Mein anarchistisches Album - Eva Demski - E-Book

Mein anarchistisches Album E-Book

Eva Demski

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Beschreibung

Gott will es so. Der Staat will es so. Dein Vater will es so. Warum aber ist da ein Oberes, Unsichtbares, das mir sagt, was ich zu tun, zu lassen, zu denken, zu glauben, was ich zu arbeiten und wen ich zu lieben habe? Der Anarchismus setzt uns auf ein politisches und philosophisches Karussell, von dem man nicht weiß, wann es anhält. Der Anarchismus gibt sich nicht zufrieden mit dem, was ist. Er will das Ende von Gewalt und von Herrschaft. Er will ein Leben vor dem Tod.
Eva Demski hat die spannende Geschichte des Anarchismus durchstreift – und die zahllosen Ausprägungen, in denen sie ihm begegnet ist, gesammelt. Sie erinnert an Bakunin, Mühsam und Emma Goldman, erzählt von anarchistischen Uhrmachern des 19. Jahrhunderts, von fortschrittlichen Fürsten und Entdeckerinnen wie Isabelle Eberhardt; sie entdeckt fast vergessene Dichterinnen und Dichter und versucht, den Sisi-Mörder Lucheni zu begreifen. Aus Porträts, Ortsterminen, Alltagsbeobachtungen, Pamphleten und Liebeserklärungen ist so ein buntes Album mit Momentaufnahmen aus vielen Epochen entstanden – und man staunt darüber, was man mit dem Buchstaben A alles anfangen kann.

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Seitenzahl: 204

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Titel

Eva Demski

Mein anarchistisches Album

Insel Verlag

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eBook Insel Verlag Berlin 2022

Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin 2022

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagabbildung: Gari Wyn Williams/Alamy/mauritius images, Mittenwald

eISBN 978-3-458-76705-3

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Der Plan: WER A SAGT

DAS A

EXLIBRIS

ANFANG

EMMA

AUF GLEISEN, AUF REISEN

DAS RÄTSEL BAKUNIN

DER FÜRST

BESONDERE ZEITEN

PUNK-PRUNK

ALLITERATIONEN

GOTT UND GOSSIP

DER KÜNSTLER IST ABWESEND

DAS ECHTE SCHWARZ

COMEBACK

KEIN ENDE

Dank

Bildteil

Informationen zum Buch

Der Plan: WER A SAGT

Vor fünfzig Jahren habe ich meine erste Arbeit für den Suhrkamp Verlag gemacht: Die Übersetzung des Buches Anarchismus – Begriff und Praxis von Daniel Guérin. Nach einem halben Jahrhundert wollte ich nachschauen, was von den vielfältigen anarchistischen Lebensweisen und Ideen übriggeblieben ist und welche dazugekommen sind.

Ich plante ein Lesebuch mit Bildern, das aus erzählten Porträts, Spurensuchen, Textfunden und Wegbeschreibungen bestehen soll. Legenden wie die Geschichte vom Fürsten Kropotkin gehören dazu, sie sind in der Historie des Anarchismus zahlreich und fast vergessen. Ich wollte sie wie moderne Moritaten oder Reportagen erzählen. Dazwischen gestreut Interviews mit Menschen, von denen eine Vertrautheit mit dem Thema nicht ohne weiteres zu erwarten ist, vom Großbanker bis zum Postboten, von der Unternehmerin bis zur Kassiererin. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, wie viele Denkelemente des Libertären in der sogenannten guten Gesellschaft herumgeistern, ohne dass sich ihre Mitglieder dessen auch nur im Geringsten bewusst sind.

Es galt, ideologischen Fallstricken zu entgehen, seien sie nun rechts oder links des Wegs gespannt, und den Zauber einer unideologischen Denkweise wiederzuentdecken, die gerade in einer Zeit der Regulierung und der andauernden digitalen Sichtbarkeit und Verfügbarkeit des Einzelnen großen Spaß macht.

Vor einem halben Jahrhundert, in den Jahren der mittlerweile historisch vergipsten und totinterpretierten Revolte, waren der Anarchismus und seine Varianten etwas Exotisches. Von rechts, aber vor allem von links, vom marxistischen Wachturm aus, misstrauisch beäugt und wegen seines Mangels an Heilsgewissheit verachtet, blieb er im Schatten. Er war besser als alles andere geeignet, für politische Verirrungen, Grausamkeiten und Irrationalitäten den Sündenbock abzugeben. Eine Charta lag ja nicht vor, sie tut es bis heute nicht.

Das legendäre linke Magazin agit 883 schrieb schon Anfang der Siebziger über die RAF, das seien beileibe keine Anarchisten, sondern nur Leninisten mit Knarre. Dennoch wurde die RAF immer wieder mit dem Begriff verbunden.

Das Fehlen einer verbindlichen Verfasstheit macht die Sache aus, macht sie aber gleichzeitig schwierig und anfällig für Fehlinterpretationen. Anarchistische Texte und Zeugnisse und die Menschen, die in ihrem Sinn zu leben versuchten und versuchen, musste man mühsam ausfindig machen. Damals wie heute.

Während das Schrifttum diverser Orthodoxien und Gesellschaftserklärungen so üppig gedieh wie jede Art von Ratgeberliteratur, und sei sie noch so banal und dämlich, erwies sich das libertäre Pflänzchen als scheu und empfindlich. Und doch begegnet man ihm, wenn man gelernt hat, darauf zu achten, gar nicht so selten.

Mein Buch will Neugierige auf diese Suche mitnehmen. Vielleicht finden sich davon in einer Gesellschaft, die Unselbständigkeit für selbstverständlich, ja geradezu für wünschenswert zu halten scheint, doch noch einige, vielleicht werden sie sogar mehr.

Um auch die spielerische Seite nicht außer Acht zu lassen, sollte der Buchstabe A immer wieder eine Rolle spielen, poetisch, grafisch, eine Metapher für Anfang.

Anarchismus ist nicht asketisch, und seine Konsumkritik beruht auf selbstbewusster Wahrnehmung von Genuss. Die ist eins von vielen Themen. Kein du musst, kein du darfst nicht, kein du solltest. Überhaupt kein Ratschlag, nicht ein einziger.

Stattdessen findet sich eine Ideale Gesellschaft zusammen, deren Mitglieder sehr zu Unrecht ziemlich unbekannt geblieben sind. Wie Leopold Kohr, zum Beispiel, oder Emma Goldman, er ein ebenso kluger wie unbekannter Ökonom und Philosoph, sie eine unbändige Freiheitskämpferin.

Oder die man in anderen Zusammenhängen wahrzunehmen gewohnt ist. So ergeben sich auf der Reise zu den verborgenen Quellen der Selbstbestimmtheit unerwartete Kombinationen:

Was haben zum Beispiel Lao Tse, Enzensberger und Pippi Langstrumpf gemeinsam?

In nicht zu langen, mit Bildern versehenen Kapiteln sollte sich das Damals – anarchistische Denkansätze finden sich schon in der Antike – am Heute messen lassen, vom Umgang mit Bauvorschriften bis zur Religion, von der Rolle des Geldes bis zu der von Schönheit, Kunst, Alltag, Wirtschaftsleben, Verantwortung des Einzelnen und ein paar Überlegungen, die Gleichheit der Menschen betreffend, werden immer wieder unterbrochen von Stimmen. Denen von einst wie denen von heute. Dem Gleichheitsgrundsatz, dieser unbefragbaren Errungenschaft, sollen die fundamentalen Unterschiede gegenübergestellt werden, die es trotz gleicher Denkansätze und Visionen zwischen Menschen gab und gibt.

Die amerikanischen Anarchisten dachten, handelten und reagierten anders als die spanischen, die russischen exportierten sich und ihr Temperament in die Neue Welt, die Italiener taten das auch und waren wieder anders als ihre Genossinnen und Genossen. Die der Hocharistokratie Entflohenen teilten sich die Ziele mit denen aus dem Lumpenproletariat, was sie aber verlieren würden, war sehr unterschiedlich. Die einen hatten das scheinbar gute Leben und seine Voraussetzungen zu verachten gelernt, die anderen wollten endlich ein besseres Leben als ihr altes, aber nicht um jeden Preis. Vereinfacht gesagt, brachen die Reichen ins unbekannte Land der Armut auf, und die Armen wollten eine menschenwürdige Art des Reichtums in die Welt bringen. Auch über die unterschiedlichen Wege dieser wahren Internationale schreibe ich. Irrwege wie jene, die unter Begriffen wie action directe oder Propaganda durch die Tat gegangen wurden, bleiben nicht ausgespart.

Es galt, einen ziemlich unentdeckt gebliebenen biografischen und politischen Kontinent zu bereisen, von dessen wirklicher Größe eigentlich niemand eine Ahnung hatte. Eine Expedition dorthin versprach die Entdeckung vermeintlich fast ausgestorbener Arten, die sich als höchst lebendig erweisen würden.

Einen vielzitierten Satz, den empörte Bürger angesichts der Sechzigerjahre-Jugend ausgerufen hatten und der sich unter dem Hohngelächter ebendieser Jugend mit großer Geschwindigkeit verbreitete, möchte ich mir ausleihen:

Schaut euch diese Typen an!

Ich wollte sie mir anschauen, diese Typen, die nirgendwo einzuordnen sind, diese Feindbilder für links und rechts, und für die Mitte sowieso.

Der Tugendsame flieht das Erhabene, flieht,

was zu hoch, was zu viel,

was zu sehr.

Lao Tse (neu: Laozi)

oder, einfacher mit Leopold Kohr:

Was zu groß wird, geht schief.

DAS A

Den Anfang macht das A.

Breitbeinig steht es da,

Es führt so viele Wörter an

Vor denen man sich fürchten kann:

Atom und Armut, Aids und ja –

Alarm! Alarm! Das End ist nah.

Im Grabe ist das A sehr laut

Im Sarg und in der Trauer

Es bohrt sich unter jede Haut

Im Drama ists von Dauer.

Es reicht. So wollen wir dich nicht,

Anführer unserer Lettern –

Willst du uns denn ganz ohne Licht

Entmutigen und zerschmettern?

So tröste uns, oh A!

Gib uns die Algebra –

Die Anarchie, der Amateur

Vertreiben unsere Ängste sehr –

Im Alkohol zerfließe

Die arge Analyse.

EXLIBRIS

Dieses Album habe ich aus reinem Vergnügen zusammengetragen, ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder Vollständigkeit, nur, um herauszufinden, was mich an dieser gesetzlosen Bande seit über einem halben Jahrhundert bezaubert und bei wem von ihnen ich gelernt habe und noch lerne. Es ist der Versuch, eine politische Strömung, mit all ihren Farben, ihrem Geschmack, eben das Libertäre, zwischen zwei Buchdeckel zu kriegen, obwohl ich von vornherein weiß, dass es nicht zu fassen ist. Wie es gelesen werden soll? Es wäre unanarchistisch, mit einer Gebrauchsanweisung daherzukommen. Meine Entdeckerfreude oder Wiederentdeckerfreude soll einfach weitergegeben werden. Eine besondere Rolle spielen die Bilderfundstücke, nach ihnen zu suchen war und ist ein nachdenklicher Spaß.

Genau genommen gibt es gar keinen Anarchismus, ein -ismus ist etwas Abgeschlossenes, eine Doktrin, ein Das-ist-jetzt-die-unumstößliche-Wahrheit, der einzige Weg ins Licht. Ebendarum geht es nicht. Sondern um Menschen, die über Wege zur Freiheit nachdachten und -denken, mühsam zwischen Ideologien hindurch, die dabei zu tausend verschiedenen Schlüssen kamen und sie nicht selten im Lauf ihres Lebens wieder in Frage stellten.

Auch das Wort politische Strömung kann man nicht ohne weiteres als Bild verwenden. Es geht eher um ein Delta mit tausend Nebenarmen, mächtigen und fast unsichtbaren. Was kann man im digitalen Zeitalter von alldem übernehmen? Wie geht Freiheit? Wie kommt man dazu, sie sich mehr als alles andere zu wünschen, obwohl sie sehr anstrengend ist? Versteht die Generation Smartphone überhaupt den Wunsch nach ihr oder den nach Autonomie?

Jahrzehntelang, inmitten von politischen Umbrüchen und verblüffenden Richtungswechseln, sowohl von Personen als auch von Systemen, konnte ich mich an den vermeintlich Haltlosen immer festhalten, und immer fand ich bei ihnen einen Satz, eine Geschichte oder einen Widerspruch, der mich weiterbrachte. Vor allem Widersprüche waren wichtig: Die verschiedenen Heilsgewissheiten, die sich nicht davor scheuten, alles abzumähen, was wild wuchs und sich nicht leicht bändigen ließ, waren mir immer unheimlich gewesen, ob sie nun nach Weihrauch, nach Politbüro, Geld oder Waffen rochen.

Man findet libertäre Gedanken in den sonderbarsten Ecken, es kann ein Kinderbuch, ein Wirtschaftsbericht oder ein Song sein. Vieles kann Spuren von Anarchie enthalten.

Deswegen möchte ich ein paar Albumblätter mit vergessenen, verkannten und verführerischen Ereignissen und Menschen füllen, vielleicht machen sie Lust, weiterzusuchen. Das Netz ist erstaunlich reich an Informationen, Antiquariate, auch die analogen, können wahre Fundgruben sein. Das magische Aufblitzen im eigenen Hirn: Das hat genau so schon mal jemand vor mir gedacht! Und er hat’s viel besser ausgedrückt, als ich’s könnte!

ist genauso beglückend wie die Erkenntnis:

So hab ich das noch nie gesehen, auf die Idee wäre ich von allein nie gekommen!

Vor Jahrzehnten hat Hans Magnus Enzensberger einen Gedichtband in die Welt geschickt, der Mausoleum hieß. Er ist unter vielen anderen eins meiner Lebensbücher geworden, nicht zuletzt wegen des großen Bakunin-Gedichts, das er unter dem Titel M.A.B. in seiner wundervollen Grabkammer aus Papier versteckt hat. Auf den komme ich später noch, ohne ihn geht’s nicht.

Zunächst aber: Vielleicht muss man alle paar Jahrzehnte eine Art Mausoleum aufmachen, in dem aufs Neue die besucht werden können, die zu Staub zerfallen sind. Die man aber vielleicht dringender braucht, als man denkt, zur Wahrheit führen oft zugewucherte Pfade. Von manchen Freiheitsliebenden sind nicht einmal mehr die Namen bekannt, das gilt besonders für Anarchisten. Oder haben Sie schon mal von Voltairine de Cleyre gehört? Voltairine! Allein der Name!

Libertäre werden schnell vergessen oder so dämonisiert, dass sie für links und rechts gleichermaßen als Schreckgespenst herhalten können.

Die Revolution steht am Anfang ihrer Aufgaben. Ihr Mittel ist Wahrheit, Festigkeit und Entschlossenheit, ihr Ziel Sozialismus, Gerechtigkeit und Kultur.

Das sagte Erich Mühsam, in München, nach dem Ersten Weltkrieg, am Beginn des kurzen Traums der Räterepublik. Und fügt hinzu, dass man nicht auf Parteiprogramme und akademische Lehren pochen solle. Er vertraute auf den guten Geist, der seinen Weg finden werde. So was überlebt man nicht lang, das gilt für viele Länder auf dieser Erde bis zum heutigen Tag.

Mit allergrößtem Respekt spricht Mühsam von den Parias, Huren, Landstreichern und Künstlern, bei denen allein der wahre revolutionäre Geist noch zu finden sei. Alle anderen befänden sich bereitwillig auf dem Weg zu Bourgeoisie und Kapital. Das klingt nach einer anarchistischen Verklärung des Lumpenproletariats, aber die wäre so falsch wie Zigeunerromantik. Für Mühsam waren Parias Menschen, die begriffen haben, was sie zufrieden, vielleicht sogar glücklich macht und was zum Leben notwendig ist. Das kann für den einen Schnaps und für die andere Opernarien sein, es gibt auf beides ein Recht und es steht erst einmal niemandem zu, Wünsche zu verurteilen. Ein sich stetig vergrößerndes Aktiendepot gehört gemeinhin nicht zu den vernünftigen Menschenwünschen. Was hätte man auch davon. Die Meinung der Gesellschaft schert Außenseiter nicht, also kann sie ihnen auch nichts anhaben.

Ich habs mein Lebtag nicht gelernt, mich fremdem Zwang zu fügen, schreibt Erich Mühsam – und an anderer Stelle über den Tod, dessen Gewissheit es immer mitzubedenken gelte, als Voraussetzung eines wirklich freien Lebens. Ich habe mich oft gefragt, ob Investmentbanker oder Softwaremilliardäre nicht über ihre Endlichkeit nachdenken. Steve Jobs wäre doch da ein guter Anlass gewesen. Auf die Idee hatte mich ein kluger Aufsatz von Peter Gauweiler gebracht, den er im August 2018 in der FAZ publiziert hat: Alternative zum Weltuntergang. Sein Ansatz ist durchaus libertär, wobei ich vorher nie gedacht hätte, dass ich einmal seinen Namen und das Wort libertär in Verbindung bringen würde. Gauweiler macht sich in dem Text Gedanken über die Kreuzzüge und deren verhängnisvolle Folgen bis zum heutigen Tag, er plädiert für politische Lösungen, die auf Überschaubarkeit setzen und nicht auf die Zwänge der Globalisierung. Er sieht sehr deutlich die Gefahren der Kranken Riesen, wie der anarchistische Philosoph Leopold Kohr die Diktatur des Übermäßigen, Übergroßen genannt hatte. Es lohnt sich, an der Stelle beherzt nachzugraben – liberal, konservativ, libertär – und unter die Begriffe zu schauen. Was ist vereinbar, und wie könnte das gehen? Wie sehen Kompromisse aus, die das Leben der Menschen besser und autonomer werden lassen könnten? Wie kriegt man es hin, dass möglichst viele das selber wollen, ohne dass irgendein Bürokrat ihnen Steaks, Plastikbecher oder Steinwüsten anstatt Pflanzen im Garten per Gesetz verbietet? Wie könnte man dem Charme der Vernunft einen möglichst freien Weg bahnen? Und wie sieht es aus, mit dem Recht auf Unvernunft, aus der ja durchaus Glück entstehen kann?

Aus den Memoiren eines Revolutionärs des Fürsten Kropotkin kann man lernen, wie einer, der seine Klasse verlässt und das nicht aus Herablassung oder Sendungsbewusstsein tut, sondern aus Neugier, von fremden Lebensweisen lernt. Weil er als Internatsschüler die Volkswirtschaft studiert, auf eigene Faust, und mit den Lehren der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgestattet, entschließt er sich, Zahlen nicht mehr in Büchern zu suchen, sondern auf den Bauernmärkten seiner russischen Heimat. Er arbeitet nicht mit Tinte, sondern mit unzähligen Tassen Tee, und möchte, anders als die wenigen Gutwilligen seiner Kaste, nicht lehren, sondern lernen. Noch Jahrzehnte später amüsiert er sich über seine sozialistischen Freunde, die Arbeiter und Bauern mit einer künstlichen Arbeiter- und Bauernsprache zu beeindrucken versuchten.

In den Zeiten der Studentenrevolte ist mir das am widerwärtigsten gewesen – dieser Drang, Menschen, von deren Leben man keine Ahnung hatte, beibringen zu wollen, wie sie zu leben und was sie zu denken hätten. Die unfassbare Hochnäsigkeit der reinen Lehre hatte viele erfasst, nur weil sie sich durch ein paar schwer lesbare Wälzer genagt hatten und jetzt arme Opfer suchten, vor denen sie ihr halb verdautes Papier ausspucken konnten. Als sich wirklich mal zwei Fabrikarbeiterinnen in eine der zahllosen Schulungen verirrt hatten und zu erzählen begannen, sagte die Obertante der Schulungsgruppe gereizt, das sei alles schön und gut, aber man lese jetzt Clara Zetkin. Die sind da nie wieder aufgetaucht, ich auch nicht. Die Wissenschaft, zitiert Erich Mühsam Bakunin, hat das Leben zu erhellen, nicht es zu regieren.

Damals, als im Marxismus aufs Neue das alleinige Heil gesehen wurde, machte sich auch eine brandgefährliche Verachtung alles Schönen breit, das ausnahmslos als bürgerlich bezeichnet und deshalb keiner Kenntnisnahme für wert erachtet wurde. Ich erinnere mich daran, dass allen Ernstes diskutiert wurde, ob man Ödön von Horváth lesen dürfe – dürfe! – oder ob das nicht strafwürdige Zeitverschwendung und bürgerliche Abweichlerei sei. Als ginge es nicht vielmehr darum, sich jede nur mögliche Kultur kritisch anzueignen und den schwierigen Spagat zu versuchen, düstere Entstehungsgeschichten und freudige Inbesitznahme zusammenzubringen. Das ist ziemlich schwer. Es muss auch immer wieder neu gedacht werden. Kultur müsse die Revolution mitbringen, Kultur!, sagt Mühsam. Vom Verachten, das nicht selten zum Zerschlagen geführt hat, hat er nichts gesagt. Bilderstürmerei und Hass auf das, was den Massen nicht unmittelbar nützlich ist und was sie, schlimmer noch, auf eigene Gedanken bringen könnte, ging mit allen Umstürzen einher, mit den religiösen und den säkularen, bis in die heutige Zeit.

Die Trauer darüber, dass auch die Demokratie bisher ein Grundmisstrauen gegen ästhetische Eigenständigkeit zeigt, muss die Hoffnung zulassen, ein unautoritäres Entstehen von Schönem möge eines Tages doch gelingen. Von der Monumentalität allerdings wird man sich wahrscheinlich verabschieden müssen, schon aus ökologischen Gründen. Aber um die ist es ja auch nicht schade, so was wie die Pyramiden kommt beim baulichen Größenwahn kommunistischer oder kapitalistischer Prägung ja schon lang nicht mehr zustande. Wobei man sich streiten kann, welchem der beiden Systeme die absurderen Scheußlichkeiten gelungen sind. Wahrscheinlich den Kommunisten, denn die mussten den Horror nicht vermarkten.

Die Augsburger Fuggerei, die alten Bergarbeitersiedlungen im Ruhrgebiet oder auch die May-Siedlungen boten eine Ahnung von Autonomie im ganz Kleinen, einer eigenen Ästhetik. Man entschied auf wenig Raum selber, wie und ob man seine Wände strich und ob man Hasen oder Hühner halten wollte. Dann kam die große Errungenschaft der Platte, die erbarmungslose Gerechtigkeit der Wohnmaschine, im Westen wie im Osten. Schluss mit dem bisschen Individualität, auch wenn sie nur ein kleines Glück war. Mit kleinen Glücken kannten sich Anarchisten immer aus.

Man könne, sagte Heinrich Zille, einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt. Aber mit der Tatsache, keine zu haben, eben auch.

Gibt es überhaupt anarchistische Architektur, Siedlungs-, Stadtplanung? Ist etwas Derartiges in der heutigen Zeit denkbar oder ist es durch Mobilität obsolet geworden? Wir sind daran gewöhnt worden, den Wunsch nach Sesshaftigkeit als reaktionär und Mobilität als zeitgemäß und notwendig zu empfinden.

Wem aber nützt das? Kaum ein Begriff ist so vielfältig kontaminiert wie Heimat. Umso mehr hat mich interessiert, was ich bei den Anarchisten, die ja die ihre oft genug haben verlassen müssen, zu dem Thema finde. Verschwistert mit dem Thema Heimat ist das Thema Besitz. Spannender könnte kaum etwas sein, als diesen Begriff neu zu vermessen. Wem gehört was? Was darf, was muss sogar Besitz sein? Sind Wörter wie Weltkulturerbe oder Weltnaturerbe angesichts aktueller Ausbeutung nicht reiner Kitsch, Bigotterie des Kapitals? Wobei das rote Kapital in China sich nicht anders aufführt als das klassisch kapitalistische im Westen, es scheint sich sogar cleverer beim Ausbeuten anzustellen. Was findet sich bei den Vordenkern der subsidiären Wirtschaft, der kleinen Einheiten zu dem Thema? Gibt es chinesische Anarchisten?

Nicht alle Albumblätter werden Antworten geben, aber vielleicht Fragen stellen, über die Menschen im Lauf der Jahrhunderte immer wieder gestolpert sind. Man hat dann große und erhabene Begriffe über die unbeantworteten Fragen geklebt, wie Pflaster. Meistens handelte es sich um Glücksversprechen fürs Jenseits, das funktioniert in nicht unwesentlichen Teilen der Erde immer noch. Oder Pflichterfüllung. Oder Gehorsam. Aber auch das Glück im Libertären birgt Gefahren, und die kleine Einheit verhindert vielleicht auch vernünftige und hilfreiche Entwicklungen und Entdeckungen. Viele Fragen also, und man merkt den meisten davon nicht an, dass sie schon Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte unbeantwortet durch die Welt schwirren, seien es nun ruhige oder unruhige Zeiten. Die Fragen bleiben erstaunlich ähnlich. Deswegen gibt es in regelmäßigen Abständen ganze Fluten von Ratgeberbüchern, wie man das Leben leben soll, und zwar gut, richtig, bewusst, achtsam, ökologisch und sonst wie. Freiheit ist offenbar kein Ziel, das Ratgeber interessiert. Tausend Wege zur Schlankheit, kaum einer zur Freiheit, so sieht’s aus. Es hilft überhaupt nichts, sich darüber zu beklagen.

Vor einiger Zeit fuhren eine Freundin und ich an einem in die Jahre gekommenen Jugendzentrum vorbei. Es war schon ein Jugendzentrum gewesen, als wir noch jung waren, und nun sollte es offenbar abgerissen werden und etwas Lukrativerem Platz machen. Wunderbare anarchistische Wandmalereien und Graffiti harrten ihres Untergangs, und Ute begann zu fotografieren. Diese Bilder wurden die Keimzelle unserer besonderen Art der Kunstforschung, für die wir eine Art ansteckende Besessenheit entwickelten: Die A-Suche. Noch vor zwanzig, dreißig Jahren wäre einem das berühmte ikonische, für manche furchteinflößende Anarchisten-A oft an den Wänden, Türen und Trafohäuschen der Stadt begegnet. Heute muss man danach suchen und gerät bei der Suche tief in die verborgenen, ungeschönten Ecken der Stadt. Die sind bedroht und sie tragen ihre vielfältigen A-Inschriften mit einer Mischung aus Ängstlichkeit und Trotz. Platz in der Stadt ist ein teures Gut, und auch die verschrobensten Eckchen, in denen die kleinen Glücke wachsen können, entgehen den aufmerksamen Augen der Investoren nicht. Das Geld, sagt schon Sappho, wohnt nicht, ohne zu schaden, bei uns. Das war vor zweieinhalbtausend Jahren.

Das Geld ist ein mächtiges Abstraktum, das lautlos Lebensraum verschlingt, vor allem, wenn seine Bewohner wehrlos sind und nicht gelernt haben, groß zu denken. Groß denken kann man nur mit einem Quantum Grausamkeit. Andererseits haben so gut wie alle Annehmlichkeiten, an die wir uns gewöhnt haben, ziemlich grausame Wurzeln. So sind die unordentlichen, kleinen Stadtecken, deren Schönheit einzig ihre Bewohner und Verrückte zu entdecken vermögen, eine Art Endmoränen städtischen Lebens, so wie es vor Hunderten Jahren Bauernhöfe und Gerberbetriebe waren. Unsere A-Exkursionen erscheinen mir manchmal wie das Einsammeln von Bildern einer kurz vor ihrem Verschwinden stehenden Welt. Die vielen verschiedenen Anarchistenzeichen, manchmal zornig auf Bauzäune gesprüht, hinter denen schon wieder etwas Liebgewonnenes, meist Vergammeltes verschwindet, manchmal seit Jahrzehnten in einem Hinterhof konserviert, kommen mir vor wie Höhlenzeichnungen. Man möchte unbedingt wissen, was die Menschen, die sie hinterlassen haben, dachten, als sie sie machten.

Ein kleiner Teil davon ist hier im Album aufbewahrt. Vielleicht macht sich die eine oder der andere selber auf die Suche, nach überlebenden Orten und ihrem Zeichen. Anarchistische Spaziergänge – ungeführt, ins Ungewisse.

ANFANG

Da ist nichts zu hören, wie weit man auch in die Zeiten zurücklauscht. Kein historischer Paukenschlag, keine Explosion, keine Fanfaren. Kein Buch markiert den Anfang, weder ein heiliges noch ein weltliches, kein Moses, kein Prophet, kein Messias lässt sich ausmachen.

Der Anarchismus hat keine magna charta, auf die er sich besinnen, an der er sich ausrichten könnte. Er will immer von neuem erfunden, erprobt und nur allzu oft wieder verworfen werden. Aber er steckt in der Menschheitsgeschichte wie ein Gen, wie eine uralte Mikrobe. Kaum jemand nimmt sich seiner Erforschung an, und wenn es mal geschieht, lässt man es bald wieder bleiben. Alle paar Jahrzehnte einige wenige Veröffentlichungen, meist heroische oder weniger heroische Lebensbeschreibungen oder klassische Erklärungsbändchen in kleinen Verlagen, das war’s dann bis zu irgendeiner nächsten Epoche, in der aus sehr verschiedenen Anlässen neues Interesse an ihm aufflammt.

Er ist eingequetscht zwischen orthodoxen Linken aller Couleur, die ihn verabscheuen, und Rechten, die das natürlich auch tun. Nur glauben die Linken genau zu wissen, woher ihr Hass kommt, den Rechten ist es egal.

Immer wieder muss sich der Anarchismus neu definieren lassen, denn seine Eigenschaften sind vielgestaltig und widersprechen einander nicht selten. Macht ist nötig, um Macht zu beseitigen, zum Beispiel. Aber wie soll das gehen? Kategorische Imperative sind von ihm nicht zu bekommen, er baut keinen Weg, auf dem sich verlässlich vorangehen lässt, er gibt keinen Halt und hat kein Geländer.

Wer will so was schon? Und dann, natürlich und immer wieder, die Sache mit der Gewalt. Das A mit dem Kreis wird zugedeckt von der schwarzen Bombe mit der Lunte.

Aber: Tief in der Vergangenheit steht in einer Siedlung in der Savanne, einem Dorf in den Bergen oder einer frühen Stadt ein Mädchen oder ein Junge, dem etwas befohlen wird. Ein Vater, ein Häuptling oder ein Gott fordert etwas, und das geforderte Menschenkind fragt:

Warum?

Der Anarchismus hat Millionen von Anfängen, die meisten davon werden schnell wieder stumm gemacht, zugeschüttet, weggebetet, wegerzogen.

Eine Gruppe, wie auch immer sie beschaffen ist, macht sich den Einzelnen gefügig, weil sie sich sonst in Gefahr sieht. Das ist nur logisch: Aber warum wird seit alters so wenig Wert auf Einsicht in die Notwendigkeit bestimmten Handelns gelegt? Weil das Zeit und Nerven kostet? Weil Einsicht den Mythen aller Glaubensrichtungen schadet? Mit Hilfe von Erzählungen, Ritualen, Überlieferungen lässt sich seit jeher gut fordern, auch Sinnlosestes. Weil Befehlen den einen einfach mehr Spaß macht? Weil die anderen dem Gehorchen sogar Reize abgewinnen können, nicht nur die der Bequemlichkeit?

Es wird eine chaotische Reise werden, dem magischen A hinterher, durch Zeiten, Orte und Ereignisse, einige Menschen und Ideen werden mich dabei begleiten, manche treu, manche trügerisch. Verirren liegt in der Natur der Sache. Aber gerade auf Irrwegen finden sich schöne Überraschungen. Fantasie wird ebenso im Gepäck sein wie Recherche, Wegwerfen muss genauso gelernt werden wie Aufheben. Es gibt keine Ergebnisse und keine Sicherheit. Francis Picabias