Mein Herz hat nichts davon gewusst - Karin Bucha - E-Book

Mein Herz hat nichts davon gewusst E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Jawohl«, sagte auf der Terrasse eben Agathe Gersdorf, die Besitzerin des gleichnamigen großen Gutes, zu ihrem Neffen, »ich habe absichtlich diese Aussprache herbeigeführt. Lieber wäre es mir allerdings, auch Anita könnte meine Meinung hören. Ewig kann sie ihr sowieso nicht verborgen bleiben. Ich habe keine Lust, meine Augen zu schließen und das Bewußtsein mit in die Ewigkeit hinüberzunehmen, daß alles hier –«, sie machte eine weitausholende Bewegung über das herbstliche, von den letzten warmen Sonnenstrahlen überglänzte Land hin, »in andere Hände übergeht. Es geht nicht nur um dein und Anitas Glück, die du nun einmal über alles liebst. Es geht um die Scholle, Dietz, verstehst du denn das gar nicht?« Jeder Muskel arbeitete in Dietz Gersdorfs Gesicht. Er hatte sich abgewandt und umklammerte mit beiden Händen die Brüstung der Terrasse. »Und warum sagst du mir das ausgerechnet jetzt? Jetzt, da jeden Augenblick der Wagen vorfahren kann, um mich und Anita hinüberzubringen nach Gut Sentheim, wo wir Juttas und Norberts Kind aus der Taufe heben wollen?« Agathe Gersdorf wickelte sich fester in ihr Tuch. Sie trat einen Schritt näher. »Warum?« Ein beschwörender Klang war in ihrer Stimme, ein leises Zittern, wie von unterdrückter Erregung. »Weil eben dieses Tauffest in Sentheim dich nachdenklich stimmen, ja, dich endlich einmal einem Entschluß zutreiben soll!« Jäh drehte Gersdorf sich um. Seine Augen flammten. »Du verlangst von mir, daß ich mich von der Frau trenne, die ich mehr liebe als mich selbst?!

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Karin Bucha Classic – 16 –

Mein Herz hat nichts davon gewusst

Karin Bucha

»Jawohl«, sagte auf der Terrasse eben Agathe Gersdorf, die Besitzerin des gleichnamigen großen Gutes, zu ihrem Neffen, »ich habe absichtlich diese Aussprache herbeigeführt. Lieber wäre es mir allerdings, auch Anita könnte meine Meinung hören. Ewig kann sie ihr sowieso nicht verborgen bleiben. Ich habe keine Lust, meine Augen zu schließen und das Bewußtsein mit in die Ewigkeit hinüberzunehmen, daß alles hier –«, sie machte eine weitausholende Bewegung über das herbstliche, von den letzten warmen Sonnenstrahlen überglänzte Land hin, »in andere Hände übergeht.

Es geht nicht nur um dein und Anitas Glück, die du nun einmal über alles liebst. Es geht um die Scholle, Dietz, verstehst du denn das gar nicht?«

Jeder Muskel arbeitete in Dietz Gersdorfs Gesicht. Er hatte sich abgewandt und umklammerte mit beiden Händen die Brüstung der Terrasse.

»Und warum sagst du mir das ausgerechnet jetzt? Jetzt, da jeden Augenblick der Wagen vorfahren kann, um mich und Anita hinüberzubringen nach Gut Sentheim, wo wir Juttas und Norberts Kind aus der Taufe heben wollen?«

Agathe Gersdorf wickelte sich fester in ihr Tuch. Sie trat einen Schritt näher.

»Warum?« Ein beschwörender Klang war in ihrer Stimme, ein leises Zittern, wie von unterdrückter Erregung. »Weil eben dieses Tauffest in Sentheim dich nachdenklich stimmen, ja, dich endlich einmal einem Entschluß zutreiben soll!«

Jäh drehte Gersdorf sich um. Seine Augen flammten.

»Du verlangst von mir, daß ich mich von der Frau trenne, die ich mehr liebe als mich selbst?! Daß ich mich deshalb von ihr trennen soll, weil sie mir nicht den erwünschten Erben schenken kann? Das verlangst du wirklich?«

»Ja!«

Hart, rücksichtslos fordernd war dieses Wort. Es hing wie ein Verhängnis in der Luft.

Unsagbare Qual prägte sich in Gersdorfs Zügen aus. Er stöhnte tief auf.

»Dietz!« Agathe Gersdorf legte die Hand auf seinen Arm.

»Du bist hart und grausam zu mir und zu Anita!« stieß er hervor.

»Nicht hart, Dietz«, wehrte sie mit leichtem Kopfschütteln ab. Ihre Stimme war jetzt voller Güte. »Besorgt um dich und dein Schicksal bin ich, mein Junge!«

Lastendes Schweigen herrschte zwischen den beiden Menschen, ein Schweigen, in dem große Erregung auf beiden Seiten schwang.

Die schlanke, hochgewachsene Frau, die reglos nahe der Flügeltür lehnte, vom Vorhang halb verborgen, ließ den Kopf tief auf die Brust herabsinken.

Nicht ein Wort der Unterhaltung war ihr entgangen. Wie Dolchstöße hatten sie ihr Herz durchdrungen. Nun schlug es müde und matt in der Brust. Die Freude auf das bevorstehende Tauffest, die es hatte höher schlagen lassen, war daraus verschwunden.

Trennung! Trennung von Dietz – von Gersdorf, von allem, was sie mit leidenschaftlichem Herzen liebte?

Die Stimme, die ihr erbarmungslos in den Ohren klang, weil sie über ihr Glück, über ihre Liebe herfiel, klang von neuem auf.

»Du würdest dein persönliches Glück einem zukünftigen blühenden Geschlecht auf Gut Gersdorf zum Opfer bringen. Was zählt schon das Glück eines Einzelnen, wenn es gilt, Zukunftswerte zu schaffen?

Anita spricht von ihrer übergroßen Liebe zu dir? Ich glaube einfach nicht an diese große Liebe! Eine Liebe, die nicht einmal ein Opfer zu bringen imstande ist?«

Das harte, rauhe Auflachen Dietz’ übertönte Anita Gersdorfs schmerzvolles Stöhnen.

»Ich will es dir sagen, Dietz«, sprach Agathe Gersdorf hastig weiter, da sie fühlte, daß ihre eindringliche Mahnung heute endlich auf fruchtbaren Boden fiel, »Anita steht deinem Glück im Wege!«

»Tante!« Langsam hob Dietz das Gesicht. Etwas Gehetztes lag auf seinen Zügen.

Anita konnte dem geliebten Mann von ihrem Versteck aus mitten hinein in die verdunkelten Augen schauen. Sie sah, wie er litt. Ein Zittern lief über ihren schlanken Körper. Sie lauschte mit angehaltenem Atem.

»Trennung?« wiederholte er, als habe er selbst diesen Gedanken schon öfter erwogen. Dann aber schüttelte er den Kopf. »Was wäre damit schon für mich, für Gersdorf gewonnen? Ich würde so oder so an meiner Liebe zu Anita zugrunde gehen!«

Vor diesen Worten floh Anita. Sie hetzte mit tränenblinden Augen davon, an dem Diener Joseph vorbei, der eben das Terrassenzimmer betrat, um den Herrschaften das Vorfahren des Wagens zu melden. Er sah kopfschüttelnd der jungen Herrin nach, bis sich die Tür hinter ihrer lichten Gestalt geschlossen hatte.

In dem Giebelstübchen, wohin Anita Gersdorf geflohen war, lag sie vor einer leeren, reichgeschnitzten Wiege auf den Knien und hielt sie mit beiden Händen umklammert.

»Mein Gott – hilf mir!« stammelte sie und rang verzweifelt die Hände.

Ein Wort hing wie ein Schwert in der Luft, das jeden Augenblick auf sie herabfallen konnte: Trennung!

»Ich kann nicht«, wimmerte sie verzagt. »Ich liebe Dietz über alles – ich liebe Gersdorf! Jeder Stein, jeder Strauch, jedes Stückchen Land, das zu Gersdorf gehört, ist ein Stück von mir. Und das soll ich aufgeben?«

Aber soviel sie sich auch wehrte, Dietz’ Worte drangen erneut auf sie ein: »Ich würde so oder so an meiner Liebe zu Anita zugrunde gehen!«

Trennung! hämmerte es in ihren Schläfen. Trennung! gellte es ihr in den Ohren.

Man zweifelte ihre Liebe an? Sie sollte nicht fähig sein, dieser Liebe ein Opfer zu bringen?!

Aus leeren Augen schaute sie hin-über zu der Wiege, in der alle Gersdorfs geschlummert hatten, und die sie wie ein gähnender Abgrund anmutete, bereit, sie und ihr Glück zu verschlingen.

Nun gut! Sie war entschlossen, das größte Opfer zu bringen! Noch ein paar armselige Stunden wollte sie die Nähe des geliebten Mannes atmen, seine Liebe, seine Fürsorge spüren, dann wollte sie aus seinem Leben verschwinden. Sie schleppte die müden Glieder vorwärts, drückte behutsam die Tür des Giebelstübchens hinter sich ins Schloß und suchte ihr Schlafzimmer auf.

Gerade als sie mit dem Umkleiden fertig war, trat Dietz Gersdorf bei ihr ein.

Im Spiegel sah sie ihn näher kommen. Das Gesicht tiefernst, um den Mund ein Lächeln, von dem sein Herz nichts wußte.

Sie mußte die Lippen ganz fest zusammenpressen, um sich nicht an seine Brust zu werfen und ihn zu bitten: ›Verlaß mich nicht, Dietz, ich kann nicht leben ohne dich!‹

»Du bist noch nicht bereit, Anita?«

Er zog sie zu sich und erschrak vor der tiefen Blässe ihres Gesichtes, in dem die Augen groß und fiebrig standen.

»Der Wagen ist schon vorgefahren.«

Sie löste sich von ihm und raffte mit einer nervösen Bewegung das Abendtäschchen und den Mantel vom Stuhl.

»Verzeih, ich habe mich etwas verspätet.«

Er ließ einen verwunderten Blick über ihr schlichtes Kleid gleiten.

»Und nicht ein bißchen festlich

siehst du aus!« sagte er mit leisem Vorwurf.

Sie sah zu ihm auf. Ihr Mund zuckte leicht.

»Mir ist so wenig festlich zumute, Dietz –«

Tränen schossen in ihre Augen. Der Gedanke, daß das ein Abschied von Gersdorf war, daß sie niemals wieder mit hierher zurückkehren würde, nahm ihr vorübergehend die mühsam aufrechterhaltene Fassung.

Und nun warf sie sich wirklich an seine Brust, barg den Kopf mit dem leuchtend braunen Haar an seinem Herzen.

»Ach, Dietz – warum können wir nicht unser Kind aus der Taufe heben? Warum hat Gott uns Kindersegen versagt?«

Fest drückte er die schlanke Frau an sein wildpochendes Herz.

Alles war heute so schmerzlich, so über alle Maßen aufreibend und unerträglich. Alles mußte ihn an seinen heimlichen Kummer erinnern.

»Komm, Anita – der Wagen wartet«, sagte er rauh.

Betroffen löste sie die schlanken Arme von seinem Hals. Schlaff fielen sie zur Seite.

Er tröstete sie nicht? Warum gab er ihr kein einziges liebes Wort, gerade jetzt nicht, da sie danach hungerte?

Mit tiefgesenktem Kopf folgte sie ihm zum Wagen, ließ sich in die Decken hüllen, denn bei der Fahrt über Land war es empfindlich kalt, und außerdem würde man voraussichtlich erst spät in der Nacht zurückkommen.

Mit großen, brennenden Augen schaute sie durch das Wagenfenster zurück – zurück nach Gersdorf, das sie für immer verließ.

»Weinst du, Anita?« fragte Gersdorf.

»Nein – Dietz«, entrang es sich ihren Lippen, dann preßte sie das Gesicht fest an das Polster des Wagens.

Eine Stunde später fuhren sie die Auffahrt zu Gut Sentheim hinan, um das dritte Kind des Nachbarn aus der Taufe zu heben.

*

Der Taufakt in der schönen Dorfkirche, die zu Gut Sentheim gehörte, war vorüber.

Anita hatte sich fest auf den Arm des Gatten stützen müssen, um nicht zusammenzubrechen. Soviel Kraft kostete es sie, den Feierlichkeiten zu folgen und den Gästen ein ruhiges Gesicht zu zeigen.

Dietz Gersdorf ahnte nicht, wie scharf er von seiner Frau beobachtet worden war. Sie hatte es in seinen festen Zügen zucken und arbeiten sehen. Sie wußte, daß gerade diese feierliche Stunde den Wunsch nach eigenen Kindern wieder fordernd an die Oberfläche trieb. Offen lag die Qual in seinen hellen Augen.

Das bestärkte sie nur noch in ihrem Vorhaben. Ja, sie war bereit, das große Opfer zu bringen. Sie wollte gehen, wollte aus seinem Leben verschwinden.

Wohin? Ach, das war ja so gleichgültig. Irgendwo würde sie sich mit ihrem grenzenlosen Jammer wohl verkriechen können.

Nun war auch das vorüber, und das helle, luftige Herrenhaus von Gut Sentheim war voll fröhlicher, lachender Menschen.

Nur Anita Gersdorf floh aus diesen Trubel. Sie schlich sich in das Kinderzimmer, wo Helga, der Täufling, schon wieder in ihrem Bettchen mit dem duftigen, zartfarbenen Vorhang ruhte.

Klein-Helga schlief jetzt, die rosigen Fäustchen an die Wangen gepreßt, ihren sorglosen, wohlbehüteten Kinderschlaf.

Anita beugte sich über das Kind, um es ganz nahe betrachten zu können.

Erst als eine Träne auf die reine Kinderstirn perlte und der kleine Mund sich unruhig zu verziehen begann, verließ sie fluchtartig das Kinderzimmer.

Draußen lehnte sie ein paar Minuten nach Fassung ringend an der Wand. Ihr Blick traf den Spiegel, der ihr erschreckend bleiches Bild unbarmherzig zurückwarf.

»Anita!«

Die junge Frau zuckte zusammen. Jutta Sentheim, blond, schlank, eine glückstrahlende Frau und Mutter, kam rasch den Gang entlang auf die Freundin zu. Sie trug einen kleinen Koffer in der Hand.

»Dies hier ist soeben aus Gersdorf abgegeben worden«, sagte sie, noch ein wenig atemlos vom Laufen. »Aber das muß doch wohl ein Irrtum sein. Wozu brauchst du wohl diesen Koffer?«

Sie forschte in dem farblosen, verstörten Gesicht Anitas und erschrak.

»Mein Gott, Anita – bist du krank? Komm«, bat sie behutsam, als gälte es, ein krankes Kind zu trösten. »Wir wollen zu den Gästen zurückgehen.«

»Bitte«, Anita umklammerte die Hand der jungen Frau, »ich kann jetzt nicht, laß mich noch ein wenig bei deinem Kind sein, Jutta, ich bitte dich!«

Jutta nickte hastig. Ihr Herz schlug heftig und ängstlich.

Wenn doch Dietz hier wäre! Ich werde ihn suchen, dachte sie, und Anita freundlich zunickend, lief sie zurück.

Anita ergriff den Handkoffer und wankte zurück in das Kinderzimmer. Dort öffnete sie ihn, mit bebenden, eiskalten Fingern, die ihr nicht recht gehorchen wollten.

Gottlob, Anna hatte auf Anitas telefonische Anforderung hin alles Gewünschte eingepackt. Auch die Handtasche und die braune Brieftasche, in der sie ihre Papiere aufbewahrte, lagen zwischen den Kleidungsstücken.

Sie drückte den kleinen Hut mit dem Schleier auf das leuchtende, rostbraune Haar. Ihren Pelz hatte sie vorher schon heraufgetragen.

Nun hüllte sie sich in den Mantel, nahm den Koffer und schlüpfte hinaus auf den matt erleuchteten Gang.

Da kamen Schritte die Treppe herauf, wohlbekannte Schritte, die ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten.

Dietz kam!

Blitzschnell riß sie den Hut vom Haar, streifte den Mantel ab und warf alles hinter sich in das Zimmer. Dann trat sie ihm, zitternd zwar, aber mit einem Lächeln entgegen.

»Gottlob, hier finde ich dich!« Dietz Gersdorf zog seine Frau an sich, fühlte, wie sie zitterte, und schaute ihr besorgt in die weitgeöffneten, geröteten Augen. »Du hast geweint? Komm, sei einmal wenigstens mit den anderen fröhlich, Liebes –«

Schluchzend legte sie den Kopf an seine Schulter.

»Ich kann nicht, Dietz, verzeih mir. Laß mich noch ein wenig bei Klein- Helga. Ich muß erst ruhiger werden. Ich komme nach, Dietz.«

»Sei doch nicht so verzweifelt!« kam es gütig mahnend von seinen Lippen. »Sieh, Anita – ich muß es doch auch vor den anderen verbergen. Komm, Liebes, wir müssen unser Schicksal tapfer tragen.«

Sie sah mit einem unbeschreiblichen Blick zu ihm auf. Halb lächelnd, halb verzweifelt. Tränen glänzten in den samtdunklen Augen.

Bald wirst du wieder glücklich sein und lachen können, dachte sie, und es perlte heiß über ihre Wangen.

»Ich danke dir, Dietz, für alle Liebe, für alles Glück«, keuchte sie, ohne ihre Augen aus seinem verwunderten Blick zu lösen.

Der Ton ihrer Stimme ergriff ihn.

»Wie seltsam du sprichst, Liebes!«

Sie aber bat mit zitternden Lippen:

»Laß mich noch ein Viertelstünd-chen ausruhen, dafür danke ich dir.«

Er beugte sich zu ihr herab, drückte seine Lippen auf ihren Mund.

Sie legte beide Arme um seinen Hals und küßte ihn, hielt dabei die Augen geschlossen. Unter den Lidern quoll es hervor, unaufhaltsam, im wilden Trennungsschmerz.

Abschied! Abschied für immer! hämmerte es in ihr.

Dann schob sie ihn von sich.

»Geh! Dietz – geh –«

»Aber du kommst bald nach, Anita«, bat er, ernstlich besorgt, und strich ihr zärtlich über die blassen Wangen. »Sonst hole ich dich!«

»Nein, nein! Ich komme bald nach, Dietz!«

Sie sah der hohen, gestrafften Gestalt nach. Jetzt verschwand er am Ende des Ganges hinter dem Pfeiler. Schwerfällig wandte sie sich um. Unsicher war ihr Schritt, schwer das Herz, zerrissen von Schmerz.

Hastig riß sie die vorhin achtlos zu Boden geworfenen Sachen an sich, und wenige Minuten später verließ sie das Haus über die Hintertreppe. Die hell­erleuchteten Fenster standen wie glühende Augen im Dunkel der Nacht. Sie beleuchteten die dunklen Parkwege, über die eine einsame Frau der Landstraße zu eilte.

Atemlos lief Anita Gersdorf ihrem Ziel, der Bahnstation, zu.

Ehe man ihre Flucht bemerkte, mußte sie bereits den Nachtzug erreicht haben. Dann war genügend Vorsprung gewonnen und die Gefahr, von Dietz eingeholt und zurückgebracht zu werden, beseitigt.

Hatte sie erst die Umsteigestation der Kleinbahn hinter sich und den D-Zug nach Berlin erreicht, dann war sie in Sicherheit und ihre Flucht gelungen.

*

Während Anita Gersdorf, bis ins Innerste aufgewühlt von unsagbarem Schmerz, zum Bahnhof eilte, um so schnell wie möglich aus der Nähe des geliebten Mannes zu fliehen, spielte sich in einem Zimmer des nahen Bahnhofshotels eine aufregende Szene ab.

Dort saß Iwan Baronow mit kühlem, unbewegtem, fast gelangweiltem Gesicht in einem bequemen Sessel und ließ die leidenschaftliche Anklage einer maßlos erbitterten Frau über sich ergehen.

Den schlanken Körper vornübergebeugt, stand sie vor ihm, begleitete ihre Worte mit lebhaften Handbewegungen.

»Ich kann einfach nicht mehr, Iwan. Von einer Reise zur anderen hast du mir versprochen, daß es die letzte sei, und immer habe ich dir geglaubt, habe mich an deine Worte geklammert. Nun mußt du mir endlich einmal beweisen, daß es dir ernst war mit deinen Versprechungen.

Was weißt du, wie es in mir aussieht? Hast du ein einziges Mal danach gefragt, wie sehr meine Nerven beansprucht werden? Du hetzt mich von einem Abenteuer ins andere – und wofür, frage ich dich! Wofür?

Entweder wir trennen uns und du suchst dir eine jüngere Mitarbeiterin oder aber du läßt ab von den gefährlichen Reisen, und wir bauen uns von dem, was wir haben, ein neues Leben auf.«

Immer leiser, immer bittender war ihre Rede geworden.

Als sie nun verstummte, sah er gelassen zu ihr auf.

»Bist du fertig?«

Ihre Augen, die groß und dunkel das schmale Gesicht beherrschten, wurden weit und starr.

»Mehr hast du mir nicht zu sagen?« kam es entsetzt über ihre Lippen.

»Jetzt nicht, Karin, weil es zwecklos wäre. Diese Reise müssen wir noch machen. Es soll wirklich die letzte sein.«

Der lackrote, schöngeschwungene Mund Karin Schratts verzog sich in Bitterkeit.

Mutlos drehte sie sich um, sagte vom Fenster her:

»Das hast du schon so oft zu mir gesagt, daß ich nicht mehr daran glauben kann.«

Baronow stand auf, trat hinter die in Gedanken versunkene Frau. Er war hochgewachsen und schlank, trug das dunkle Haar schlicht aus der hohen Stirn gekämmt und hatte Augen von unbestimmter Farbe.

Seine Stimme war wohlklingend, ja, sie konnte faszinierend wirken, wenn er ein bestimmtes Ziel erreichen wollte.

Er legte die schlanken, ein wenig nervösen Hände um die Schultern Karin Schratts.

»Wirklich die letzte Reise, Karin, dann will ich dir zuliebe auf das Abenteuerleben verzichten. Es ist mir ernst damit.«

Auch diesmal verfehlte die schmeichelnde Stimme ihre Wirkung auf die Frau nicht. Sie lehnte den Kopf mit dem reichen, braunglänzenden Haar gegen seine Schulter und lächelte unter Tränen zu ihm auf.

»Und wenn diese letzte Reise schiefgeht?«

Unmutig runzelte er die Stirn.

»Sie wird nicht schiefgehen, Karin. Du hast augenblicklich die Nerven verloren und siehst überall Gespenster. Reiß dich doch dieses eine Mal noch zusammen! Ich bitte dich darum!«

Sie sah an ihm vorbei in eine unbestimmte Ferne.

»Gut! Es soll sein. Ich bin bereit, aber mein Entschluß ist unabänderlich. Die letzte Reise, Iwan!«

Er atmete auf, heimlich und erlöst, und zog die schöne Frau an den Tisch zurück, um mit leiser Stimme seine Instruktionen zu erteilen.

Aufmerksam lauschte sie seinen Ausführungen, ohne ihn zu unterbre-

chen. Es war ja immer dieselbe Angelegenheit, nur die Empfänger wechselten.

Eine Stunde später verließ das Paar getrennt das Hotel. Auch auf dem Bahnhof grüßten sie sich nur verstohlen mit den Augen, dann bestiegen sie getrennt den D-Zug nach Berlin.

Baronow hatte sein Gepäck verstaut und schlenderte durch den fahrenden Zug. In einem Abteil zweiter Klasse entdeckte er Karin Schratt.

Sie blickte über den Rand der Zeitung hinweg zu ihm hin, grüßte ihn mit mattem Lächeln und kaum merklichem Neigen des schönen Kopfes.

Er aber sah über sie hinweg, er sah nur auf die schöne, zarte Frau, die neben Karin in der Ecke lehnte. Die schmalen Hände hielt sie im Schoß gefaltet, und ihre großen, samtdunklen Augen blickten an ihm vorbei ins Leere.

Er sah die Ähnlichkeit mit Karin Schratt, die er einst sehr geliebt hatte. So hatte Karin ausgeschaut, als er sie kennengelernt und sie noch blutjung gewesen war. Sie war auch heute noch nicht alt, aber das ausschweifende, ruhelose Leben, die Abenteuer, hatten ihrem einst so jugendlichen Gesicht den Stempel aufgedrückt.

Anita Gersdorf fühlte den heißen, werbenden Blick des Mannes und begegnete seinen Augen. Heftiger Unwille stieg in ihr empor. Sie senkte die Lider und drückte sich fester in die Ecke.

Karin Schratt fing diesen heißen Blick aus Iwan Baronows Augen auf und erzitterte. Sie streifte ihre Nachbarin mit einem abwägenden Blick, sah die Lieblichkeit und Schönheit der Fremden, und Angst, peinigende Angst kroch an sie heran.

War Iwan ihrer überdrüssig? War es ihm überhaupt nicht ernst mit seinem Versprechen? War sie ihm noch Mitarbeiterin? Sein Werkzeug und nichts sonst?

Ein Zittern lief über ihren Körper. Sie riß ihre Handtasche an sich und wühlte mit bebenden Fingern darin herum.

Was war nur mit ihr? Warum ließ sie ihr Leben bis zur Stunde zu bunten, erregenden Bildern an sich vorüberziehen? War sie dieses Lebens, überhaupt des Lebens, so sehr überdrüssig, daß sie auf einmal mit dem Gedanken zu spielen begann, es wegzuwerfen?

Der D-Zug raste durch die Nacht, polterte über die Geleise und Weichen und warf eine der Handtaschen der beiden Frauen vom Sitz.

Karin Schratt bemerkte es nicht. Offenbar war sie eingeschlafen.

Anita Gersdorf bückte sich, erkannte ihre eigene Handtasche und hob sie vom Boden auf.

Im selben Augenblick erschien das Gesicht des interessanten, aber aufdringlichen Fremden wieder am Abteilfenster.

Sie klemmte die Tasche unter den Arm und stieß die Schiebetür auf. Ehrerbietig trat der Fremde zurück und ließ Anita an sich vorübergehen, die mit unsicheren, tastenden Schritten den Speisewagen aufsuchte. Hier glaubte sie vor dem Mitreisenden sicher zu sein.

Erschöpft ließ sie sich an einem Tisch nieder und bestellte sich eine Tasse Kaffee.

Da ging abermals die Tür. Iwan Baronow trat ein. Um seinen Mund lag ein belustigtes Lächeln. Er steuerte direkt auf Anitas Tisch zu.

»Gestatten Sie, gnädige Frau?«

Angewidert drehte Anita den Kopf zur Seite und sagte kühl:

»Bitte!«

*

Karin Schratt schreckte empor.

Der Platz neben ihr war leer. Wo war die schöne Frau hingekommen? Wo war Iwan?

Sie raffte ihre Handtasche mit der kostbaren Beute vom Sitz und verharrte wie gelähmt in aufrechter Haltung.

Da – war da nicht ein Gesicht am Abteilfenster erschienen? Ein fremdes und doch irgendwie bekanntes Gesicht?

Polizei! durchschoß es sie schreckhaft.

Sie starrte aus weitgeöffneten Augen auf das Fenster, wartete, aber das Gesicht blieb verschwunden.

War es nur eine Vision gewesen?

Sie zwang sich zur Ruhe, erhob sich und trat auf den Gang hinaus. Dun-

kelheit lag drohend vor den Fenstern, die Nacht mit ihren tausend Geheimnissen und quälenden Gewissensbissen.

Sie lehnte mit fliegendem Puls an der Tür und wagte erst sich umzusehen, als sie etwas ruhiger geworden war.

Dort lehnte er, der Unbekannte, bei dessen Anblick ihr das Blut in den Adern zu stocken schien.

Blitzschnell hetzten die Gedanken hinter ihrer Stirn. Sie sah ihre Reise nicht mehr in einem ruhigen und harmonischen Zusammenleben mit Iwan, den sie liebte, sondern in Gefangenschaft enden.

Vergitterte Fenster stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, eine unendliche graue Mauer, eine enge, düstere Zelle.

Jetzt kam Bewegung in die Männergestalt.

Fort – nur fort! Lieber den Tod erleiden, als lebendig hinter Gefängnismauern begraben sein!

Sie sprang vorwärts, klinkte die Tür auf, warf sich verzweifelt dagegen und schwang sich mit einem gellenden Aufschrei vom Trittbrett.

Ehe der Fremde, der nichts als ein harmloser Mitreisender war, herbeispringen und das verzweifelte Weib zurückreißen konnte, war es schon im Dunkel der Nacht verschwunden. Hart schlug die Tür gegen die Wagenwand.

Sekundenlang war er wie gelähmt vor Schreck und Entsetzen. Dann fuhr seine Hand empor und zog mit aller Kraft die Notbremse.

Anita Gersdorfs blasses Gesicht bekam langsam Farbe. Sie hätte aufspringen und vor den abtastenden Blicken des Mannes, der rauchend ihr gegen-über lehnte, davonlaufen mögen.

Jetzt kam der Kellner, brachte ihr den Kaffee. Auch der Fremde gab seine Bestellung auf.

Solange sie sich mit dem Unbekannten nicht allein wußte, verlor sich ihre Furcht.

Schluck um Schluck nahm sie von dem heißen Getränk und fühlte dabei, wie sich die Wärme ihrem Körper wohltuend mitzuteilen begann. Sie atmete tief und erregt.

Der Fremde unterhielt sich mit dem Kellner in höflicher und weltmännischer Weise. Die Stimme klingt gut, dachte sie wie zu ihrer eigenen Beruhigung.

»Ich möchte zahlen«, unterbrach sie das Gespräch der Männer.

Sofort wandte der Kellner sich ihr zu.

»Verzeihung«, lächelte er. »Ich dachte, die Herrschaften gehören zusammen.«

»Wieviel?« fragte Anita kühl und zerrte an dem Schloß der Tasche, die durchaus nicht aufgehen wollte.

Merkwürdig! Sie ließ sich doch sonst so leicht öffnen?

Lächelnd sah Iwan Baronow auf die zarten, zitternden Finger der schönen Frau.

Jetzt hatte sie die Tasche endlich geöffnet.

Der Ausdruck seines Gesichtes veränderte sich, wurde blaß und gespannt.

Was sich dort in den Händen der Frau befand, war doch Karins rotes Zigarettenetui?!

Ratlos, entsetzt schaute Anita in die Handtasche, auf das fremde Lederetui. Wie kam das zu ihr?