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George Taboris Groteske spielt in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In einem Männerwohnheim in der Blutgasse trifft der junge, untalentierte Künstler Adolf Hitler, der sich an der Kunstakademie bewerben möchte, auf den menschenliebenden jüdischen Buchhändler Schlomo Herzl, der sich hingebungsvoll um den Neuankömmling kümmert. Schlomo tröstet Hitler, als dieser von der Kunstakademie abgelehnt wird und gibt ihm Ratschläge für eine Karriere in der Politik. Er erfindet Hitlers charakteristischer Barttracht und bringt ihm demagogische Kunstgriffe bei. Schließlich wird Schlomo das erste Opfer Hitlers – seine Fürsorge hat fatale Folgen für ihn und die Weltgeschichte. "Mein Kampf" ist George Taboris bekanntestes Stück – in mehr als 190 Inszenierungen wurde es weltweit aufgeführt.
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Seitenzahl: 79
Veröffentlichungsjahr: 2020
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© 2016 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH
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ISBN 978-3-7375-5604-0
HERZL
LOBKOWITZ
HITLER
GRETCHEN
FRAU TOD
HIMMLISCH
TAGESPENNER/TIROLER TÖLPEL
LEOPOLD, EIN DIENER
GENDARMEN
MIZZI, EIN HUHN
Wien, Winter 19.. – Asyl in der Blutgasse
»Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müsst! O Freunde! Mir geht dies in die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.« Hölderlin
Donnerstag frühmorgens. Ein Hahn kräht. Es schneit. Lobkowitz betet. Die Penner wachen auf, kriechen aus ihren Betten, um in die Stadt zu hasten. Herzl kommt von draußen, einen Stapel unverkaufter Bücher auf seinem unnatürlich starken rechten Arm balancierend.
LOBKOWITZ Da bist du ja.
HERZL Bin ich?
LOBKOWITZ Versuchst, an mir vorbeizuschlüpfen?
HERZL Aber nein, o Herr.
LOBKOWITZ Ich rief im Finstern hinter dem brennenden Busch, wo bist du, Schlomo Herzl, rief ich, wo bist du, wo? aber da war nur die Stille des Schnees. Ich habe soeben ein paar neue Gebote erfunden, erstens: Ein Gott ist genug, und der bin ich. Zweitens: Kannst du deine Eltern nicht ehren, ruf sie wenigstens einmal die Woche an. Drittens: Bevor du deines Nachbarn Weib begehrst, überzeuge dich, dass sie keine behaarten Beine hat. Wie gehen die Geschäfte?
HERZL Miserabel.
LOBKOWITZ Aus Leiden wird man klug.
HERZL Wieso bin dann ich dumm geblieben?
LOBKOWITZ Du bist dumm geblieben, weil du dir zu viele Sorgen machst. Wer sich Sorgen macht, hat wenig oder gar keinen Glauben, also denke daran, was im Himmel über dir ist, und du wirst nicht in Sünde fallen.
HERZL Glaube kann man nicht erzwingen, o Herr.
LOBKOWITZschlägt zu Wirst du jetzt frech und bockbeinig, Hund?
HERZL Oh nein, das würde ich nicht wagen.
LOBKOWITZ Gelehrte Toren sind die schlimmsten Toren.
HERZL In einem Streitgespräch gewinnt immer der Verlierer.
LOBKOWITZ Wer hat das gesagt?
HERZL Du hast das gesagt.
LOBKOWITZ Kann mich nicht erinnern.
HERZL Am Roten Meer, als die Wasser sich teilten.
LOBKOWITZ Ach ja, kein übler Trick, was? Dreißigtausend Ägypter ersoffen.
HERZL Zwanzigtausend.
LOBKOWITZ Fünfundzwanzig?
HERZL Zwanzig.
LOBKOWITZ Genug. Du bezweifelst meine Allwissenheit, Wurm. Schlägt ihn.
HERZL Wenn ich nicht zweifle, was bin ich dann?
LOBKOWITZ Wenn du nur zweifelst, was bist du dann?
HERZL Kein Theologe.
LOBKOWITZ Das bin ich auch nicht.
HERZL Wie dem auch sei, ein gebrochenes, ein blutendes Herz wie meins wirst du nicht verachten, o Herr.
LOBKOWITZ Habe ich gesagt, dass ich dich verachte?
HERZL Du hast mich einen Wurm genannt, o Herr.
LOBKOWITZ Was hast du gegen Würmer?
HERZL Wenn du gegen mich bist, wer ist für mich? Meine Feinde rücken mir auf den Leib. Erst gestern Nacht hat ein Kellner im Café Central zu mir gesagt: Keine Hunde und keine Juden!
LOBKOWITZ Wenn du lernst, mich zu fürchten, brauchst du niemanden in den Kaffeehäusern zu fürchten.
Hitler taucht draußen auf, sucht eine Hausnummer, verschwindet.
LOBKOWITZ Ich habe mal einen Schädel auf den Wiener Gewässern hüpfen sehen, und ich sagte zu ihm: Da du jemanden ertränkt hast, hat man dich ertränkt, aber auch wer dich ertränkt hat, soll ertränkt werden, denn ich bin gerecht. Übrigens, wie viele Bibeln hast du heute Nacht verkauft?
HERZL Fünf, o Herr.
LOBKOWITZ Du lügst. Er schlägt ihn.
HERZL Drei.
LOBKOWITZ Welche Fassung?
HERZL Luthers.
LOBKOWITZ Das nennst du Bibel?
HERZL Ich nicht, o Herr, das war er!
LOBKOWITZ Verfickter Renegat! Mein bestes Gebot zu vergessen! Ich habe dich erwählt, nicht weil du etwas Besonderes bist, weit entfernt, ich habe dich erwählt, Wurm, damit du mir hilfst, ein Reich zu errichten in diesem Schnee, in dieser schrecklichen Stunde vor Tagesanbruch, der Stunde, die über deine Ewigkeit entscheiden könnte, also bereue, ehe es zu spät ist. Aber ich rate dir, kehre noch heute um, zurück in meinen Schoß. Unter uns, Schlomo, worauf wartest du? Er schlägt ihn.
HERZL Ich schreibe ein Buch, Lobkowitz.
Stille
LOBKOWITZkindisch Lobkowitz? Hast du statt »O Herr« Lobkowitz gesagt?
HERZL Ja, Lobkowitz, ich habe Lobkowitz gesagt statt »O Herr«.
Lobkowitz bricht zusammen.
HERZLzum Publikum Ich weiß nicht, woher ich die Chuzpe genommen habe, ihn mit Lobkowitz anzureden statt mit » O Herr«, aber meine Nase war kalt und mein Kreuz tat mir weh, und dieses Spiel ging mir auf die Nerven. Seit drei Jahren immer dasselbe.
LOBKOWITZ Seit vier!
HERZL Warum setze ich mich dem überhaupt aus? Vielleicht tut mir dieser Gott leid, der als Allgegenwärtiger unweigerlich auch in Wien gegenwärtig ist, denn er liebt seine Juden so sehr, dass er sie nicht aus den Augen lassen mag. Aber an diesem Morgen, in diesem Schnee, war ich es leid, ich enthob Gott seines Amtes und demaskierte ihn als Koch. Dieser Gott ist natürlich nicht Gott, Sie wissen, wen ich meine, denn es gibt schließlich nur den Einen, Sein Name sei gepriesen, sondern Lobkowitz, diesen kaputten Koscher-Koch, der von seinem Chef Moskowitz schon vor Jahren entlassen worden war, weil er Tafelspitz mit Schmelzkäse gemischt hatte.
LOBKOWITZ Mit Gänseschmalz.
HERZL Eine Beleidigung mosaischer Gesetze. Warum? ich erkläre dir, warum, sagte Lobkowitz zu Moskowitz, weil ich sauer auf Moses bin, dass er vierzig Jahre durch die Wüste gewandert ist …
LOBKOWITZ Neununddreißig!
HERZL … statt sich in Wien niederzulassen. Sei es wie es sei, entgegnete Moskowitz, du bist entlassen. – Mögen dir alle Zähne ausfallen bis auf einen, und der soll dich schmerzen bis ans Ende deiner Tage, sagte Lobkowitz, riss sich die Schürze runter und warf sie in den Borschtsch.
LOBKOWITZ Ins Beuschl!
HERZL Beuschl! Dann fiel er in ein Koma, aus dem er zehn Tage später erwachte, ein klassischer Fall von Identitätsverlust, den er Dr. S. Freud wie folgt erläuterte: »Ich glaube, ich bin Gott. Sie glauben, Sie sind S. Freud. Beide könnten wir recht haben.« Tut mir leid, Lobkowitz, dass ich dich Lobkowitz genannt habe und nicht Allmächtiger, Sein Name sei gepriesen, aber ich schreibe ein Buch.
LOBKOWITZ Für mich?
HERZL Nein!
LOBKOWITZ Über mich.
HERZL Nein. Lobkowitz, sieh nicht so traurig drein. Jetzt willst du sicher wissen, wovon mein Buch handelt!
LOBKOWITZ Keineswegs.
HERZL Ich weiß es selbst nicht, ich habe es noch nicht geschrieben, vielleicht handelt es eben davon, dass es nicht geschrieben ist, aber in diesen vergangenen drei Jahren habe ich versucht, über den Anfang hinauszukommen, willst du den Anfang hören, über den ich nicht hinauskomme?
LOBKOWITZ Auf keinen Fall.
HERZL Etwas in mir stachelt mich jeden Morgen an, wieder zu beginnen, und jeden Morgen ekelt es mich. Ich wünschte, dieses Buch wäre ein tägliches Gebet, doch was mich davon abhält, ist ein heidnisches Kichern, das in meinem Kopf losbricht, während ich Seinen Namen kritzle, den man in Wien kaum aussprechen kann, ohne dass er zur Blasphemie verkommt, er taucht nur noch nebenbei auf als Seufzer oder als Fluch oder als Beschwörung, HERRGOTTNOCHMOAL oder ACH GOTTCHEN oder …
HITLERsoeben eingetreten Grüß Gott.
HERZL Wenn du ihn siehst.
LOBKOWITZ Zum Beispiel.
HERZL Zum Beispiel ist noch kein Beweis.
Weder Herzl noch Lobkowitz beachten Hitler, der ziemlich ungeduldig auf der Schwelle wartet.
Außerdem, warum noch ein Buch schreiben? Es gibt nur ein Buch, und das ist schon geschrieben, und dieses eine Buch, das schon geschrieben ist, sagt alles über alles, auch über deine Tränen, und doch muss ich mein eigenes Buch schreiben, um das Böse aus meinem Herzen zu vertreiben, diesen Schatten, der auf meine Schwelle fällt. Also frage ich dich, Lobkowitz, als Lobkowitz, was soll ich tun?
LOBKOWITZglücklich Du? Fragst? Mich? Als Lobkowitz? Ich, als Lobkowitz, soll dir sagen, was du tun sollst? Halleluja! Ich will es dir sagen, als Lobkowitz. Wenn du nicht über den Anfang hinauskommst, musst du vor dem Anfang anfangen. Wie ist der Titel, wie nennst du dein Buch?
HERZL »Mein Leben«.
LOBKOWITZschüttelt den Kopf »Mein Leben«? Das soll ein Titel sein für einen potentiellen Bestseller? Das soll ein Titel sein für einen bedeutenden Kommentar? Schlomo, ich bin enttäuscht. Lass dir was anderes einfallen.
HERZL Wie wär’s mit »Meine Memoiren«?
Lobkowitz und Hitler schütteln den Kopf.
LOBKOWITZ Entsetzlich! »Meine Memoiren«! Frag dich selbst, Schlomo, würde deine Mutter ein Buch kaufen, das »Meine Memoiren« heißt?
HERZL Nein!
LOBKOWITZ Versuch’s noch mal!
HERZL Wie wär’s mit »Schlomo und die Detektive«? »Schlomo ohne Eigenschaften«. »Schlomo und Julia«. »Schlomo und Isolde«. »Warten auf Schlomo«. »Schlomo auf der Suche nach den verlorenen Schlomos«. »Schlomo und Frieden«. »Die letzten Tage der Schlomos«. »Ecce Schlomo«. Wie wär’s mit »Mein Kampf«?
LOBKOWITZ Das ist es!
Endlich nehmen sie Hitler zur Kenntnis. Eine fast unerträgliche Stille.
LOBKOWITZ Nu?
HITLER Ist dies Frau Merschmeyers Männerheim unter ihrer Metzgerei?
LOBKOWITZ Ja.
HERZL Hat Ihre Mutter Ihnen keine Manieren beigebracht?
HITLER