlake-mäßig.«
»Das kann er knicken.«
Langsam werde ich echt sauer. Seit Monaten suchen wir einen Sänger für unsere Band. Es war schwierig genug, Benny und Tom zum Mitspielen zu überreden. Tom hat sich mittlerweile aber sogar eine neue Bassgitarre gekauft. Die alte klang, als hätte er Wäscheleine als Saiten aufgezogen. Wir proben jeden Mittwoch. Jeden Mittwoch dieselben Songs instrumental. Das nervt.
»Ich kümmer mich mal drum«, nehme ich mir vor und lass die beiden stehen. Mein Board unterm Arm wird langsam schwer, außerdem will es auf den Asphalt. Ich nehme den Radweg zum Containerhafen. Schon jetzt weiß ich, dass der Nachmittag nicht wie geplant verlaufen wird. Wenn ich um fünf Uhr beim Hockey-Training sein will, muss ich den direkten Weg nach Hause nehmen. Dann kriege ich die Hausaufgaben hin, ehe ich zum Sportplatz muss. Nach dem Training habe ich ganz bestimmt keinen Bock mehr auf Mathe, Latein und Bio. Theoretisch könnte ich die Hausaufgaben einfach nicht machen. Aber das ist mir zu doof. Es ist mir peinlich, morgen oder übermorgen zu behaupten: »Hab ich vergessen.« Noch alberner finde ich, mit hektischer Krakelschrift in irgendwelchen Fünfminuten-Pausen was abzuschreiben. Man weiß ja meist nicht mal, ob es stimmt, was man da abschmiert. Und oft kann man’s zehn Minuten später schon selbst nicht mehr lesen, weil man derart gekritzelt hat. Da setze ich mich lieber zu Hause hin und mach den Mist eben. Das heißt aber auch, dass ich es heute zum Hockey nicht schaffe. Das ist auch okay.
Mit Philipp zusammen hat es Spaß gemacht. Dabei hatten wir eigentlich beide am Anfang null Bock auf diesen merkwürdigen Sport. Für mich war das der absolute Alt-Männer-Quark. Mit gebücktem Rücken und einem umgedrehten Spazierstock über ein Feld rennen! Als Philipp und ich das im vergangenen Sommer auf einem Sport-AG-Tag ausprobiert haben (die Fußball- und Schach-AG waren schon voll), musste ich aber echt staunen. Es macht Bock. Ist viel anstrengender, als es aussieht. Außerdem muss man ein bisschen mit Köpfchen spielen. Das ist nicht so ein Gebolze wie beim Fußball. Wir haben uns gleich in der Woche nach dem AG-Tag im Verein angemeldet. Ich bin hängender Rechtsaußen. Die letzten Male allerdings musste ich mir anhören, ich wäre ein abhängender Rechtsaußen und würde mich überhaupt nicht bewegen. Außerdem hat mich das Gelaber in der Umkleidekabine genervt. Als ich noch mit Philipp quatschen konnte, ist mir nicht aufgefallen, was da für ein Unsinn gefaselt wird...
Ich bin mittlerweile an den Verladekränen und den großen Hallen. Dazwischen komme ich mir vor wie ein Playmobil-Männchen auf Reisen. Alles ist XXL. Ich fahre zwischen den Schienen der Verladegleise. Das ist besonders kribbelig. Wenn man mit den Rollen reingerät, bremst man mit dem Gesicht.
Es hat mich weit rausgetrieben. Ich bin erst um vier völlig atemlos zu Hause.
Meine Mutter kommt mir sofort entgegen.
»Hast du in der Schule gegessen? Hattest du mir vorher gar nicht gesagt, oder? Ich fahre gleich noch in die Stadt. Ich kann dich mit zum Training nehmen, dann musst du nicht den Bus nehmen. Um halb fahren wir.«
»Ich muss noch Hausaufgaben machen.«
Sie mustert mich genauer.
»Was hast du denn bis jetzt gemacht? Ich dachte, du warst in der Schule in der Hausaufgabengruppe. Hast du auch noch nichts gegessen?«
»Doch, doch. Gegessen hab ich da noch«, lüge ich. »Aber dann bin ich mit dem Skateboard los und hab mich irgendwie verfahren.«
Meine Mutter prüft meine Worte. Lässt sie in ihren Ohren nachklingen. Das hasse ich. Wenn sie mich einfach weiter ganz ruhig anguckt, nichts sagt und abwartet. Ich halte ihren Blick aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit nickt sie langsam.
»Dann viel Spaß bei den Hausaufgaben. Wir sehen uns beim Abendessen.«
Zum Abendessen gibt es nicht nur die Reste von der Party, sondern auch Fotos davon. Sie riechen noch nach Drucker. Meine Mutter legt sie mir neben den Teller.
»Vielleicht kannst du ja Philipp ein paar schicken. Da freut er sich bestimmt.«
Klar. Philipp wird sie sich direkt übers Bett hängen. Oder vervielfältigen für seine neuen Kumpels.
»Hier, guckt mal. DerTyp mit dem Seitenscheitel und den blonden Haaren, das ist mein ehemaliger bester Freund Ben.«
Meine Mutter guckt mich immer noch an.
Ich drehe die Fotos mit der weißen Seite nach oben, lasse die Hand darauf liegen und beruhige sie.
»Mach ich morgen. Super. Danke.«
Meine Mutter fixiert meine Hand. Die abgekauten Nägel. Die kleinen blutigen Risse drum rum. Ich balle eine Faust.
Was soll Philipp mit Bildern von meinem Geburtstag? Er war oft genug selber dabei. Er weiß, wie es abläuft. Dieses Jahr war es halt noch ein bisschen lauter und länger als sonst. Und? Interessiert ihn das? Wohl kaum. Und wenn ich ihm schreibe, wie Benny sich zwischen die Cola-Flaschen geworfen hat? Klingt dann wie ein Aufsatz zu »Mein witzigstes Wochenenderlebnis«. In meinem Zimmer lege ich die Fotos hinten in eine Schublade. Wenn es Philipp überhaupt noch interessieren würde, was hier so läuft, würde er doch mal anrufen oder schreiben. Zumindest mal eine SMS, oder? Er ist doch weggezogen. Außerdem hatte ich ihm am letzten Tag ja gesagt: »Ich rufe nicht an. Ist klar, oder?« Philipp hatte genickt.
Am nächsten Morgen lege ich meiner Mutter einen Zettel hin. Sie ist schon weg, arbeitet drei Tage in der Woche im Krankenhaus und muss irre früh los.
»Ich esse in der Schule! Mache da auch Hausaufgaben! Bin um vier wieder hier! Ben!«
Nicht, dass sie wieder nachfragt.
Ich esse wirklich was in der Schule. Auf die Hausaufgaben im Kollektiv habe ich keinen Bock. Ich mache die mittlerweile lieber in Ruhe zu Hause, mit meiner Musik laut auf den Ohren. Ich bin gerade am Hafen, als es anfängt zu regnen. Scheiße. Es regnet nicht, es schüttet. Ich flüchte in eine leere Halle. Ein riesiger Haken hängt von der Decke. Dicke Rohre laufen kreuz und quer durch den Raum. Ein paar Kisten stehen hoch gestapelt in der Ecke. Der hintere Teil verschwindet im Dämmerlicht. Ein bisschen gruselig. Nicht gruselig genug, um mich wieder in den Regen zu jagen. Ich rolle langsam in die Halle rein. Das Board summt geschmeidig. Es wird dämmriger. Ein bisschen wie in einem Walfischbauch. Nur, dass es da wohl keine Treppe gibt. Wie hier. Ein paar Stufen führen auf eine zweite Ebene. Auch da nur viel Staub, wenig Licht. Und Platz ohne Ende. Nach dem 25. Versuch ungefähr schaffe ich es. Ich kann oben an der kurzen Treppe abspringen und unten auf dem Brett landen, und zwar ohne Sturz und ohne Bruch. Geil.
Um kurz vor fünf schaue ich das nächste Mal auf die Uhr. Kackdreck. Die Sonne draußen tut richtig weh in den Augen. Ich komme aus der Dunkelheit und aus einer anderen Welt. Vom Handy aus rufe ich sofort zu Hause an. Atemlos erzähle ich meiner Mutter was von »erst total verquatscht, waren auch viele Hausaufgaben, dann Bus verpasst und so«.
Sie sagt erstaunlich wenig. Eigentlich nur »Okay. Bis gleich.«
Zu Hause ist sie gesprächiger. Viel gesprächiger. Sie hat in der Schule angerufen. Mit dem Lehrer gesprochen, der heute bei der Hausaufgabengruppe Dienst hatte. Ich habe extrem schlechte Karten.
»Hast du dir zum Geburtstag vorgenommen, jetzt auf Rebell zu machen, oder was?«, will sie wissen.
Ich starre nach unten und versuche, die Fransen am Teppich zu zählen. Es sind auf jeden Fall sehr, sehr viele.
»Hast du beschlossen, von einem Tag auf den anderen ein Lügner zu werden?«
Spätestens bei 48 oder 49 verzähle ich mich immer.
»Was ist los?« Sie wird lauter.
»Hast du ein Schweigegelübde abgelegt?«
Sie hat offenbar ihre Beherrschung abgelegt.
Ich hole tief Luft.
»Ich habe einfach nur beschlossen, nicht mehr in diese blöde Hausaufgabengruppe zu gehen. Ist das schon ein Verbrechen?«
»Was ist denn der Grund für diesen einsamen Beschluss?«
»Weil da alles nervt. Die Typen da bohren in der Nase oder furzen um die Wette. Dann werde ich alle drei Minuten gefragt, ob mal jemand meinen Taschenrechner haben kann oder meinen Tintenkiller. Dann muss ich Zettel von links nach rechts und von rechts nach links weitergeben. Und so einen Kack. Da mache ich meine Hausaufgaben lieber zu Hause.«
Meine Mutter lehnt sich zurück.
»Gut gebrüllt, Löwe. Nur: Du bist eben nicht nach Hause gekommen, um hier deine Hausaufgaben zu machen. Du hast dich irgendwo rumgetrieben. Irgendwo, wo es offenbar ziemlich dreckig war.«
Sie starrt auf meine Hose. Natürlich habe ich mich ein paarmal lang gemacht in der Halle. Und natürlich war der Boden da nicht porentief rein.
»Ist das Öl?«
»Ich fürchte ja«, gebe ich kleinlaut zu.
»Dann kannst du morgen von deinem Taschengeld erst mal Fleckensalz holen. Vielleicht kriege ich damit auch die helle Hose wieder sauber.«
Ja super.
Das nächste Mal lasse ich mir keinen Kuchen, sondern ein Messer aufs Hosenbein fallen. Ein sehr, sehr scharfes Messer. Das ein sehr, sehr tiefes Loch verursacht.
Am Abend bin ich natürlich auch noch mal Thema. Sie kocht ihre Wut vor meinem Vater auf. Sie versuche, hier irgendwie den Laden am Laufen zu halten. Sich um Haushalt und ihre Arbeit und mich zu kümmern. Aber ich sei ja plötzlich so schwierig.
Schwierig!
Wie ein Problem, das man irgendwie lösen muss.
Als ich am Donnerstag in die Klasse komme, sitzt Katharina auf Philipps Stuhl. Sie strahlt mich an. Seit Philipps überraschendem Umzug nach Köln war der Stuhl frei. Es hatte sich komisch angefühlt. Irgendwie kalt. Dass Katharina jetzt da sitzt, wirkt allerdings noch komischer.
»Was machst du da?«
»Ich habe mich umgesetzt, weil ich von hinten nicht richtig gucken kann.«
Ich überlege kurz, ob ich ihr mal einen Besuch beim Augenarzt empfehlen soll. Lasse es dann aber.