Kann ich jetzt bitte mein Herz zurückhaben? - Sophia Money-Coutts - E-Book
SONDERANGEBOT

Kann ich jetzt bitte mein Herz zurückhaben? E-Book

Sophia Money-Coutts

5,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Er ist adlig und der größte Charmeur von allen. Sie ist Klatschreporterin und kennt seine Masche. Niemals wird sie auf ihn hereinfallen ...

Polly geht es prima, danke der Nachfrage! Klar, sie ist 30 und immer noch Single – aber ihre Mum und ihr bester Freund sind immer für sie da. Und im letzten Jahr hatte sie immerhin ZWEIMAL Sex (beide Male mit einem schwedischen Banker namens Fred). Also ernsthaft, Polly geht es gut! Auch wenn sie immer noch für das Klatschmagazin »Posh!« arbeitet und über die Lieblingshunderassen des britischen Adels schreibt. Da erhält sie den Auftrag, den attraktiven Jasper, Marquess von Milton, auf seinem Landsitz zu interviewen. Natürlich kennt Polly die Gerüchte über den notorischen Herzensbrecher. Auf gar keinen Fall wird sie seinem berühmt-berüchtigten Charme verfallen. Doch dann geht in Pollys Leben mit einem Mal alles drunter und drüber ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 535

Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SOPHIAMONEY-COUTTS, 33, ist Tochter eines englischen Barons. Ihre Familie führt die englische Privatbank »Coutts« – wo unter anderem die Queen ihr Geld anlegt. Sophia ist erfahrene Royal- und Promi-Redakteurin: Sie arbeitete für den Evening Standard und die Daily Mail und lebte zwei Jahre lang in Abu Dhabi. Heute schreibt sie freiberuflich und ist als Expertin für Adelsthemen gefragt – so gab sie der BBC ein Interview, als Harry und Meghan sich verlobten. Dies ist ihr erster Roman.

Sophia Money-Coutts

Roman

Aus dem Englischen von Ivana Marinovic

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem TitelThe Plus One bei HarperCollins, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2018 by Sophia Money-Coutts

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by

Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Das Zitat aus William Shakespeares Sonett 116 stammt aus der Übersetzung von Max Joseph Wolff, erschienen im Wegweiser-Verlag.

Das Zitat aus Elizabeth Barrett-Brownings Portugiesische Sonette stammt aus der Übersetzung von Hans Böhm, erschienen im Georg D. W. Callwey Verlag.

Umschlaggestaltung: bürosüd unter Verwendung von

Motiven von www.buerosued.de

Redaktion: Lisa Wolf

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23922-0V003

www.penguin-verlag.de

Für meine Familie, die noch verrückter ist als sämtliche Figuren in diesem Buch.

Aber das ist genau der Grund, warum ich euch so liebe.

Ich gebe Sinn und Sinnlichkeit die Schuld an allem. Als ich den Film zum ersten Mal sah, war ich zwölf. Ein Alter, in dem man extrem leicht zu beeindrucken ist. Oder nein, um genau zu sein, ist es nur Kate Winslet, die als Marianne – die jüngere der zwei Schwestern – beinahe einen Liebestod stirbt. Diese Szene, in der sie sich während eines tosenden Sturms aufmacht, um sich aus der Ferne Willoughbys Landsitz anzuschauen, und dabei von Colonel Brandon gerettet wird und die nächsten Tage schwitzend mit einem lebensbedrohlichen Fieber im Bett verbringt? Ja, so beschloss ich damals, das war das angemessene Level an Drama für eine gelungene Romanze.

Daher machte ich mich mit eiserner Konsequenz daran, Marianne, so gut es ging, nachzueifern. Sie liebte die Poesie, was mir wie ein Zeichen vorkam, da ich ebenfalls gerne las. Als eine Art Hommage kaufte ich mir ein schmales Büchlein mit Shakespeare-Sonetten, das ich stets in meiner Schultasche mit mir herumtrug für den Fall, dass ich in den Pausen genug Muße fand, es zur Hand zu nehmen, um leise – und mit gebührendem Pathos – die Verse vor mich hin zu flüstern. Darüber hinaus lernte ich das Sonett 116, Mariannes und Willoughbys Lieblingsgedicht, auswendig.

Dem festen Bund getreuer Herzen soll kein Hindernis erstehn: Lieb’ ist nicht Liebe, die, in der Zeiten Wechsel wechselvoll …

Man stelle sich ein pummeliges zwölfjähriges Mädchen vor, das in einer Leggins, bunt wie der Regenbogen, durch die Straßen von Battersea stapft und diese Worte vor sich hin murmelt. Ein Anblick für die Götter. Also, ja, wie ich schon sagte, Sinn und Sinnlichkeit war schuld daran, dass ich glaubte, ich müsse unbedingt jemanden finden. Und dabei geriet ich auf die völlig falsche Spur.

Hätte ich geahnt, dass die Woche in einer solchen Katastrophe enden würde, wäre ich vielleicht einfach im Bett geblieben und hätte den Rest der kalten Jahreszeit wie ein Igel im Winterschlaf verbracht.

Ganz abgesehen davon, dass sie auch nicht besonders toll anfing. Es war Dienstag, der 2. Januar, und damit der deprimierendste Tag des Jahres, an dem alle sich niedergeschlagen, mit ein paar Kilo zu viel und einem leergefegten Konto wieder zur Arbeit quälten. Dank eines unglücklichen Zufalls war es zu allem Überfluss auch noch mein Geburtstag. Mein dreißigster Geburtstag, um genau zu sein. Was dafür sorgte, dass ich an jenem Morgen noch miesere Laune hatte als alle anderen um mich herum. Ich war nicht nur über Nacht ein ganzes Jahrzehnt gealtert, nein, ich war tragischerweise auch noch Single, teilte mir mit Joe, einem schwulen Oboisten, eine schimmelige Wohnung in Shepherd’s Bush und hatte zusehends den Eindruck, dass all diese nervigen Daily Mail-Artikel über die rasant abnehmende Fruchtbarkeit von Frauen direkt an mich persönlich adressiert waren.

Ich radelte von meiner Wohnung zur Redaktion des Posh!-Magazins in Notting Hill, wobei ich mir alle Mühe gab, mich nicht zu übergeben. Okay, der Kater ging ganz allein auf meine Kappe. Die vergangene Nacht war ich viel zu lange wach geblieben und hatte zusammen mit Joe auf dem Sofa einen Rotwein nach dem anderen entkorkt. Wer auch immer der Meinung war, man solle den Januar mit Ausnüchtern verbringen, konnte mich mal kreuzweise. Joe hatte unser Besäufnis als vorgezogene Geburtstagsfeier im kleinen Kreis schöngeredet; ich hingegen hatte es einen Abgesang auf meine Jugend genannt. Wie auch immer, jedenfalls hatten wir drei Flaschen Wein geleert, die wir wie üblich in dem kleinen Lädchen direkt unter unserer Wohnung erstanden hatten, und ich war mit einem Gefühl im Schädel aufgewacht, als hätte jemand mein Gehirn durch einen Klumpen Gelee ersetzt.

Entsprechend unsicher eierte ich auf meinem Fahrrad am Notting Hill Gate vorbei und schloss es neben dem Eingang der Posh!-Redaktion ab, bevor ich kurz in der benachbarten Pret-a-Manger-Filiale vorbeischaute, um mir einen Americano mit Milch, ein Frühstücksbaguette mit Eiern und Speck sowie einen Blaubeer-Muffin zu besorgen. Laut der Pret-a-Manger-Website mit den Nährstoffangaben (auf meinem Arbeits-PC unter Favoriten gespeichert) kam ich damit auf 950 Kalorien; aber da ich in der Nacht zuvor mit Joe praktisch nichts gegessen hatte, beschloss ich, dass auch die Kalorien mich mal kreuzweise konnten.

»Morgen, Enid«, sagte ich über meinen Computerbildschirm hinweg und stellte die Pret-Tüte auf meinem Schreibtisch ab. Enid war die persönliche Assistentin von Peregrine Monmouth, dem Herausgeber des Posh!-Magazins. Ihr Hüftumfang entsprach ziemlich genau ihrer Körpergröße, und alle im Büro liebten sie, was im Wesentlichen daran lag, dass sie es schaffte, jedermanns Spesen- und Urlaubsanträge durchzuboxen.

»Polly, mein Engel! Alles Gute zum Geburtstag!« Sie kam um den Schreibtisch gewatschelt und schloss mich in die Arme. »Und ein frohes neues Jahr«, fügte sie hinzu, wobei sie mein Gesicht an ihren gigantischen Busen quetschte. Ihr Atem roch nach Kaffee.

»Frohes neues«, murmelte ich in Enids Strickjacke, bevor es mir gelang, mich aus der Umarmung zu lösen und mich in eine aufrechte Haltung zu begeben. Mein Kopf pochte höllisch, und ich griff mir an die Stirn. Ich brauchte ganz dringend ein paar Aspirin.

»Hast du denn einen schönen Urlaub gehabt?«, erkundigte sie sich.

»Mhmm«, antwortete ich vage und beugte mich vor, um meinen PC hochzufahren. Wie lautete noch gleich mein Passwort?

»Hast du die Feiertage mit deiner Mutter verbracht?« Enid kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und begann in ihrer Tasche herumzukramen, die neben ihr auf dem Boden stand.

»Mhmm.« Ich wusste noch, dass es eine Kombination aus einer Zahlenfolge und dem Namen des Hundes meiner Mutter war. Bertie123? Klappte nicht. Scheiße. Ich würde die Frau von der IT-Abteilung anrufen müssen, deren Namen ich mir allerdings auch nie merken konnte.

»Und hast du auch schöne Geschenke bekommen?«

Bertie19. Das war’s. Bingo!

Sofort quoll mein Posteingang von E-Mails über, die sofort wieder vom Bildschirm verschwanden, um weiteren Platz zu machen. Ich sah dabei zu, wie die Anzahl in Windeseile auf 632 hochschnellte. Als ich sie durchscrollte, konnte ich feststellen, dass es sich größtenteils um Pressetexte zu irgendwelchen Diäten handelte – zuckerfrei, glutenfrei, milchfrei, fettfrei. Außerdem noch eine neue, angeblich von einem kalifornischen Arzt entwickelte Methode, die sich »Rosinen-Diät« nannte und bei der man nicht mehr als dreißig Rosinen am Tag essen durfte.

»Tut mir leid, Enid«, sagte ich kopfschüttelnd und griff nach meinem Baguette. »Ich musste mich nur gerade konzentrieren. Ob ich schöne Geschenke bekommen habe? Ach, das Übliche, ein paar Bücher von meiner Mum. Wie war dein Weihnachten?«

»Oh, es war wunderschön, danke. Nur Dave, ich und die Kinder. Und meine Schwiegermutter, die langsam etwas senil wird, aber das haben wir ganz gut hingekriegt. Ich habe es leider ein wenig mit dem Baileys übertrieben. Deshalb probiere ich jetzt eine neue Diät aus, von der ich gelesen habe.«

»Ach ja?«

»Sie heißt Rosinen-Diät und soll ganz, ganz toll sein. Du isst zehn Rosinen zum Frühstück, zehn zum Mittagessen und dann noch einmal zehn am Abend. Es heißt, man könne damit bis zu sechs Kilo in einer Woche verlieren.«

Ich sah über meinen Computerbildschirm hinweg zu, wie Enid ein paar Rosinen aus einer kleinen Tupperdose entnahm und sie einzeln abzählte.

»Morgen allerseits, guten Rutsch und all den Blödsinn. In fünfzehn Minuten Besprechung bei mir im Büro, wenn ich bitten darf!«, begrüßte uns Peregrine dröhnend, der in einem marineblauen Wollmantel und mit Filzhut durch die Tür gestürmt kam.

Peregrine war fünfundfünfzig und hatte es mittlerweile in die Riege der Schönen, Reichen und Adeligen geschafft, nachdem er das Posh!-Magazin in den Neunzigern vornehmlich deshalb gegründet hatte, um mit jenen Leuten verkehren zu können, von denen er meinte, dass sie seine Freunde sein sollten: Herzöge, Grafen, Lords, aber auch der eine oder andere ukrainische Oligarch und dergleichen. Demselben Grundsatz folgend wählte er auch die Frauen in seinem Leben aus: zuerst eine italienische Juwelierserbin; danach die Tochter eines venezolanischen Ölbarons; und aktuell war er mit einer französischen Stabheuschrecke verheiratet, die – wie Peregrine nicht müde wurde, jedem unter die Nase zu reiben – eine entfernte Verwandte des Fürstenhauses von Monaco war.

»Wo stecken denn nur alle?«, fragte er, als er Hut und Mantel abgelegt hatte und wieder aus seinem Büro auftauchte.

Ich musterte die leeren Schreibtische um mich herum. »Keine Ahnung. Bisher sind nur Enid und ich da.«

»Nun, sobald Lala kommt, möchte ich mit euch beiden sprechen. Ich habe da eine Riesenstory aufgetan, hinter die wir uns klemmen müssen.«

»Klar. Worum handelt es sich?«

»Streng geheim. Nur wir drei beim Meeting. Und da auch nur die nötigsten Infos«, sagte er. Dann blickte er zu Enid. »Alles in Ordnung bei dir?«

Enid stocherte mit einem Finger in ihrem Mund herum. »Ja, hab nur ein Stück Rosine zwischen den Zähnen stecken.«

Peregrine verzog das Gesicht, bevor er wieder zu mir sah. »Also gut. Du gibst Bescheid, sobald Lala sich blicken lässt?«

Ich nickte.

»Alles klar«, nuschelte Enid und winkte mit den Fingern.

Eine Stunde später saßen Lala, die offizielle Party-Redakteurin der Zeitschrift, und meine Wenigkeit in Peregrines Büro. Ich hatte mittlerweile meinen Kaffee getrunken und sowohl das Baguette als auch den Muffin verspeist, schwebte jedoch immer noch irgendwo zwischen Leben und Tod.

»Tja, so wie es aussieht, ist das nächste Baby der Royals unterwegs«, legte Peregrine los. »Die Gräfin von Hartlepool hat es mir gestern beim Lunch erzählt. Anscheinend gehen sie zum selben Gynäkologen.«

»Wann ist es denn so weit?«, erkundigte ich mich.

»Im Juli«, sagte er. »Darum will ich, dass wir zackig eine knackige Story hinlegen, die wir noch in die nächste Ausgabe packen können.«

In Anbetracht meines momentanen Zustands fragte ich mich, ob ich den Juli überhaupt noch erleben würde – was für ein Geburtstag! »Wie wäre es mit einer Story über die zukünftigen Spielgefährten der kleinen Royals?«, schlug ich vor.

Peregrine nickte zustimmend, während er sich seinen stattlichen Bauch kratzte, der über seinen Hosenbund quoll und auf seinen Oberschenkeln ruhte. »Ja, so was in der Art. Die Fotheringham-Montagues erwarten ebenfalls ihr zweites, wenn ich mich nicht irre.«

»Und meine Freundin Octavia de Flamingo ihr erstes«, sagte Lala an ihrem Stift nagend. »Für den Fall, dass es ein Junge wird, haben sie schon einen Platz am Eton College für den künftigen Stammhalter reserviert.«

»Wie auch immer, wir brauchen auf alle Fälle Minimum zehn weitere blaublütige Babys – wenn ihr euch also umhören würdet?«, sagte Peregrine. »Polly, ich möchte das Freitag früh auf meinem Schreibtisch haben. Und besorgt auch gleich Bilder von allen.«

»Von den Eltern?«, hakte ich nach.

»Nein, nein, nein!«, donnerte er. »Von den Babys! Ich will die Ultraschallaufnahmen sämtlicher adligen Schwangeren. Ich will das ganze Material, das sonst noch niemand zu Gesicht bekommen hat. Ihr wisst schon, das echte Insider-Zeug.«

Ich seufzte, als ich zurück an meinen Schreibtisch ging. Die Posh! war jetzt also so sehr Insider, dass sie schon Schnappschüsse aus dem Inneren aristokratischer Gebärmütter abdrucken würde.

Wie immer Anfang der Woche fuhr ich auch heute Abend – gewissermaßen als Sahnehäubchen auf meinem grandiosen Geburtstag – zu meiner Mutter nach Battersea.

Zu Hause herrschte eine Art mumifiziertes Chaos. Mum lebte nun schon beinahe zwei Jahrzehnte in der Wohnung, seit wir nach dem Tod meines Vaters von Surrey nach London gezogen waren. Sie arbeitete in einem nahe gelegenen Gardinengeschäft, und zwar hauptsächlich deshalb, weil der Chef ihr erlaubte, ihren neunjährigen Jack-Russell-Terrier in den Laden mitzunehmen – unter der Bedingung, dass er bei ihr hinter der Kasse blieb und nicht auf die Damaststoffe pinkelte, die überall in großen Rollen herumlagen. Bertie gehorchte auch weitestgehend und hob sein Bein nur hier und da ganz diskret über den dunkelsten Stoffbahnen, die er finden konnte, wenn Mum einmal zu lange von einem Kunden in Beschlag genommen wurde.

Meinen Job bei der Posh! verdankte ich im Übrigen dem Gardinengeschäft. Peregrines zweite Frau – die Venezolanerin – war eines schönen Samstags hereingeschneit, um sich nach Vorhängen für ihr neues Haus in Chelsea umzuschauen, als ich gerade auch da war. Und obwohl Alejandra den Charme und die Wärme eines südamerikanischen Despoten versprühte, nahm ich dennoch all meinen Mut zusammen und erwähnte, dass ich gerne Journalistin werden würde. Und so kam es, dass Peregrine – weil er so knausrig und ich so verzweifelt war – mir ein paar Monate später eine Stelle als seine Assistentin anbot. Zunächst bestand meine Arbeit darin, seine Partyeinladungen zu beantworten und Kaffee zu holen, doch nach etwa einem Jahr fing ich auch an, kleinere Artikel für die Zeitschrift zu verfassen. Nichts Weltbewegendes. Nur ein paar kurze Beiträge, die ich mir zum Großteil ausdachte und in denen es um die neuesten Trends für Partykostüme oder die angesagtesten Häppchen für Cocktailempfänge ging. Doch ich arbeitete mich langsam empor, bis Peregrine mich einige längere Storys und Interviews mit dem ein oder anderen durchgeknallten Mitglied der britischen Aristokratie führen ließ. Zugegeben, es war nicht meine journalistische Traumrolle – man konnte mich wohl kaum eine Kate Adie nennen, die mit einer Splitterschutzweste bekleidet aus dem Gazastreifen berichtete. Aber es war ein Job, der es mir erlaubte zu schreiben; und obwohl ich in meinen Anfängen noch nichts über die oberen Zehntausend wusste (ich dachte, ein Vicomte wäre ein französischer Käse), schien es mir doch ein gutes Karrieresprungbrett.

»Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz, räum meine Stiefel einfach aus dem Weg!«, rief Mum aus dem Obergeschoss, als ich an besagtem Abend, begleitet von Berties Bellen, die Haustür öffnete. Auf der Heizungsverkleidung im Flur lag ein Stapel brauner Umschläge, zwei davon mit dem Vermerk EILT!.

»Mum, öffnest du eigentlich je deine Post?«, fragte ich, während ich die Treppe zum Wohnzimmer hochstieg.

»Oh, ja, ja, mach dir da mal keinen Kopf«, sagte sie, nahm mir die Umschläge aus der Hand und legte sie auf ihren Schreibtisch, dessen Oberfläche bis zum letzten Zentimeter mit Zeitschriften und altem Papierkram bedeckt war. »Ich habe uns einen Kuchen gebacken«, fuhr sie fort. »Aber ich habe auch noch ein paar Garnelen im Kühlschrank, die dringend weg sollten, also gibt es die zuerst. Dazu mache ich ein Risotto, was meinst du?«

»Mmm, lecker, danke«, erwiderte ich und fragte mich, ob Peregrine es mir wohl abnehmen würde, wenn ich mich krankmeldete, weil meine Mutter mich mit Garnelen vergiftet hatte, die so alt waren, dass sie von allein in den Kochtopf gewandert waren.

»Hattest du denn einen schönen Geburtstag?«, erkundigte sich Mum. »Wie war es auf der Arbeit?«

»Ach, nur das Übliche. Peregrine leidet nach wie vor unter seinem immensen Napoleon-Komplex. Er will, dass ich einen Artikel über die Babys der Royals und ihre blaublütigen Spielgefährten schreibe.«

»Ach du liebe Güte«, nuschelte Mum, als sie in die Küche ging, den Kühlschrank öffnete und eine Flasche Wein herausholte. In den vier Jahren, die ich jetzt für die Posh! arbeitete, hatte ich mehr über die Oberschicht gelernt, als ich mir je hätte träumen lassen. Ein Herzog stand in der Hackordnung höher als ein Graf, doch alle waren sie gleichermaßen von ihren Labradoren besessen. Und obgleich Mum – Tochter eines Bibliothekars aus Surrey – bezüglich meiner Arbeit hinter mir stand, zeigte sie nie ein sonderliches Interesse an den inhaltlichen Details.

Sie schenkte zwei Gläser Weißwein ein und reichte mir eins. »Aber jetzt lass uns erst hinsetzen, damit ich dir dein Geschenk geben kann.«

Erschöpft ließ ich mich aufs Sofa fallen, was Bertie natürlich sofort nutzte, um auf meinen Schoß zu springen, wobei der Weißwein über den Glasrand und in meinen Schritt schwappte.

»Bertie, runter da!«, befahl Mum und reichte mir eine kleine Schmuckschatulle, während sie sich neben mir niederließ. Sie blickte Bertie streng an, den Finger auf den Boden gerichtet, bis er langsam und widerwillig vom Sofa kletterte.

Ich öffnete die Schatulle. Darin befand sich ein Ring. Ein dünner, feiner Goldring, in den ein Knoten geschmiedet war.

»Den hat dein Vater mir zu deiner Geburt geschenkt. Also dachte ich mir, um deinen runden Geburtstag entsprechend zu würdigen, sollst du ihn von nun an haben.«

»Oh, Mum …« Ich brachte kein Wort heraus. Sie sprach kaum über Dad, der mit fünfundvierzig an einem Herzinfarkt gestorben war. Damals war ich gerade einmal zehn Jahre alt. Von einem Augenblick auf den anderen änderte sich unser Leben von Grund auf, und wir sahen uns gezwungen, unser hübsches viktorianisches Haus in Surrey zu verkaufen und in diese Wohnung nach Battersea zu ziehen. Wir standen damals beide unter Schock, doch wir ließen uns nicht unterkriegen und machten mit unserem Leben in London weiter – auch weil uns schlicht und ergreifend nichts anderes übrig blieb. Seit jener Zeit waren wir ein kleines, aber eingeschworenes Team. Nur wir beide. Und dann auch noch Bertie, als ich zum Studium wegzog und Mum beschloss, dass sie ein kleines pelziges Ersatzkind brauchte.

Ich steckte den Ring an den Finger. Er war am Knöchel etwas eng, ließ sich aber dennoch überstreifen. »Er ist wunderschön«, sagte ich und betrachtete meine Hand. Dann blickte ich zu Mum auf. »Danke.«

»Gut, ich bin froh, dass er dir passt. Und jetzt hör mir zu, denn es gibt da etwas, worüber ich mit dir sprechen muss.«

»Mhmm?« Ich versuchte, den Ring an meinem Finger zu drehen, und überlegte, dass ein kleiner Magen-Darm-Infekt aufgrund einer Garnelen-induzierten Lebensmittelvergiftung womöglich gar nicht so schlecht wäre. Schließlich könnte ich so wahrscheinlich zwei, drei Kilo loswerden.

»Polly?«

»Ja, ja, entschuldige, ich höre zu.« Ich ließ den Ring los und lehnte mich auf dem Sofa zurück.

»Also gut«, begann Mum. »Ich war letzte Woche bei Dr. Young. Du weißt schon, wegen der Brustschmerzen, die mir zu schaffen gemacht haben? Ich habe zwar meine Blutdrucktabletten genommen, aber sie haben nicht geholfen, also bin ich am Donnerstag noch einmal hin. Wirklich furchtbar diese Woche, der Warteraum voller schnupfender, hustender Patienten. Aber ich bin trotzdem noch einmal vorbei, und, na ja, er will, dass ich ein MRT machen lasse.«

»Ein MRT?«

»Ja. Er meint, dass es höchstwahrscheinlich nichts sei, aber dass wir trotzdem sichergehen sollten.«

»Oh, okay … aber was wäre es denn, wenn es nicht nichts wäre?«

»Na ja, es könnte irgendeine Kleinigkeit sein«, erwiderte Mum leichthin. »Aber deswegen möchte er ja, dass ich ein MRT machen lassen, um es zu überprüfen.«

»Wann ist der Termin?« Mir war plötzlich speiübel. Panik überkam mich. Es war keine zwei Minuten her, dass ich mir Sorgen wegen des Ablaufdatums auf einer Garnelenpackung gemacht hatte. Auf einmal schien es vollkommen albern.

»Ich warte noch auf eine schriftliche Terminbestätigung. Dr. Young meinte, ich sollte in den nächsten zwei Wochen Bescheid bekommen, aber die Post ist zurzeit so langsam. Na ja, wir werden ja sehen.«

»Es könnte vielleicht ganz hilfreich sein, wenn du ab und zu die Post unten durchschauen würdest«, sagte ich so behutsam wie möglich. »Du willst doch den Termin nicht verpassen.«

»Nein, nein, ich weiß.«

Ich hatte mir im Lauf der Jahre immer wieder gesagt, dass Mum und ich ganz gut allein zurechtkämen. Besser sogar als gut. Wir standen uns viel näher, als ich es von meinen Freunden und deren Eltern her kannte. Doch hin und wieder wünschte ich mir trotzdem, dass Mum einen Ehemann hätte, der sich um sie kümmerte. Und das hier war einer dieser Momente. Nur um jemanden zu haben, der sie unterstützte, der ihr half, der für sie da war, wenn sie jemanden zum Reden brauchte. Mit Bertie konnte sie über dieses Thema ja schließlich schlecht sprechen.

»Gibst du mir Bescheid, wenn du den Brief bekommst, damit ich dich begleiten kann? Wo wird es denn gemacht?«, fragte ich.

»Oh, das ist doch nicht nötig, mein Schatz. Du musst schließlich arbeiten. Mach dir da mal keinen Kopf.«

»Sei nicht albern, natürlich komme ich mit. Ich arbeite für eine Klatschzeitschrift, nicht für den britischen Geheimdienst. Es wird schon niemanden umbringen, wenn ich mir ein paar Stunden freinehme.«

»Und was ist mit Peregrine?«

»Er wird es überleben.«

»Okay. Wenn du dir ganz sicher bist, wäre das natürlich schön. Die Untersuchung findet im St.-Thomas-Krankenhaus statt.«

»Gut, dann wäre das ja geklärt«, sagte ich und versuchte, zuversichtlich zu klingen, so als ob das MRT eine reine Routineuntersuchung wäre und es keinerlei Grund zur Sorge gäbe. »Und jetzt lass uns mal an diesen Garnelen schnuppern.«

Bis Freitagnachmittag hatte ich sechs adlige Babys inklusive Ultraschallbilder aufgetrieben. Aber wo zur Hölle sollte ich die restlichen vier hernehmen? Mein Handy, das neben der Tastatur lag, vibrierte, und eine Nachricht von Bill ploppte auf. Bill war ein uralter Freund, der jedes Jahr am Ende der ersten Januarwoche eine Party veranstaltete, um die Tatsache zu feiern, dass die deprimierendste Woche des Jahres vorbei war.

Du kannst jederzeit nach 18 Uhr vorbeikommen! X

Ich schaute wieder auf meinen Bildschirm voller Baby-Ultraschalls. Oh Mann. Ein Baby. Das schien eine Million Lichtjahre von meinem jetzigen Leben entfernt. Ich hatte seit meiner Studienzeit keinen richtigen Freund mehr gehabt. Damals war ich ein Jahr lang mit einem Jurastudenten namens Harry gegangen, doch dann hatte er sich entschieden, nach Dubai zu ziehen. Eine Woche lang heulte ich mir zu Hause die Augen aus, bis meine beste Freundin, Lex, mir sagte, dass ich mich endlich wieder »der Außenwelt stellen musste«. Doch seither war mein Liebesleben trockener als ein TUC-Keks. Hin und wieder ein Date, hin und wieder ein bisschen Gefummel, hin und wieder sogar ein bisschen Sex, worüber ich dann ganz aus dem Häuschen war, bis mir wieder klar wurde, dass der Sex eigentlich grottig gewesen war, und überhaupt – was gab es da zu freuen?

Letztes Jahr hatte ich ganze zwei Mal Sex gehabt, beide Male mit einem norwegischen Banker namens Fred, den ich über einen gemeinsamen Freund bei einem Sommerpicknick im Green Park kennengelernt hatte – falls man denn mehrere Flaschen Rosé und ein paar Oliven aus dem Supermarkt als Picknick bezeichnen kann. Lex und ich tranken so viel Wein, dass wir bei Einbruch der Dunkelheit beschlossen, unter einem tief hängenden Baum pinkeln zu gehen. Und das wiederum beeindruckte Fred anscheinend so sehr, dass er sich, als Lex und ich wieder zum Kreis zurückkehrten, zu mir setzte.

Wir endeten alle gemeinsam in der Tiki Bar des Londoner Hilton Hotels an der Park Lane, wo Fred mir einen Cocktail bestellte, der in einer Kokosnuss serviert wurde. Er fiel beim Abschied am Parkplatz über mich her, und ich wartete nach dem Geknutsche, bis ich sicher in meinem Taxi saß, bevor ich mir mit dem Handrücken die feuchten Schlieren um den Mund wegwischte. Wir verabredeten uns noch zweimal, und ich schlief beide Male mit ihm – was vermutlich ein Fehler war. Danach hörte ich nichts mehr von ihm. Nach einer Woche schrieb ich ihm eine Nachricht, in der ich ihn ganz unbefangen fragte, ob er in der Gegend sei und Lust hätte, was trinken zu gehen. Er antwortete ein paar Tage später.

Oh, sorry, bin zurzeit beruflich viel unterwegs und nicht sicher, ob sich das so schnell ändern wird. F

»Ja, F wie Fucking Volltrottel, denn nichts anderes ist er«, sagte Lex, loyal wie immer, als ich ihr davon erzählte.

Das also war die Gesamtausbeute meiner romantischen Abenteuer des letzten Jahres. Deprimierend. Andere Leute schienen ständig Sex zu haben. Doch ich saß hier in meinem Büro wie so eine frigide Topfpflanze und sammelte fremde Ultraschallbilder – den offensichtlichsten Beweis, dass diese Leute Sex hatten.

Ich spähte durch das Fenster auf die schmale Straße, die Richtung Notting Hill Gate führte. Es war einer dieser grauen Januartage, die sich gar nicht erst die Mühe machten, einigermaßen hell zu werden, und die Menschen eilten mit gesenkten Köpfen und hochgezogenen Schultern die Bürgersteige entlang, wie um sich gegen die drückende Düsternis abzuschirmen.

Aber egal. Bald war es achtzehn Uhr, und ich könnte das alles hinter mir lassen und mich in Bills Wohnung flüchten, wo mich ein köstliches Glas Wein erwartete. Oder, wenn ich ehrlich sein sollte, wohl eher mehrere Gläser.

Exakt eine Sekunde nach achtzehn Uhr verließ ich die Redaktion und schlängelte mich durch die Touristenhorden in der U-Bahn-Station Notting Hill Gate. Sie schoben sich in diesem ganz speziellen Touri-Tempo voran, das in mir den tiefen Wunsch weckte, ihnen allen vors Schienbein zu treten. Als ich endlich in Brixton ausstieg, ging ich noch schnell zu dem kleinen Laden am anderen Ende von Bills Straße, um eine Flasche Wein zu kaufen. Und eine große Tüte Kettle-Chips. »Wir lassen es krachen, ist schließlich Freitagabend, oder?«, sagte ich zu dem Mann an der Kasse, der mich jedoch kaum eines Blickes würdigte.

Bill lebte in einem Erdgeschoss-Apartment in einer hübschen Straße mit weiß gestrichenen Reihenhäusern. Er hatte sich die Wohnung gekauft, als er noch als Programmierer bei Google gearbeitet hatte. Den Job hatte er erst vor Kurzem gekündigt, um sich voll auf die Entwicklung einer App für das staatliche Gesundheitssystem zu konzentrieren. Irgendwas mit erleichterten Terminabsprachen. Bill meinte, dass er seine nerdigen Superkräfte damit jetzt endlich sinnvoll nutzen könnte. Er hatte nie versucht, seine verschrobene, streberhafte Seite zu verbergen. Und genau das war einer der Gründe, warum wir uns als Teenager auf einer Party angefreundet hatten.

Lex war an jenem Abend oben im Badezimmer verschwunden, um mit einem Jungen zu knutschen (sie war ständig am Knutschen oder Fummeln – damals wurde überhaupt eine Menge gefummelt und gefingert), während ich auf einem Sofa im Hobbykeller saß und mit dem Fuß zu einem Lied von Blue mitwippte, damit es so aussah, als würde ich mich supergut amüsieren, wo ich mich doch in Wahrheit supermies fühlte, weil nie ein Junge mit mir knutschen wollte. Und wenn kein Junge je mit mir knutschen wollte, wie sollte ich dann je befummelt werden? Und wenn ich niemals befummelt wurde, wie sollte ich dann jemals richtigen, echten Sex haben? Es schien hoffnungslos. Und gerade in dem Moment, als ich beschloss, es wäre wohl das Beste, in ein Kloster einzutreten – gab es überhaupt welche in Südlondon? –, setzte sich ein Junge auf das andere Ende des Sofas. Er hatte strubbeliges schwarzes Haar und trug eine Brille, deren Gläser so dick waren, dass sie aussahen, als wären sie doppelverglast.

»Ich hasse Partys«, sagte er und schielte mich dabei durch seine Doppelgläser hindurch an. »Kannst du Partys auch nicht leiden?«

Ich nickte schüchtern in seine Richtung, und er grinste zurück.

»Die sind doch alle schrecklich, oder? Ich bin übrigens Bill.« Er streckte mir seine Hand hin, und ich schüttelte sie. Dann unterhielten wir uns über Musik und die anstehenden Prüfungen für die Mittlere Reife. Erst als Lex etwa eine Stunde später wieder zum Luftschnappen auftauchte, atemlos und mit erdbeerrot geschwollenem Mund, wurde mir klar, dass ich einen neuen Freund gefunden hatte. Keinen Freund-Freund, mit dem man rumknutschte – ich wollte mit Bill nicht knutschen, seine Brille sah wirklich krass aus –, aber ich hatte einen echten Jungen zum Freund. Und Freunde waren wir seitdem geblieben.

»Hereinspaziert, hereinspaziert«, begrüßte mich Bill, als ich eintraf. Mit der einen Hand öffnete er die Haustür, während er in der anderen eine Jeans hielt. »Entschuldige, ich habe es noch nicht geschafft, mich umzuziehen.« Er grinste. »Du bist die Erste.«

»Dann beeil dich lieber«, erwiderte ich. »Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«

»Nein. Stell einfach deine Flaschen ab und öffne, was immer du willst. Ich bin in zwei Minuten wieder da!«, rief er auf dem Weg ins Schlafzimmer.

Ich warf einen Blick in den Kühlschrank. Er war gerammelt voll: Würstchen, Speck, ein paar Steaks und irgendwas, das vermutlich mal eine Tomate gewesen war, nun aber ein interessantes Forschungsobjekt für einen Wissenschaftler abgegeben hätte. Darüber hinaus keine erkennbaren Spuren von Gemüse. Ich schnappte mir eine Flasche Weißwein und kramte in einer Schublade nach dem Korkenzieher.

Bill kam in die Küche zurück; er hatte die Jeans von eben an und dazu ein T-Shirt mit der Aufschrift: Ich bin ein Computerflüsterer. In den Jahren, die auf unser Kennenlernen folgten, hatte er zwar Kontaktlinsen entdeckt, sich jedoch gleichzeitig eine ganze Kollektion fragwürdiger Statement-T-Shirts angeschafft.

»Schenk mir auch eins ein. Oder nein, warte. Ich glaub, ich nehme doch erst ein Bier. Also, wie geht’s dir so?«, fragte er und öffnete eine Flasche. »Wie war Weihnachten? Wie war dein Geburtstag und so weiter? Ich hab übrigens eine Karte für dich.« Er nahm einen Umschlag vom Küchentisch und reichte ihn mir. »Bitte schön.«

Mit dreißig keinen Mann zu haben, ist nicht mehr so schlimm wie früher, stand vorne drauf. Ich musste grinsen.

»Danke, Mann. Das ist wirklich sehr motivierend.« Ich legte die Karte beiseite und nahm einen Schluck Wein. »Weihnachten war tatsächlich ganz schön, danke. Ruhig, aber irgendwie perfekt. Viel gegessen, viel geschlafen. Du weißt schon, das Übliche eben.« Ich hatte mir die ganze Woche über Sorgen wegen Mums MRT-Termin gemacht, aber ich wollte es noch niemandem erzählen. Solange ich nicht darüber redete, schaffte ich es einigermaßen, die Panik unter Verschluss zu halten, die ich verspürte, wenn ich mitten in der Nacht aufwachte, schlaflos in meinem Bett lag und über die anstehende Untersuchung nachdachte. Ich hatte beschlossen, das Ergebnis abzuwarten, und danach könnte man immer noch weitersehen. »Wie war’s bei dir?«

»Schrecklich«, erwiderte Bill. »Ich habe mehr oder weniger durchgearbeitet und versucht, Investoren an Land zu ziehen.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier und lehnte sich an den Küchentresen. »Also bin ich die ganze Woche nicht vor Mitternacht aus dem Büro gekommen; mein einziger Sport besteht momentan darin, viermal am Tag vom Schreibtisch zum Klo und wieder zurück zu laufen. Aber so ist das Start-up-Leben nun mal«, seufzte er und nahm einen weiteren Schluck.

»Und was macht das Liebesleben?«, fragte ich.

»Ich treffe mich immer noch mit diesem Mädchen, Willow. Habe ich dir nicht schon vor Weihnachten von ihr erzählt?«

Ich nickte. »Die von Tinder? Die als … Dingsda arbeitet?« Eigentlich erinnerte ich mich kaum an etwas. Wenn Bill was mit einer Frau laufen hatte, reagierte ich immer ziemlich selbstsüchtig und tendenziell beleidigt, weil es bedeutete, dass er weniger oft für Kinobesuche und Pizzaessen zur Verfügung stand.

»Als Innenarchitektin, ja. Sie ist echt cool. Aber gerade ist alles so stressig, dass ich sie immer wieder versetzen muss, um stattdessen eine Single-Portion gebratener Asia-Nudeln mit Hühnchen am Schreibtisch zu verdrücken.«

»Hast du sie für heute Abend eingeladen?«

»Ja, aber sie schafft es leider nicht.«

»Oh. Und wer kommt sonst noch?«

Normalerweise wäre Lex da gewesen, und wir beide hätten den Abend damit verbracht, Wein zu trinken und unsere Neujahrsvorsätze durchzugehen. Doch dieses Jahr war Lex mit ihrem Lover, Hamish, nach Italien geflogen. Daher war ich etwas nervös, wen Bill noch eingeladen hatte. Nein, nicht nervös. Ich hatte nur keine Lust, mich den ganzen Abend mit Fremden unterhalten zu müssen.

»Hm, da wären Robin und Sal, die kennst du schon. Dann noch ein Pärchen von zu Hause – Johny und Olivia, frisch verlobt. Und zwei Freunde von der Business School, die du auch noch nicht getroffen hast: Lou, die für kurze Zeit aus den Staaten hergekommen ist und die du mit Sicherheit lieben wirst, sie ist wirklich toll. Und Callum, den habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.« Sein Handy vibrierte, und er blickte aufs Display. »Oh, das ist sie ja … Lou, hi«, meldete er sich. »Nein, nein, mach dir keine Umstände, nur was zu trinken wäre super … Hausnummer dreiundfünfzig, ja? Die blaue Tür. Einfach klingeln. Bis gleich.«

Um dreiundzwanzig Uhr saßen immer noch alle um Bills Küchentisch herum, die Weingläser mit fettigen Fingerabdrücken verschmiert. Ich hatte richtig viel Rotwein getrunken und saß eingepfercht wie eine Geisel zwischen Sal und Olivia, die sich über ihre Hochzeitspläne unterhielten. Wie war es physikalisch überhaupt möglich, dass zwei selbstbewusste und erfolgreiche junge Frauen so in der Frage aufgehen konnten, in welcher Schrift sie ihre Hochzeitseinladungen drucken sollten? Ich musste an die zahllosen Hochzeiten denken, auf denen ich die letzten zwei Jahre gewesen war: Spitzenkleid nach Spitzenkleid (da heutzutage jede Braut so sittsam und züchtig aussehen wollte wie Kate Middleton an ihrem großen Tag), körbeweise Konfetti vor der Kirche, dann schnell zum Empfang, um sich ungefähr vierundneunzig Gläser Champagner und drei Kanapees einzuverleiben. Wenn ich ehrlich war, konnte ich mich an das Abendessen nie richtig erinnern – irgendeine trockene Hühnerbrust wahrscheinlich. Dann achtunddreißig Cocktails nach dem Dinner, die ich klassischerweise zu einem Großteil über mir selbst und dem Tanzboden verschüttete. Kurz nach Mitternacht dann Schlafenszeit mit schlimmen Blasen an den Füßen von den absolut unakzeptablen Absätzen, die ich getragen hatte. Doch ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, in welcher Schrift die Einladung verfasst worden war.

Nur dass bei der Anrede schlicht und einfach Polly dastand. Nur Polly, weiter nichts. Nie Polly & Soundso, da ich nie einen Freund hatte. Manchmal hieß es auf einer Einladung Polly mit Begleitung. Aber das war ähnlich hoffnungslos, da ich auch so jemanden nicht vorzuweisen hatte. Ich griff wieder nach der Weinflasche und ermahnte mich selbst, mit den trüben Gedanken aufzuhören.

»Wer hat Lust auf einen Kaffee?«, fragte Bill und stand auf.

Ich hob die Weinflasche hoch. »Ich bleibe beim Roten.«

»Du bist heute aber nicht mit dem Rad unterwegs, oder?«, fragte Bill.

»Nö. Ich nehme mir ein Uber. Aber sehr rührend, deine Sorge.«

»Ich frag ja nur. Also schön, dann bitte nach nebenan. Ich setze bloß schnell Wasser auf.«

Es ertönte ein beipflichtendes Murmeln, und alle standen auf und machten sich daran, Teller vom Tisch und Servietten vom Boden aufzusammeln.

»Lasst nur stehen«, sagte Bill. »Das erledige ich später.«

Ich schnappte mir Weinflasche und Glas und schlurfte ins Wohnzimmer rüber, wo ich mich aufs Sofa plumpsen ließ und demonstrativ gähnte. Ja, ich war definitiv etwas angenervt.

Sal und Olivia folgten mir und setzten sich auf das Sofa gegenüber, wobei sie immer noch über ihre Hochzeiten quasselten. »Also, wir bestellen eine Fotokabine, aber dafür kein Käsebuffet, weil der sowieso nie wegkommt. Was meinst du?«, hörte ich Sal sagen.

Olivia antwortete mit feierlichem Ernst, als hätte man sie gerade um ihre Meinung zum Nahostkonflikt gebeten. »Ja, das ist eine wirklich heikle Frage, oder? Wir haben zwar keine Fotokabine, aber dafür einen Kameramann, den wir für den ganzen Tag gebucht haben, daher …«

Ich gähnte abermals. Ich war mit Sal an der Uni gewesen. Einmal hatte sie sich splitterfasernackt ausgezogen und war über ein Fußballfeld gerannt, um gegen die Studiengebühren zu protestieren. Doch heute, während sie über Käsebuffets und Fotokabinen debattierte, schien sie wie ein anderer Mensch. Ein Alien vom Planeten Hochzeit.

»Und du fährst also auch gerne Fahrrad?«, fragte Bills BWL-Kumpel und setzte sich neben mir aufs Sofa.

»Jupp. Meistens schon. Nur nicht, wenn ich zehn Flaschen Wein intus haben.«

»Sehr vernünftig. Sorry, ich bin übrigens Callum.« Er streckte mir zur Begrüßung die Hand hin.

Eingekesselt von zwei Hochzeitsfetischistinnen, hatte ich Callum bisher nicht wirklich registriert. Er hatte einen kahl rasierten Kopf und trug ein hellgraues T-Shirt, das ein Paar recht muskulöser Oberarme offenbarte, dazu ziemlich schicke Sportschuhe – dunkelblaue Nike Airs. Ich achtete immer auf die Schuhe von Männern. Spitze schwarze Schnürschuhe – ganz schlecht. Das richtige Paar Sportschuhe – geradezu aphrodisierend. Lex warf mir immer vor, in puncto Männerfußbekleidung viel zu pingelig zu sein. Aber was, wenn man mit einem Typen ausging, der schwarze, spitze Schnürschuhe trug? Oder, schlimmer noch, braune glänzende Slipper mit eckigen Spitzen? Und sich rettungslos in ihn verliebte? Man sähe einer Zukunft entgegen, die darin bestand, den Rest des Lebens mit jemandem zu verbringen, der abartige Schuhe trug.

»Ich bin Polly«, erwiderte ich und löste den Blick von Callums Sportschuhen.

»Du bist also eine alte Freundin von Bill?«

»Jepp, seit einer Ewigkeit. Seit wir Teenager waren.«

Er nickte.

»Und du hast ihn beim Studium kennenglernt?«

Er nickte abermals. »Ja, an der London Business School.«

»Und was machst du jetzt?«, fragte ich.

»Todlangweiliges Zeug. Ich arbeite für eine Versicherung, aber ich versuche gerade, in die K&R-Abteilung zu wechseln.«

»Was ist das?«

»Kidnap & Ransom-Versicherungen, bei Entführungen und Lösegeldforderungen. Also mehr im Security-Bereich.« Er lehnte sich zurück und stützte einen muskulösen Arm hinter sich ab.

»Wie überaus James-Bond-mäßig.«

Er lachte. »Das wird sich noch herausstellen.«

»Reist du viel?«

»Ein bisschen. Ich würde aber gerne mehr von der Welt sehen. Und du?«

»Ich arbeite für eine Zeitschrift. Die Posh!?«, antwortete ich, als wäre es eine Frage, da ich nicht sicher war, ob er davon gehört hatte.

Er lachte wieder und nickte. »Kenne ich. So … Society-Themen, nicht wahr?«

»Ganz genau. Schlösser. Labradore. So Zeug.«

Er grinste. »Ich mag Labradore. Macht es Spaß?«

»Jepp. Völlig irre, aber witzig.«

»Kommst du viel herum?«

»Manchmal. Wenn ich viel Glück habe, darf ich eine kalte, zugige Ruine in Schottland besuchen.«

»Wie überaus glamourös«, sagte er und grinste wieder.

War das ein Flirt? Ich war mir nicht sicher. Ich war mir nie sicher. Während der Schulzeit hatten wir alles übers Flirten aus der Cosmopolitan gelernt, in der stand, dass es gut war, die Hand des Gegenübers zu streifen. Und auch, dass das Mädchen sich in Gegenwart des Jungen auf die Unterlippe beißen sollte – oder war es über die Lippen lecken? Auf jeden Fall sollte sie etwas tun, um die Aufmerksamkeit auf ihren Mund zu lenken. Wie auch immer, jedenfalls hatten meine Flirtfähigkeiten seit damals keine sonderlich großen Fortschritte gemacht, und manchmal, wenn ich unbeholfen versuchte, mit jemandem zu flirten, indem ich den Arm oder das Knie eines Mannes berührte und mir gleichzeitig über die Lippen leckte, sah es am Ende aus, als hätte ich einen spastischen Anfall.

»Moment, könntest du kurz dein Glas nehmen?«, sagte er und beugte sich über mich.

Mein Magen machte einen aufgeregten Satz. Wollte er etwa über mich herfallen? Hier? Jetzt schon? In Bills Wohnung? Wow. Womöglich unterschätzte ich mich gnadenlos. Womöglich war ich viel besser im Flirten, als mir selbst bewusst war.

Aber nein, er fiel nicht über mich her. Er griff nur nach einem Buch. Unter meinem Weinglas lag ein großer, schwerer Bildband auf dem Sofatisch. Callum nahm es, klappte es auf und legte es uns beiden über den Schoß.

Dann lehnte er sich zurück und begann darin zu blättern. Es handelte sich um eindrucksvolle Reisefotografien: Rentiere im Schnee an einem schwedischen See; ein alter Mann, der sich auf irgendwelchen Steinstufen in Delhi wusch; ein Vulkan in Indonesien, der dicke orangefarbene Rauchwolken ausstieß.

»Da will ich hin«, sagte er und zeigte auf das Foto einer flachen kalkweißen Landschaft – eine Salzwüste in Äthiopien.

»Mach das. Und danach fahren wir … dahin«, erwiderte ich und blätterte zur nächsten Seite.

»Venedig? Warst du schon mal dort?« Er drehte sich ein Stück zu mir, um mich anzuschauen.

»Nein.« War das jetzt ein guter Moment, um seinen Arm anzufassen? Eigentlich hatte ich ziemliche Lust, seinen Arm anzufassen.

»Dann nehme ich dich natürlich mit.«

»Ha!«, stieß ich nervös aus und klatschte mit der Hand auf seinen Unterarm.

Wir blätterten weiter, lachten und diskutierten, wohin wir fahren wollten, bis die Fotos allmählich verschwammen. Ich konnte mich sowieso nicht richtig konzentrieren, da Callum sein Bein unter dem Buch verschoben hatte, sodass es meinen Oberschenkel berührte. Ich ließ unauffällig den Blick über seinen Körper schweifen. Wie groß war er wohl? Im Sitzen war es schwer zu sagen.

»Also gut, Leute«, meldete sich Bill eine Weile später von der anderen Seite des Zimmers und leerte seine Kaffeetasse. »Ich glaube, es ist an der Zeit zu gehen. Tut mir leid, dass ich die Party sprenge, aber ich muss morgen früh raus.«

Callum klappte das Buch zu und zog sein Bein weg, als er sich auf dem Sofa streckte und gähnte. »Spielverderber.«

»Ich weiß, Kumpel, aber manche von uns leben nun mal nicht vom Trinken. Wir haben echte Jobs.«

»Darüber sprechen wir, wenn ich in Peshawar bin.« Er stand auf und klopfte Bill in einer männlichen Umarmung auf den Rücken. Er war genauso groß wie Bill, bemerkte ich. Knapp über ein Meter achtzig. Eine gute Größe, die ich mir bei einem Mann wünschte, damit ich mir im Bett neben ihm nicht wie eine Giraffe vorkam. Dieses Gerücht, dass man immer mit jemandem im Bett landet, der so groß ist wie man selbst, ist totaler Blödsinn.

Um uns herum verabschiedeten sich die anderen voneinander. »Danke noch mal«, sagte ich zu Bill und umarmte ihn. »Arbeite morgen nicht zu viel.«

»Nichts zu danken«, erwiderte er an meiner Schulter. »Und nein, werde ich nicht. Sonntag dürfte ich wieder Zeit haben, du auch? Lust auf Kino oder so? Ist Lex schon zurück?«

»Sie kommt morgen wieder, also habe ich vorgeschlagen, dass wir uns am Sonntag zum Mittagessen treffen. Magst du mitkommen?«

»Vielleicht, lass uns morgen telefonieren, ja?«

Ich nickte, und Bill wandte sich ab, um sich von Lou hinter uns zu verabschieden.

»Wohin musst du denn?«, fragte Callum, als wir an der offenen Haustür standen. Ich blinzelte angestrengt in mein Smartphone, während ich versuchte, ein Uber zu finden.

»Shepherd’s Bush.«

»Perfekt. Da du nicht mit dem Rad unterwegs bist, werde ich dich heimbegleiten.«

»Warum, wo wohnst du?«

»In der Nähe«, erwiderte er. »Wie lautet deine Postleitzahl?«

Das hier passierte eigentlich nie. Das Monster von Loch Ness zu sichten, war wahrscheinlicher, als dass meine Wenigkeit mit einem Mann heimging. Ich runzelte die Stirn, während ich angestrengt versuchte, mich daran zu erinnern, in welchem Zustand sich meine Bikinizone befand. Ich sollte wohl besser nicht mit ihm schlafen – ich hatte die schlimme Befürchtung, dass es da unten aussah wie in den Hängenden Gärten von Babylon.

»Was ist los?«, fragte er, als er meine besorgte Miene sah.

»Oh, nichts, gar nichts, alles gut«, antwortete ich rasch. Mir war auch klar, dass ich meine Beine seit Wochen nicht mehr rasiert hatte. Seit Monaten womöglich. Also streckte ich mich ein paar Minuten später auf dem Rücksitz des Uber-Taxis nach unten und versuchte unauffällig, zwei Finger unter den Saum meiner Jeans zu schieben, um zu überprüfen, wie borstig mein Bein war. Es fühlte sich an wie eine Scheuerbürste.

»Was tust du da?« Callum sah mich fragend an.

»Musste mich nur kratzen.« Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück. »Du kommst übrigens nicht mit hoch«, sagte ich mit meiner strengsten Stimme, als der Wagen vor meiner Wohnung hielt.

»Klar gehe ich mit. Ich muss schließlich sicherstellen, dass du heil nach Hause kommst«, erwiderte er, öffnete die Tür und stieg aus.

Obwohl ich mir Sorgen um meine affenartige Körperbehaarung machte, ließ ich ihn hinein, woraufhin er sofort anfing, durch meine Küchenschränke zu stöbern. Ich schleuderte meine Schuhe von den Füßen, setzte mich an den Küchentisch und sah ihm zu, wobei ich gegen meinen Schluckauf ankämpfte.

»Pssssst, mein Mitbewohner schläft«, ermahnte ich ihn, als er die Etiketten von ein paar halb leeren Flaschen inspizierte, die er in einem Schrank entdeckt hatte.

»Das dürfte gehen.« Es war eine Flasche billiger Wodka; so einer, von dem man blind wurde. »Wo sind die Gläser?«

Ich deutete zum Hängeschrank über seinem Kopf.

»Ich kann das nicht komplett trinken«, protestierte ich, als er mir ein Glas reichte.

»Klar kannst du, kipp es einfach runter.« Er trank seins in einem Zug aus und blickte mich erwartungsvoll an.

Ich hob mein Glas und musste von den Alkoholdämpfen beinahe würgen; dann öffnete ich den Mund und nahm drei Schluck.

»Gut gemacht.« Er nahm mir das Glas wieder ab, als ich mich angewidert schüttelte, und stellte es auf den Tisch zurück.

»Jetzt mal im Ernst, warum stehen die Russen so auf das Zeug? Es ist voll eklig, und beim Schlucken muss ich …«

Er unterbrach mich, indem er mein Gesicht mit seinen Händen umfasste und mich küsste. Seine Zunge schmeckte nach Wodka. »Welches ist dein Zimmer?«

Ich zeigte auf die Tür, und er nahm meine Hand, zog mich vom Küchentisch hoch und in mein Zimmer, wo ich wie erstarrt stehen blieb. Es gab genau zwei superpeinliche Dinge, die ich unbedingt verstecken musste: meine schrumpeligen, angegilbten Ohrstöpsel auf dem Nachttisch und meinen uralten Kuschelhasen aus Kindertagen, der zwischen den Kissen lag und mich mit vorwurfsvollem Blick aus seinen Glasaugen anschaute.

Ich packte beides, öffnete meine Unterwäscheschublade und stopfte die Sachen dort hinein. Ganz kurz verspürte ich ein schlechtes Gewissen wegen meines Hasen, doch dann dachte ich: Du stehst kurz davor, den ersten Sex seit gefühlt fünfhundert Monaten zu haben, Polly, das ist nicht der Moment, dich sentimentalen Gefühlen für deinen Plüschhasen hinzugeben.

Callum setzte sich aufs Bettende und begann damit, seine Schuhe aufzuschnüren.

»Warte, ich muss noch kurz was erledigen.« Ich griff nach einer Streichholzschachtel auf dem Nachttisch und zündete eine Kerze an.

Und hier folgt eine Liste der Dinge, die als Nächstes passierten und auf wunderbare Weise veranschaulichen, warum ich nie auch nur daran denken dürfte, Sex mit irgendwem zu haben.

Als ich die Kerze angezündet hatte, hockte ich mich neben Callum, und er begann damit, meine Bluse aufzuknöpfen. Doch dann geriet ich in Panik, weil ich im Sitzen Speckröllchen auf dem Bauch bekam, also legte ich mich stattdessen schnell hin und zog ihn mit aufs Bett. Dann knöpfte er den Rest meiner Bluse auf, und es folgten ein paar latent entwürdigende Momente, in denen ich mit den Armen flappte wie eine gestrandete Robbe, als ich versuchte, mich aus den Ärmeln zu befreien.

Der Kampf mit dem BH-Verschluss: Callum griff beherzt danach; ganz offenbar wollte er einer dieser fingerfertigen Typen sein, die nur blinzeln mussten, um einen BH-Verschluss – jeden BH-Verschluss – aufschnappen zu lassen. »Ich hab’s gleich«, nuschelte er nach ein paar Sekunden Gefummel, in denen ich angestrengt mein Rückgrat durchbog.

Mein Höschen runterkriegen: Dies wiederum erforderte einiges an Geschicklichkeit meinerseits, während ich wie ein Käfer auf dem Rücken mit den Beinen in der Luft herumstrampelte.

Danach wanderte Callum über meinen Bauch hinweg nach unten, bis er mit dem Kopf zwischen meinen Schenkeln auf dem Boden kniete. Ich überlegte kurz, einen Witz zu reißen – so nach dem Motto, ob er vielleicht eine Black & Decker bräuchte, um sich durch das Buschwerk zu kämpfen –, entschied jedoch, dass so ein Spruch sicher die Stimmung ruinieren würde. Stattdessen begann ich, mir Sorgen um meine Atmung zu machen. Ich fand es irgendwie peinlich, nur so still dazuliegen, also beschloss ich, ein bisschen zu stöhnen, während er sich da unten mit der Zunge zu schaffen machte. Doch das Stöhnen fiel mir immer schwerer, als Callum nach einem vielversprechenden Start – vielleicht ermutigt von meinem unkontrollierten Atemrhythmus – dazu überging, immer intensiver mit der Zunge zu rotieren wie ein Hund über einem Wassernapf. Also wurde es schmerzhaft, anstatt auch nur annähernd lustvoll zu sein, bis ich feststellen musste, dass ich jegliches Gefühl in meiner Vagina verloren hatte. Während ich so dalag, fragte ich mich, wann ich wohl am besten vorschlagen könnte, dass er wieder hochkäme. Doch wie konnte man das anstellen, ohne dass es beleidigend rüberkam?

Dann das Allerschlimmste: Ich tippte ihm auf den Kopf, und er sah auf. »Komm hoch«, raunte ich und setzte meinen, wie ich hoffte, verführerischsten Blick auf.

Er sah stirnrunzelnd zwischen meinen Beinen auf. »Warum? Gefällt es dir nicht?«

OH GOTT, warum bitte ist Sex nur so schrecklich peinlich? Muss es denn IMMER so peinlich sein?

»Nein, nein, ich … äh, wollte mich nur revanchieren.«

SCHÄM! Ich wollte sterben. Ich hatte ernsthaft das Gefühl, vor Schmach sterben zu müssen.

Also krabbelte Callum wieder aufs Bett hoch und legte sich auf den Rücken; er hatte immer noch seine Boxershorts an. Ich kletterte auf ihn drauf, wobei ich darauf achtete, nicht krumm dazuhängen, damit mein Bauch sich nicht wieder zu Fettröllchen zusammenquetschte. Dann fiel mir ein, dass ich auch meine Nippelhärchen in letzter Zeit nicht gezupft hatte. Zu spät. Ich schlängelte mich rückwärts nach hinten, bis ich zwischen seinen Beinen kniete, und begann, seine Shorts runterzuziehen. Noch so ein schwieriger Move, da ich aufstehen musste, um sie unter ihm wegzuziehen.

Callums Penis war nicht wirklich hart, also öffnete ich den Mund und saugte sanft an seiner Eichel. Er stöhnte. Ich fuhr mit den Lippen langsam an seinem Schaft entlang und gab mir Mühe, den muffigen Geruch zu ignorieren. Nach einer Weile brannten meine Oberschenkelmuskeln. Herrje. Wie lange würde das wohl noch gehen? Ich zog meine Knie ein bisschen ran und öffnete ein Auge, um auf seinen Penis zu schielen. Warum sehen die eigentlich alle wie Riesenregenwürmer aus? In diesem Moment wurde Callums Stöhnen lauter, und ich spürte eine Hand auf meinem Hinterkopf, als er meinen Mund nach unten drückte. Ich hatte schon Zeitungsartikel gelesen, in denen stand, dass man auch an den Eiern lutschen sollte, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich alles auf einmal in meinen Mund kriegen sollte. Ich meine, das wäre doch, wie ein dreißig Zentimeter langes Subway-Sandwich auf einmal zu verschlingen. Oder lutschte man immer nur an einem Ei?

Als sein Penis meine Kehle traf, musste ich würgen, dann stieß er plötzlich einen Schrei aus, und mein Mund füllte sich mit warmem Sperma. Leicht salzig, etwas süßlich. Ich schluckte es so schnell wie möglich runter, doch der Gedanke, dass das Zeug zusammen mit dem Wodka in meinem Magen herumschwamm, war gelinde gesagt abartig.

»Ich hole mir nur schnell ein Glas Wasser«, nuschelte ich mit klebrigem Mund, kletterte über ihn drüber und schnappte mir ein leeres Glas vom Nachttisch. Im Badezimmer wischte ich mir das Gesicht mit einem Taschentuch ab und sah in den Spiegel. Das wäre also geschafft, immerhin etwas. Außerdem ist es doch immer irgendwie befriedigend, wenn man so weit kommt, oder nicht? Vor allem, weil deine Schenkel endlich ihre wohlverdiente Pause bekommen, aber auch, weil es bedeutet, dass du was richtig gemacht hast und die Zähne nicht im Weg waren. Und überhaupt, beschloss ich, während ich das Glas am Wasserhahn füllte, für den Fall, dass Callum auch durstig war, bin ich jetzt an der Reihe. So ist die Regel. Er hätte sich womöglich etwas mehr Mühe geben können, mich zuerst zu verwöhnen. Aber egal. Er konnte es ja jetzt nachholen.

»Willst du auch Wasser?«, flüsterte ich, als ich ins Schlafzimmer zurückkam, und streckte ihm das Glas hin. Callum war aufgestanden; er hatte seine Jeans an und sein Handy in der Hand.

»Nein, ist schon gut, danke. Ich bestelle mir nur schnell ein Uber. Ich muss morgen früh zum Golfen, also sollte ich besser nach Hause.«

»Oh. Okay. Cool. Kein Problem«, stammelte ich.

WIE BITTE?!

»Aber danke auf jeden Fall, das war super.« Er hob sein T-Shirt auf, zog es sich über den Kopf und klopfte prüfend seine Hosentaschen ab, während ich immer noch nackt, frierend und mit einem Glas Wasser in der Hand dastand. Dann beugte er sich vor und küsste mich auf die Wange.

»Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

»Ähm, ja, mich auch. Warte, ich bringe dich zur Tür.«

»Nein, nein, mach dir keine Umstände. Ich finde schon hinaus. Wir sehen uns.«

»Oh … klar. Okay … tschüs«, brachte ich hervor und hielt immer noch das Glas Wasser fest, als er aus dem Zimmer spazierte.

Ich hörte, wie die Wohnungstür zufiel, und stellte das Glas ab. Dann stand ich nackt in meinem Schlafzimmer und überlegte: War das jetzt eine dieser neuen Gepflogenheiten? Können Männer sich ernsthaft nach einem Blowjob, um – ich blickte auf mein Handgelenk – 02.54 Uhr, einfach so verUbern, ohne sich revanchiert zu haben? Und das auch noch absolut in Ordnung finden?

Als ich am nächsten Morgen aus dem Schlafzimmer kam, stand Joe bereits in der Küche und machte Toast. Er trug eine fadenscheinige Boxershorts und ein altes Rugby-Shirt, beides viel zu knapp für seine Hundert-Kilo-Statur.

»Guten Morgen, mein kleines Blumenkohlröschen, na, Lust auf Frühstück?«

Ich hatte Joe vor drei Jahren über eine Gumtree-Anzeige kennengelernt, als ich bei meiner Mum ausziehen wollte. Damals hatte ich beschlossen, dass ich zu alt war, um noch die Unterhosen gebügelt zu bekommen. Und Joe war seitdem so etwas wie mein platonischer Lebensgefährte oder mein großer Bruder – ein echter Kumpel für mich, aber auch für alle meine Freunde. Unsere Wohnung lag über einem Tante-Emma-Laden, der von einer großen, dicken jamaikanischen Dame namens Barbara geführt wurde, die besessen von Horoskopen war. Ich ging samstagvormittags hinein, um mir Frühstücksspeck zu holen, und kam eine halbe Stunde später mit einer ausführlichen Prognose für mein Wochenende wieder heraus. Und es waren immer schlechte Neuigkeiten. Barbara sog dann ihre Wangen bedeutungsvoll ein und erklärte mir, dass Mars gerade etwas Schräges mit Jupiter anstellte und Saturn ganz aus dem Häuschen war und ich daher äußerst vorsichtig sein sollte, falls mir ein mysteriöser Mann über den Weg lief.

»Nein, danke. Ich fühle mich heute etwas schwach. Kannst du den Wasserkocher anschmeißen?«

»Wie war’s gestern Abend?«

»Ach, das Übliche. Abendessen bei Bill. Hab einen Typen mit nach Hause genommen, um das erste Mal nach gefühlt neunhundert Jahren Sex zu haben, wurde beinahe zu Tode gewürgt, als ich ihm einen geblasen habe, und dann hat er sich direkt im Anschluss verUbert.«

»Polly, Schätzchen, das klingt ja tragisch. Warum ist er nicht geblieben?«

»Da bin ich ehrlich überfragt.« Ich ließ mich aufs Sofa fallen, wobei mein Blick auf die Wodkaflasche auf der Arbeitsfläche fiel. »Ich weiß auch nicht, wie ich das immer schaffe.«

»Wer war es denn?«

»Ein Kumpel von Bill. Sah eigentlich ganz gut aus. Wohnt hier in der Nähe.«

»Und? Wird diese große Romanze weitergehen?« Joe setzte sich mit seinem Teller voll Toast auf den Sessel mir gegenüber.

»Das wage ich zu bezweifeln. Außerdem spielt er Golf.«

Joe schüttelte sich. »Ist ja widerlich.«

Ich seufzte. »Warum kann ich eigentlich kein normaler Mensch sein und stinknormale, funktionierende Beziehungen haben? Ach was, nicht einmal Beziehungen, einfach nur stinknormalen, unkomplizierten Sex? Das Einzige, was ich in letzter Zeit in meiner Vagina hatte, war ein Spekulum.«

»Andere Mütter haben auch schöne Söhne, Schätzchen. Es bringt nichts, sich deswegen fertigzumachen. Wie sehen die Pläne fürs Wochenende aus?«

»Na ja, als Erstes würde ich mir wünschen, dass du dieses klaffende Loch in deiner Boxershorts flickst«, sagte ich, als mein Blick versehentlich auf seinen Schritt fiel. »Und danach bringe ich mich wahrscheinlich um. Ansonsten eigentlich nicht viel. Morgen Mittagessen mit Lex. Und vielleicht auch mit Bill. Was ist mit dir?«

»Das Übliche, bin ein bisschen auf Beute aus. Hab heute Nachmittag ein Date.«

»Mit wem?«

»Mit einem reizenden Knaben namens Marcus. Er ist ebenfalls Musiker und spielt das Horn.«

»Ach, tatsächlich? Und wo haben wir den Knaben gefunden?«

»Er unterrichtet an der Akademie. Hat einen Hintern wie Tom Daley. Ich wage sogar zu behaupten, es könnte Liebe sein.«

Bei Joe war es ziemlich oft »Liebe«. In den letzten Monaten waren einige davon durch unsere Wohnungstür spaziert. Da war Lee gewesen, Kellner in einem Pub in Kilburn; Josh, den Joe beim iPhone-Kauf in einem Apple-Store aufgegabelt hatte; Paddington, ein Diener aus dem Buckingham Palace; und Thomas, ein argentinischer Polospieler, der darauf insistierte, hetero zu sein, es aber durchaus mochte, wenn Joe mit ihm unaussprechliche Dinge mit diversen Lederutensilien anstellte, die er in einer Schachtel unter seinem Bett aufbewahrte. Ich vermied es tunlichst, Joes Schlafzimmer zu betreten, nur für den Fall, dass diese Schachtel offen herumlag.

Beim Gedanken an Joes Schachtel wurde mir gleich wieder schwummrig.

»Weißt du was, vergiss den Tee. Ich glaub, ich gehe wieder ins Bett.«

»Okidoki, mein Blütenknöspchen, ich werde nachher auch ganz leise sein. Immerhin ist es sein erstes Date, ich will den armen Jungen ja nicht verschrecken. Und mach dir keinen Kopf, weil dein Lover einfach so abgehauen ist, das passiert den Besten von uns.«

»Wirklich?«

Er schwieg einen Moment. »Na ja, nein, mir nicht.«

»Super, danke auch, das ist wirklich sehr aufbauend.« Ich schleppte mich in mein Zimmer zurück und schob mir die Ohrstöpsel rein.

Gegen fünfzehn Uhr ließ ich mir ein Bad ein, aß sieben Scheiben Toast mit Honig, trank drei Tassen Tee, legte mich aufs Sofa und schaute mir Drei Männer und eine kleine Lady auf DVD an. Ich hatte auch schon Callum auf Instagram gestalkt und ganze zwei Stunden hin- und herüberlegt, ob ich ihm folgen sollte oder nicht. Dann vibrierte mein Handy. Eine WhatsApp-Nachricht von Bill.

Na, gut heimgekommen?

Ich entschied mich für eine vage Antwort, da ich nicht sicher war, ob er das von Callum wusste. Ich könnte es ihm auch noch morgen erzählen. Im Moment war mir nicht danach.

Ja! Danke fürs Abendessen! Wie läuft’s bei der Arbeit?

Ganz okay. Aber hör mal, macht es dir was aus, wenn ich morgen nicht zum Essen mitkomme? Ich wollte mit Willow was trinken gehen.

Natürlich NICHT! Sei nicht albern. Wohin geht ihr?

Keine Ahnung. Vielleicht Southbank. Guter Ort für ein Date, oder?

Ich schickte ihm eine Reihe gereckter Daumen und wischte dann zu Callums Instagram-Seite zurück. Hauptsächlich Fotos von Rugbyspielen und exotischen Stränden. Ein bisschen öde, wenn ich ehrlich war. Warum steigerte ich mich da so hinein?

Als ich am nächsten Morgen aufwachte – nachdem ich den Abend davor horizontal auf dem Sofa verbracht und grünes Thai-Curry mit süßem, pappigem Kokosreis in mich reingelöffelt hatte –, fühlte ich mich endlich wieder wie ein Mensch. Lex hatte unser Mittagessen auf einen Brunch vorverlegt, was ihr gar nicht ähnlich sah, da sie nicht unbedingt ein Morgenmensch war. Das Eggstacy war ein Café in Notting Hill, das sich, wie sein alberner Name vermuten ließ, auf Frühstück mit Ei spezialisiert hatte: große Lappen buttrigen Rühreis mit geriebenem Gruyère obendrauf, cremige Pilzrahmsoße, kleine Auflaufförmchen mit geräucherten Baked Beans, dicke Scheiben Weißbrot und eimerweise Butter. In Anbetracht meines üppigen Abendmahls zwang ich mich, vorsorglich zu Fuß zu gehen. Was die Kalorien anging, war das kein gutes Wochenende.

Lex und ich kannten uns, seit wir elf waren. Seit dem Jahr also, in dem ich mit meiner Mum nach London zog, meine Grundschule auf dem Land verlassen musste und an eine weiterführende Schule in der Nähe unserer neuen Wohnung in Battersea wechselte. Die Schule, auf die auch Lex ging. Dort erwarteten mich Klassenkameradinnen, die sich schon für Jungs, Lidschatten und irgendwas namens »Take That« interessierten. Lex nahm sich meiner an, so wie man einen kauernden Streuner am Straßenrand aufsammelt.

»Hast du Lust, dir mein Sticker-Heft anzuschauen?«, fragte sie mich während einer Mittagspause, was immer noch der beste Anmachspruch ist, den je irgendwer bei mir gebracht hat. Und so – auf diese süße, unkomplizierte Art, wie sie nur Kindern eigen ist – wurden wir Freundinnen und blieben es auch.

Später zogen wir gemeinsam nach Leeds, um beide Englisch zu studieren, genauso wie Bill, der sich dem Studium der Physik widmete. Wir bildeten ein merkwürdiges Trio: der Wissenschafts-Nerd (Bill), die kleine sexbesessene Blondine (Lex) und ich, die kraushaarige Romantikerin, die sich, angefixt von Sinn und Sinnlichkeit, auf der ewigen Suche nach ihrem eigenen Willoughby befand.

Als ich schwitzend von der strapaziösen Steigung der Holland Park Avenue das Eggstacy erreichte, saß Lex bereits drinnen. Ich winkte ihr von der Tür aus zu und quetschte mich zwischen den Stühlen und Tischen bis nach hinten durch.

»Hallo, Süße«, sagte ich, als sie aufstand, um mich zu umarmen. »Willkommen daheim. Wie war’s?«

»Es war …« Sie lächelte verlegen.

»Was?«

»Na ja, es ist etwas passiert … Das hier.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen.

»Oh mein Gott, Lex!« Da steckte doch tatsächlich ein Ring an ihrem Finger. Ich umfasste ihre Hand und zog sie näher vor mein Gesicht. In der Mitte des Rings prangte ein Diamant von der Größe einer Saubohne, gesäumt von einem ganzen Haufen kleinerer Diamanten. »Du verarschst mich doch?«

»Nein! Das wäre auch ein ziemlich schräger Witz, oder?«, erwiderte sie grinsend.

»Du bist verlobt? Mit Hamish?«

»Ja! Und noch mal, es wäre ziemlich schräg, wenn ich mich seit unserem letzten Treffen mit jemand anderem verlobt hätte.«

»Ja, stimmt auch wieder. Heilige Scheiße. Mit dem Klunker kannst du den Leuten ja den Kopf einschlagen«, sagte ich und begutachtete wieder den Ring. »Ich meine, herzlichen Glückwunsch.«