Mein Herz ist vom Umtausch ausgeschlossen - Sophia Money-Coutts - E-Book
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Mein Herz ist vom Umtausch ausgeschlossen E-Book

Sophia Money-Coutts

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Beschreibung

Eine Second Chance Romance zum Dahinschmelzen, eine RomCom voller Überrschungen

Was ist, wenn die erste große Liebe zweimal in dein Leben platzt?

Nell ist mit ihrem Leben absolut zufrieden. Oder zumindest sagt sie sich das so. Sie ist froh um ihren Job als erfolgreiche Scheidungsanwältin, auch wenn sie sich tagtäglich mit superreichen und ziemlich exzentrischen Klienten herumschlagen muss. Und sie mag ihre Wohnung in London, wo sie mit ihrem netten (wenn auch ein bisschen langweiligen) Freund Gus lebt – mit dem sie einmal die Woche ganz vernünftigen Sex hat. OK, manchmal auch zweimal die Woche. Nell ist definitiv nicht im Alltagstrott gefangen!

Doch als sie durch einen Zufall Arthur wiedersieht, den adligen Sohn eines Lords und ihre allererste große Liebe, die ihr vor fünfzehn Jahren das Herz brach, da geht in Nells Leben plötzlich alles drunter und drüber. Ein lang vergessenes Kribbeln macht sich in ihrer Bauchgegend breit, und was vorher so perfekt schien, scheint jetzt nicht mehr ganz so perfekt. Hat sie sich die ganzen Jahre über etwas vorgemacht? Und kann man seine erste Liebe überhaupt jemals vergessen?

»Superlustig, superclever und mit ganz viel Herz!« Lia Louis

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Seitenzahl: 567

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Sophia Money-Coutts ist Tochter eines englischen Barons. Ihre Familie führt die Privatbank »Coutts« – wo unter anderem die Queen ihr Geld anlegte. Sophia ist erfahrene Royal- und Promi-Redakteurin: Sie arbeitete für den Evening Standard und die Daily Mail und lebte zwei Jahre lang in Abu Dhabi. Heute schreibt sie freiberuflich und ist auch in Deutschland als Expertin für Adelsthemen gefragt – so gab sie Stern und Gala Interviews zum Megxit. Nach Die große Liebe kann mich mal ist dies ihr neuer Roman in deutscher Sprache.

Sophia Money-Coutts in der Presse:

»Witzig und prickelnd – das perfekte Buch zum Wegträumen!«The Sun

»Sophia Money-Coutts ist die neue Königin der RomCom.«Evening Standard

»Glückshormone in Buchform.«RED

Außerdem von Sophia Money-Coutts lieferbar:

Kann ich jetzt bitte mein Herz zurückhaben? Roman

Darf ich dich jetzt behalten? Roman

Die große Liebe kann mich mal. Roman

Sophia Money-Coutts

Mein Herz ist vom Umtausch ausgeschlossen

Roman

Aus dem Englischen von Ivana Marinović

Die Originalausgabe erschien 2021

unter dem Titel Did You Miss Me?

bei HarperCollins, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2021 der Originalausgabe by Sophia Money-Coutts

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

Umschlaggestaltung: Bürosüd

Umschlagabbildung: www.buerosued.de

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29593-6V001

www.penguin-verlag.de

Ich möchte ja nicht wie Abba klingen, aber das ist für alle, die es gewagt haben: Take a Chance on Love!

1

Um genau 06:10 Uhr klingelte wie jeden Morgen mein Wecker.

Handy! Wo war das Handy?

Meine Hand tastete den Nachttisch ab, während Gus mich unter der Bettdecke zu sich zog und dabei irgendetwas murmelte.

»Hä?«

»Endlich Freitag«, präzisierte er, während seine Finger meinen Bauch hinauffuhren.

Nachdem ich den Wecker zum Schweigen gebracht hatte, ließ ich mich auf das Kissen zurückfallen, denn ich wusste genau, was nun kommen würde. Sex – den hatten Gus und ich jeden Freitagmorgen vor der Arbeit. Schnellen, effizienten Sex, bei dem wir dem säuerlichen Atem des anderen geschickt auswichen, indem wir jeweils in die Schulter des anderen keuchten.

Samstagmorgens gingen wir in die Reinigung und besorgten uns Croissants in der französischen Bäckerei.

Sonntagmorgens kauften wir uns eine Sunday Times am Kiosk, aßen Eier auf Sauerteig (Gus) und Eier mit Avocado (ich) in dem schicken Café gegenüber der französischen Bäckerei, bevor wir erneut bei der Reinigung vorbeigingen, um die Klamotten abzuholen, die wir dort am Vortag abgegeben hatten.

Und freitagmorgens gab es eben immer Sex.

»Das ist doch eine schöne Einstimmung aufs Wochenende, Nell«, hatte Gus einmal gemeint, als er mit einem zufriedenen Seufzer von mir heruntergerollt war, ganz so, als handle es sich bei unserem Sexleben um eine Spotify-Playliste.

Und so wanderten auch an diesem Morgen seine Finger, verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk, meine Rippen empor.

»Guten Morgen, Mr. Nippel«, sagte er und rollte meine linke Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her wie ein Kind eine Murmel.

Nach einer halben Minute verlegte er seine Hand auf meine rechte Brust. »Und natürlich Mrs. Nippel«, fügte er hinzu, bevor er weitere dreißig Sekunden dort verweilte.

Ich vermute mal, dass es eben dieses präzise Timing war, das Gus auch zu einem so hervorragenden Hobbykoch machte.

Zufrieden damit, dass er beide Brustwarzen mit der gebührenden Aufmerksamkeit bedacht hatte, ließ er seine Hand zwischen meine Beine gleiten und fuhrwerkte dort mit der gleichen Energie herum, die er auch an den Tag legte, wenn er in seiner Sockenschublade kramte: konzentriert und hochentschlossen.

»Ist gut«, flüsterte ich, nachdem ich eine weitere Minute angestrengt zur Decke gestarrt und mich dabei gefragt hatte, welche Bluse ich fürs Büro in den Rucksack packen sollte. Ich griff nach seiner Hand, um sie wieder hochzuziehen. Meine Wahl war auf die weiße von Sandro gefallen.

Es war nicht so, dass mir Sex mit Gus nicht gefiel. Ich genoss es – vor allem am Anfang unserer Beziehung. Wegen ihm hatte ich schließlich erst kapiert, warum alle so einen Wirbel darum veranstalteten. Aber nach elf Jahren Beziehung gab es eben jene Art von Sex, um den man so einen Wirbel machte, und die Art von Sex, die man an einem Freitagmorgen vor der Arbeit hatte.

Und das, was sich da gerade abspielte, gehörte nun mal definitiv zur letzteren Kategorie.

»Oh. Sicher?«

Ich nickte.

Unbeirrt wälzte Gus sich auf mich drauf und ließ im Dämmerlicht unseres Schlafzimmers seine Augenbrauen verführerisch wackeln. »Gute Morgen, mein kleines doudou.«

Doudou war französisch für Kuscheltier. Ich hatte zwar schon früher Diskussionen mit Gus wegen seiner eigentümlichen Kosenamen geführt, aber er hatte nie Konsequenzen daraus gezogen. Er benutzte sie gern, um mich daran zu erinnern, dass er in Cambridge auch Französisch studiert hatte.

Verschlafen erwiderte ich sein Lächeln, woraufhin er mit einem Stöhnen in mich hineinstieß, bevor er den Kopf auf mein Schlüsselbein fallen ließ und murmelte: »Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass heute Abend der Klempner kommt.«

»Um wie viel Uuuuuhr?« Ich schnaufte wie ein Akkordeon, und meine Stimme war ganz heiser, auch wenn das nicht an der prickelnden Erotik lag, sondern vielmehr an dem Gewicht seines Oberkörpers, das meine Lungenflügel zusammenpresste.

Vor ein paar Wochen hatte sich, direkt unterhalb der Duschwanne, ein feuchtes Quadrat an der Küchendecke gebildet, und Gus hatte darauf bestanden, sich selbst darum zu kümmern.

»Es ist definitiv die Duschwanne, die hat ein Leck«, hatte er stolz verkündet, nachdem er, begleitet von der Geräuschkulisse umkippender Duschgel- und Shampooflaschen, eine halbe Stunde im Bad verbracht hatte.

Gus war der kultivierteste Mann, den ich je kennengelernt hatte: Er hegte eine ausgeprägte Vorliebe für italienische Filme sowie französische Weine und verbrachte seine Wochentage in der Kanzlei damit, sich für irgendwelche IT-Giganten durch komplizierte Regulierungsvereinbarungen zu kämpfen. Nur handwerklich war er nicht besonders begabt. Vor ein paar Jahren hatte er, bei dem Versuch, ein IKEA-Bücherregal aufzubauen, das wir gekauft hatten, um seine wachsende Sammlung historischer Biografien unterzubringen, einen Schraubschlüssel mit einem Hammer verwechselt.

»Er meinte, gegen sieben«, keuchte er zwischen den Stößen.

»Ich komm wahrscheinlich später, hab einen Termin mit einer neuen Mandaaaantin«, schnaufte ich erneut, als mir die Luft aus der Brust gepresst wurde.

»Kein … Problem … ich … kann … hier … sein.«

»Danke«, ächzte ich und fuhr mit meinen Fingernägeln seinen Rücken auf und ab.

Seine Stöße nahmen an Tempo zu, und er stöhnte in das Kissen, auf dem mein Kopf lag. »Hast … du … für … Morgen … Mittag … im … Restaurant … reserviert?«

»Der Laden in Chiswick? Hm … autsch, Gus!«

Er stützte sich mittlerweile mit der Hand an der Wand hinter mir ab und ein paar Strähnen meines Haars hatten sich zwischen seinen Fingern verfangen.

Morgen waren wir mit Hector und Harriet zum Mittagessen verabredet, zwei von Gus’ Studienfreunden aus Cambridge, die gerade erst ein Baby namens Homer bekommen hatten. Als Gus mir in einer E-Mail davon erzählt hatte, schickte ich ihm ein GIF von Homer Simpson zurück, woraufhin er mich in ernstem Ton darüber aufklärte, dass der Name eine Hommage an den griechischen Dichter der Antike sei. Als ob ich das nicht wüsste; Hector und Harriet würden sich nie im Leben auch nur eine Folge der Simpsons anschauen. Sie waren eins dieser Pärchen, die selbstgefällig damit prahlten, keinen Fernseher zu besitzen, so als würden sie sich jeden Abend gemeinsam hinsetzen, um in der Ilias zu blättern.

»Gleich … hab ich’s«, keuchte Gus über meine Schulter hinweg.

Ich ließ meine Finger zu seinem Hintern hinabrutschen und zog ihn tiefer in mich hinein. Das sollte helfen.

»Ooooh«, schnaufte er und legte noch einen Zahn zu; sein Hintern hüpfte wie auf einer Sprungstange rein und raus, rein und raus. »Hab’s gleich … hab’s gleich … bin gleich … da.«

Ich wusste schon, was klappen würde: Ich krümmte die Finger, sodass meine Nägel sich in seine Pobacken gruben.

»Und … GESCHAAAAAAAAAAFFT!«, brüllte Gus, wodurch ich seinen heißen Atem an meinem Hals spürte. Er erstarrte über mir und brach dann, mit dem Gesicht voran, im Kissen zusammen.

Ich drehte den Kopf, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. 6:19 Uhr. Perfekt. Um sieben würde ich im Büro sein.

Ich joggte immer zur Arbeit und hatte dabei einen Rucksack mit fein säuberlich zusammengerollter Kleidung umgeschnallt. Von unserer Wohnung in Clapham führte mich mein Weg zum Vauxhall-Kreisverkehr hoch, dann am Südufer der Themse entlang und über die Waterloo Bridge.

Von dort hatte ich meinen liebsten Ausblick auf die Stadt: zu meiner Rechten ging (an schönen Tagen) die strahlende Sonne über der St. Paul’s Cathedral auf; zu meiner Linken war der Westminster Palace zu sehen. Dann lief ich geradeaus die breite vierspurige Kingsway hoch, auf der die Busse auf und ab donnerten und hinter der sich ein ruhigerer, gut versteckter Platz verbarg. Diesen Platz, eine etwas ramponierte Grünfläche, auf der Tauben unter den Bänken nach heruntergefallenen Krümeln pickten, konnte ich von meinem Büro aus sehen. Die Wegstrecke betrug exakt fünf Meilen, nahm vierzig Minuten in Anspruch, und ich lief sie jeden Tag – egal zu welcher Jahreszeit.

Das Laufen hatte ich für mich entdeckt, als ich damals meine Stelle als Rechtsreferendarin antrat. Die Arbeitszeiten waren völlig irre, und ich benötigte tagsüber dringend frische Luft, ohne mich dafür zu lange von meinem Schreibtisch zu entfernen. Da ich keine Zeit fürs Fitnessstudio hatte, beschloss ich, morgens zur Arbeit zu joggen – es kam fast schon einer Art Meditation gleich.

Zuerst war es mir peinlich, plattfüßig und plump den Bürgersteig entlangzutraben, während die Tasche auf meinem Rücken schwer hin- und herschwang. Doch bald schon wurde ich besser, schneller; ich legte mir eine vernünftige Ausrüstung zu und schnallte meinen neuen Rucksack um den Bauch herum fest. Ich wurde zu einer Läuferin, die sich gewieft zwischen Pendlern und Touristen hindurchschlängelte, mal den Bürgersteig betrat, dann wieder verließ und dabei im Geiste die Ampeln bedrängte, doch bitte auf Grün zu schalten, damit ich nicht unnötig stehen bleiben musste. Meinen Kollegen gegenüber scherzte ich, dass ich wie ein Hund sei, mit dem man zu Beginn des Tages immer erst Gassi gehen musste. Was ich dabei unerwähnt ließ, war, dass durch das Joggen die Endorphine meinen gesamten Körper fluteten. Ohne sie wäre ich wohl kaum dazu in der Lage, es den ganzen Tag neben Gideon im Büro auszuhalten.

Gideon Fotheringham war mein Chef; sechzigjähriger Partner in der Kanzlei Spinks, mit einem Gesicht, das von ausgiebigen Mittagsessen so rot war wie ein rohes Steak, und blondem Haar, das nie einen Kamm zu sehen bekam. Er war ein abgehalfterter Gigolo, der im vergangenen Jahr knapp über 2,1 Millionen Pfund gescheffelt hatte. Wann immer uns ein potenzieller Mandant einen Besuch abstattete, scherzte Gideon, dass er sich auf Scheidungen »außergewöhnlich gut« verstehe, weil er selbst schon zwei hinter sich gebracht hatte. Kürzlich hatte er zum dritten Mal geheiratet, eine Frau in meinem Alter namens Ophelia, die über einen einstelligen IQ verfügte und einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, sich den Kopf über Gardinenmuster für ihr Haus in den Cotswolds zu zerbrechen.

Darüber hinaus besaß Gideon auch eine Wohnung in South Kensington, die er angeblich unter der Woche nutzte, auch wenn er keineswegs immer dort übernachtete. Als ich noch Referendarin war, musste ich mehr als nur einmal morgens zu Tyrwhitt spurten, um ein frisches Hemd zu kaufen, da er die Nacht nicht zu Hause verbracht hatte. Und so hatte ich es mir angewöhnt, neue weibliche Referendare davor zu warnen, allein mit ihm in den Aufzug zu steigen oder im Vorstandszimmer zu bleiben.

Aber andererseits war Spinks & Co voller solcher Gideons. Es handelte sich um Londons älteste und traditionsreichste Anwaltskanzlei, die in einem denkmalgeschützten georgianischen Stadthaus residierte, das von außen durch schwarz lackierte Metallgeländer geschützt wurde und innen mit dicken, weichen Teppichen, schweren Mahagonitüren und Kühlschränken voller kleiner Perrier-Flaschen ausstaffiert war. Die Partner der Kanzlei waren allesamt weiße Männer in den Sechzigern, die Eton und Oxford besucht hatten; Männer, denen ab Freitagmittag ihm Vorstandszimmer Champagner serviert wurde. Doch auch wenn sie alt und traditionsbewusst waren, machte das ihre Methoden nicht zwingend ineffizient. Diese Männer waren Piranhas in Nadelstreifenanzügen, die sich auf die größtmöglichen Firmen- und Handelsfälle einschossen – und die meisten von ihnen gewannen.

An der juristischen Fakultät waren Plätze im Trainee-Programm von Spinks heiß umkämpft. Ich hatte mich nur beworben, weil Gus mir dazu geraten hatte, und sein Riecher erwies sich als richtig, als ich tatsächlich einen Platz ergatterte – sehr zu meinem Erstaunen, da ich davon ausgegangen war, dass die Kanzlei vorwiegend an den geleckten Typen aus meinem Studiengang interessiert sei, die in Barbour-Klamotten zu den Vorlesungen erschienen. Ich war bloß eine weltfremde Studentin, die in einem kalten, klammen Dorf in Northumberland aufgewachsen und vor ihrem Jurastudium noch nie in London gewesen war. Einen Vertrag mit Spinks an Land zu ziehen grenzte für mich an ein Wunder.

Nachdem ich als Referendarin drei verschiedene Abteilungen durchlaufen hatte, entschied ich mich dafür, mich im Bereich Familienrecht zu qualifizieren, da ich mit echten Menschen sowie Fällen, die das wahre Leben betrafen, arbeiten wollte, anstatt mich mit langweiligen Steuerregelungen und Klagen wegen Unternehmensbetrug rumzuschlagen, deren Klärung oft Jahre dauerte. Was wiederum bedeutete, dass ich mich hauptsächlich mit den Scheidungen reicher Leute befasste: Fußballer, die sich von Popstars trennten, und unbedeutende Angehörige des britischen Königshauses, die sich von Cousin oder Cousinen scheiden ließen; so Zeug eben.

Während ich am Fluss entlangjoggte, dachte ich darüber nach, was heute anstand: ein Treffen mit einer möglicherweise neuen Mandantin. Linzi Lemon war ein ehemaliges Model (auch bekannt als »Luscious Linzi«, aus den Anfängen ihrer Karriere als Mädchen von Seite 3), das beschlossen hatte, sich von ihrem Ehemann, einem bekannten Promikoch, zu trennen. Larry besaß eine Reihe italienischer Restaurants in diversen Einkaufszentren im ganzen Land und trat jeden Samstagvormittag in einer Kochsendung auf. Unglücklicherweise hatte Linzi ihren Larry kürzlich mit einem Gast aus seiner TV-Show dabei erwischt, wie er in seiner Garderobe etwas Unaussprechliches mit einer Zucchini veranstaltete, und daher beschlossen, die Scheidung einzureichen.

Die Lemons waren seit zehn Jahren verheiratet und hatten zwei Kinder; Lewis war neun und Liberty sieben Jahre alt. Soweit ich bisher in Erfahrung hatte bringen können, besaßen sie mindestens drei Häuser: in Battersea, in Poole und St. Ives. Ich hatte mir auch ein paar YouTube-Videos von Larrys Show angesehen und mich, angesichts seines karottenfarbenen Teints und dem basketballförmigen Kugelbauch, der über seine Schürze hing, gefragt, wie er es überhaupt schaffte, eine Frau zu verführen, geschweige denn unter Einsatz einer Zucchini. Aber nach mehreren Jahren Familienrecht brauchte es schon mehr als ein Gemüse-Sexspielzeug, um mich aus dem Konzept zu bringen.

Es stimmt schon, was man sagt, nämlich, dass Anwälte im Strafrecht schlechte Menschen von ihrer besten Seite erleben, Scheidungsanwälte hingegen gute Menschen von ihrer übelsten. Auch wenn sicher nicht alle unsere Mandanten das beste Beispiel für unsere Spezies waren. Eine Dame bestand mal darauf, sie wolle sich scheiden lassen, weil ihr Gatte ihren Hund nicht länger im gemeinsamen Bett schlafen ließ; ein anderer Mandant wiederum beanstandete, dass seine Angetraute für ein Facelifting nach Korea geflogen war, ohne ihm Bescheid zu sagen. Und vor ein paar Monaten erst kam eine in Tränen aufgelöste Französin zu uns, da sie auf dem Handy ihres Mannes Fotos entdeckt hatte, die verrieten, dass er eine Prostituierte in Chelsea aufgesucht hatte, die seinem Fetisch, sich als Baby zu verkleiden, eine Windel zu tragen und an einem riesigen Schnuller zu nuckeln, entgegengekommen war.

Ich arbeitete mittlerweile seit fast einem Jahrzehnt bei Spinks, hatte hunderten Mandanten zugehört, die mir die Gründe für das Scheitern ihrer Ehe darlegten, mich konnte also kaum noch etwas schocken.

Darüber hinaus macht es mir aber auch Freude. Es gefiel mir, Menschen aus ihrem Beziehungswirrwarr hinaus und zu neuer Freiheit zu verhelfen, sie in der Einsicht zu unterstützen, dass ein vor einem Priester abgelegtes Gelübde nicht zwingend bedeutete, dass man seine Meinung zu einem späteren Zeitpunkt nicht ändern durfte. Vor zwei Jahren hatte Spinks mich zum Senior Associate befördert, was wiederum den Ehrgeiz in mir entfacht hatte, bis zu meinem vierunddreißigsten Geburtstag im August der erste weibliche Partner in der Kanzlei zu werden. Jeden Morgen saß ich um Viertel nach sieben am Schreibtisch und kam normalerweise gegen acht, oft auch später, nach Hause. Ich ging auch am Wochenende ans Handy und ließ es nachts an, für den Fall, dass ein Mandant mich brauchte. Wenn ich mich nicht gerade im Büro aufhielt, überprüfte ich ungefähr im Dreisekundentakt meine E-Mails. Und wenn ich im Büro war, verließ ich den Schreibtisch praktisch nicht.

Als ich heute bei der Arbeit eintraf, herrschte noch Ruhe; das einzige Geräusch kam vom Quietschen meiner Laufschuhe auf dem Marmorboden des Empfangsbereichs. Auf der Treppe, die hoch in den dritten Stock führte, wo Gideon und ich uns ein Büro teilten, nahm ich jeweils zwei Stufen auf einmal.

Wenn ich »teilen« sage, meine ich, dass Gideon den Großteil des Raumes in Anspruch nahm. Aber er war noch nicht da. Vor zehn Uhr ließ er sich prinzipiell nie blicken. Und wenn er dann mal auftauchte, ließ er sich mit einem schweren Seufzer hinter seinem antiken Schreibtisch nieder, der so groß war wie ein Esstisch und von Bildern seiner fünf Kinder sowie der dritten Mrs. Fotheringham geziert wurde, bevor er den restlichen Tag damit verbrachte, mir Befehle rüberzubellen. Hinter seinem Arbeitsplatz hingen Sportaufnahmen aus seiner Schulzeit an der Wand. So sah es im Übrigen bei allen Partnern von Spinks aus. Während meiner Arbeit hier hatte ich gelernt, dass Männer egal welchen Alters, die eine Privatschule besucht hatten, unbedingt ihre Mannschaftsfotos öffentlich zur Schau stellen mussten, um so ihr Ego aufzupolieren.

Mein eigener, ungleich bescheidenerer Schreibtisch war hinter der Tür versteckt, stand aber immerhin gegenüber von einem breiten Fenster mit Blick auf den Platz, das ich oft aus Protest gegen all die Geräusche und Gerüche aufriss, die von Gideons Schreibtisch zu mir herüberdrangen.

Ich duschte und zog mich im Badezimmer am Ende des Flurs um. Im Büro hieß es für mich immer Hosenanzug oder Kostüm. Vor Jahren einmal hatte ich es gewagt, im geblümten Kleid zu erscheinen, woraufhin Gideon mich mit einem missbilligenden Blick gefragt hatte, ob ich zu einem »Teekränzchen« unterwegs sei, also hieß es danach wieder gedeckte Farben. Was mich jedoch nicht besonders störte. Da ich den blassen Teint meiner Mutter geerbt hatte, ließen mich zu kräftige Farben käsig aussehen. Außerdem hatte ich begriffen, dass man sich zwischen all den grauen Anzügen bei Spinks besser einfügte, wenn man selbst einen trug, zumal als Frau.

Ich band meine Locken im Nacken zu einem straffen Pferdeschwanz, verrieb eine Schicht getönter Feuchtigkeitscreme über meinen Sommersprossen, fügte einen Hauch Mascara hinzu, verstaute meine vom Joggen feuchten Klamotten im Rucksack und kehrte an meinen Schreibtisch zurück. Während ich mit einem Mausklick meinen Monitor zum Leben erweckte, griff ich nach meinem Telefon, um mir unten eine Kanne extrastarken Kaffee zu bestellen.

Das gehörte zu den weiteren Vorzügen, wenn man hier arbeitete – im Keller befand sich eine Küche, die auf Abruf Frühstück, Mittag- oder Abendessen von einer ständig wechselnden Speisekarte zubereitete, die jeden Montagmorgen per E-Mail an alle Mitarbeiter versendet wurde. Geführt wurde die Küche von einer Filipina Anfang sechzig namens Queenie sowie ihrer Nichte Carmelita, die wohl die beiden beliebtesten Mitarbeiter in der gesamten Kanzlei waren.

Dann setzte ich mich an meinem Computer und ging die von mir angelegte Akte zu Linzis Fall durch. Ein Großteil meiner Zeit ging dafür drauf, mich in komplizierte Scheidungsverträge, so dick wie gebundene Bücher, einzuarbeiten oder diverse Kontoauszüge und Steuererklärungen unserer Mandanten zu durchforsten. Aber da sie für gewöhnlich auch im Licht der Öffentlichkeit standen, widmete ich zudem einen nicht zu vernachlässigenden Teil meines Tages der Aufgabe, mich durch die Daily Mail zu scrollen, um dabei so viele Informationen wie nur irgend möglich über jene Menschen zusammenzutragen, die wir verteidigten – oder gegen die wir vorgingen.

»Guten Morgen, Eleanor«, grüßte Gideon dröhnend, als er einige Stunden später ins Büro geplatzt kam.

»Morgen«, murmelte ich hinter meinem Monitor hervor.

»Ist das nicht ein ganz wunderbarer Tag? Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Vögel machen, was auch immer die Vögel so machen.«

Ich sah auf, als er seinen Mantel schwungvoll über den Kleiderständer warf. »Du bist aber gut gelaunt.«

Gideon ließ die Zähne aufblitzen. »Natürlich bin ich gut gelaunt. Eine neue Mandantin, will heißen, frischer Wind und Frischfleisch.« Er rieb sich die Hände und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Könntest du Queenie anrufen, damit sie mir das Übliche hochschickt?«

Das Übliche bedeutete einen Cappuccino und ein englisches Frühstück, das er geräuschvoll an seinem Schreibtisch verputzen würde, während ich versuchte, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Es war, als würde man einem Seehund beim Hantieren mit Messer und Gabel zusehen; und meistens verkleckerte er dabei Eigelb auf der Krawatte, was bedeutete, dass einer der Referendare losgeschickt wurde, um eine neue zu kaufen.

In solchen Momenten schwor ich mir, dass ich, sobald ich Partner in der Kanzlei geworden wäre, das Büro wechseln und meine Tätigkeit neben jemand anderem fortsetzen würde. Ich würde mir nicht länger das Malmen von Gideons Kiefer anhören oder mitansehen müssen, wie er sich jedes Mal, wenn er aufstand, in den Schritt fasste, um dort alles an den rechten Platz zu rücken. Zudem war ich skeptisch, ob er sich nach dem Gang aufs Klo die Hände wusch, und versuchte es daher zu vermeiden, an sein Telefon zu gehen oder einen seiner Stifte zu benutzen.

Bitte, bitte, bitte, lass mich Partner in der Kanzlei werden, betete ich innerlich, während ich unten in der Küche anrief – und dafür mein eigenes Telefon benutzte. Anfang September wurden die Namen der neuen Partner bekannt gegeben, was, da wir heute den 15. März hatten, bedeutete, dass ich noch etwas mehr als fünf Monate vor mir hatte. Fünfeinhalb Monate, die ich noch neben dieser blonden Amöbe sitzen würde. Das war kein Problem für mich. Schließlich machte ich das schon zwei ganze Jahre, seit meiner letzten Beförderung. Was waren im Vergleich dazu schon fünf Monate?

Zwanzig Minuten später erschien Carmelita mit dem Frühstückstablett, und Gideon grunzte zum Dank.

»Ich übernehme bei dem Treffen das Reden«, verkündete er, nachdem sie gegangen war.

»In Ordnung«, erwiderte ich, ohne den Blick vom Computer zu heben. Das war bei potenziellen Mandanten die übliche Vorgehensweise: Gideon hieß sie bei Spinks willkommen und befragte sie vorsichtig wie ein Zahnarzt, der einen wunden Zahn untersuchte, nach den Umständen ihrer Trennung. Meine Aufgabe war es, ruhig dazusitzen und mir Notizen zu machen.

Ungeachtet seiner (zahlreichen) Fehler, erwies sich Gideon bei diesen ersten Treffen als überaus effizient. Er hatte eine autoritäre Ausstrahlung und war redegewandt, was dazu führte, dass man ihm auf der Stelle sein Vertrauen schenkte; außerdem wusste er, dass, wenn er sie dazu brachte, uns gegenüber persönliche Informationen preiszugeben, sie eher Spinks beauftragen würden, anstatt die Qual auf sich zu nehmen, dieselben schmerzhaften Details ein weiteres Mal mit einer anderen Kanzlei durchzugehen.

»Heute die sanfte Gangart, würde ich sagen«, fuhr er fort, während er eine Speckscheibe durchsäbelte. »Lass sie von Rosemary direkt hier hochschicken.«

Ich runzelte die Stirn. Das machte mich nun doch nervös. Die ersten Treffen mit potenziellen Mandanten fanden normalerweise im Vorstandszimmer statt, um sie dort mit der altehrwürdigen Aura von Spinks & Co zu beeindrucken. Die Wände des Raumes wurden von unbezahlbaren chinesischen Seidentapeten geziert, die der erste Besitzer des Stadthauses, Earl Macartney, welcher den ersten Botschafterbesuch Englands nach China anführte, im Jahre 1782 aus dem fernen Osten mitgebracht hatte. Die Mitte des Raumes wurde von einem riesigen antiken Tisch eingenommen, auf den die Ölporträts früherer Kanzleipartner herabblickten; und der Teppichboden war so watteweich und der ganze Raum so schalldicht, dass, wie Gideon gerne scherzte, auch der Premierminister sein Treffen darin hätte abhalten können.

»Und wer sagt, dass er uns nicht auch schon mal einen Besuch abgestattet hat?«, fragte er dann mit einem Augenzwinkern die potenziellen Mandanten.

Aber gelegentlich empfingen wir sie auch in unserem Büro im dritten Stock – vor allem wenn sie besonders prominent waren. Oder nah am Wasser gebaut. Die Frauen weinten oft während der Treffen, und ich wünschte mir innigst, sie würden es nicht tun. Das lag aber keinesfalls daran, dass es mir an Mitgefühl mangelte; ich fühlte sogar sehr mit allen, die in unser Büro kamen und sich wegen ihrer Ehe ausheulten, und ganz besonders mit den Frauen, denen übel mitgespielt worden war. Wir wussten schließlich alle, wie sich das anfühlte. Nun ja, zumindest die meisten. Obwohl bei meinem persönlichen Liebesdrama zumindest keine Zucchini involviert gewesen war. Es war Jahre her, seit ich so lange geheult hatte, dass mein ganzes Gesicht rot und geschwollen war und Mum mich zum Arzt schicken wollte, weil sie darauf bestand, dass ich eine neue Allergie entwickelt hätte. Aber meine Schwellung hatte nichts mit einer Allergie zu tun; ich fühlte mich nur einfach so, als hätte mir ein Holzfäller eine Axt in die Brust gerammt. Doch zu guter Letzt erwies der Schmerz sich als nützlich, weil er mich anspornte und mich dazu ermutigte, anderen Menschen zu helfen, die dasselbe durchmachten, insbesondere Frauen. Ohne ihn hätte ich mich wohl nicht für das Familienrecht entschieden.

Also nein, es waren nicht die Tränen unserer Mandantinnen, die mir zu schaffen machten, denn für die hatte ich durchaus Verständnis. Es war eher Gideons Verhalten ihnen gegenüber. Er nutzte es aus, wie verletzlich sie waren. Beim geringsten Anzeichen einer zitternden Unterlippe oder eines tränenden Auges rückte er auf dem Sofa näher und zauberte, einem Magier gleich, ein mit Initialen versehenes Taschentuch aus seiner Brusttasche.

»Hier, bitte, nehmen Sie das«, beharrte er dann.

Nachdem er diesen ritterlichen Akt vollführt hatte, landete er gelegentlich mit der einen oder anderen im Bett. »Das gehört zum Service«, hatte er prahlend verkündet, nachdem die Frau eines Goldman-Sachs-Bankers vergessen hatte, mich aus dem Cc einer an uns beide adressierten E-Mail zu entfernen, und darin verkündet hatte, dass sie »Gideon noch immer schmecken« könne. An diesem Nachmittag hatte ich einen ausgedehnten Spaziergang einlegen müssen.

»Hier drin, wirklich?«, hakte ich nach.

»Ja, warum denn nicht?« Ein Bröckchen von seinem Frühstück – vielleicht ein Stück Speck, vielleicht auch Ei oder ein Tomatenkern – flog aus Gideons Mund und landete auf dem Teppich vor meinem Schreibtisch.

»Nein, nichts. Nur so. Dann gebe ich gleich unten bei Rosemary Bescheid.«

Rosemary war die Empfangsdame, die seit nunmehr über vierzig Jahren für Spinks arbeitete und die männlichen Anwälte wie ungezogene Schuljungen behandelte; sie hatte die Statur eines Schlachtschiffs und niemand, nicht einmal Gideon, wagte es, sich mit Rosemary anzulegen.

Um elf Uhr erschien Linzi und wurde von einer Referendarin in unser Büro geführt. Sie hatte eine dichte Mähne mit blonden Highlights, Wimpern in der Größe von Schmetterlingsflügeln und ein Kinn, das schon jetzt verdächtig zitterte.

»Mrs. Lemon, wie schön Sie kennenzulernen«, grüßte Gideon und sprang hinter seinem Schreibtisch auf. »Ich bin Gideon Fotheringham, Seniorpartner bei Spinks in der Abteilung Familienrecht, und das ist meine Mitarbeiterin, Eleanor Mason. Treten Sie doch ein und nehmen sie Pla…«

Er wurde von einem Geräusch unterbrochen, das an einen gebärenden Wal erinnerte, als Linzi auch schon in Tränen ausbrach.

»Ach Gottchen, das tut mir ja so leid, Mrs. Lemon«, bekundete Gideon, eilte hinüber und legte einen Arm um sie. Er führte Linzi zu dem cremefarbenen Sofa vor seinem Schreibtisch und wedelte währenddessen mit der anderen Hand in Richtung der Referendarin, als handle es sich um eine lästige Fliege.

Während Linzi sich geräuschvoll schluchzend an einem Ende des Sofas niederließ, sah er mich mit geweiteten Augen an und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür.

»Hier, bitte, nehmen Sie das«, fuhr er fort, nachdem er ein Stofftaschentuch aus seinem Anzug hervorgekramt hatte, und hielt es ihr hin. »Ich versichere Ihnen auch, dass es tadellos sauber ist, ha, ha!«

Linzi nahm das Taschentuch entgegen und lächelte ihn zaghaft aus tränenverhangenen Augen an; Gideon erwiderte das Lächeln strahlend, bevor er auf dem anderen Ende des Sofas Platz nahm. Ich schloss die Tür.

»Es tut mir ja so leid«, entschuldigte sie sich, bevor sie den Inhalt ihrer Nase in Gideons Taschentuch schnäuzte.

»Aber nicht doch, nicht doch«, antwortete er galant. »Das ist nun mal eine sehr belastende Situation.« Dann warf er mir einen ungeduldigen Blick zu und machte eine kritzelnde Geste.

Ich widerstand dem Drang, ihm meinen Hefter an den Kopf zu werfen. Ich kannte die mir zugedachte Rolle bei diesen Treffen – nämlich alles zu notieren, was gesagt wurde, sodass wir uns ein Bild von dem Fall machen konnten –, und dennoch kommandierte mich Gideon herum, als käme ich frisch von der Uni. Mit einem stummen Seufzen griff ich mir den Notizblock von meinem Schreibtisch und ließ mich dann in dem kleinen Sessel ihnen gegenüber nieder.

»Mrs. Lemon, dürfen wir Ihnen einen Kaffee anbieten?« Gideon hatte seinen verführerischen Tonfall aufgesetzt, auf den er zurückgriff, wenn ein Mandant ihm zu entgleiten drohte.

Linzi kräuselte die Nase. »Sie haben nicht zufällig Wodka da, oder?«

Er klatschte mit den Händen auf die Knie und brach in bellendes Gelächter aus. »Ich bin mir sicher, das lässt sich arrangieren.«

»Machen Sie sich keine Umstände. Das war nur ein Scherz. Und bitte, nennen Sie mich Linzi – Mrs. erinnert mich nur an diesen Perversling, den ich geheiratet habe.«

»Ach ja, genau, wo wir schon dabei sind«, erwiderte Gideon und verlagerte dabei kaum merklich das Gewicht, bevor seine Stimme eine Oktave höherrutschte. »Ich glaube, es könnte hilfreich sein, wenn wir Ihre Situation Schritt für Schritt durchgehen, um einige Details zu klären.«

Linzi schniefte und ließ den Blick nervös von ihm zu mir wandern. »Ich weiß nicht, was Sie bereits gelesen haben?«

Gideon winkte ab. »Bitte, machen Sie sich wegen des Mülls, den die Zeitungen so drucken, keine Sorgen. Wir wollen hier hören, was Sie durchmachen mussten, Ihre Geschichte.«

»Ich dachte, wir würden für immer zusammenbleiben«, begann Linzi, bevor sie einen raschen Blick auf ihre Hände warf und mit den Fingern an einer Ecke des Taschentuchs herumzupfte. »Es war eine Sandkastenliebe, verstehen Sie?«

Gideon nickte.

»Ich schätze, wir waren beide ziemlich jung, als wir heirateten, keine dreiundzwanzig. Aber wir waren ja so glücklich, zumindest dachte ich das. Dann kamen die Kinder.«

»Zwei Kinder, richtig?«

»Ja«, antwortete sie, »Lewis und die kleine Liberty. Die armen Mäuse, sie haben ja keine Ahnung von alldem … davon, dass ihr Dad ein betrügerischer Dreckskerl ist!«

Sie stieß einen weiteren Schluchzer aus, und Gideon rückte auf dem Sofa näher.

»Mrs. Lem… Linzi, es tut mir von tiefstem Herzen leid. Ich verstehe, wie schwierig das für Sie ist.«

»Schon gut«, nuschelte sie und putzte sich erneut die Nase. »Ich hatte nur nie geglaubt, dass er mir so wehtun würde. Das kann man sich als Frau nie vorstellen, wenn man in die Kerle verliebt ist. Man denkt einfach nicht, dass sie je etwas tun könnten, das einen verletzt, nicht wahr?« Auf der Suche nach weiblicher Solidarität warf sie mir einen Blick zu.

»Nein«, murmelte ich, »das denkt man nicht.«

»Sie sind also seit zehn Jahren verheiratet, ist das korrekt?«, drängte Gideon weiter.

»Zehn Jahre, genau. Zehn Jahre, und er zieht los und macht so was! Und das wahrscheinlich auch nicht zum ersten Mal. Es ist nur das erste Mal, dass ich dieses verlogene Ekel dabei erwischt habe.«

Abermals wechselte Gideons Stimme in eine höhere Tonlage. »Guuuuut, könnten wir, falls es Ihnen nichts ausmacht, kurz ein wenig genauer darauf eingehen? Wenn ich recht verstehe, haben Sie ihn mit einer anderen in seinem Fernsehstudio erwischt, ist das korrekt?«

»In seiner Garderobe, mit einem Mädchen aus dem Publikum. Er …« Linzi senkte die Stimme zu einem Flüstern, »… er verwendete dabei … eine Gurke.«

Ich strich »Zucchini« auf meinem Notizblock durch und notierte stattdessen »Gurke«.

»Wie überaus unhygienisch. Das tut mir ja so leid, Linzi. Wirklich schrecklich, so etwas mitansehen zu müssen. Ich hoffe doch sehr, dass er nicht vorhatte, die Gurke im Anschluss noch für sein Gericht zu verwenden?« Gideon grinste in der Erwartung eines Lachens, doch Linzi und ich schwiegen nur, also räusperte er sich und fuhr fort. »Worüber wir uns jetzt unterhalten sollten, ist das Prozedere, dem Sie sich womöglich stellen müssen, sowie die von Ihnen angestrebten Einigungen samt Sorgerechtsbestimmungen und so weiter, falls Ihnen das recht ist?«

»Ich meine, wie konnte er das nur tun?«, fuhr Linzi fort. »Wie kann jemand, den ich so sehr geliebt habe und von dem ich glaubte, dass er mich liebt, etwas so … so … Grausames tun! Wie nur?«

»Es tut mir so leid. Ich weiß, wie sich das anfühlt«, beschloss ich mich nun einzuschalten. »Das ist schrecklich unfair und kränkend, gerade auch, nachdem Sie ihn so lange bei seiner Karriere unterstützt haben. Aber deshalb sind wir hier – um Ihnen dabei zu helfen, das Ganze so schmerzlos wie möglich hinter sich zu bringen.«

»Ja, danke, Nell«, sagte Gideon schnell, ließ seine Augäpfel als Zeichen stummen Tadels hervortreten und wandte sich dann wieder Linzi zu. »Bitte, seien Sie versichert, dass Sie sich in hervorragenden Händen befinden. Ich selbst verstehe mich ja ganz exzellent auf Scheidungen, da ich schon zwei hinter mir habe – ha, ha! Wenn wir uns jetzt aber einen Moment auf die angestrebte Einigung konzentrieren könnten, wäre das ganz großartig. Je früher wir loslegen, desto eher haben wir Sie aus dieser Situation rausgeholt. Kommen wir direkt zum Geschäftlichen: Liege ich richtig, wenn ich sage, dass Sie zusammen drei Immobilien besitzen?«

Linzi nickte, und ich beugte den Kopf wieder über meinen Notizblock. Nur noch etwas mehr als fünf Monate, rief ich mir in Erinnerung. Danach wäre ich Partnerin, könnte meine eigenen Mandanten betreuen und müsste nicht länger stumm neben einem Mann sitzen, der dem weiblichen Geschlecht und, ja, auch Ehefrauen gegenüber eine ähnliche Haltung an den Tag legte wie Heinrich VIII.

An diesem Abend kam ich erst gegen zwanzig Uhr nach Hause, nachdem ich den Großteil des Nachmittags damit verbracht hatte, unser Treffen mit Linzi schriftlich zusammenzufassen sowie ein Dokument mit den Mandatsbedingungen für sie aufzusetzen. Gideon wollte alle dreieinhalb Minuten wissen, wann der Kram denn endlich fertig sei, bis ich ihm das Dokument zum Abnicken auf den Schreibtisch schob. Bevor sie den Vertrag nicht unterschrieben hatte, würden wir sie nicht offiziell vertreten.

Endlich, nachdem das Dokument in der Post lag, quetschte ich mich in die Northern Line, die mich im Schneckentempo nach Süden, zu unserer Wohnung in Clapham fuhr.

Gus verzog immer das Gesicht, wenn ich sie als Wohnung bezeichnete, und bestand darauf, dass es sich um eine »Maisonette« handelte, da sie sich über zwei Stockwerke erstreckte. Meinetwegen. Ich jedenfalls hatte noch nie gehört, dass jemand sagte: »Komm doch zum Abendessen in unsere Maisonette.«

Die Vorstellung, gegenüber vom Clapham-Common-Park zu wohnen und im Sainsbury-Supermarkt hinter australischen Mittzwanzigern und Männern, deren einzige Uniform aus Rugbyshirts bestand, anzustehen, hatte mir nicht sonderlich gefallen. Ich hätte lieber etwas näher am Fluss gehabt, aber am Ende hatte Gus sich durchgesetzt (»Es liegt an der Northern Line, Nell, perfekter Anschluss zur City«).

Und doch, obwohl die Wohnung im spießigen Clapham lag und wir sie vor fünf Jahren gekauft hatten, verspürte ich jedes Mal, wenn ich den Schlüssel in die Tür steckte, einen kleinen Freudenschauer darüber, dass sie uns gehörte. Sie erstreckte sich über die beiden oberen Stockwerke eines Reihenhauses: auf der unteren Etage befanden sich die offene Küche und das Wohnzimmer, darüber Schlafzimmer, Bad und die Kammer, die wir großspurig als »Gästezimmer« betitelten, die aber nicht größer war als ein Schuhschrank. Es passte gerade so ein Einzelbett hinein, ansonsten war nur noch Platz für einen Papierkorb. Gus sprach immer davon, sein Arbeitszimmer daraus zu machen, aber das gehörte – neben Muttermaluntersuchungen und Zahnreinigungen – zu jenen Dingen, die wir einfach nie auf die Reihe bekamen.

Ich fand ihn in seiner liebsten Stellung vor: nämlich vor dem Weinregal hockend.

»Hallo, Liebling«, begrüßte ich ihn und ließ meinen Rucksack auf den Boden plumpsen. Der behagliche, vertraute Anblick war nach einem derartigen Tag ein echter Trost.

Gus drehte den Kopf und lächelte. »Mon chou-fleur ist wieder zu Hause! Also, ganz wichtige Frage, steht dir der Sinn eher nach einem französischen Pinot Noir oder einem wirklich netten Chianti?«

»Weder noch«, erwiderte ich und ließ mich kraftlos aufs Sofa sinken. »Ich fühle mich wie ein menschlicher Sitzsack, auf dem es sich ein verrückter Diktator den ganzen Nachmittag bequem gemacht hat.«

»Ah, in diesem Fall wohl eher etwas Stärkeres.« Gus stand auf und kam zum Sofa. »Es tut mir leid«, sagte er und beugte sich vor, um mir einen Kuss auf die Stirn zu drücken.

»Danke«, murmelte ich und lächelte aus der Horizontalen zu ihm empor. Mein netter, mein mich stets unterstützender Freund. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gus mich je betrügen würde. Dafür war er viel zu ehrenhaft. Er hatte nicht nur überaus klare Vorstellungen, was Mülltrennung betraf, sondern auch in Bezug auf Radfahrer, die bei Rot über die Ampel fuhren, und Leute, die die Busspur benutzten, selbst wenn es theoretisch erlaubt war. Ich hatte ihn tatsächlich noch nie auch nur fluchen gehört.

»Der Klempner ist da gewesen«, fuhr er fort, während er zu seiner Weinsammlung zurückkehrte. »Hat 236 Pfund in Rechnung gestellt, dafür, dass er eine Tube Zahnpasta rund um die Dusche ausgequetscht hat, aber er meinte, damit sollte es sich erledigt haben. Allerdings können wir heute Abend nicht duschen, da das Zeug noch trocknen muss. Wir hätten eine Ausbildung zum Klempner machen sollen, statt Jura zu studieren. Ach ja, wie lief es mit deiner neuen Mandantin?«

»Bis jetzt ist sie offiziell noch keine. Aber ich denke, das ist nur eine Frage der Zeit. Die arme Frau hat nicht aufgehört zu weinen, während Gideon um sie herumscharwenzelt ist; sie hat mir so leidgetan.«

»Weil er ihr auf die Pelle gerückt ist oder wegen ihrer Scheidung?«

»Wegen beidem.« Ich streckte meine Arme über den Kopf aus und gähnte.

»Zum Glück werden wir das nie durchmachen müssen. Lass uns diesen kalifornischen Zinfandel probieren. Der dürfte seinen Zweck erfüllen.«

»Hm«, murmelte ich, stumm hoffend, dass Gus nicht gleich einen seiner Vorträge über die Tücken und Gefahren der Ehe vom Stapel lassen würde.

Eines der ersten Dinge, die Gus mich hatte wissen lassen, war, dass er nicht an die Ehe glaubte. Das Konzept der romantischen Ehe, so erklärte er bei unserem zweiten Date, war in der Geschichte der Menschheit eine relativ neue Erfindung. Ihm zufolge hatten die Viktorianer die Vorstellung der Liebesheirat (anstatt pragmatischer oder finanzieller Erwägungen, wie etwa der Zeugung von Kindern oder strategischer Verbindungen) propagiert und damit die gesellschaftliche »Obsession«, einen Seelenverwandten zu finden, befeuert.

»Du glaubst nicht an Seelenverwandtschaft?«, hatte ich darauf gefragt, und meine Begeisterung für den bebrillten Jurastudenten, der in unseren Vorlesungen immer so intelligente Fragen stellte, hatte sogleich etwas nachgelassen.

Gus schüttelte den Kopf und fuhr damit fort darzulegen, dass er durchaus an die Liebe glaubte und auch daran, einen Menschen zu finden, mit dem er sich »ein Leben aufbauen« könne; er glaubte lediglich nicht an die zuckrige, idealisierte Form der Liebe, die auf Valentinskarten beworben wurde.

Einige Verabredungen später begriff ich, dass Gus’ klare Haltung zur Ehe (und zum Fremdgehen) von seinem Vater herrührte, einem Zahnarzt aus Basingstoke, der mit seiner Arzthelferin durchgebrannt war und es seiner sitzen gelassenen Frau überlassen hatte, ihren siebenjährigen Sohn allein großzuziehen. Gus hatte sich geschworen, dass er seine Partnerin niemals so behandeln würde, genauso wenig würde er heiraten, um »den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden, wie eine Beziehung auszusehen hat«. Und da ich damals erst zweiundzwanzig und zuvor von der Liebe schmerzhaft enttäuscht worden war, hatte mir der Gedanke, nicht zu heiraten, in gewisser Weise zugesagt. Denn bei Gus klang es nach einer edelmütigen, einer intellektuellen Entscheidung.

Also hatten wir in besagtem Pub die Hände geschüttelt und auf jene scherzhafte und unerschrockene Weise, in der man bei zweiten Dates über derartige Themen sprechen kann, gelobt, dass wir niemals heiraten würden.

»Lass uns drei Kinder haben!«

»Lass uns aufs Land ziehen, wenn wir älter sind!«

»Bist du ein Katzen- oder ein Hundemensch?«

»Katze.«

»Okay, wir legen uns beides zu!«

»Lass uns nicht heiraten!«

Es war ein Pakt, der seither bestand, ein Versprechen, das wir uns vor elf Jahren gegeben hatten, als wir noch zu jung gewesen waren, um ernsthaft über eine Ehe nachzudenken. Gus nahm ihn jedoch nach wie vor so ernst wie einen seiner rechtskräftigen Verträge.

Vor vier oder fünf Jahren, als wir Ende zwanzig waren, hatten Freunde damit begonnen, kostspielige Reisen zu unternehmen und Fotos von Verlobungen auf Kanus und Skipisten zu posten. Gus hatte es den »Diamantrausch« genannt, als es damit anfing, dass wir pflichtgemäß die Wochenenden auf Junggesellenabschieden und, später dann, auf den Hochzeitsfeiern in wenig komfortablen B&B’s verbrachten. Und wenn die Frischvermählten aus den Flitterwochen zurückkehrten, folgte noch ein Abendessen, bei dem alle verzückt ihre Fotos bewundern mussten.

Bei den Verlobungsbesäufnissen oder Hochzeitsempfängen deuteten diese Freunde gern mit wackelndem Finger auf uns: »Ihr seid als Nächste dran!« Aber wir schworen immer, dass das nicht passieren würde. Immerhin hatten wir eine rationale Entscheidung getroffen, die uns von der Masse absetzte, erklärte Gus, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Bewies es denn nicht gerade, sagte er mir oft, wenn wir allein waren, dass er und ich eine innigere Beziehung hatten als viele andere, da wir nicht das Bedürfnis verspürten, unsere Zuneigung öffentlich in einer Kirche vor hundertfünfzig unserer engsten Freunde zu bekunden?

Stattdessen hatte ich auf Gus’ Vorschlag hin in der Kanzlei einen »Lebenspartnerschaftsvertrag« aufgesetzt, in dem sämtliche rechtlichen Details darüber, was mit unserer Wohnung und unseren Besitztümern geschehen würde, falls einer von uns genug haben sollte, geregelt wurden. Und das war doch fast schon so romantisch wie eine Hochzeit, oder?

Ich lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und hörte zu, wie Gus den Schrank öffnete, um seinen speziellen Korkenzieher herauszuholen, den ich ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Angeblich öffnete er die Flasche mit Druckluft oder so was in der Art, und Gus machte immer eine Riesenshow daraus, wenn er ihn verwendete: Er öffnete die Kiste wie eine vom Meeresboden geborgene Schatztruhe, entnahm ihr den Öffner, entkorkte die Flasche und polierte im Nachhinein den Korkenzieher sorgfältig mit dem dazugehörigen kleinen Filzlappen. Wenn ich allein zu Hause war, holte ich mir bei Sainsbury für gewöhnlich eine Flasche mit Schraubverschluss.

»Bitte schön.«

Ich öffnete die Augen und sah ihn mit einem Weinglas in der Hand über mir stehen.

»Danke, mein Schatz.« Ich schenkte ihm ein Lächeln, während ich danach griff. »Aber erzähl mal, wie ist dein Tag gelaufen?«

Ich hob meine Beine an, sodass Gus sich aufs Sofa setzen konnte, und legte sie dann wieder auf seinen Schenkeln ab. Das hier – der erste Schluck Wein an einem Freitagabend, der Alkohol, der in meinen Blutkreislauf überging, sowie das behagliche Gefühl, zu Hause zu sein und seine Hand auf meinen Schienbeinen zu spüren – war zweifelsohne der beste Teil der Woche. Er arbeitete als Unternehmensanwalt für eine amerikanische Kanzlei, was bedeutete, dass die Arbeitszeiten noch länger und die Mandanten noch fordernder waren als meine. Aber wir waren uns beide einig, dass das in dieser Phase unserer Karriere nicht anders ging; wir mussten jetzt ranklotzen, um dann mit etwas Glück, bald beide Partner zu werden.

Kaum dass wir uns an der Uni kennengelernt hatten, hatte Gus mir seinen Lebensentwurf präsentiert: Wir würden beide Anwälte in renommierten Kanzleien und dann zum Partner befördert werden, sodass wir uns das Leben leisten könnten, von dem er bereits in seiner Kindheit und Jugend in einer bescheidenen Ecke von Basingstoke geträumt hatte. Damals war er ständig gemobbt worden, galt als Streber, weil er keinen einzigen Fußballspieler der ersten Liga beim Namen kannte, dafür aber seine zwölf liebsten Generäle aus dem alten Rom aufsagen konnte.

Gus streckte mir sein Glas entgegen, und wir stießen an. »Ganz gut. Neue europäische Verträge mit Google, die alles enorm verkomplizieren, aber wir werden das Kind schon schaukeln. Apropos, ich habe ein Geschenk für Homer gekauft.«

»Ach echt, was denn?«

Er stellte seinen Wein auf dem Couchtisch ab, sprang auf und steuerte eine Papiertragetasche neben der Tür an. Ich kannte diese Tüten. Sie stammten von Frisbee Books, einem ziemlich chaotischen Laden in Chelsea, wo sich die Bücher vom Boden bis zur Decke stapelten und der von einem bärtigen Mann geführt wurde, der wie der Weihnachtsmann höchstpersönlich aussah. Es war Gus’ Lieblingsbuchhandlung, und wir statteten ihr samstagvormittags oft einen Besuch ab, wo er in der Geschichtsabteilung stöberte, während ich mich auf die Suche nach Thrillern begab.

Als ich noch klein war, so ungefähr zehn, hatte ich damit angefangen, mich in Mums Schlafzimmer zu schleichen und mir heimlich ihre Liebesschmonzetten auszuleihen, die sie in der Nachttischschublade versteckte. Sie trugen Titel wie Eine gefährliche Liebe oder Das Schloss am See und handelten für gewöhnlich von Heldinnen mit Namen wie Diana oder Arabella, die schnell in Ohnmacht fielen und gerne Männer mit dichten Augenbrauen, einem Kinn wie Superman und stattlichen Herrenhäusern ehelichten.

Die Wirkung, die Mums Bücher auf mich gehabt hatten, war vergleichbar mit diesem wissenschaftlichen Experiment, bei dem man ein Mentos in eine Flasche Coca-Cola wirft. Meine romantischen Gefühle explodierten regelrecht, und ich entwickelte ein komisch-kribbeliges Gefühl in der Bauchgegend für Phillip Schofield und Tim Vincent von Blue Peter aus dem Kinderfernsehen. Es mussten noch nicht mal echte Menschen sein. Auch Gaston, der Zeichentrick-Bösewicht aus Die Schöne und das Biest bescherte mir dieses seltsame Kribbeln.

Doch nachdem ich mir die Finger in Sachen Herzensangelegenheiten verbrannt hatte, war mir klar geworden, dass es nicht klug war, mir meine Vorstellungen von einer Beziehung auf Basis von Büchern zu bilden, in denen der Herzog das Hausmädchen auf einer Chaiselongue verführte. Und mittlerweile waren Thriller das Einzige, was ich nach einem langen Tag im Büro überhaupt noch verkraftete.

»Ich gebe dir einen Tipp«, sagte Gus, hielt mit einer Hand die Tragetasche hoch und vollführte mit der anderen eine schwungvolle Geste wie ein Schauspieler. »Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus …«

»Hä?«

Gus enthüllte eine gebundene Ausgabe der Ilias. »Nell, komm schon, das Zitat ist aus dem hier.«

»Das Kind ist drei Woche alt! Ich bin nicht sicher, ob der Winzling sich schon für antike griechische Dichtung interessiert.«

Wenn andere Freunde Babys bekamen, kaufte ich ihnen Mützen, die wie Erdbeeren aussahen, oder flauschige Kuschelhasen. Eine gebundene Klassikerausgabe schien mir selbst für Gus extrem.

Er schüttelte den Kopf. »Man kann nicht früh genug anfangen. Außerdem ist es ja nicht für jetzt, sondern für später gedacht. Ich habe damit begonnen, ihm eine Bibliothek anzulegen.«

»Eine Bibliothek?«

»Hm, ja, das Frisbee bietet diesen Service an. Ich war dort und habe erklärt, dass ich einen Patensohn habe und gerne eine Sammlung für ihn aufbauen würde. Also werden sie ihm zu jedem Geburtstag – ich habe ihnen das Datum gegeben – und jedes Weihnachten einen anderen Klassiker zukommen lassen. Das hier ist der erste, und ich meinte, dass ich ihm das Buch gerne selbst überreichen möchte. Aber danach erledigen sie die ganze Arbeit und schicken die Bücher direkt per Post. Ist das nicht genial?«

»Jaaaaaa,« erwiderte ich langsam und dachte dabei an meine eigenen Geburtstage und Weihnachtsfeste zurück, als ich noch klein gewesen war und auf einen neuen Nagellack oder einen Fünfer in einem Umschlag gehofft hatte.

»Was hättest du gerne zum Abendessen?«, fuhr Gus fort und stellte die Tasche ab. »Ich dachte, ich könnte mit dem Cheddar ein Käsesoufflé machen und dazu einen Rucolasalat.«

»Wir könnten was bestellen?«, äußerte ich vorsichtig. Wonach ich wirklich Lust hatte, war Pizza, aber Gus hielt nichts von Lieferpizza. Er hatte sogar mal gesagt, Lieferpizza sei »gewöhnlich«, und erklärt, dass keine Pizza in London so gut sei wie die Pizza, die man in Rom bekam. Genauso wenig mochte er indisches oder chinesisches Essen, das ihm auf den Magen schlug, aber hin und wieder konnte ich ihn überreden, zum Thailänder zu gehen.

Gus sah mich vom Kühlschrank aus stirnrunzelnd an. »Warum soll ich kein Soufflé machen? Ist doch viel netter. Außerdem gibt es da diese neue Doku, und ich dachte, wir könnten sie gemeinsam anschauen.«

»Welche?«

»Auf iPlayer – die über die Kommunisten in Kambodscha«, murmelte er in das Käsefach hinein.

Ich ließ den Kopf zurück aufs Polster fallen. »Yup, cool.«

Ich musste kurz eingenickt sein, denn plötzlich wurde ich davon wach, dass mein Handy im Rucksack vibrierte. Und das ziemlich beharrlich. Entweder rief jemand an oder schickte gerade neunhundert Nachrichten.

Tastend harkte ich mit den Fingern über den Teppich, um einen Schulterriemen des Rucksacks zu fassen zu bekommen, während Gus in der Küche zu Radio 3 mitsummte. Bitte, lass es nicht Gideon sein.

Es war nicht Gideon – es war meine Mutter. Erst kürzlich hatte ich ihr beigebracht, wie man Sprachnachrichten verschickte, in dem Glauben, sie damit von der Angewohnheit abzubringen, die Familien-WhatsApp-Gruppe mit schlechten Memes zuzumüllen (Zitate vom Dalai Lama, Bilder von Kätzchen in Teekannen, regierungskritische Verschwörungstheorien und so weiter. Was es auch war, Mum leitete es gewissenhaft weiter).

Doch bedauerlicherweise bekamen wir nun sowohl Memes als auch Sprachnachrichten, und da Dad und Jack nie antworteten, hatte ich das Gefühl, an ihrer Stelle darauf reagieren zu müssen. Außerdem hatte Mum die Aufnahmetechnik noch nicht ganz gemeistert und schickte dabei meistens zehn oder elf Sprachnachrichten hintereinander, jede davon ein neuer Gedanke.

Ich streckte mich wieder auf dem Sofa aus und spielte die erste Nachricht ab.

»Hallo, meine Süßen.«

Ich drückte bei der zweiten auf Play. »Ich weiß nicht, was ihr beide dieses Wochenende vorhabt.«

Die dritte: »Euer Dad und ich machen es uns zu Hause gemütlich. Vielleicht gehe ich mit dem Hund …«

»Ich habe zu früh auf Senden gedrückt. Vielleicht gehe ich mit dem Hund an den Strand – das ist es, was ich sagen wollte.«

»Aber ich habe auch schlechte Neuigkeiten.«

Ooh, ein Cliffhanger, dachte ich, bevor ich bei der sechsten Nachricht auf Play tippte. Wahrscheinlich hatte ein Fuchs sich eines der Hühner geschnappt. Mum besaß vier Hühner, die nach ihren romantischen Lieblingsheldinnen benannt waren: Fiona, Jane, Sandra und Violet. Ich hatte die Liebesschmonzetten aufgegeben, aber Mums Begeisterung blieb nach wie vor ungetrübt.

Doch es ging nicht um eines der Hühner.

»Lord Drummond ist gestorben«, fuhr Mum fort, »vollkommen unerwartet, und die Beerdigung ist nächste Woche Mittwoch. Wäre nett, wenn zumindest einer von euch herfahren könnte, um an …«

Es folgte ein gedämpftes Geräusch, bevor ihre Stimme abermals ertönte: »Oh, dieses verdammte Ding. Auf jeden Fall findet sie nächsten Mittwoch statt, und ich denke, ihr solltet beide kommen. Ich werde mich nach der genauen Uhrzeit erkundigen und euch Bescheid geben, aber jetzt muss ich erst mal das Abendessen für euren Dad holen. Tschüss, meine Süßen. Tschüssi.«

Ich hob den Kopf und blickte über die Sofalehne hinweg zu Gus, der mit dem Rücken zu mir vor dem Herd stand und immer noch vor sich hin summte. Er schien nichts gehört zu haben.

Das Telefon zwischen den Händen, ließ ich mich zurückplumpsen.

Lord Drummond war der ehemalige Chef meines Vaters und inoffizieller König von Northcliffe, einem Dorf an einem windigen Küstenstreifen in Northumberland, wo ich aufgewachsen war. Wenn man durch Northcliffe hindurchfuhr, konnte man leicht meinen, dass es ein Nest sei, in dem nicht viel passierte. Und bis zu einem gewissen Grad stimmte das auch. Es gab eine große Dorfwiese in der Mitte, gesäumt von den typischen gedrungenen grauen Cottages, wie man sie in den meisten Dörfern Northumberlands findet, plus genau einen Pub, einen Laden und ein Postamt.

Sicher, der Strand war sensationell schön, ein Paradies für Wildtiere, das teilweise unter Naturschutz stand. Dort lebten Gänse, Austernfische, Otter, kleine braune, mit winzigen Härchen bedeckte Krebse, die Jack und ich früher bei Wettrennen gegeneinander antreten ließen; außerdem auch vereinzelt Hasen, die man hier und da durch das Dünengras hoppeln sah. Aber es regnete auch an dreihundertsechzig Tagen im Jahr, und abgesehen davon geschah dort nicht viel (für die Bewohner war es schon ein aufregender Tag, wenn der Spar die Puddingtörtchen im Angebot hatte).

Wenn man jedoch der Straße, welche sich über die weite Dorfwiese zog, in nördlicher Richtung folgte und den Blick nach rechts schweifen ließ, dann konnte man ein gewaltiges schwarz glänzendes Tor entdecken, das aussah wie die Festung einer alten Zitadelle. Das Tor sicherte die Zufahrt nach Drummond Hall, einem imposanten viktorianischen Herrenhaus mit Meerblick, das der Familie Drummond gehörte. Bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr hatte Dad hier fast vierzig Jahre lang in den Stallungen als Lord Drummonds Rennleiter gearbeitet. Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehörte der Geruch von Schweiß, Pferd und Huföl an seinem Kragen, wenn er abends in das Bauernhaus zurückkehrte, das wir auf dem Anwesen gemietet hatten.

Dass Lord Drummond gestorben war, war an sich schon ein Schock, denn Northcliffe war dermaßen klein, dass man nicht mal im Bett einen fahren lassen konnte, ohne dass jemand sich später im Pub darüber ausließ, und Dad hatte nicht erwähnt, dass er krank war. Oder? Ich presste die Lippen fest zusammen, während ich nachdachte. Vielleicht hatte er während einem meiner seltenen Anrufe ja doch etwas gesagt, und ich hatte es überhört?

Aber es war ein Schock, der, wie ich jetzt schon spüren konnte, den Weg für weitaus komplizierte Emotionen ebnete.

Einen Großteil meiner Kindheit hatte ich damit verbracht, in den Gärten und auf den Wiesen des Anwesens herumzurennen, da Jack der beste Freund von Lord Drummonds Sohn, Arthur – oder ganz einfach Art, wie ihn alle Welt nannte – war. Aber wenn ich als pflichtbewusste Tochter zur Beerdigung nach Hause fuhr – was ich vermutlich tun sollte, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass sich mein Bruder dazu herablassen würde –, dann würde ich auch Art treffen und vielleicht sogar zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren mit ihm reden müssen.

Bei dem Gedanken fing mein Herz an schneller zu schlagen, meine Brust ein einziges Durcheinander aus Schmerz und Erwartungen. Aber vor allem Schmerz, ermahnte ich mich streng. Ehrlich, ich hätte lieber einen Besen gefressen, als ihm nach all der Zeit gegenüberzutreten.

Ich plusterte meine Wangen auf und stieß dann langsam die Luft zur Decke hin aus. Falls ich das wirklich auf mich nahm, würde ich unbedingt dafür sorgen müssen, meinen besten Hosenanzug und einen extrem vorteilhaften BH einzupacken.

2

Der Zug nach Morpeth brauchte fast vier Stunden, wovon ich einen Großteil mit der Lektüre der gemeinsamen Kontoauszüge der Lemons verbrachte; doch wie immer legte ich die letzte halbe Stunde der Fahrt alles weg, was ich gerade tat, um aus dem Fenster zu blicken. Reisende, die noch nie zuvor hier gewesen waren, überraschte dieser Streckenabschnitt immer, fast als hätten sie erwartet, so weit oben im Norden nur noch den schwarzen Qualm von Fabriken zu sehen. Umso überwältigter waren sie dann von den goldenen Stränden und dem dahinter liegenden silbernen Meer. Im Sommer hoben amerikanische Touristen auf dem Weg zum Edinburgh Festival den Blick und riefen: »Harry, Darling! Schnell, pack die Kamera aus und schieß ein Bild vom Meer.«

Linzis Fall hatte mich leider nicht besonders gut ablenken können. Während ich die Auszüge und Grundbucheintragungen durchforstete, blieb mir jede Sekunde bewusst, dass der Zug mich im Eiltempo einem unangenehmen Wiedersehen mit Art entgegenfuhr.

Ab und zu hatte ich mir, obwohl wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, vorgestellt, wie es wäre, ihm zufällig über den Weg zu laufen. In diesen Fantasien sah ich aus wie Nicole Kidman, die eine Anwältin in einer Netflix-Serie spielt: im maßgeschneiderten Kostüm, die rötlichen Locken zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten, die mein Gesicht auf eine sexy Weise umspielten, aber keineswegs zerzaust aussahen, wie bei einer Erwachsenen, die ihr eigenes Haar immer noch nicht im Griff hatte.

»O mein Gott, Art, hey!«, würde ich sagen, auf der Straße stehen bleiben und ihn anlächeln. Ich würde nicht schwitzen. Ich würde nicht stammeln. Wir würden ein Gespräch führen, bei dem ich nichts Peinliches sagte oder tat, stattdessen würde es mir im Verlauf dieser zweiminütigen Begegnung gelingen, ihm reinzudrücken, dass ich ein tolles Leben führte, für Londons renommierteste Anwaltskanzlei arbeitete, seit elf Jahren mit Gus zusammen war und ja, ja, wir besaßen auch eine eigene Wohnung. Noch keine Kinder, nein, aber wir hatten immerhin zwei Schlafzimmer und einen Korkenzieher, der den Wein beim Öffnen belüftete.

Danach würde ich verkünden, dass ich nun zu meinem überaus seriösen Job in mein überaus seriöses Büro zurückmüsse, und Art als schluchzendes Häufchen Elend auf dem Bürgersteig zurücklassen, der sich verzweifelt fragte, wie er mich je hatte gehen lassen können.

Doch während meiner Fahrt nach Morpeth wurde ich zusehends unsicher, ob ich einen so selbstbewussten Auftritt hinlegen könnte. Mein Blick huschte unwillkürlich zur Notbremse am anderen Ende des Waggons, und mich überkam der gefährliche Drang, daran zu ziehen und rauszuspringen, um direkt den nächsten Zug zurück nach London zu erwischen. Dann ermahnte ich mich, mich zusammenzureißen. Art war in erster Linie ein Freund aus Kindheitstagen, und ich würde einfach seinem Vater die letzte Ehre erweisen.

Genau genommen war er vor mir mit meinem Bruder Jack befreundet gewesen, da die beiden gleich alt waren und als Kinder viel Unfug getrieben hatten; jedenfalls bis zu Arts dreizehntem Geburtstag. Danach wurde er auf ein Internat geschickt.

Das war der Moment, in dem ich begriff, wie sehr wir uns von ihm unterschieden. Oder zumindest einer der Momente. Bis dahin war mir die soziale Kluft zwischen uns und Art gar nicht aufgefallen. Als ich klein war und anfing, bei den Jungs mitzuspielen, wusste ich nur, dass Arts Haus größer war als unseres. Viel, viel größer. Drummond Hall verfügte über hundertzwölf Zimmer, die wie geschaffen waren für ausgedehnte Versteckspiele, was für gewöhnlich damit endete, dass ich heulte, weil ich keinen der beiden finden konnte. Darüber hinaus gab es auch einen Landschaftsgarten, dessen Grenzen wir irgendwie nie zu erreichen schienen, ein Heckenlabyrinth (in dem ich mich meist verlief, was ebenfalls mit Tränen endete), einen Butler namens Henry, einen Koch namens Frank und dann noch Arts Kindermädchen, die wir Nanny Gertrude nennen durften, einen Tennisplatz und nicht etwa nur einen, sondern gleich zwei große, mit Ornamenten verzierte Fischteiche, die so akkurat wie Kornkreise unterhalb der Terrassentüren auf der Rückseite des Hauses angelegt waren.

Es gab noch weitere Hinweise dafür, dass wir anders waren: Sie hatten ein schöneres Auto – besser gesagt, mehrere Autos, die Lord Drummond in einer riesigen Garage hinter den Stallungen aufbewahrte. Art hatte ein eigenes Bad und in seinem Zimmer einen Fernseher mit eingebautem Videorekorder, auf dem Jack und ich uns mit ihm die neuesten Filme anschauten, da er diese ebenfalls besaß. Er wurde auf die Privatschule nach Eton geschickt. Die Drummonds gingen jedes Jahr Skifahren. Aber Art selbst schien nie anders zu sein als wir, weder verwöhnt, noch versnobt. Er war ganz einfach mein Freund – bis zu dem Tag, an dem er es nicht mehr war.

Die Lautsprecheranlage des Zuges riss mich aus meinen Erinnerungen. »Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir Morpeth. Bitte vergewissern Sie sich, dass Ihr Gepäck vollständig ist, und …«

Beim Anblick meines Spiegelbilds im Zugfenster schüttelte ich den Kopf, verärgert darüber, wie ich es hatte zulassen können, dass diese Erinnerungen mich einholten. Schluss mit der Schwelgerei, Eleanor Mason. Du gehst zur Beerdigung, verbringst eine Nacht bei deinen Eltern, und morgen früh kehrst du wieder ganz vernünftig und erwachsen nach London zurück.

Obwohl er fast vierzig Jahre für ihn gearbeitet hatte, schien Dad nicht wahnsinnig getroffen von Lord Drummonds Tod. Auf der Heimfahrt vom Bahnhof erklärte er, die Ursache sei ein Herzinfarkt gewesen, zu dem es vermutlich gekommen war, weil Lord Drummond sich mit seiner Geliebten, einer Dame, die in Alnmouth einen Hundesalon besaß, im Bett verlustiert hatte.

»Nicht die schlechteste Art abzutreten, was?«, fügte Dad laut lachend hinzu und klopfte begeistert mit seiner riesigen Pranke aufs Lenkrad.

Fairerweise musste man einräumen, dass Lord und Lady Drummond nicht nur ihren Angestellten gegenüber, sondern auch im Dorf eine recht unnahbare Haltung pflegten. Zwar waren sie de facto die Herren von Northcliffe, die in dem stattlichen Familiensitz residierten, glänzten aber meistens mit Abwesenheit, und auch sonst hatten sie nur selten mit dem Rest von uns zu tun. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lady Drummond uns für Bauern hielt. Sie vermittelte oft diesen Eindruck, wenn Jack und ich als Kinder im Herrenhaus auftauchten und nach Art fragten. Ihre Nase zuckte dann etwas angewidert, so als würden wir nach Pferdedung riechen. Was wir ja vielleicht auch taten.

Als Kind hatte ich Angst vor Arts Eltern. Lady Drummond war groß, dünn und hatte ein spitzes Gesicht. Sie war ein ehemaliges Model, das es aufs Cover der Vogue