Mehr als schöne Stimmen - Bjørn Woll - E-Book

Mehr als schöne Stimmen E-Book

Bjørn Woll

0,0

Beschreibung

Was wir Zuschauer am Abend auf der Bühne sehen, ist das Ende eines langen Weges: Bis Primadonna und Heldentenor sich unter dem Jubel des Publikums verneigen, brauchen sie nicht nur Talent und Ausbildung, sondern auch Bühnenpräsenz, Marktgespür, Kondition und Selbstbewusstsein - eben viel mehr als nur eine schöne Stimme. Der Musikjournalist Bjørn Woll hat mit jungen, aufstrebenden Gesangsstars gesprochen und mit langjährigen Routiniers. Über Kunst und Leben berichten Angelika Kirchschlager, Anja Harteros, Anja Silja, Anne Schwanewilms, Christa Ludwig, Christiane Karg, Daniel Behle, Edda Moser, Edita Gruberová, Janet Baker, Johannes Martin Kränzle, Matti Salminen, Miljenko Turk, Philippe Jaroussky, Piotr Beczala, Thomas Quasthoff und Violeta Urmana. Basierend auf diesen offenen und intensiven Gesprächen, zeichnet Bjørn Woll das einzigartige Porträt eines Berufs, über den man viele Anekdoten kennt und doch nur wenig weiß. Er erzählt vom Singen, von Sängern und ihren Stimmen, von Karrieren voller Glücksmomente und Knochenarbeit, von Kulturpolitik und der immer wieder bezwingend schönen Welt der Oper.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 299

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt
Geleitwort von Kent Nagano
AUFTAKT: Hinter den Kulissen eines Traumberufs
Kapitel I: Das Instrument im Körper
Kapitel II: »Jedes Ding hat seine Zeit« – Sänger und ihre Rollen
Kapitel III: Auf der Suche nach der musikalischen Wahrheit
Kapitel IV: Sängeralltag zwischen Freude und Frustration
Kapitel V: Kunst und Leben
Kapitel VI: Zweifel, Krisen, Stimmprobleme
Kapitel VII: Der lange Weg zum hohen C
Kapitel VIII: Der ideale Sänger – eine Utopie?
Coda: Ein Appell zum Schluss
Anmerkungen
Dank
Der Autor
Impressum

Geleitwort von Kent Nagano

»Der Quellgrund der Musik«

Singen gehört zum Selbstverständlichsten, was die Menschen kennen und ihnen – mehr oder weniger – eigen ist. Diejenigen, die singen, tun das gerne, oftmals mit besonderem Engagement, mit Leidenschaft und innerer Anteilnahme. Sie üben sich im Singen, pflegen es und versuchen nicht selten, sich in dieser Disziplin zu entwickeln. Im Singen findet die menschliche Stimme gleichsam ihre Überhöhung, manche mögen sogar sagen: ihre eigentliche Bestimmung.

Im Singen aber liegt auch der Quellgrund der Musik, also jenes Phänomens, in dem sich die gestaltende sowie kreative Kraft und Fähigkeit des Menschen im Bereich des klanglichen Ausdrucks offenbaren und zum Ausdrucke bringen. Richard Wagners Votum, die menschliche Stimme sei »die Grundlage der Musik«, ist ein Bekenntnis und besagt nichts weniger, als dass die menschliche Stimme als sich im Gesang offenbarende und erfüllende Stimme geradezu die Bedingungen abgibt für die Möglichkeiten musikalischen Schöpfertums.

Das wird heute so manchen Einspruch und Widerspruch auslösen. Doch wird man dem wiederum entgegenhalten können, dass Singen und Gesang, besonders in ihrer künstlerischen Ausprägung, ungebrochen ihre Faszination, ihre Bannkraft und ihren Zauber auf die Menschen ausüben. Insbesondere dort wird das spürbar, wo der Gesang eine plötzlich als Besonderheit empfundene Aussage enthält, die man mit Worten so ohne Weiteres nicht erfassen kann und wo jeder Versuch einer verbalen Bestimmung unzulänglich und hilflos wirkt; aber doch an der Art der Aufmerksamkeit, der Spannung unter den Zuhörenden, der fühlbaren Ergriffenheit und Benommenheit zum Erlebnis wird, dass da ein »Ereignis« stattfindet. Es ist kein Zufall, dass man gerade Sängern immer wieder zuspricht, sie seien »Mittler zwischen dem Göttlichen, dem Ewigen und dem Menschen«. Orpheus, Farinelli, Caruso, Maria Callas, Edith Piaf, Elvis Presley, Michael Jackson … – in ihnen sahen viele Menschen solche »Mittler«.

Vierhundert Jahre alt ist inzwischen die Geschichte der Oper; jener Gattung also, die tatsächlich den Gesang als Kunst im Sinne menschlichen Ausdrucks zum Wesenskern ihrer Bestimmung gemacht hat und die gerade aus dem Potenzial menschlicher Vokalität ihre ganze Großartigkeit entfaltet hat. Ein einzigartiges Phänomen ist die Oper, und einzigartig ist ihre Geschichte.

Was ist dieses Phänomen? Ein Artefakt, in dem sich viele verschiedene künstlerische Ausdrucksweisen verbinden und auch einander bedingen; untrüglich und immer erkennbar ist es der »singende Darsteller«, der im Mittelpunkt des Geschehens steht, der das Zentrum darstellt. Und letztendlich ist es der gelingende und glückhaft berührende und bewegende Gesang in der Komposition und in der klanglichen Realisierung, der den Ausschlag gibt für Reaktion und Resonanz beim Publikum.

In der jüngeren Entwicklung der Oper und Opernpraxis spricht man gerne von »Musiktheater«. Dieser Begriff verweist durchaus auf beachtliche Veränderungen, so vor allem auf die Tatsache, dass heute im Operngeschehen der Inszenierung und der Regie, also damit der Funktion des Regisseurs im Rahmen der Produktion eine dominierende Rolle unter den Akteuren zukommt. Nicht selten gewinnt man den Eindruck, dass sich die Relationen verschoben haben und die Akzente anders gesetzt werden sollen, mit der Folge, dass der »musikalische Anteil« einer Opernproduktion zurückgesetzt bzw. in seiner Bedeutung reduziert erscheint. Keine Frage: Die Oper hat viele Wandlungen und Änderungen erlebt, sowohl im Bereich ihrer schöpferischen Entwicklung als auch im Bereich der Rezeption eines Repertoires von Werken, die in zurückliegenden Zeiten, in vergangenen Epochen entstanden sind und deren Aktualität immer wieder durch Interpretationen aus der Sicht von heute unter Beweis gestellt werden muss. Die Oper hat viele Wandlungen erlebt und aushalten müssen, und sie wird dem auch weiterhin ausgesetzt sein, will sie überleben und lebendig bleiben.

Das ist gewissermaßen ihr Schicksal, aber es ist auch ihre Chance. Viele Opern haben unter Beweis gestellt, dass sie die sich ergebenden Herausforderungen »im Wandel der Zeiten« durchaus bestehen. Wenn hier von »Oper« gesprochen wird, dann meint das nicht irgendetwas Abstraktes. Oper ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von künstlerisch tätigen und engagierten Persönlichkeiten. Diese sind es, die mit den Bedingungen der Produktion von Oper zurechtkommen, die sich folglich auch den neuen und immer wieder neuen Anforderungen stellen und dazu Haltung einnehmen müssen. Solche Anforderungen betreffen natürlich, aber nicht ausschließlich den engeren Produktionsbereich, den man sich manchmal vielleicht als einen Schutzbereich vorstellen möchte, der das aber keineswegs ist. Technik, Kondition, Routine, Nervenstärke, Haushalten, auf den Punkt topfit sein können – in diesen Kategorien spielt sich das Verhalten von uns Künstlern ab und eben auch das der singenden Darsteller. Physische und psychische Stärke ist gefragt, Entscheidungsfähigkeit in kritischen Situationen.

Doch Oper ist mehr. Oper ist ein öffentliches Phänomen! Das bedeutet, sie ist in vielerlei Abhängigkeiten eingebunden, nicht zuletzt in ökonomische und gesellschaftspsychologische Strukturen und wirtschaftliche Verhältnisse. Das muss den Sänger nicht unbedingt persönlich beschäftigen. Doch ob der Sänger (oder die Sängerin) das wahrnehmen will oder nicht, er spürt diese Abhängigkeiten von Beginn seines Studiums an und dann in der Praxis des Opernbetriebs sowie in den Versuchen, den Weg in die Praxis zu finden. Doch er muss diesen seinen Weg finden, sich selbst als Sänger, als Musiker, als Künstler. Viele haben ihren Weg gefunden und auch ihre künstlerische Identität. Und viele werden ihren Weg auch in Zukunft finden, werden sich als mehr oder weniger große, bedeutende, starke Anwälte der Opernkunst auf dem Gebiet der »Gesangsdarstellung« profilieren. Und manche werden in den zukünftigen Gedächtnissen ihren Platz finden.

Das garantieren die faszinierende Größe und die exklusive Bedeutung der vielen Kunstwerke, die uns große Komponisten hinterlassen haben. Da dürfen wir noch auf einige Zeit hin zuversichtlich sein, vorausgesetzt, wir verlieren nicht in übermäßigem Umfang den »Glauben« an diese einzigartige Kunst, an die Schönheit des Gesangs und an das, was in seiner unendlichen Ausdruckstiefe uns als »Wahrheit« des Lebens sich offenbart. Wir wissen, die Zukunft der Oper ist gebunden an die ausstrahlende Macht und Verführungskraft des singenden Menschen, ist gebunden an Persönlichkeiten auf der Bühne, in denen Musik selbst sich zu verkörpern scheint, in denen Musik zum klingenden Ereignis wird, in dem den zuhörenden und teilnehmenden Menschen ein Geschenk gemacht wird, das durch nichts ersetzt, durch nichts aufgewogen werden kann. Gesang in künstlerischer Vollendung – wie auch immer diese sich zeigen mag – ist eine Gabe, die eine Erfahrung des Transzendierens möglich macht und die Menschen einen zutiefst menschlichen Traum von Leben und Liebe, von Freiheit und Einssein mit sich selbst träumen lässt.

San Francisco, im Juli 2014

AUFTAKT: Hinter den Kulissen eines Traumberufs

»Die menschliche Stimme ist die Grundlage aller Musik.«

Richard Wagner

Etwas hörte auf. Nicht nur die Atemzüge des Publikums, das gebannt den letzten Tönen von Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno lauschte. Die Sopranistin Sandrine Piau hatte sie gerade ergreifend schlicht in die Kuppel der Kölner Philharmonie geseufzt. Auch die Zeit setzte aus, für die Winzigkeit eines Wimpernschlags stand die Welt still. Ein Augenblick, in dem es nur eins gab: diese berückenden und berührenden Töne. Es war ein Singen, das völlig nach innen gerichtet war. Seine Wirkung war so groß, weil Sandrine Piau den Mut hatte, so klein und pur zu musizieren. Was folgte, war eine Emotionalität der Stille: Der Moment vom Schlusston bis zum ersten Applaus ist der Moment der Magie in der Musik – ein Geschenk des Sängers an das Publikum und an sich selbst.

Szenenwechsel: Wagners Walküre an der Met mit Jonas Kaufmann in der Rolle des Siegmund. Ein Schwert verhieß mir der Vater – der Tenor beginnt den brütenden Gesang mit erstickter, baritonal eingedunkelter Stimme, die den Vulkan unter der Oberfläche nur erahnen lässt. Sie steigert sich und kulminiert schließlich in den Paroxysmen der »Wälse«-Rufe, so mächtig wie der Stamm der Weltesche, in dem das Schwert steckt, mit Tönen, deren Oberfläche so aufregend rau ist wie deren Rinde. Jonas Kaufmanns Stimme ist ein Ereignis, ein Tenor voller Testosteron. Auch dadurch fasziniert Gesang: mit der Überwältigung durch die Wucht, die Schönheit oder den Reichtum einer Stimme. Wenn ein Sänger seinen Gesang, wie Jonas Kaufmann, in den Dienst des Dramas stellt, den Sinn der Worte mit den Mitteln der Stimme illuminiert, sind auch das große Momente auf der Bühne.

Zeitsprung: Juni 2001, am Kölner Opernhaus gibt Karin Beier ihr Operndebüt mit Verdis Rigoletto. Es ist eine brillante Inszenierung, in der die Regisseurin der Gesellschaft unnachgiebig den Spiegel vorhält. Besonders zugespitzt zeigt sich das in der Ballszene: Rigolettos Gesang, der Abbild seiner zunehmenden Verzweiflung ist, steht in krassem Gegensatz zur derben Party Crowd, die ihn umgibt. Auf seinen Narrenstab ist eine Kamera gesteckt, mit der er durch die obszön feiernden Gäste auf der Bühne läuft. Die Bilder der Partygesellschaft werden per Beamer in Echtzeit auf Großleinwände projiziert. Es gibt Zwischenrufe und Tumulte im Publikum. »Konzertant!«, ruft ein aufgebrachter Zuschauer. In der Pause kommt es gar zu Handgreiflichkeiten zwischen Gegnern und Befürwortern der Inszenierung. Auch das kann Gesang respektive Oper sein: politisch und gesellschaftskritisch, wie ihr Ursprung im griechisch-antiken Theater.

Diese Abende erlebt man nicht oft. Es sind seltene und daher kostbare Momente, in denen alle Rädchen im Wunderwerk der Oper ineinandergreifen und mehr als die Summe ihrer Teile werden. Diese Momente kann man auch nicht »machen«, sie entstehen im Dialog des Künstlers mit dem Kunstwerk und im Dialog der beiden mit dem Publikum. Manchmal erhaschen wir dabei nur einen kurzen Blick in diesen fremd-faszinierenden Kosmos, manchmal aber stehen die Tore weit offen, und wir betreten eine neue Welt, staunend wie Alice beim ersten Blick auf das Wunderland. Wenn alles zusammenkommt, kann Musik, kann ein Lied, eine Oper uns etwas erzählen, über die Welt, in der wir leben, und über uns: wer wir sind, wo wir herkommen und wohin wir gehen (können).

Dies sind drei kurze Geschichten darüber, was Gesang für uns bedeuten kann. Vom Gesang reden heißt aber auch und vor allem: von Sängern reden. Man könnte diese Episoden nicht ohne sie erzählen – und ohne sie gäbe es auch dieses Buch nicht: Sie sollen hier zu Wort kommen, um sie soll es gehen, um ihre Arbeit und ihr Leben mit der Stimme.

Zwar hat die zunehmende Aufmerksamkeit für das Regietheater sie in den Feuilletons der Zeitungen immer weiter an den Rand gedrängt – wenn überhaupt noch über Oper geschrieben wird, geht es fast ausschließlich um die Inszenierung, die Sänger müssen sich mit einigen wenigen Sätzen begnügen oder werden gleich ganz in die Klammer abgeschoben – der überwiegende Teil des Publikums aber geht auch oder sogar: vor allem wegen der Sänger in die Oper. Im Sänger vereinen sich die unterschiedlichen Kunstformen zum Gesamtkunstwerk Oper: In seinem Gesang repräsentiert er die Musik, in seinem Spiel die theatralische Aktion, durch sein Kostüm hat er Anteil an der Ausstattung.

Dabei ist das, was wir von einem Sängerleben sehen, nicht mehr als ein kurzer Ausschnitt, der Moment, wenn sich am Abend der Vorhang hebt und den Blick freigibt auf das glänzende Endprodukt. Von den Anstrengungen, Rückschlägen, Kämpfen, Siegen und Niederlagen und vor allem von der harten Arbeit auf dem Weg zu einer glanzvollen Aufführung, gar zum Glamour eines Diven-Daseins, wissen wir wenig. Für den Sänger besteht das Leben nicht nur aus Scheinwerferlicht, Applaus und Premierenpartys, im Gegenteil: Singen ist Hochleistungssport! Und ebenso wie der Leistungssportler muss auch der Sänger sein Leben seiner Profession anpassen und bisweilen sogar unterordnen. Eine schöne Stimme allein reicht nicht aus, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Es geht auch um Disziplin und Arbeit, um Entbehrung und Verzicht, um Glück und Gesundheit, um gute Lehrer und zuverlässige Weggefährten. Für manche wird der vermeintliche Traumberuf dabei zum Albtraum.

Wenig wissen Opernbesucher und Musikhörer über die Komplexität des Sängerberufs. Hier für Aufklärung zu sorgen liegt offensichtlich auch den Sängern am Herzen: Fast alle haben sich bereit erklärt, über den eigenen Beruf zu sprechen, auch über das, was wir als Zuschauer normalerweise nicht sehen – über Ängste, Zweifel und Krisen, aber auch über jene magischen Momente, für die sich alle Anstrengung lohnt. Trotz voller Terminkalender und eng gesteckter Reisepläne haben sie sich die Zeit für intime Einblicke und die gemeinsame Reflexion über ihren Beruf genommen. Wie in einem Kaleidoskop entsteht aus diesen Gesprächen mit Sängern unterschiedlichster Stimmfächer und Altersstufen ein Bild davon, was es bedeutet, Berufssänger zu sein. Stattgefunden haben sie an den unterschiedlichsten Orten: mit Philippe Jaroussky und Angelika Kirchschlager etwa am Morgen nach einer Aufführung beim gemeinsamen Frühstück im Hotel, der zweiten Heimat vieler Sänger; mit Christiane Karg und Piotr Beczala via Skype, weil die eine zum verabredeten Zeitpunkt eine schwere Erkältung auskurieren musste und der andere für eine mehrwöchige Probenphase in den USA weilte; oder ganz privat wie bei Christa Ludwig zu Hause in Klosterneuburg vor den Toren Wiens und bei Edda Moser, die ihren Rückzugsort in Rheinbreitbach gefunden hat, nur einen Steinwurf entfernt vom Drachenfels bei Bonn.

Eines wurde dabei schnell klar: Den Sängerberuf gibt es nicht, die Karrierewege verlaufen und verliefen höchst individuell. Sie hängen von der stimmlichen Veranlagung und Entwicklung ab, von der eigenen Persönlichkeit, dem künstlerischen Umfeld aus Lehrern, Agenten, Intendanten – und immer wieder auch vom Faktor Glück. Dennoch gibt es Fragen und Probleme, denen sich ein Sänger früher oder später stellen muss, das fängt schon in der Gesangsausbildung an. Die eigene Stimme zu finden bedeutet nicht nur, das Instrument technisch zu beherrschen, sondern auch seinen persönlichen Klang und Charakter zu finden und zu lieben. Anja Harteros spricht deswegen von einer Selbstliebe, die man als Sänger zu seiner eigenen Stimme entwickeln muss. Es bedeutet auch, die Möglichkeiten und Grenzen einer Stimme auszuloten und: zu akzeptieren – hinsichtlich der Wahl des Stimmfaches und des Repertoires.

Sänger zu sein heißt aber immer auch: einer zu werden. Eine Gesangsstimme ist nie fertig, sie wandelt sich vielmehr fortwährend, analog zur körperlichen Entwicklung eines jeden Menschen. Jedes Alter bringt dabei seine ganz eigenen Vorzüge und Probleme mit sich. Die große Edita Gruberová hat unlängst etwa ihre Gesangstechnik umgestellt, um damit der altersbedingten Entwicklung ihres Körpers Rechnung zu tragen – mit fast 70 Jahren. Immer wieder müssen Sänger richtungsweisende Entscheidungen treffen, auf jedem Level ihrer Karriere: bei der Wahl des richtigen Lehrers, im Umgang mit jugendlicher Ungeduld, im Hinblick auf die Verlockungen, die Erfolg und Ruhm mit sich bringen, oder auf den richtigen Moment für den Abschied von der Bühne.

Was die Sänger erzählt haben, ihre Gedanken, Erfahrungen und Reflexionen, zeichnen nicht nur Karriere-, sondern auch Lebenswege nach. Zum einen weil das Singen einen so großen Einfluss auf das Privatleben und die persönliche Lebensführung hat, zum anderen aber auch weil sich Stimme und Persönlichkeit eines Menschen nicht voneinander trennen lassen. Das Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben muss jeder Sänger immer wieder neu austarieren, und nicht immer liegen die Entscheidungen allein bei ihm. Freimütig berichten die Sänger über ihre ganz individuellen Wege, die nicht nur von der Schönheit und Ausdruckskraft der eigenen Stimme bestimmt werden, sondern von vielen weiteren Faktoren abhängig sind. Dazu gehört der Umgang mit Lehrern, Kollegen, Bühnenpartnern, Regisseuren und Dirigenten. Denn auch wenn er allein im Rampenlicht steht: Ein Sänger ist immer nur so gut wie das Team, das ihn umgibt.

Dazu gehören aber auch Berichte von Sängerleben, die von Verzicht geprägt sind: auf ein »normales Leben«, auf Freunde, Familie und Kinder. Die Stimme diktiert das Leben und seine Rhythmen. Wie sehr – auch das muss jeder Sänger für sich selbst entscheiden. Aber es gibt auch Geschichten von Glücksmomenten, von Erfüllung, vom Aufgehen in der Musik. Für viele Sänger ist der Gesang Ausdruck ihrer Persönlichkeit, so tiefgreifend und ehrlich, wie es die gesprochene Sprache allein nicht sein kann. Für manche hat er gar etwas Therapeutisches wie für Angelika Kirchschlager oder für Anne Schwanewilms, die davon berichtet, dass sie sich als Mensch erst durch die Kunst gefunden hat.

Davon, wie sich die Arbeit mit einem Instrument gestaltet, das im Körper sitzt, handelt das I. Kapitel. Denn daraus ergeben sich die Besonderheiten und Eigenarten, die den Sänger von anderen Musikern grundlegend unterscheiden. Es geht darum, die eigene Stimme und das richtige Verhältnis zu ihr zu finden, denn Gesang ist etwas zutiefst Intimes, in dem viel von der Persönlichkeit des Sängers mitschwingt. Es geht aber auch darum, wie man die Stimme pflegt und gesund erhält, und nicht zuletzt auch darum, wie sehr die Rücksicht auf die Stimme das eigene Leben bestimmt. Hat ein Sänger »seine« Stimme gefunden, geht es um die Wahl der richtigen Rollen, die entscheidend ist für eine lange und erfolgreiche Karriere. »Man soll mit der Stimme singen, die man hat, nicht mit der, die man gerne hätte«, sagt Christa Ludwig, eine der größten Sängerinnen des letzten Jahrhunderts. Was das bedeutet, wo Gefahren lauern, was man tun muss, wenn sich die Stimme verändert oder wie man würdevoll Abschied nimmt, davon erzählt das II. Kapitel.

Ist die richtige Rolle gefunden, geht es wiederum darum, sie zu interpretieren: mit der eigenen Stimme und Persönlichkeit. Die Suche nach der musikalischen Wahrheit ist dabei ein spannender Prozess, den jeder Sänger anders gestaltet, verbunden mit der Frage, wie sehr er sich der Musik und der Rolle hingeben möchte. Das III. Kapitel geht ihr nach und sucht gleichzeitig die Antwort auf die immer wieder gestellte Frage nach der schönen oder der wahrhaften Stimme. Sänger zu sein bedeutet jedoch nicht, nur hehre Kunst zu machen. Wie jeder Beruf hat auch dieser einen Alltag, von ihm handelt das IV. Kapitel: vom Verhältnis der Sänger zu Regisseuren und Dirigenten, aber auch von den sehr pragmatischen Fragen jedes Berufs wie Bezahlung, Arbeitsplatz, Arbeitszeiten. Klingt das zu nüchtern? Vielleicht, aber professioneller Gesang ist nicht nur Berufung, sondern auch Broterwerb, und wenn die Arbeitsbedingungen dauerhaft schlecht sind, wird nur selten große Kunst entstehen.

Hier wird es deutlich: Der Traumberuf Opernsänger hat auch seine Schattenseiten. Er ist geprägt von Reisen, vom Verzicht auf Familie und Freunde und der permanenten Rücksichtnahme auf die eigene Stimme. Christa Ludwig bezeichnet ihren Beruf daher »als elende Sklaverei« und wird darin von vielen ihrer Kollegen bestätigt. Doch fast alle würden sie ihn wieder ergreifen, denn die meisten Sänger sind, in eindrücklichen Gesprächen wie dem mit Janet Baker wird es deutlich, getragen von einem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Musik. Deshalb handelt Kapitel V nicht nur von den Entbehrungen, sondern auch vom Erfüllenden des Sängerberufs, das selbst über Zweifel und Stimmprobleme hinweghilft. Diesen Krisenzeiten im Leben eines Sängers, vom Umgang mit Lampenfieber bis zum Gang zum HNO, ist dann das VI. Kapitel gewidmet.

Ein besonderes Augenmerk dieses Buches liegt aber auch auf der Ausbildung junger Sänger – darüber wird im VII. Kapitel nachgedacht. Denn junge Sänger sind die Hoffnung für die Zukunft, eine Frischzellenkur für einen Betrieb, der immer stärker gegen ein verstaubtes und anachronistisches Image ankämpfen muss. Spricht man mit den Verantwortlichen, den Gesangslehrern und -professoren, den Leitern von Opernstudios oder mit jungen Sängern selbst, schrillen die Alarmglocken: Vieles liegt hier im Argen. Gerade wenn man auf die Arbeitsbedingungen von Sängern im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation ebenso wie auf die Belastungen und Anforderungen des Berufslebens schaut, muss man eins bedenken: Neben denen, die es dank Talent und harter Arbeit geschafft haben, sich eine gewisse Reputation zu erarbeiten, gibt es eine graue Masse an namenlosen Sängern, die zwischen den Mühlsteinen des Systems zermahlen werden.

Nimm die Zitrone, presse sie aus und wirf sie weg, hat Lisa della Casa das einmal beschrieben. Eine nachhaltige Zusammenarbeit mit Sängern sieht anders aus. Da dieses Buch jedoch ein möglichst genaues Bild des Sängerberufes zeichnen will, muss auch auf Missstände, Fehlentwicklungen und Probleme hingewiesen werden. Wenn wir also auch in Zukunft große Sänger auf den Bühnen erleben möchten, müssen wir etwas dafür tun: in der Ausbildung und im Umgang mit den Sängern, an Opernhäusern genauso wie bei Plattenfirmen. Das bedeutet auch und vor allem eine verantwortungsvolle Nachwuchsarbeit, wie sie z.B. am Internationalen Opernstudio der Hamburgischen Staatsoper gepflegt wird, dessen zwanzigjähriges Bestehen im Jahr 2014 den Anlass für dieses Buch gab.

Um die Frage, was ein »großer Sänger« ist, geht es im VIII. Kapitel. Gab es wirklich ein Goldenes Zeitalter des Gesangs? Galten früher andere Kriterien als heute, in unserer rasanten Medienwelt? Oder woran liegt es, wenn heute so oft ein allgemeiner Verfall der Gesangskultur beklagt wird?

Vom drohenden Verfall, von dem, was auf dem Spiel steht, handelt das letzte Kapitel oder die Coda des Buches: »Warum Oper?« heißt eine der zentralen Fragen am Schluss. Denn die Anzeichen mehren sich, dass diese mehr als 400 Jahre alte Kunstform zunehmend ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft verliert. Die Suche nach den Gründen ist nicht immer leicht, manches bleibt Spekulation, anderes aber lässt sich benennen. Darüber müssen wir sprechen.

Es soll hier allerdings keinesfalls darum gehen, mahnend den kulturpolitischen Zeigefinger zu erheben. Vielmehr steht die Faszination am Kunstgesang und der Gattung Oper im Mittelpunkt und die Begeisterung, die (noch) viele Menschen in diesem Land dafür teilen. Dieses Buch möchte daher aufklären über die Hintergründe und die Wirklichkeit des Sängerberufs, um dadurch die Bewunderung und Begeisterung für Kunst und Künstler vielleicht noch zu steigern. Bei allem, was zu kritisieren ist, ist »Mehr als schöne Stimmen« vor allem eine Hommage, getragen von einer großen Liebe zum Gesang, zur Oper und zu ihren Protagonisten: Als Musikjournalist hatte der Autor das Glück, viele von ihnen kennenlernen zu dürfen – weit mehr als in diesem Buch zu Wort kommen können. Sie alle haben einen Baustein zum Gesamtbild beigetragen.

Da die Gespräche jedoch eigens für diesen Band geführt wurden, musste eine Auswahl getroffen werden, orientiert an Stimmfächern, Lebensalter, Persönlichkeit und Naturell. Ein großer Dank gilt all jenen Sängern, die bereit waren, so offen und intensiv über ihre Erfahrungen zu sprechen – auch über heikle und intime Momente. Und er gilt auch jenen, die hier nicht zu Wort kommen können, denen der Autor aber ebenfalls unvergessliche musikalische Erlebnisse und spannende Gespräche verdankt.

Wenn eine Aufführung gelingt, dann entstehen Momente, die ein Leben verändern können, auf der Bühne und im Parkett. Schlussendlich ist dies also nicht nur ein Buch über den Sängerberuf, sondern auch eines über das Wesen der Oper und die Bedeutung, die Musik für den Menschen haben kann – für die Künstler selbst, aber auch für uns: das Publikum.

Kapitel I: Das Instrument im Körper

»Ah, die Natur schuf mich im Grimme! Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme!«

Matthias Claudius, »Der Esel«

Die eigene Stimme finden

»Es singt! Das bist nicht mehr du, sondern es.« – Diese fast psychoanalytisch anmutende Weisheit bekam die Sopranistin Anja Harteros von ihrer Gesangslehrerin Liselotte Hammes während ihres Studiums an der Kölner Musikhochschule mit auf den Weg. Die Lehrerin versuchte damit, die besondere Begabung der Elevin in Worte zu fassen, die sich in einer Art künstlerischem Instinkt zeigte, lange bevor Anja Harteros zu einer der besten und bestbezahlten Sängerinnen unserer Zeit werden sollte. Wir sitzen in einem Berliner Hotel, wo sich die Sopranistin zwischen zwei Vorstellungen von Verdis Don Carlo Zeit für eines ihrer seltenen Interviews genommen hat. Abseits der Bühne meidet Anja Harteros die Öffentlichkeit, ihre Sprache ist die Musik, redend scheint sie sich nicht so richtig wohl zu fühlen. Sorgfältig wägt sie ab, was und vor allem: wie sie etwas ausdrücken möchte. Wenn sie sich zu einem Gespräch bereit erklärt, sind es seltene Einblicke in das Seelenleben einer reflektierten Sängerin, die viel über ihren Beruf nachgedacht hat.

Die Formulierung »Es singt!« öffnet den Blick aber auch für einen Umstand, der die Gesangsstimme so außergewöhnlich, so einzigartig macht; der gleichzeitig aber auch Voraussetzung ist, um ihre Faszination und Besonderheiten überhaupt erst in Gänze zu verstehen: Unter allen Instrumenten ist die Stimme nicht nur das älteste, sondern auch das einzige, das im Körper des Musikers steckt. Mehr noch: Der Körper selbst wird zum Instrument: zum Klangkörper! Das hat nahezu dramatische Folgen für den Sänger, wir werden es noch sehen. Matti Salminen kann davon ein Lied singen. Seit mehr als 50 Jahren »spielt« er bereits auf seinem Instrument, einer mächtigen und klangvollen Bassstimme. Wer den Finnen einmal auf der Bühne erlebt hat, kennt die Naturgewalt seines Organs, wenn er zum Beispiel Hagens »Mannen«-Rufe in Wagners Götterdämmerung erschallen lässt. Die besondere Schwierigkeit liegt für ihn genau darin, dass der Sänger Musiker und Instrument in Personalunion ist: »Eine Stradivari kann man kaufen, man muss sie dann nur noch spielen lernen. Das geht bei Sängern nicht, wir müssen uns unser Instrument zuerst aufbauen, und dann erst können wir lernen, darauf zu spielen.«

Bleiben wir kurz bei dem Vergleich mit einer alten Meistergeige. Ebenso wie dort der Ton durch das Streichen oder Zupfen der Saiten entsteht, sorgt das Öffnen und Schließen der Stimmbänder für den sogenannten Primärklang. Wie dieser jedoch klingt, welches Volumen er hat, welche Farbe, welchen Charakter, welches Timbre, entscheidet sich erst im Resonanzkörper: Erst durch die resonatorische Verstärkung erhält der Ton seine endgültige Gestalt. Deshalb hat jede Stradivari oder Guarneri – letztlich jede handgefertigte Geige – ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Klang. Das heißt für den Sänger: Wie gut man das Instrument beherrscht, lässt sich mit Hilfe einer fundierten Gesangstechnik lernen. Wie es klingt, wie sein Timbre ist, ob warm oder metallisch, ob hell oder dunkel, ob weich oder körnig, entscheidet letztendlich die individuelle Physiognomie: der Bau des Kehlkopfes, die Formung von Mund- und Rachenraum sowie die Resonanzräume des Schädels (das VI. Kapitel wird diesen Zusammenhang noch genauer beleuchten). Keine Stimme gleicht der anderen, sie ist so individuell wie ein Fingerabdruck: jede ein Unikat.

Der Vergleich mit den Instrumenten der alten Geigenbaumeister offenbart aber noch einen anderen Aspekt, der ebenfalls die Geheimnisse der menschlichen Stimme berührt. Spricht man mit Geigern über die spezifische Klangcharakteristik ihrer manchmal jahrhundertealten Instrumente, spielen nicht nur die Wahl der richtigen Hölzer sowie Leim und Lackierung eine entscheidende Rolle, sondern auch die Lebensgeschichte der Violine: Wichtig sei nicht nur, wer sie gebaut, sondern auch, wer sie gespielt hat. Berühmte Interpreten wie Anne-Sophie Mutter bestätigen, dass die Interpreten, die ein Instrument über einen längeren Zeitraum gespielt haben, auch dessen »Persönlichkeit« geprägt haben. Mit anderen Worten: Nicht nur die Bauweise einer Geige entscheidet über ihren Klang, auch die Art und Weise, wie auf ihr musiziert wurde, beeinflusst dessen Charakter.

Das ist bei Sängern nicht anders: Erst in der Verbindung von individueller Anatomie mit der Art, auf dem Gesangsinstrument zu musizieren, zeigt sich der wahre Charakter einer Stimme. Doch bis ein Sänger seine Stimme gefunden hat, kann es bisweilen ein langer und leidvoller Prozess sein: »Es ist schlimm, wenn man niemanden findet, der einem den natürlichen Zugang zur eigenen Stimme zeigen kann. Das hat meine Lehrerin Liselotte Hammes zum Glück geschafft«, erinnert sich Anja Harteros an ihren eigenen Weg. »Allerdings waren das innerliche Kämpfe, bis ich das Vertrauen zu meiner eigenen Natürlichkeit gefunden hatte und dann auch sagen konnte: Das ist etwas Besonderes. Das muss man auch erst mal erreichen, zu dem zu stehen, was man von Natur aus mitbekommen hat, es gut zu finden und auch gerne zu zeigen. Ich bin eher ein scheuer Typ, und ich hätte gerne weniger von mir gezeigt. Das geht beim Singen aber nicht. Da muss man Zutrauen und auch eine Selbstliebe entwickeln. Es ist wirklich so: Man muss Lust haben, auch an sich selbst. Und das traut man sich eigentlich nicht, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.« Anja Harteros spricht damit eine der Grundanforderungen des Sängerberufes an: den unbedingten Ausdruckswillen des Künstlers. Denn sich im Gesang zu exponieren ist nicht jedem Sänger in die Wiege gelegt.

Die Tatsache, dass das Instrument Stimme im Körper steckt, hat nicht nur teils gravierende Auswirkungen auf den Sänger. Die Personalunion von Instrument und Interpret hat auch einen erheblichen Anteil an der Faszination, die für den Hörer vom Gesang ausgeht. Da ist zum einen der rein technisch-athletische Aspekt: Wenn jemand zum ersten Mal in die Oper geht und dort erlebt, wie ein Sänger über ein Strauss- oder Wagner-Orchester strahlt, ist das Erstaunen oft groß, dass so etwas ohne Mikrofon überhaupt möglich ist. Es ist aber nicht nur die schiere Überwältigung mit stimmlicher Potenz – ob sich diese nun in Lautstärke oder Virtuosität ausdrückt –, sondern auch die emotionale Komponente. Für den Tenor Daniel Behle zeigt sich genau darin die Einzigartigkeit des Gesangs: »Singen ist die unmittelbarste Kunstform, die wir haben. Wir haben keine Technik auf der Bühne, keine Mikrofone – das ist immer ehrlich, nie gekünstelt, nie geschönt. Als Instrumentalist hast du immer noch irgendwas außer dir, was du bedienst. Beim Singen bist das nur du, nur dein Körper. Du machst Musik ohne jegliche Hilfsmittel, das gibt es sonst nicht, das ist einmalig! Deshalb können die Leute, die zuhören, wahre Emotionen empfinden: Selbst wenn die Emotion gespielt ist, ist sie doch unmittelbar produziert. Das ist die Kraft der Oper!«

Der Operngesang, obwohl artifizielle Kunst, bewahrt sich damit immer etwas Ursprüngliches, Unmittelbares, eine »Naturhaftigkeit«, wie die Gesangspädagogin Franziska Martienssen-Lohmann es in Der wissende Sänger, einem Gesangslexikon in Skizzen ausdrückt: »Keine andere Kunstgattung erscheint so stark mit der Natur in eins verbunden wie der Gesang: weil das musikalische ›Instrument‹ hier der Körper selbst ist, den deutlichen Wirkungsgesetzen der Natur unmittelbar unterworfen – Wirkungsgesetzen leiblicher und seelischer Natur. Wohl nirgends in der Kunst sind solche Wunder ungeahnter Naturentfaltung möglich wie hier im Gesang, wie auch nirgends die Natur so verdorben werden kann.«1

Wir haben diese Wunder erlebt und erleben sie bis heute – auf ganz mannigfaltige Weise: in der luxuriösen Schönheit der Soprane von Mirella Freni, Angela Gheorghiu oder Anna Netrebko, in der atemberaubenden Virtuosität einer Joan Sutherland, Diana Damrau oder Cecilia Bartoli, in der aufregenden Virilität der Tenorstimmen von Plácido Domingo oder Jonas Kaufmann, im lyrischen Schmelz der Tenöre von Piotr Beczala oder Daniel Behle oder im anrührenden Seelengesang einer Christa Ludwig, Janet Baker oder Lorraine Hunt-Lieberson.

Spiegel der Seele

Gesang ist, rein technisch betrachtet, ein physiologischer Prozess: Durch einen Nervenimpuls werden Muskeln angeregt, die den Prozess der Tonproduktion in Gang setzen. Doch die Stimme ist ein kompliziertes Phänomen und mit technischen Parametern allein nicht zu begreifen. Schon der Volksmund weiß, dass die Stimme der Spiegel der Seele ist. Darauf deutet schon die etymologische Verwandtschaft von Stimme und Stimmung hin. Jeder, der einmal versucht hat, mit einem »Kloß im Hals« zu sprechen oder zu singen, hat diese Erfahrung gemacht. In den subtilen Vorgängen im Stimmapparat werden Emotionen für andere hörbar. Für den Kunstgesang hat es der italienische Gesangspädagoge Giovanni Battista Lamperti (1939–1910) in seinem Lehrbuch Vokale Weisheit folgendermaßen formuliert: »Die Gesangsstimme ist ein Schloss, das in der Luft gebaut wird. Die Imagination ist dessen Architektur. Die Nerven führen die Absichten aus. Die Muskeln sind die Arbeiter. Die Seele bewohnt es.«2

Wenn es ans Seelenleben geht, wird es fast immer kompliziert, das gilt auch für das Verhältnis von Sängern zum eigenen Instrument. Es gibt keine Trennung zwischen Mensch und Stimme, denn Singen ist ein ganzheitliches Phänomen, das erst im Zusammenspiel von biologischen Voraussetzungen und physischer sowie psychischer Konstitution funktionieren kann. Der Sänger ist daher von allen Musikern nicht nur am stärksten von seinem körperlichen Zustand abhängig, sondern auch von seinen Emotionen. Für die Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager ist Singen deshalb mehr als nur Kunst: »Wenn man singt, ist das eine Therapie. So etwas kann an niemandem spurlos vorübergehen, der erfolgreich auf der Bühne steht. In irgendeiner Weise muss man sich früher oder später mit sich auseinandersetzen.«

»Es liegt immer ein Stück der eigenen Wahrheit in der Stimme«: Philippe Jaroussky bei einem Konzert in Moskau (© picture alliance/dpa – Mandatory credit)

Eine ähnliche Erfahrung hat der Countertenor Philippe Jaroussky gemacht, der in diesem Selbstfindungsprozess auch etwas über das innerste Wesen der Gesangskunst erfahren hat: »Durch das Singen habe ich meinen Körper kennengelernt und auch gelernt, mich durch meinen Körper auszudrücken. Am Anfang war das eine eigenartige Erfahrung, weil ich mich komplett nackt gefühlt habe. Es liegt immer ein Stück der eigenen Wahrheit in der Stimme, es ist schwierig, im Singen zu lügen. Hinter einem Instrument kann man sich besser verstecken, mit der Stimme ist das ein bisschen anders. Ich selbst habe für mich auch die Erfahrung gemacht, dass ich beim Singen viel weniger mit der Musik kämpfe als mit einem Instrument: Es ist direkter.«

Von dieser Unmittelbarkeit im Gesang hat bereits Daniel Behle gesprochen. Davon, dass der Gesang aus der Kehle des Sängers einen direkten Weg zum Zuhörer finde, ganz ohne die Vermittlung eines Instrumentes aus Blech oder Holz oder gar die elektronische Verstärkung durch technische Hilfsmittel. Auch an den Zuhörern geht dieses Phänomen nicht spurlos vorbei, wie schon Joseph Roth in seinem Essayband Panoptikum erzählt: »Die Stimme ›geht uns näher‹. Sie scheint unmittelbarer zu sein als das Angesicht, die Hand, die ruht. Ja, die Stimme ist eine direkte körperliche Berührung.«3 Das kann sie sein, weil Gesang mehr ist als nur Klang, er ist tönender Ausdruck eines Charakters oder einer Persönlichkeit. Erst dadurch gewinnt Singen – in seinen eindrücklichen Momenten – eine fast gestische Plastizität. Wenn beispielsweise Maria Callas in Toscas Gebet die Tränen der Protagonistin nicht durch Schluchzen ausdrückt, sondern durch einen Ton, der die Tränen vor dem inneren Ohr des Zuhörers gleichsam sichtbar macht. Deshalb gehen uns Stimmen oft näher als der Klang von Instrumenten, denn so artifiziell die Gesangskunst auch sein mag, bleibt sie doch immer eins: zutiefst menschlich.

Die enge Verbindung, ja: Abhängigkeit der Stimme von Körper und Geist birgt allerdings auch Risiken. Denn eine optimale Leistung kann nur dann erfolgen, wenn beide in einem guten Zustand sind. Eine Erfahrung, die jeder Sänger früher oder später machen muss, Angelika Kirchschlager ist hier keine Ausnahme: »Schon während der Ausbildung habe ich gemerkt, dass sich persönliche Krisen sofort auf die Stimme auswirken. Bei mir findet gerade wieder ein Wandel statt, und ich habe das Gefühl, dass das Einzige, was bei mir noch funktioniert, meine Stimme ist. Die wird immer runder, je mehr das Leben Entscheidungen fordert.«

Aus dieser Erkenntnis erwächst eine enorme Verantwortung für den Sänger: Um die bestmögliche Leistung abrufen zu können, muss er nicht nur seine Stimme trainieren und pflegen, sondern auch auf einen guten körperlichen Gesamtzustand und eine ausgeglichene Psyche achten – auch wenn das nicht immer mit der persönlichen Situation und den eigenen Wünschen im Einklang steht. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Sänger ihr ganzes Berufsleben, und man braucht große Erfahrung, um zu einem ausgewogenen Verhältnis zu finden.

Die englische Mezzosopranistin Janet Baker hat ihr ganzes Leben in den Dienst der Musik gestellt, doch dies hinzunehmen, bezeichnet sie als die schwierigste Lektion in ihrer außergewöhnlichen Karriere: »Man muss lernen zu akzeptieren, dass man, egal wie man sich fühlt, immer versuchen muss, das Beste aus sich herauszuholen. Das ist speziell für Sänger schwierig, die so abhängig sind von ihrem körperlichen Zustand, von Müdigkeit oder einer Erkältung. Es interessiert die Leute im Publikum nicht, ob man erkältet ist. Sie wollen, dass man auf die Bühne kommt und das Konzert gibt, für das sie bezahlt haben. An einem Opernhaus ist es etwas anderes, weil es in der Regel einen Einspringer gibt. Wenn allerdings die Carnegie Hall voller Menschen sitzt, die dafür bezahlt haben, dich zu hören, kommt eine Absage einfach nicht infrage. Die Entscheidung, ein Konzert zu geben und dabei vielleicht seine Stimme zu riskieren, kann extrem schwierig sein. Ebenfalls nur schwer zu akzeptieren ist die Tatsache, dass man niemals weiß, ob man wirklich sein Bestes gegeben hat. Man weiß, dass man sich gut vorbereitet hat und dass die Umstände alle gut sind, aber dann kann man nur hoffen, dass die Magie, egal woher sie kommen mag, passiert. Aber man kann sich niemals sicher sein, ob es gelingt und dass man wirklich sein Allerbestes gegeben hat. Es ist klug, das im Hinterkopf zu behalten. Ich habe in all den Jahren gelernt, niemals Perfektion zu erwarten. Keiner von uns ist perfekt, auch wenn wir es sein wollen. Es muss immer diesen Freiraum geben, der uns erlaubt, Mensch zu sein.«