Wo bitte geht’s zur großen Liebe? - Sophia Money-Coutts - E-Book

Wo bitte geht’s zur großen Liebe? E-Book

Sophia Money-Coutts

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Beschreibung

Sie sucht die ganz große Liebe. Er verspricht ihr das Blaue vom Himmel. Und die rosa Brille steht ihr gut …

Dass es bei Stella gerade nicht rund läuft, wäre noch vorsichtig ausgedrückt. Ihr Freund, reicher Erbe eines Hundefutterimperiums, hat sie sitzen lassen, und ihr Vater hat ihr das Familienvermögen gesperrt. Wenn Stella nur wüsste, was sie mit ihrem Leben anstellen soll – denn sie weiß nur eins: Sie möchte sich verlieben. Und zwar so richtig. So, dass einem alles wehtut vor Glück und die Schmetterlinge im Bauch Purzelbäume schlagen. Als sie in einem Pub in Notting Hill einen großen, gut aussehenden Mann kennenlernt, scheint sich das Blatt endlich zu wenden. Zumal sie durch Zufall auch noch einen Job bei einer äußerst eigenwilligen Privatdetektivin ergattert, die ihr Geld damit verdient, untreue Ehemänner auszuspionieren. Doch das Leben lässt sich nicht so einfach in die Karten schauen – und bald muss Stella sich fragen, ob die große Liebe nicht doch da auf sie wartet, wo sie sie nie vermutet hätte …

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Sophia Money-Coutts ist Tochter eines englischen Barons. Ihre Familie führt die Privatbank »Coutts« – wo unter anderem die Queen ihr Geld anlegte. Sophia ist erfahrene Royal- und Promi-Redakteurin: Sie arbeitete für den Evening Standard und die Daily Mail und lebte zwei Jahre lang in Abu Dhabi. Heute schreibt sie freiberuflich und ist auch in Deutschland als Expertin für Adelsthemen gefragt – so gab sie Stern und Gala Interviews zum Megxit. Nach Mein Herz ist vom Umtausch ausgeschlossen ist dies ihr neuer Roman in deutscher Sprache.

Wo bitte geht’s zur großen Liebe? in der Presse:

»Sophia Money-Coutts ist die neue Königin der RomCom.« Evening Standard

»Randvoll mit dem Witz und dem Charme, die längst zu Sophias Markenzeichen geworden sind!« Holly Miller

»Glückshormone in Buchform.« Red

Außerdem von Sophia Money-Coutts lieferbar:

Kann ich jetzt bitte mein Herz zurückhaben?

Darf ich dich jetzt behalten?

Die große Liebe kann mich mal

Mein Herz ist vom Umtausch ausgeschlossen

www.penguin-verlag.de

Sophia Money-Coutts

Wo bitte geht’s zur großen Liebe?

Roman

Aus dem Englischen von Babette Schröder

Die Originalausgabe erschien 2023 

unter dem Titel Looking out for Love

bei HarperCollins, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Sophia Money-Coutts

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Wolf

Umschlaggestaltung: bürosüd

Umschlagabbildung: www.buerosued.de

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30734-9V001 

www.penguin-verlag.de

Für unsere Krankenhäuser und alle, die dort arbeiten.

Stella Shakespeare sehnte sich nach der großen Liebe. Sie sehnte sich so sehr danach, dass es sich wie ein schmutziges Geheimnis anfühlte. Wie etwas, das sie vor den anderen geheim halten musste, damit ihre Verzweiflung sie nicht abschreckte. Sie träumte von einer alles verzehrenden Liebe, die sie an nichts anderes mehr denken ließ, bei der sie nicht einmal mehr etwas essen konnte.

Was sie an diesem Morgen neben sich im Bett vorfand, war definitiv keine Liebe.

Sie hob das Gesicht vom Kissen und betrachtete stirnrunzelnd das Kopfteil des fremden Bettes. Aus Leder und mit Nieten besetzt. Das war ihr in der Nacht gar nicht aufgefallen.

Neben dem Bett bemerkte sie einen seltsamen Nachttisch, auf dem ein Glas Wasser stand. Es war noch voll – was erklärte, warum sich ihre Zunge wie eine gekochte Eule anfühlte.

Sie spürte, dass sich neben ihr jemand unter der Decke bewegte, und ihr Blick fiel auf einen unbekannten Kopf mit zerzaustem schwarzem Haar und breite, männliche Schultern.

Der Fremde erwachte stöhnend, und Stella blickte wieder zum Kopfende des Bettes. Welcher Mann entschied sich für ein Kopfteil aus Leder? Oder vielleicht sogar aus Kunstleder? Stella tastete danach. Ja, Kunstleder. Das war definitiv nicht die große Liebe.

»Morgen«, sagte jemand schläfrig.

Sekunden später spürte Stella, wie eine Hand an der Rückseite ihres Oberschenkels entlang und über ihren Po glitt.

»Wie spät ist es?«, fragte sie und versuchte zu ignorieren, dass die Hand nun auch ihren Rücken hinaufkroch. Was für eine Dreistigkeit! Er hatte sie bisher nicht einmal angesehen.

Er zog die Hand zurück und hob den Kopf, um auf seine Uhr zu schielen. Das Gesicht war von seinem Haar verdeckt, und als er sich auf der Matratze hochstemmte, glitt Stellas Blick zu seinem gewölbten Bizeps. Wo hatte sie diesen Kerl nur her? Sie war mit Billie im Pub gewesen und hatte etwas getrunken, dann war Jez aufgekreuzt und hatte darauf bestanden, Billie nach Hause zu bringen, aber Stella wollte noch bleiben. Es war Mittwochabend. Nirgendwo stand geschrieben, dass es verboten war, an einem Mittwochabend nach zehn noch unterwegs zu sein. Also hatte sie noch ein bisschen mit dem Barmann Jack geplaudert, und dann, nun ja, Stella war sich nicht ganz sicher.

»Fast neun«, antwortete er.

»Neun! Ich muss los.« Stella blickte nach unten und bemerkte einen schwarzen Fleck von der Größe eines Daumenabdrucks auf ihrem Kissen. »Da ist etwas Mascara draufgekommen, tut mir leid.«

Sie sah ihn an, und er schenkte ihr ein entspanntes Lächeln.

Er war attraktiv. Er hatte einen kräftigen Bartschatten, und der Ausdruck in seinen Augen – grün, wach und ohne die geringste Spur eines Katers – wurde weicher, als er ihrem Blick begegnete. Er sah aus, als könnte er für eine neue Marke von Kaffeepads werben. Stella erwiderte sein Lächeln, und Bilder der vergangenen Nacht blitzten in ihrem Kopf auf: Wie er sich auf ihr bewegte und mit seinen heißen Lippen ihren Hals liebkoste. Wie er mit den Händen ihre Arme hinunterstrich, sie festhielt und neckte. Sie erinnerte sich daran, wie selbstbewusst er agiert hatte, als wüsste er genau, was zu tun wäre. Es war gut, erinnerte sich Stella und lächelte immer noch. Richtig gut. Vielleicht könnte sie nur ein bisschen länger im Bett bleiben. Sie durfte sich auf keinen Fall in diesen Fremden verlieben, aber trotzdem konnte sie ja ein bisschen Spaß mit ihm haben.

»Keine Sorge«, antwortete er und deutete mit schiefem Grinsen auf die Wimperntusche. »Ist wahrscheinlich nicht von dir.«

Es folgte eine kurze Pause, in der Stella verarbeitete, was er damit andeutete, dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. »Es wird wirklich Zeit für mich.«

Sie kroch über seinen Teppich und sammelte in der Dunkelheit verschiedene Kleidungsstücke ein. Jeans, T-Shirt, Pullover, eine Socke. Jedes Mal, wenn sie sich bückte, drehte sie ihren Hintern von ihm weg und in Richtung Fenster. Nicht ihre Mascara, ah ja. Auch wenn er nicht schlecht aussah und sie mit ihm eine aufregende Nacht verbracht hatte, am Ende war er doch nur ein Arschloch. Wie alle anderen. Stella würde später ein ernstes Wort mit sich reden müssen. Wenn sie so weitermachte, würde sie nie die große Liebe finden.

Noch immer grinsend stützte er sich auf einem Arm hoch. »Das war ein Scherz! Du kannst gern bleiben. Meine Schicht beginnt erst in …«, er sah auf die Uhr, »… vier Stunden.«

»Ich glaube nicht. Mir reicht’s.« Stella wandte den Blick von seiner muskulösen Brust ab, die sie an eine Museumsstatue erinnerte, und entdeckte die Socke, nach der sie noch suchte. »Ich wette, du weißt nicht mal, wie ich heiße«, sagte sie und griff danach.

Er lachte. »Letzte Nacht hast du dich nicht besonders für Namen interessiert. Wie heiße ich denn?«

»Für diesen Quatsch fehlt mir jetzt wirklich die Zeit! Ich muss zu einem Vorstellungsgespräch.« Auf der Suche nach ihrem Slip ließ sie den Blick über den Schlafzimmerboden gleiten.

»Ich heiße Sam. Und du?«

»Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr, oder?«, murmelte Stella und schielte auf einen kleinen dunklen Gegenstand am Fußende des Bettes. Nein, das war nur eine seiner Socken.

»Hier«, sagte Sam, zog einen Slip unter der Bettdecke hervor und ließ ihn in der Luft baumeln.

»Danke.« Stella schnappte ihn sich und machte sich auf den Weg ins Bad, nur um dann festzustellen, dass sie eine Schranktür geöffnet hatte und vor seinem Schuhregal stand.

»Da lang.« Er deutete mit dem Kopf auf eine andere Tür.

»Ja, okay, danke«, erwiderte sie, eilte hinein, schloss die Tür und griff nach einem Schrank über dem Waschbecken. Bitte lass diesen Mann irgendein Schmerzmittel haben. Paracetamol, Ibuprofen, Morphium tut es zur Not auch. Stellas Kopf fühlte sich an, als könnte er jeden Moment platzen.

Sie warf einen Blick in den Schrank. Darin befanden sich eine Flasche Rasierschaum, eine Dose Haarwachs, ein paar Rasierer, eine gelbe Tube mit Creme und daneben ein Streifen Ibuprofen. Es war nur noch eine Tablette übrig, aber die musste reichen. Stella schob sie sich in den Mund und beugte sich über das Waschbecken, um sich Leitungswasser in den Mund zu schöpfen. Dann drückte sie einen Klecks Colgate auf ihren Zeigefinger und verteilte die Zahnpasta auf ihren Zähnen. Sie spülte sich den Mund aus und richtete sich auf, um im Spiegel ihr Gesicht zu begutachten. Suboptimal: Ihre Augenlider waren geschwollen und leicht violett; ihre Haut sah stumpf und trocken aus. Dabei musste sie jetzt nach Holborn, um einen Juristen, einen Bekannten ihres Vaters, davon zu überzeugen, dass sie eine verantwortungsbewusste, gepflegte Person war, die sich hervorragend als Assistentin eignete.

Sie seufzte. Wie viele Menschen lebten in London? Stella kannte die genaue Zahl zwar nicht, aber sie wusste, dass es eine Menge waren. Millionen. Millionen von potenziellen Ehemännern gab es in dieser Stadt. Na gut, ein paar weniger, wenn sie die Schwulen abzog und die, die zu alt für sie waren (über fünfundvierzig) oder zu jung (unter fünfundzwanzig). Natürlich musste sie auch die Männer ausklammern, die einfach in der Gegend herumniesten, ohne den Arm vor die Nase zu halten, oder spitze Schuhe trugen. Absolut indiskutabel waren auch solche, die ihre Mutter »Mami« nannten oder ihrem Auto einen Namen gaben. Oder – schlimmer noch – ihrem Penis. Aber selbst wenn sie all diese Männer ausschloss, blieben da genug. Wie konnte es dann sein, dass jeder Mann, dem Stella begegnete, ein Arsch war?

Sie seufzte erneut. Keine Zeit zum Philosophieren, sie musste los. Stella fuhr mit einem Finger unter ihren Augen entlang, um die dunklen Spuren vom Eyeliner zu entfernen, suchte im Schrank nach einer Feuchtigkeitscreme, um ihren Wangen wieder etwas Farbe zu verleihen, und griff schließlich entnervt nach der gelben Tube.

Als sie aus dem Bad kam, saß er immer noch im Bett an das Kunstlederkopfteil gelehnt. Grinsend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, wodurch sich sein Bizeps anspannte. »Kann ich dich wirklich nicht überreden zu bleiben?«

Stella blickte demonstrativ auf das Kissen mit dem Mascarafleck, griff ihre Tasche und marschierte in Richtung Küche. »Nein danke, ich habe ein sehr wichtiges Vorstellungsgespräch.«

»Bekomme ich vielleicht deine Nummer?«, rief Sam ihr nach.

»Wenn es so sein soll, wirst du sie herausfinden«, rief sie zurück und schlug die Tür hinter sich zu.

Und so machte sich Stella Shakespeare, zweiunddreißig, mit Scholls Fußcreme im Gesicht auf den Weg zu ihrem Vorstellungsgespräch.

Draußen stellte Stella fest, dass sie sich in einem Teil East Londons befand, den sie nicht kannte, und dass ihr Telefon tot war, sodass sie auch nicht im Internet nachsehen konnte. Auf einer Umgebungskarte an einer Bushaltestelle ortete sie den Bahnhof Aldgate East und fuhr mit der U-Bahn nach Westen bis Holborn. Dort fand sie mithilfe einer weiteren Karte an einer anderen Bushaltestelle das Büro von Spinks, Londons führender Anwaltskanzlei, in der sie um halb zehn zu einem Vorstellungsgespräch erwartet wurde.

Es war inzwischen zehn nach zehn, und sie fühlte sich schlecht. Die eine Ibuprofen hatte nicht gewirkt, und in der U-Bahn hatte sie einen schwarzen Kaffee getrunken, von dem sie ständig aufstoßen musste. Stella ärgerte sich, dass sie keine Kaugummis gekauft hatte, und stieß einen kleinen sauren Rülpser aus, bevor sie die Klingel drückte.

Als es klickte, schob sie sich durch die Eingangstür, dann durch eine Glastür und stand schließlich in einem Empfangsbereich mit Marmorfußboden, zwei cremefarbenen Sofas und goldgerahmten Gemälden an den Wänden. Eins der Gemälde zeigte ein Schiff auf stürmischer See, dessen Bug auf dem Kamm einer schäumenden Welle in den Himmel ragte. Genau so fühlte sich ihr Magen an: ausgesprochen unruhig.

Sie blickte von dem Gemälde zu einem Mann, der auf einem der Sofas saß und Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte: graues Haar, ein perfekt gefaltetes rosafarbenes Einstecktuch in der Brusttasche, ein goldener Siegelring. Außerdem tippte er mit einer gewissen Dringlichkeit auf seinem Telefon herum, was Stellas Vater auch oft tat. Er unterbrach sogar Gespräche mit Familienmitgliedern, um durchs Telefon einen Angestellten anzubrüllen.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Stella blickte zum Empfangstresen, hinter dem eine Frau mit akkuratem Pony und Headset saß.

»Guten Morgen, ich bin Stella Shakespeare und möchte zu Gideon Fotheringham.« Sie lächelte und presste schnell die Lippen zusammen, als sie einen weiteren Kaffeerülpser in ihrer Kehle aufsteigen spürte.

Die Empfangsdame blinzelte auf ihren Computerbildschirm. »Hier steht, das Treffen war für halb zehn angesetzt.«

»Das stimmt, aber ich wohne in West London und habe am Earl’s Court versehentlich die falsche Bahn genommen. So etwas passiert dort schnell.«

Die Lippen der Empfangsdame zuckten misstrauisch.

»Hören Sie, Rosemary«, sagte Stella mit Blick auf ihr Namensschild und stützte sich mit einem Unterarm auf dem Tresen ab. »Mal ganz ehrlich und unter uns: Das war ein harter Morgen, und mir geht’s nicht besonders, aber ich brauche diesen Job unbedingt. Ich wäre Ihnen also zutiefst verbunden, wenn Sie etwas für mich tun könnten.«

Rosemary richtete den Kopf wieder auf den Computermonitor, rümpfte kurz die Nase und begann zu tippen. »Mr. Fotheringham ist heute Morgen außerordentlich beschäftigt. Ich muss sehen, ob ich noch ein Zeitfenster finde.«

»Entschuldigen Sie, ich möchte nicht stören«, sagte jemand in leicht beleidigtem Ton hinter Stella.

Stella drehte sich zu dem Mann auf dem Sofa um und stellte fest, dass er ihrem Vater doch nicht so ähnlich sah, denn er hatte einen Schnurrbart, der über seine Mundwinkel hing. Es sah aus, als hätte sich eine fette Raupe unter seiner Nase niedergelassen und wäre dort gestorben.

Er starrte Rosemary vorwurfsvoll an und fuhr fort: »Ich habe um Viertel nach zehn einen Termin mit Gideon, und ich kann auf keinen Fall warten.«

»Kein Grund zur Sorge, Mr. Williams. Diese …« Rosemary hielt inne und sah Stella an, als wollte sie herausfinden, ob sie ein Gemüse oder ein Mineral war, »Dame muss wohl bis nach Ihrem Treffen warten.«

Stella ließ die Stirn auf ihren Arm sinken. Es kostete sie zu viel Anstrengung, aufrecht zu stehen. Wenn sie diesen Job nicht bekam, würde ihr Vater sie umbringen. Na ja, er würde ihre Kreditkarte sperren, was ungefähr genauso schlimm war. Dies war Stellas fünftes Vorstellungsgespräch in zwei Wochen, und sie war verzweifelt.

»Hallo, Mr. Fotheringham?«, sagte Rosemary in ihr Headset. »Ich habe hier eine Stella Shakespeare für Sie … Ja … Ich weiß … Nein, ich weiß … Sie sagt, sie hätte die falsche Bahn erwischt.«

»Am Earl’s Court, sagen Sie ihm das«, murmelte Stella.

»Gut. Kein Problem, Mr. Fotheringham, ja, natürlich, ich werde es ihr mitteilen, ja.«

Stella blickte hoffnungsvoll auf.

»Mr. Fotheringham hat nicht viel Zeit, weil er einen Termin mit Mr. Williams hat, aber wenn Sie den Aufzug in den dritten Stock nehmen, wird er Sie kurz dazwischenschieben.«

»Sie sind ein Schatz, danke, Rosemary«, erwiderte Stella erleichtert, trat zur Seite und drückte den Fahrstuhlknopf.

Als im dritten Stock die Türen auseinanderfuhren, stand davor ein großer blonder Mann mit hochroten Wangen, der den Mund so weit aufriss, als ob er gleich schreien wollte. Doch sobald er Stella sah, schloss er ihn.

»Mr. Fotheringham?«

»Ja. Und Sie müssen Stella sein?«

»Ja. Bitte entschuldigen Sie vielmals, dass ich zu spät komme. Ich hatte … Probleme mit der U-Bahn.«

»Keine Sorge, ich verstehe«, antwortete Gideon Fotheringham sanft und strahlte sie an.

Diese Wirkung hatte Stella oft auf Männer. Schon als Kind hatte sie mit ihren goldenen Haaren und den grünen Augen alle verzaubert. Mittlerweile war sie so schön wie ein Botticelli-Gemälde und zog auf der Straße die Blicke auf sich. Ihr Haar war immer noch hellblond, sie trug es fast immer offen, dadurch war es oft etwas zerzaust, sodass sie es verlegen über die Schulter schob. Andere Frauen starrten neidvoll auf ihren Körper, weil sie glaubten, dass das Leben damit um einiges leichter sein müsse: lange Beine, eine schmale Taille und sehr freche, pralle Brüste, die nicht natürlich aussahen, es aber durchaus waren.

Männer wie Gideon starrten sie ebenfalls an, wenn auch aus völlig anderen Beweggründen.

Fairerweise muss man sagen, dass es zum Teil an diesem Aussehen und der Kreditkarte ihres Vaters lag, dass Stella wie ein Schwan auf einem See durchs Leben zu gleiten schien: schön und scheinbar unbeeindruckt von allem, was sie umgab. Aber auch Schwäne hatten schlechte Momente, und in letzter Zeit hatte Stella eher das Gefühl unterzugehen, statt zu gleiten, denn sie schlidderte von einer Katastrophe in die nächste. Dass sie zu spät zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch kam, war nur eine von vielen.

»Hier entlang«, sagte Gideon, legte eine fleischige Hand zwischen Stellas Schulterblätter und schob sie einen Korridor hinunter. »Ich bin so froh, dass Sie kommen konnten. Meine Kollegin hat mich gerade sehr plötzlich verlassen, und ich brauche eine brillante Assistentin, die mir hilft, alles zu regeln.« Als sie sein Büro betraten, lächelte er und bleckte die Zähne. »Nehmen Sie Platz«, forderte er sie auf und deutete auf einen Stuhl vor einem Mahagonischreibtisch, auf dem jede Menge silbergerahmter Fotos standen – hauptsächlich von ihm selbst.

»Danke«, erwiderte Stella, erleichtert darüber, sich setzen zu können. Der Kater setzte ihr ganz schön zu.

»Also«, fuhr er fort, ließ sich wie ein Mehlsack hinter dem Schreibtisch in einen Ledersessel fallen und strahlte weiter wie ein Honigkuchenpferd. »Ich weiß nicht mehr, über welche juristischen Erfahrungen Sie verfügen.«

»Ähm …« Stella zögerte. Sie hatte exakt null juristische Erfahrung, sie hatte überhaupt so gut wie keine Berufserfahrung.

In den letzten Jahren hatte sie verschiedene Jobs ausprobiert, war jedoch in jedem einzelnen gescheitert.

Sie hatte ein Praktikum bei der Vogue gemacht, wurde aber nach drei Monaten gefeuert, als man sie schlafend unter einer Kleiderstange in der Moderedaktion fand, eingewickelt in einen sehr teuren Pelzmantel, der für ein Fotoshooting angefordert worden war.

Danach wollte sie Yogalehrerin werden, musste die Ausbildung aber abbrechen, nachdem sie mit dem Ausbilder ins Bett gegangen war, einem bärtigen Mann namens Marcus mit einem großen Tattoo eines springenden Delfins auf dem Rücken.

Als Nächstes lieh sich Stella Geld von ihrem Vater und entwarf eine Kollektion handgefertigter Boxershorts, von denen sie aber nur innerhalb der Familie ein paar verkaufen konnte.

Obwohl sie nicht kochen konnte, hatte sie sich als Köchin bei einer Freundin ihrer Mutter beworben, die ein großes Haus in Holland Park besaß, wurde aber »freigestellt«, nachdem ihr die Spaghetti angebrannt waren. Sie hatte den Topf auf dem Herd vergessen, bis das ganze Wasser verdampft und die Nudelstränge verkohlt waren.

Kurz darauf lernte Stella Miles St. George kennen, den gut aussehenden Erben eines Hundefutter-Imperiums, und gab die Suche nach einem Beruf auf, weil sie davon ausging, ihn bald zu heiraten.

»Ähmmm«, murmelte sie wieder, und Gideons Blick fiel auf ihre Brust. »Nein, ich habe nicht viel juristische Erfahrung, aber …« Am liebsten hätte Stella gesagt, dass sie lieber ihre Schuhsohle ablecken würde, als für diesen gruseligen Perversen zu arbeiten, aber sie brauchte das Geld. »Ich bin ein großer Fan von Law & Order.«

Das stimmte wenigstens. Seit Miles und sie sich getrennt hatten, lag Stella nachmittags oft auf dem Sofa und schaute sich Wiederholungen alter Folgen an, um sich mit grausamen und ungewöhnlichen Mordfällen abzulenken. In der Woche zuvor hatte sie eine Folge gesehen, in der der Mörder sein Opfer mit einem Eisportionierer getötet hatte, und sich gefragt, ob sie das Gleiche mit ihrem aktuellen Ex-Freund tun könnte.

Gideon runzelte die Stirn.

»Die Fernsehserie? Sie ist amerikanisch, spielt in New Yor…«

»Ich verstehe. Sie werden feststellen, dass es hier ganz anders zugeht. Spinks ist die renommierteste Anwaltskanzlei Londons, und ich leite die Abteilung für Familienrecht. Wir befassen uns also hauptsächlich mit Scheidungen. Sehr hochkarätigen.«

»Richtig«, sagte Stella und unterdrückte schnell einen weiteren Kaffeerülpser.

»Wir haben es oft mit Mandanten und Mandantinnen zu tun, die am Ende ihrer Ehe äußerst verzweifelt sind, weshalb Diskretion oberstes Gebot ist, verstehen Sie?«

Stella nickte und versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren, aber ihr Magen rebellierte.

Gideon beugte sich über den Schreibtisch und legte die Fingerspitzen aneinander. »Haben Sie, äh, einen Freund?«

Das war zu viel. Stellas Magen krampfte sich zusammen, ihre Kehle schnürte sich zu, und sie sah sich verzweifelt nach Hinweisen auf die Toilette um. Aber es gab keine, also griff sie nach einem cremefarbenen Papierkorb, der neben seinem Schreibtisch stand, und kotzte den Kaffee hinein.

Zwanzig Minuten später verließ Stella das Büro von Spinks und war sich ziemlich sicher, dass sie den Job nicht bekommen würde. Nachdem sie sich mit der Hand den Mund abgewischt und sich mehrmals entschuldigt hatte, fragte sie Gideon, wo die nächste Toilette sei, und nahm den Papierkorb mit.

»Bitte erzählen Sie das nicht meinem Vater«, hatte sie gebettelt, als sie mit dem Papierkorb zurückkehrte, den sie im Waschbecken auf der Toilette ausgewaschen hatte. Gideon murmelte, dass er sich bei ihr melden würde.

Der ganze Vormittag war ein einziges Desaster gewesen. Eine weitere Katastrophe. Sie schaffte es nicht einmal, das Vorstellungsgespräch für eine Stelle als Assistentin zu meistern. Was in aller Welt sollte sie jetzt tun? Was für Möglichkeiten hatte sie überhaupt noch? Gar keine. Sie war zu nichts zu gebrauchen.

Auf den Steinstufen vor der Kanzlei beobachtete Stella eine Taube, die auf dem Bürgersteig an einer Zigarettenkippe pickte, und fragte sich, ob die Taube im Grunde nicht ein besseres Leben hatte als sie. Wenigstens mussten sich Tauben keine Arbeit suchen.

Sie wollte unbedingt nach Hause, um ein Stück Toast und einen Becher süßen Tee zu sich zu nehmen, aber sie bezweifelte, dass es in der Wohnung Brot oder frische Milch gab. Also würde sie zu den Geldgöttern beten und es mit ihrer Karte im Laden an der Ecke probieren.

Doch gerade als Stella vor der Treppe nach links in Richtung U-Bahn-Station abbiegen wollte, packte sie eine kleine, sehr runde Frau am Arm, die einen Regenmantel mit Gürtel und klobige Kampfstiefel trug. Über ihrer Stirn trug sie ein Sonnenvisier, über das weiße Haarlocken wie Sprungfedern hervorragten. »Entschuldigen Sie!«

»Ich habe kein Geld«, antwortete Stella müde. Sie lebte lange genug in London, um zu wissen, dass jeder, der sich einem Fremden näherte (und ihn anfasste), höchstwahrscheinlich auf Geld aus war. »Ich habe kein Geld. Und keinen Job.« Ihre Stimme bebte. »Und ich habe keinen Freund, weil …«

»Psst, hören Sie auf, Sie albernes Huhn. Ihr Geld interessiert mich nicht. Und Ihre Karriere oder die schmutzigen Details Ihres Liebeslebens schon gar nicht. Ich will nur wissen, ob Sie da drin einen Mann gesehen haben, der wie ein Walross aussah.«

»Wie bitte?« Stella konnte den Worten der kleinen Frau nicht ganz folgen.

»Bei Spinks. Da drin.« Sie deutete mit einem pummeligen Finger auf die Tür. »Da kommen Sie doch gerade her, oder?«

»Ja«, gab Stella zu. Diese Frau war wirklich ziemlich schräg. Und sie sah auch schräg aus; sie war wie ein Ranger gekleidet, die kleinen dunklen Augen zuckten über ihrer großen Nase hin und her, und dazu dieses wilde weiße Haar.

»Und? War da ein Mann, der wie ein Walross aussah?«

»Äh …«

»Na los, denken Sie nach!«

»Auf dem Sofa saß ein Mann mit einem … walrossartigen Schnauzbart, ja.«

»Ich wusste es!« Die kleine Frau stieß eine Faust in die Luft.

»Mr. Williams, so hieß er«, fügte Stella hinzu, als ihr einfiel, wie Rosemary ihn genannt hatte. »Und er trug einen Anzug mit einem rosa Einstecktuch. Und einen Siegelring!«

Sie lächelte wie eine stolze Mutter. »Ausgezeichnete Arbeit.«

»Oh«, sagte Stella verblüfft.

»Hören Sie, ich muss jetzt gehen, aber wenn Sie wirklich einen Job brauchen, habe ich vielleicht etwas für Sie.« Die kleine Frau griff in ihre Tasche und zog eine zerknickte Visitenkarte heraus. »Ich bin immer auf der Suche nach Menschen, die so aufmerksam durchs Leben gehen wie Sie. Unter dieser Nummer können Sie mich erreichen.«

Sie eilte davon, bevor Stella sie überhaupt fragen konnte, was sie machte. Dann blickte sie auf die Karte in ihrer Hand: Verity Culpepper Ltd.

Wie seltsam. Vermutlich tatsächlich eine Spinnerin.

Stella ließ die Karte in ihre Tasche fallen und setzte ihren Weg zum Bahnhof fort. Sie brauchte einen Becher Tee, und sie wollte sich waschen und alle Spuren des vergangenen Abends beseitigen. Arbeitslos. Mit gebrochenem Herzen. Und umweht von einem leichten Hauch von Kotze. Kein Wunder, dass Miles Schluss gemacht hatte, dachte sie düster.

Am Anfang hatte alles so rosig ausgesehen. Miles war die große Liebe, auf die Stella so lange gewartet hatte: der reiche, gut vernetzte Erbe eines Hundefutter-Imperiums. Ihre Eltern beteten ihn natürlich an, und seine Eltern – Lord und Lady St. George – akzeptierten sie. Warum auch nicht? Stella Shakespeare war genau die Art von Frau, mit der Miles St. George ausgehen sollte: eine englische Rose mit zarter Haut, die selbst aus einer wohlhabenden Familie stammte und reiten, Tennis spielen und Ski fahren konnte – alles Fähigkeiten, die Miles bei einer Ehefrau suchte.

Nachdem sie sich auf der Verlobungsparty eines gemeinsamen Freundes in einem Pub in Chelsea kennengelernt hatten, verliebte sich Stella sofort in Miles – und passte sofort ihr Leben an seines an. Sie kümmerte sich darum, seine Wohnung in Chelsea neu einzurichten, und anschließend das Cottage in Gloucestershire, das er von seiner Großmutter geerbt hatte. Es war erstaunlich, wie zeitaufwendig es war, die richtigen Tapeten zu finden, erzählte Stella ihrer besten Freundin Billie ernst.

Aber es ging nicht nur ums Einrichten. Mit Miles St. George zusammen zu sein, bedeutete einen vollen Terminkalender mit Dinnerpartys, Jagdwochenenden im Winter und Polo- und Kricketwochenenden im Sommer. Kurz nachdem sie mit ihm zusammengekommen war, wurde Stella klar, dass sie gar keine Zeit mehr für einen Job hatte, aber das war in Ordnung, denn das Arbeiten war irgendwie nichts für sie, und Miles würde ihr bestimmt irgendwann einen Antrag machen. Nachdem die beiden zwei Jahre lang zusammen waren, begann Stellas Mutter, ihr Links zu Boutiquen mit Hochzeitskleidern zu schicken, und alle warteten auf die große Ankündigung.

Bis Miles die Beziehung beendete und alles zusammenbrach.

Ihre Eltern waren wütend auf sie, und der Großteil ihres gesellschaftlichen Lebens löste sich über Nacht in Luft auf. Bis dahin hatte sie sich eingebildet, viele Freunde zu haben. Freunde, die sie bei Abendessen und Polospielen sah oder mit denen sie Zeit auf dem Land verbrachte. Freunde, die Miles und sie zu Restauranteröffnungen und Vernissagen in Mayfair einluden. Obwohl Stella einige von ihnen ziemlich langweilig fand, hatte es ihr Spaß gemacht, und sie hatte sich als Teil einer Clique gefühlt. Doch sobald Miles mit ihr Schluss machte, wurde sie ausgeschlossen.

Als Stella zur U-Bahn-Station stapfte, musste sie wieder einmal an jenen Morgen zurückdenken. Das passierte ihr immer noch mindestens einmal am Tag.

Miles hatte geduscht, sich angezogen und sich wie immer auf die Bettkante gesetzt, um ihr einen Abschiedskuss zu geben, bevor er in die Hundefutter-Zentrale in Marylebone fuhr. Stella hatte noch im Bett gelegen, seine Nähe gespürt und sein Aftershave gerochen und in Erwartung eines Kusses das Gesicht mit geschlossenen Augen zur Decke gedreht. Doch als das vertraute Gefühl seiner Lippen auf den ihren ausblieb, öffnete sie die Augen und bemerkte, dass Miles aussah wie ein Labrador, der gerade aus dem Hühnerstall geschlichen kam.

Sie griff nach seiner Hand. »Was ist los?«

Miles schluckte und sagte Stella, er sei sich »nicht mehr sicher«, ob er eine Beziehung wolle.

»Wann hast du das entschieden? Letzte Nacht, als wir Sex hatten, oder gerade eben?«, gab Stella gereizt zurück.

Miles hatte mit schuldbewusster Miene gestottert, dass es eine »allmähliche Entwicklung« gewesen sei, dass er glaube, es sei »das Beste«, und ob Stella seine Wohnungsschlüssel auf dem Flurtisch liegen lassen könne? Dann hatte er sie auf den Kopf geküsst, wie ein Vater, der sich vor der Arbeit von seiner Tochter verabschiedet, und war gegangen.

Stella war aufgestanden, hatte sich angezogen, mit Miles’ Zahnbürste mehrmals über den Rand der Kloschüssel geschrubbt und sie wieder neben das Waschbecken gestellt. Dann war sie gegangen. Die Schlüssel hatte sie wie gewünscht auf dem Flurtisch zurückgelassen.

Wie betäubt schaffte sie es, nicht zu weinen, bis Billie – ihre älteste, treueste Freundin – am Abend in die gemeinsame Wohnung kam. Aber danach weinte und trank sie und rauchte wochenlang Kette. Sechs Monate später waren die Tränen endlich versiegt, das Trinken und Rauchen hatten jedoch nicht nachgelassen. Und auch jetzt stockte Stella jedes Mal der Atem, wenn ihr die Szene durch den Kopf ging, als wäre sie wieder in Miles’ Schlafzimmer und stünde am Rand einer Klippe, von der er sie gleich hinunterstoßen würde.

Sie dachte weiterhin jede zweite Minute an Miles. Wie eine schwere Last, die auf ihre Brust drückte und ihr Schmerzen im ganzen Körper bereitete, trug sie ihn mit sich herum. Sie dachte, sie hätte ihre große Liebe gefunden, aber sie hatte sich geirrt, und zu allem Übel war sie auch noch pleite. Nach der Trennung hatte sie wochenlang Miles’ Uber-Konto benutzt und, um ihn zu ärgern, immer die teureren Fahrten bestellt. Irgendwann hatte er jedoch sein Passwort geändert, und Stella war gezwungen gewesen, die U-Bahn zu nehmen, woran sie sich erst gewöhnen musste. Am Earl’s Court erwischte sie oft die falsche Linie. Was sie der Empfangsdame bei Spinks erzählt hatte, war also nicht ganz geflunkert gewesen. Auch wenn ihr das an diesem Morgen ausnahmsweise nicht passiert war.

Am Bahnhof trat Stella von den Schiebetüren zurück, um die Fahrgäste aussteigen zu lassen, bevor sie müde die U-Bahn betrat und sich Richtung Notting Hill fahren ließ.

In dem kleinen Laden an der Ecke funktionierte dann ihre Karte nicht mehr, weil sie mit der Fahrt ihr Limit erreicht hatte.

Stella sah Nigel mit flehendem Blick an. Sie war im Laufe der Jahre tausendmal hier gewesen und hatte Milch, Eier, Brot, aber auch Zigaretten gekauft, die sie nur rauchte, indem sie sich weit aus dem Wohnzimmerfenster lehnte. Außerdem Flaschen mit Wodka und Tonic Water, Chips, wenn sie Freunde zu Besuch hatten, Wein und Schokolade für Sonntagabende, wenn Billie und sie auf dem Sofa einen Film sehen wollten, um sich von ihrem Kater abzulenken.

Nigel schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Liebes, keine Ausnahmen. Nicht einmal für dich.«

»Kein Problem, dann verhungere ich einfach«, sagte Stella, ließ Brot und Milch auf dem Tresen zurück und verließ mit einem dramatischen Seufzer den Laden.

Oben in der Wohnung fand sie eine Flasche von Billies Mandelmilch und einen Rest von ihrem ekelhaften deutschen Brot. Nicht ideal, aber es würde reichen müssen. In der Not frisst der Teufel Fliegen, sagte sich Stella, bestrich eine Scheibe Toast mit Marmite und gab drei Löffel Zucker in ihren Becher.

Sie nahm ein Bad, zog ein sauberes T-Shirt und eine Jogginghose an, legte sich ins Bett und schlief sofort ein. Es war noch nicht einmal Mittag, aber einen weiteren langen Nachmittag allein auf dem Sofa hätte sie nicht ertragen.

»Stell? Bist du da?«

Stella hob den Kopf vom Kissen und runzelte die Stirn. Wie spät war es? Welcher Tag war heute?

»Stell?«

»Ich bin hier! Nur …« Schnell schwang sie die Beine aus dem Bett und raffte die Kleidung auf dem Teppich zu einem Häufchen zusammen, um die Tatsache zu verschleiern, dass sie geschlafen hatte.

»Was machst du?«, fragte Billie, als sie an der Tür erschien.

»Aufräumen!«

»Hast du im Bett gelegen?«

Stella, die immer noch auf dem Boden hockte und einen schmutzigen Slip von einer zerknitterten Jeans befreite, wollte nicht schwindeln. Sie konnte Billie nie anlügen.

»Ja?«

Billie verdrehte die Augen.

»Es ist nicht meine Schuld! Ich hatte einen schrägen Morgen«, sagte Stella, ließ die Jeans fallen und stand auf.

»Da bin ich mir sicher. Als wir dich im Pub zurückgelassen haben, warst du schon jenseits von Gut und Böse.«

»Mmmm.« Stella überlegte. Sie konnte sich nicht erinnern, was passiert war, nachdem Billie und Jez nach Hause gegangen waren, also fiel ihr auch keine passende Erwiderung ein.

»Erzählst du mir bei einem Tee davon?«

Stella schürzte die Lippen.

»Was?«

»Oder einem Glas Wein?«

»Wir haben keinen mehr. Und das hier ist für dich gekommen.« Billie schob eine Hand um die Tür und brachte einen Umschlag zum Vorschein. Sie warf ihn ins Zimmer wie ein Frisbee, sodass der Brief auf den Teppich flatterte.

Stella beäugte ihn misstrauisch. »Ist das eine Rechnung?«

»Eine Vorladung vom Gericht, glaube ich.«

»Wie bitte?«

»Nur ein Scherz. Unsere Abstrichergebnisse.«

Stella stöhnte und bückte sich nach dem Brief. »Da wäre mir eine Rechnung ja fast lieber.«

»Tee«, befahl Billie und verschwand hinter der Tür.

Stella griff sich einen Pullover und folgte ihr in die Küche.

Obwohl sie schon fast ein Jahrzehnt in der Wohnung zusammenlebten, gehörte sie eigentlich Stella. Ihr Vater hatte sie ihr gekauft. Ian Shakespeare war ein Selfmade-Millionär, der sein Vermögen mit Seniorenresidenzen gemacht hatte – er hatte im Norden Grundstücke in den Außenbezirken einiger Städte gekauft und darauf Seniorenresidenzen aus rotem Backstein errichtet. Die erste – Sunset Village – war 1988 in der Nähe von Rotherham entstanden, inzwischen besaß er vierundsechzig davon. Sunset Village Coventry, Sunset Village Plymouth, Sunset Village Southend-on-Sea und so weiter. Die Sunday-Times-Reichenliste vom letzten Jahr schätzte sein Vermögen auf 220 Millionen Pfund.

Er und Stellas Mutter Valerie besaßen ein Haus in Buckinghamshire und noch eins in Richmond, obwohl Ian meist durch England fuhr, um seine Niederlassungen zu inspizieren, während Valerie zu Hause auf dem Land blieb – in dem großen Haus im Tudorstil in der Nähe von Beaconsfield. Dort unternahm sie abwechselnd Ausflüge in den örtlichen Schönheitssalon oder spielte mit viel Engagement Tennis, Golf und Bridge, wenn sie nicht gerade Pilatesstunden nahm.

Die Wohnung in Notting Hill hatte Ian für Stella gekauft, kurz bevor sie ein (später abgebrochenes) Musikstudium begann. Es war eine helle Dreizimmerwohnung mit hohen Decken und großen Fenstern in einer Straße mit pastellfarbenen Reihenhäusern und rosa blühenden Magnolienbäumen, von denen Touristen jedes Frühjahr Instafotos posteten.

Im Inneren der Wohnung herrschte ein charmantes Chaos. Besucher der oberen Etage gelangten vom Flur in ein Wohnzimmer, das sich im Laufe der Jahre mit immer mehr Schnickschnack gefüllt hatte, den zwei Frauen Anfang dreißig eben sammelten: Auf dem Beistelltisch stand eine blaue Schale aus Griechenland, in die Stella und Billie beim Heimkommen ihre Schlüssel fallen ließen; auf dem Kaminsims ein Elefant aus Pappmaschee von einer Thailandreise; auf dem obersten Bücherregal thronten ein B und ein S aus Keramik, über dem Sofa hing ein großes Schwarz-Weiß-Foto von Marilyn Monroe, gegenüber ein Banksy-Druck, den Billies antiroyalistischer Freund ihr geschenkt hatte und den Stella hasste, aber dennoch duldete. Es war ein Schimpanse mit einem Diadem, der angeblich wie die Queen aussah. Scheußlich, fand Stella.

Der Zustand der Küche war kaum besser. Billie war ein ordentlicher Mensch, aber da sie den ganzen Tag bei der Arbeit war und Stella nicht, fand sie abends bei ihrer Rückkehr oft Teller voller Krümel und mehrere halb ausgetrunkene Teebecher auf dem Tisch vor sowie das eine oder andere mit Butter und Himbeermarmelade verschmierte Messer, das wie eine Mordwaffe auf dem Küchentisch liegen geblieben war.

An diesem Abend stellte Billie Stellas Toastteller in die Spüle und füllte den Wasserkocher.

»Echter Tee oder falscher Tee?«

Echter Tee bedeutete einen Earl Grey, falscher einen von Billies seltsamen Teebeuteln mit Brennnesselstaub oder Mondsaft oder welche neue Packung sie bei der Dame in dem Kristallladen in der Portobello Road zuletzt erworben hatte.

»Ähm …« Stella stellte sich auf die Zehenspitzen, um in die Weidenkiste auf dem Kühlschrank zu fassen. Sie tastete darin herum und förderte tatsächlich eine Flasche zutage, musste dann aber feststellen, dass es sich um alten Whisky, dunkel wie Apfelsaft, handelte, und so verzweifelt war Stella nun auch wieder nicht. »Ich hätte schwören können, wir hatten noch eine Flasche Wein.«

Billie hob eine Augenbraue.

»Was?«

»Die haben wir gestern Abend getrunken.«

»Haben wir?«

»Jepp.«

»Okay, echten Tee, bitte.« Stella rutschte auf die Bank an der Längsseite des Küchentischs und schob den Zeigefinger unter die Lasche des Briefumschlags.

Einen Monat zuvor hatte das Chelsea and Westminster Hospital Stella und Billie schriftlich daran erinnert, dass ihre letzte Gebärmutterhalsuntersuchung drei Jahre zurücklag und beiden ein neuer Test zustand. Pflichtbewusst hatten sie noch am selben Tag einen Termin vereinbart und waren gemeinsam hingegangen, so wie sie überhaupt das meiste in ihrem Leben gemeinsam taten. Sie standen sich so nah wie Schwestern, waren zusammen zur Schule gegangen, zusammen nach London gezogen und wohnten seit neun Jahren zusammen.

Sie sahen sich nicht ähnlich. Wenn sie nebeneinander die Straße entlanggingen, waren sie ein seltsames Paar. Stella, die große Blondine, die von allen angestarrt wurde, Billie daneben klein und rundlich, mit einer Mähne unzähmbarer dunkler Locken und einem runden, sommersprossigen Gesicht und Grübchen, die fast nie von ihren Wangen wichen.

Und auch vom Charakter her waren sie grundverschieden. Während Billie das sonnige, entspannte Gemüt eines Schweizer Milchmädchens besaß, zeigte Stella sich oft kämpferisch und liebte das Drama.

Die Liste der Dinge, die Stella nicht mochte, war lang: die U-Bahn, Touristen, die vor ihr auf der Portobello Road trödelten, wenn sie nach Hause wollte. Vanilleeis, weil es nach nichts schmeckte. Den Gründer von Instagram, wer auch immer er war, weil er ihre tief verwurzelte Unsicherheit schürte. Pandora, die Frau ihres Bruders. Single zu sein. Restaurants, die obskure Wörter oder Bilder statt »Damen« und »Herren« zur Beschilderung der Toiletten benutzten, sodass sie garantiert die falsche Tür erwischte. Geschirrspülen. Wäschewaschen. Nur noch drei Prozent auf dem Handy-Akku und kein Ladegerät in Reichweite. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Billies hingegen war deutlich kürzer: Bananen und das Geräusch aneinanderreibender Styroporteile.

Dennoch waren sie seit ihrem elften Lebensjahr beste Freundinnen, und an einem trüben Augustmorgen vor ein paar Wochen hatten sie die gynäkologische Abteilung des Krankenhauses aufgesucht, um den Test zu machen. Wie gewohnt hatte Billie den Abstrich stoisch über sich ergehen lassen, während Stella an jenem Tag verkatert war und jammerte, dass sie lieber ihre eigenen Zehennägel essen würde, als einen Arzt mit einem Pfeifenreiniger in ihr herumstochern zu lassen.

Den Brief in der Hand murmelte Stella am Küchentisch vor sich hin. »Liebe Miss Shakespeare, vielen Dank, dass Sie zu Ihrer letzten Gebärmutterhalsuntersuchung gekommen sind. Die Zellen in Ihrem Gebärmutterhals weisen keine Auffälligkeiten auf. Ihrer Altersgruppe gemäß werden Sie in drei bis fünf Jahren zur nächsten Vorsorgeuntersuchung eingeladen … Oh, gut, okay. Großartig.« Sie stieß einen kleinen Jubelschrei aus und stieß eine Faust in die Luft. »Eine normale Vagina! Ein Kompliment, das man nicht jeden Tag bekommt.«

»Normaler als meine.«

»Moment, was?«

Billie deutete auf einen weiteren Brief neben der Obstschale.

Stella nahm ihn und murmelte erneut: »Liebe Miss Martin, vielen Dank, dass Sie zu Ihrer letzten Gebärmutterhalsuntersuchung gekommen sind. Das Labor hat in Ihrem Abstrich einige abnorme Zellen gefunden, die als hochgradige …«, sie zögerte bei einem seltsamen Wort, »… Dysplasie bezeichnet werden. Darum müssen Sie so bald wie möglich eine Kolposkopie durchführen lassen, um Ihren Gebärmutterhals genauer zu untersuchen.«

Darunter standen Datum und Uhrzeit für einen neuen Termin.

Sie sah auf. »Es ist sicher alles in Ordnung. Sind Abstrichtests nicht oft falsch?«

»Falsch?«, fragte Billie, während sie kochendes Wasser in die Becher füllte.

»Irreführend. Schwierig zu deuten.« Stella sah auf den Brief hinunter und blinzelte. »Was ist eigentlich eine … Kolposkopie? Klingt nach etwas, das mit deinem Hintern zu tun hat.«

»Du meinst eine Darmspiegelung. Ich hab das gerade gegoogelt, es ist wie eine Biopsie. Sie schneiden ein kleines Stück heraus, um es zu testen.«

Stella machte große Augen. »Von deiner Vagina?«

»Streng genommen von meinem Gebärmutterhals«, antwortete Billie und ging zum Kühlschrank.

Stella atmete aus und presste unter dem Tisch die Knie zusammen. »Meinst du nicht, dass sie sie verwechselt haben könnten? Die Briefe, meine ich.«

»Das glaube ich nicht.«

»Wann ist der Termin?«

»Nächste Woche. Warte mal, ich schwöre, es war noch Milch da.«

»Die habe ich vorhin ausgetrunken, tut mir leid. Und ich begleite dich.«

»Schwarzer Tee also«, sagte Billie, nahm die Becher und setzte sich. »Keine Sorge, das schaff ich schon.«

»Machst du Witze? Natürlich komme ich mit. Sag nicht, dass du lieber Jez mitnehmen willst?«

Stella verstand sich mit Billies Freund nicht besonders gut. Er war ein Reporter beim Guardian. Billie hatte ihn vor sechs Jahren bei einer Dichterlesung im Southbank Centre kennengelernt, wo sie in der Fundraising-Abteilung arbeitete.

Jez verhielt sich Stella gegenüber oft abweisend, weil sie für ihn alles verkörperte, was mit der Welt nicht stimmte: Sie hatte eine Privatschule besucht, war verwöhnt, arbeitete nicht und besaß eine Wohnung in Notting Hill, während die meisten ihrer Generation es sich nicht mal leisten konnten, eine Mansarde am äußeren Stadtrand zu mieten.

Dabei dürfte Jez ihr das kaum vorwerfen. Er selbst stammte aus einer gut situierten Familie und war in einem Haus in Haslemere aufgewachsen. Sein Vater arbeitete in der Werbung, seine Mutter war Musiklehrerin. Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte man ihn gezwungen, Waldhorn zu spielen, und sein zweiter Vorname war Albert.

Aber seit er sein Volontariat beim Guardian bekommen und sich dort hochgearbeitet hatte, versuchte er, seine Herkunft herunterzuspielen. Seit Kurzem stand er auf Grime-Musik und versuchte, sich einen Vokuhila wachsen zu lassen.

Weil ihm seine eigene Herkunft peinlich war, warf er Stella ihre vor. »Sie sollte sich bewusst sein, wie privilegiert sie ist«, hatte er sich mehr als einmal bei Billie beschwert und dabei ignoriert, wie privilegiert er selbst war.

Na gut, Stella war auf einem Internat gewesen, aber es gab schließlich Schlimmeres auf der Welt. Billie und sie hatten sich dort übrigens kennengelernt, allerdings hatte ihre Freundin ein Stipendium bekommen, anders hätten ihre Eltern sich das niemals leisten können. Billies Vater betrieb einen Pub in der Nähe von Harrogate, und ihre Mutter war Zahnarzthelferin.

Stella fand Jez herablassend und nicht gut genug für ihre beste Freundin, obwohl sie tief in ihrem Inneren wusste, dass einige von Jez’ Vorwürfen durchaus berechtigt waren. Stella war verwöhnt und unordentlich, und manchmal ließ sie Teebeutel auf dem Küchentisch liegen, anstatt sie einen Meter weiter in den Komposteimer zu werfen – ein Herzensprojekt von Jez. »Warum heiratest du den Komposteimer nicht einfach, wenn du ihn so sehr liebst?«, hatte Stella Jez kürzlich angeschrien, als sie sich über ein kleines Häufchen Orangenschalen stritten, die sie auf dem Couchtisch im Wohnzimmer liegen gelassen hatte.

Zu seinen weiteren nervigen Angewohnheiten gehörten unter anderem: die ständige Bezeichnung der königlichen Familie als Schnorrer, seine Besessenheit von Kaffee und seiner »Spezial-Cafetière«, die niemand sonst anrühren durfte, seine Nutzung von Stellas Netflix-Konto, was den Algorithmus durcheinanderbrachte, sodass Netflix ihr Sendungen über die Formel 1 und Dokus über Nazis vorschlug, an denen sie nicht das geringste Interesse hatte, und der Diebstahl ihres Shampoos im Badezimmer (Stella revanchierte sich, indem sie Jez’ Rasierer für ihre Bikinizone benutzte).

Das Problem war, dass Jez fast jede Nacht in der Wohnung in Notting Hill schlief, weil sie viel schöner war als das Zimmer, das er in Walthamstow gemietet hatte. Im Grunde wohnte er dort, sodass er und Stella viel Zeit miteinander verbringen mussten, obwohl ihre Zuneigung zu Billie das Einzige war, das sie verband.

»Also, komm«, drängte Stella, »das ist eine Frauensache. Wir können zusammen hingehen, es hinter uns bringen und danach einen Kaffee trinken.«

»Das mit dem Kaffee muss ich spontan entscheiden, je nachdem, wie viel bei der Arbeit los ist«, sagte Billie, »aber okay. Ja, danke, mit dir ist es besser als mit Jez. Warte mal, du musst mir aber trotzdem noch erklären, was heute Morgen passiert ist. Wo hast du überhaupt geschlafen, Stell?«

»Okay, ich war im Pub, und ihr seid um … wie viel Uhr gegangen? Zehn?«

»Um neun.«

»Alles klar. Neun. Zehn. Egal. Ich hatte noch ein paar Drinks und dann …« Stella konzentrierte sich auf einen Fleck auf dem Tisch, wie ein Kommissar, der über ein Verbrechen nachgrübelt. »Und dann weiß ich nicht so genau.« Sie breitete die Hände vor sich aus. »Aber um es kurz zu machen, ich bin in East London neben einem Mann namens Sam aufgewacht.«

»Wissen wir etwas über Sam?«

Stella ging schnell die Details durch – Kopfteil aus Kunstleder, aber überraschend gut im Bett, East London, zu spät zum Vorstellungsgespräch – und Billie hörte schweigend zu, bis zu der Stelle, als sie in den Papierkorb gekotzt hatte.

»O mein Gott, Stell!« Billie schlug sich eine Hand vor den Mund.

»Ich wollte da sowieso nicht arbeiten«, brachte sie zu ihrer Verteidigung hervor. »Der Typ war ein Widerling. Aber dann bin ich nach Hause gekommen und wollte unten Milch kaufen, mehr Milch, weil ich wusste, dass wir welche brauchen, und meine Karte wurde abgelehnt, also … ja … ich muss mich um einen Job kümmern.«

Stellas finanzielle Situation war ungewöhnlich: Sie war nicht gerade von Armut bedroht. Ihre Eltern waren reich, und sie wohnte mietfrei in Notting Hill. Dank der Kreditkarte ihres Vaters besaß sie eine Garderobe mit teuren Kleidern und konnte sich einen luxuriösen Londoner Lebensstil mit Abendessen im Restaurant, Wein, edlen Gesichtscremes und überteuerten Spinningkursen leisten. Außerdem hatte sie eine gute Ausbildung und einen scharfen Verstand, wenn sie sich die Mühe machte, ihn zu benutzen.

Bis vor Kurzem hatte dafür jedoch schlicht keine Notwendigkeit bestanden. Ihre Eltern hatten ziemlich altmodische Vorstellungen vom Leben: Stellas Bruder Andrew würde als einziger Sohn das Sunset-Village-Imperium übernehmen, und Stella sollte heiraten. Doch nachdem seine Tochter die Beziehung zu einem zukünftigen Lord in den Sand gesetzt hatte, zeigte Ian Shakespeare sich nicht länger bereit, seine Tochter zu unterstützen. Vor drei Monaten hatte er darum Stella untersagt, seine Kreditkarte zu benutzen.

Billie pustete in ihren Tee. »Du wirst schon etwas finden. Was ist mit der Nachhilfeagentur?«

»Die haben mir nie geantwortet.«

»Prostitution?«

Darüber musste Stella wenigstens lachen, bevor sie mit mürrischer Miene auf den Brief blickte und an dem Plastikfenster des Umschlags zupfte. »Bei meinem Verschleiß könnte ich eigentlich auch Geld dafür nehmen.«

In dem Bemühen, über Miles hinwegzukommen, hatte Stella in den letzten Monaten einige Schlafzimmer kennengelernt. Da war das mit den Dachschrägen und einem vergilbten No-Fear-Poster an der Wand in Fulham. Neben ihr im Bett ein Mann, der noch bei seinen Eltern wohnte, wie sich herausstellte, als Stella die Treppe hinunterging und von einer Dame mit Schürze (seiner Mutter) in die Küche gebeten wurde, die darauf bestand, ihnen beiden Eier auf Toast zu machen. »Der arme Eddy sollte nicht mit leerem Magen zur Arbeit gehen«, hatte sie vorwurfsvoll gesagt, als hätte Stella ihren Sohn über Nacht geheiratet und würde bereits ihre Pflichten als Ehefrau vernachlässigen.

Dann war da noch dieses Schlafzimmer in Knightsbridge gewesen, das einem Nachtclub ähnelte – schwarze Wände, goldenes Himmelbett mit goldgerahmtem Spiegel darüber, schwarze Seidenlaken. Das Einzige, was nicht golden oder schwarz war, war ein leopardenförmiger Vorleger auf dem schwarzen Teppich. »Weil ich ein Tigerrrrrr bin«, erklärte dessen Bewohner Stella am Morgen, bevor sie aus dem Zimmer hastete und, da sie den Aufzug nicht in Gang setzen konnte, die Feuertreppe hinuntereilte.

Es hatte noch weitere seltsame Begegnungen im Süden, Osten, Norden und Westen Londons gegeben, kurzzeitig aufregend in der Nacht, aber deprimierend am Morgen. »Könnte dies der Richtige sein?«, dachte sie jedes Mal, bis sie schließlich aufwachte, mit dem Make-up der letzten Nacht im Gesicht, einem leichten Ziehen zwischen den Beinen, und sich noch einsamer fühlte als zuvor.

Auf dem Heimweg von diesen fremden Schlafzimmern sah Stella oft Paare, die Händchen haltend in Anzug und Kostüm zusammen zur Arbeit gingen. Sie stellte sich vor, wie sie sich morgens nebeneinander die Zähne putzten und in den Spiegel grinsten, bevor sie sich anzogen. Auf dem Weg zur Arbeit stieg einer eine U-Bahn-Haltestelle vor dem anderen aus, und sie küssten sich kurz zum Abschied, bevor sich die Türen öffneten und sie sich ein »Bis später« zuriefen. Es waren erwachsene, reife Beziehungen, jene Art von hingebungsvoller Zweisamkeit, nach der Stella sich sehnte, auch wenn sie in den letzten sechs Monaten immer öfter zweifelte, ob sie so etwas jemals finden würde. Verglichen mit den Paaren in der U-Bahn kam sich Stella wie ein Teenager vor, der sehnsüchtig von der großen Liebe träumte und Herzen in sein Tagebuch kritzelte. Ihre Freundinnen hatten sie lange als »hoffnungslose« Romantikerin verspottet, und Stella hatte stets erwidert, dass sie stattdessen »hoffnungsvoll« sei. Aber so langsam gingen ihre Hoffnungsreserven zur Neige.

Immer wieder nahm sie sich vor, sich am nächsten Tag mehr Mühe zu geben – früher aufzustehen, nicht mehr auf Miles’ Instagram-Account zu schauen, nicht mehr in den Pub zu gehen und Wodka zu trinken, um kurz ihre Traurigkeit zu unterdrücken. Aber dann kam der nächste Tag und sah genauso aus wie der vorige. Für alle um sie herum schien es im Leben voranzugehen, während Stella das Gefühl hatte, sich zurückzuentwickeln. Das verstärkte nur ihren Wunsch, die Art von Liebe zu finden, die ihr auf Bildschirmen oder in Büchern immer wieder begegnete.

»Hey, aber als ich von dem Vorstellungsgespräch kam, ist etwas Merkwürdiges passiert«, sagte sie zu Billie, um das Thema zu wechseln.

»Mmmm?«

»Ich wollte gerade gehen, als eine Frau auf mich zukam.«

Billie runzelte die Stirn. »Hat sie dort gearbeitet?«

»Nein, das war draußen. An der Treppe. Sie hat mir Fragen über einen Mann gestellt, den ich drinnen gesehen habe. Es war irgendwie … merkwürdig.«

»Wie meinst du das? Was für Fragen?«

»Sie wollte wissen, ob ich so einen bestimmten Mann da drin gesehen hätte. Und das hatte ich. Er ist mir aufgefallen, weil er mich an meinen Vater erinnert hat – rosa Einstecktuch, Siegelring, diese überlegene Ausstrahlung, weißt du?« Stella sah zu Billie hoch und rümpfte die Nase. Billie wusste alles über Stellas gestörte Familie.

»Und?«

»Und was?«

»Was hatte der Mann mit der Frau draußen zu tun?«

»Das weiß ich nicht. Das hat sie mir nicht gesagt.«

»Warum hast du sie nicht gefragt?«

»Ich hatte gerade in einen Papierkorb gekotzt, Bill, mir war nicht nach Small Talk zumute.«

»Na gut.«

»Aber dann hat sie mir ihre Visitenkarte gegeben und gesagt, ich solle sie anrufen, wenn ich einen Job bräuchte.«

»Wie bitte? Was macht sie überhaupt?«

»Das weiß ich nicht! Aber sieh mal …« Stella griff nach ihrer Tasche und kramte darin herum. »Hier«, sagte sie.

»Verity Culpepper Limited«, las Billie, nahm ihr die Karte ab und strich mit dem Finger darüber. »Komischer Name.« Sie blickte auf. »Und du hast sie nichts mehr gefragt?«

»Nein! Wie schon gesagt, ich hatte gerade meinen Kaffee in einen Papierkorb entleert. Ich wollte nur noch nach Hause und mir die Zähne putzen.«

Billie schob die Karte über den Küchentisch zurück. »Du könntest sie anrufen.« Dann verfinsterte sich ihre Miene, als würde eine Gewitterwolke hindurchziehen.

»Was?«

»Was, wenn sie der Kopf eines Menschenhändlerrings ist? Oder in eine kriminelle Organisation verwickelt? Es war eine Anwaltskanzlei.«

»Bill, sie muss Mitte sechzig gewesen sein. Und sie trug ein Sonnenvisier und einen schäbigen alten Mantel. Ich habe schon Schülerlotsinnen gesehen, die bedrohlicher aussahen.«

»Hast du es gegoogelt? Das Unternehmen?«

Stella nickte. »Ja, aber ich konnte nichts finden. Na ja, fast nichts. Sie hat eine Website, aber die besteht nur aus einer Seite mit einem Formular, in das die Leute ihre Daten eintragen können.«

»Ruf sie an und finde heraus, was sie macht. Aber wenn sie vorschlägt, sich irgendwo privat zu treffen, geh nicht hin. Verabrede dich mit ihr in einem Café.«

»Danke, Inspektor Billie Martin.«

»Ich mein ja nur«, antwortete Billie achselzuckend. »Man weiß nie.« Sie trank ihren Tee aus. »Ich koche heute Abend ein Curry. Jez und ich dachten, wir sehen uns diese Panda-Dokumentation an. Hast du auch Lust?«

Stella schielte auf die Küchenuhr. Fast sieben. Noch früh. Sie hatte die Wahl: Baumrindencurry (so etwas in der Art würde es sein, denn Billie war überzeugte Vegetarierin) mit ihr und Jez auf dem Sofa essen. Oder in den Pub gehen. Morgen würde sie diese seltsame Frau anrufen und herausfinden, ob es einen Job für sie gab oder sie sie für ein Verbrechersyndikat rekrutieren wollte. Morgen würde sie noch einmal von vorn anfangen. Heute Abend wollte sie einen Drink, um ihren peinlichen Vormittag zu vergessen. Nur einen Drink, oder zwei, das hing von der Großzügigkeit des Barmanns Jack ab. »Nein, danke, ich schau mal, was im Pub so los ist.«

»Keine Lust, mal früh ins Bett zu gehen? Etwas mit Vitaminen zu essen?« Billie war diejenige, die in der Wohnung kochte, da Stella nicht imstande war, ein Rezept zu befolgen, und sich hauptsächlich von Toast ernährte.

Sie schüttelte den Kopf und wandte vorsichtshalber den Blick von ihrer Mitbewohnerin ab, falls sich in deren Gesicht ein tadelnder Ausdruck finden sollte. Oder, schlimmer noch, Mitleid. »Ich komme nicht zu spät zurück, versprochen.«

»Stell …«

Stella sah auf und bemerkte Billies beunruhigte Miene. »Was ist?«

»Ich will dir keinen Vortrag halten, ich verstehe, dass du es gerade nicht leicht hast. Aber die ganze Zeit im Pub abzuhängen und nachts nicht nach Hause zu kommen, kann ich einfach nicht …«

»Nicht was?«

Billie seufzte, bevor sie antwortete. »Ich bezweifle, dass dich das glücklich macht.«

»Das klingt ziemlich nach einem Vortrag«, antwortete Stella, schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

»Ist es aber nicht«, sagte Billie kopfschüttelnd. »Ich möchte dir helfen, aber …«

Sie wurden unterbrochen, als sie einen Schlüssel im Schloss hörten, und ausnahmsweise war Stella dankbar, Jez zu sehen.

»Jeremy, guten Abend.« Er hasste seinen vollen Namen – »klingt, als ob ich einem Golfclub angehöre«, hatte er einmal gesagt –, und Stella benutzte ihn so oft wie möglich.

Er ließ seine Tasche neben der Tür fallen und warf einen übertriebenen Blick auf die Uhr. »Hallo, Stella, schon wach? Etwas zu früh für dich, oder?«

»Ich gehe jetzt aus.«

»Wie originell. Hallo, Süße«, sagte Jez und drängte sich an ihr vorbei, um Billie zu küssen. »Ich hab dir das hier wieder mitgebracht. Sal sagte, sie hätten zwei Exemplare, also braucht sie das hier nicht.« Er hielt ihr ein gebundenes gelbes Buch mit einem Cartoon-Paar auf der Titelseite hin.

Sal war der Literaturredakteur des Guardian, der Jez immer wieder Bücher schenkte, die er aufgeschlagen mit zerknitterten Seiten neben der Badewanne liegen ließ.

»Der Neue! Du bist mein Held, danke«, sagte Billie und schlang die Arme um seinen Hals.

»Ich lasse euch in Ruhe«, verkündete Stella, der es unangenehm war, sich in ihrer eigenen Wohnung wie ein Anstandswauwau vorzukommen.

Billie rückte von Jez ab und sah mit entschuldigendem Blick zu ihr hinüber. »Alles okay?«

»Mmm, klar.«

»Und du bist sicher, dass es für dich in Ordnung ist, mitzukommen?«

»Zu was?«

Billie deutete auf den Brief auf dem Tisch.

»Ah, okay. Ja, natürlich. Mein Terminkalender quillt schließlich nicht gerade über vor Terminen.«

»Hey«, antwortete Billie mit einem kleinen Lächeln. »Du willst also sagen, dass du für alles offen bist?«

Unwillkürlich lächelte Stella zurück. Sie hatte zwar weder einen Freund noch einen Job, aber sie hatte eine beste Freundin, die sie mit einem schrecklichen Witz über einen Abstrich zum Lachen bringen konnte. Das war doch immerhin etwas.

Am nächsten Morgen wachte Stella wenigstens in ihrem eigenen Bett auf. Aber sie hatte wieder einen Kater, weil sie im Pub geblieben war, bis der Laden schloss. Dann war sie nach Hause gegangen und hatte auf Instagram ihren Ex-Freund ausspioniert.

Stöhnend drückte sie das Gesicht ins Kissen. Nachdem Stella dem Barmann Jack im Pub die Geschichte mit dem Papierkorb erzählt hatte, hatte er ihr einen Wodka Tonic ausgegeben. Dann noch einen. Und noch einen. Jack war in Stella verknallt, und das nutzte sie gern, um sich von ihm Drinks spendieren zu lassen. Sie rechnete ihm das hoch an, würde aber trotzdem nie mit ihm schlafen. Jack redete über nichts anderes als über Arsenal und hatte schmutzige Fingernägel, was Stella jedes Mal auffiel, wenn er ihr wieder ein Glas über den Tresen zuschob. So weit durfte sie sich nicht herablassen.

Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie jedenfalls dem Drang nachgegeben, sich Miles’ Profil anzusehen.

Beim Anblick seines neuesten Bildes hatte sich ihre Brust zugeschnürt: Miles an einem mit leeren Weinflaschen und Aschenbechern übersäten Gartentisch, der seine Zunge in das Ohr einer schlanken Brünetten steckte, die eine Sonnenbrille trug und vor Vergnügen strahlte. Und obwohl Stella wusste, dass Sonnenbrillen nicht sehr attraktive Menschen glamouröser aussehen ließen, als sie es eigentlich waren, erkannte sie, dass diese brünette Frau tatsächlich äußerst attraktiv war.

Die nächste halbe Stunde scrollte sie durch die Liste der Leute, denen Miles folgte und die ihm folgten, suchte nach Frauennamen, die sie nicht kannte, und studierte deren Miniaturbilder. Stella hatte zwar keinen offiziellen Uniabschluss, aber einen Kurs mit dem Titel »Stalking auf Social Media und wie man eine potenzielle Bedrohung erkennt« würde sie ganz bestimmt mit Bestnoten abschließen.

Schließlich hatte sie das Feld auf eine einzige Person eingrenzen können: Annabel Longbottom. Inzwischen war es Mitternacht, aber Stella lag im Bett und googelte Annabel, suchte nach ihr auf LinkedIn, auf Facebook und auf der Website der PR-Agentur, bei der sie arbeitete.

Sie stöhnte erneut in ihr Kissen. Warum hatte sie das getan? Morgens schämte sie sich jedes Mal dafür, dass sie Miles stalkte. Es war wie eine Sucht; sie wollte wissen, was Miles tat, wer Annabel war. Sie scrollte, als ob es ihr davon besser gehen würde, dabei fühlte sie sich nur noch schlechter. Und dann wachte sie auf und war wütend auf sich selbst.

Sie warf einen Seitenblick auf die Uhr. Nach neun. Sie brauchte einen Tee, ein paar Schmerztabletten, und dann würde sie diese merkwürdige Frau anrufen – Verity Culpepper. Einen Versuch war es wert, wie Billie sagte. Sie brauchte das Geld. Und im Grunde war es gar keine schlechte Idee, tagsüber irgendwo hinzugehen, anstatt in der Wohnung Trübsal zu blasen und sich den Instagram-Account ihres Ex-Freundes anzusehen.

Sie schwang die Beine aus dem Bett, schnappte sich einen der Pullover, die auf dem Teppich verstreut lagen, und ging in die Küche. Mist. Sie hatte es wieder vergessen. Keine Milch. Nicht mal Hafermilch. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und kippte den Inhalt des kleinen Topfes, der auf ihrem Nachttisch stand, auf die Bettdecke. Es fielen Haargummis, seltsame Ohrringe, zwei Silberringe und siebzehn Pence in Münzen heraus.

Wie auch viele Politiker wusste Stella nicht, wie viel ein halber Liter Milch kostete, aber sie vermutete, dass es mehr als siebzehn Pence waren. Sie sah in der Schublade mit alten Ladegeräten, alten Schlüsseln und Schmerztabletten in der Küche nach, aber auch dort fand sie nur ein weiteres Fünf-Pence-Stück.

Sie seufzte und legte ihr Handy auf den Küchentisch. Was, wenn sie nach unten ging? Nicht zu Nigel in den Laden an der Ecke, sondern zu Harold in der Wohnung im Erdgeschoss unter ihnen. Normalerweise versuchte sie immer, die Begegnung mit ihrem älteren Nachbarn zu vermeiden. Nicht etwa, weil er unangenehm oder schwierig war oder ein Messie oder einer dieser lästigen Nachbarn, die man im Fernsehen sah. Aber das hier war London, und er war ein Fremder, auch wenn Stella seit neun Jahren über ihm wohnte. Dass sie dasselbe Gebäude und dieselbe blassrosa Haustür teilten, bedeutete nicht, dass sie Freunde sein mussten.

Sie hatte kaum mehr als ein paar Worte mit ihm gewechselt, nur ein gelegentliches »Hallo« oder »Guten Morgen«, wenn sie ihn beim Weggehen oder Nachhausekommen traf. Sie wusste, dass er ein pensionierter Polizist war, oder genauer gesagt, ein pensionierter Polizeihundeführer, und dass seine Frau letzten Sommer gestorben war.

Seitdem hatte sich Stella noch mehr Mühe gegeben, ihm aus dem Weg zu gehen. Wenn sie zum Beispiel die Wohnung verlassen wollte und hörte, dass Harolds Tür geöffnet wurde, wartete sie, bis er das Haus verlassen hatte, bevor sie selbst ging. Stella war zu englisch, um auf der Treppe ein gestelztes Gespräch zu führen, und bei dem Gedanken, sich mit ihm über sein Witwerdasein zu unterhalten, wurde ihr fast schlecht. Was sollte sie sagen? »Hi, Harold, mein Beileid wegen Ihrer Frau! Sieht aus, als wäre hier ein Brief von der Stadtverwaltung für Sie. Schönen Tag noch!«

Billie konnte besser mit Menschen umgehen. Sie hatte mehr Kontakt zu Harolds Frau gehabt und blieb oft stehen, um mit ihm zu plaudern, wenn sie ihn auf der Treppe traf. Kürzlich hatte sie ihm sogar ein Stück Zucchinikuchen hinuntergebracht – einen gluten- und milchfreien Kuchen, bei dem Stella sich nicht sicher war, ob er überhaupt als Kuchen zählte. Gab es jemanden, dem man mit Zucchinikuchen eine Freude bereiten konnte?

Aber jetzt brauchte sie Milch.

Stella klemmte einen Turnschuh in ihre Tür und ging nach unten, um bei Harold zu klopfen, woraufhin sofort der Hund zu bellen begann.

Erst als seine Tür aufschwang, bemerkte Stella den Becher, den sie aus der Küche mitgebracht hatte. Sie hatte ihn zu ihrem letzten Geburtstag von Jez bekommen, ganz offensichtlich ein Panikkauf aus einem Geschenkeladen: Auf der Vorderseite stand »32 – und immer noch HOT«.

»Hallo«, begrüßte Harold sie lächelnd und trat von der Tür zurück. Er war schlank und ordentlich gekleidet mit Hemd und gebügelter Hose, er trug eine riesige quadratische Brille, die ihn wie eine weise alte Eule aussehen ließ. »Ruhig, Basil, sei still.« Harold drehte sich um und tätschelte seinem Schäferhund den Kopf, dann blickte er auf Stellas nackte Füße hinunter. »Ist alles in Ordnung?«

Stella hielt den Becher schnell neben sich. »Ja, alles gut, danke. Ich wollte nur fragen, ob ich mir etwas Milch borgen könnte?«

»Etwas Milch?«, fragte Harold. Er hatte heute Morgen endlich die Versorgungsunternehmen angerufen, um Ellens Namen von den Rechnungen streichen zu lassen. Die Anstrengung, die Nummer rauszusuchen, lange in der Warteschleife zu hängen und schrecklich krächzende Musik zu hören, dann den Namen seiner Frau zu sagen und immer wieder erklären zu müssen, dass sie gestorben war, hatte ihn erschöpft.