Mein längster Lauf - Rosie Swale Pope - E-Book

Mein längster Lauf E-Book

Rosie Swale Pope

0,0
11,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als die Waliserin Rosie Swale Pope mit 57 Jahren ihre große Liebe verliert, bricht für sie eine Welt zusammen. Voller Trauer beschließt die aktive Sportlerin, ihrem verstorbenen Mann zu ehren die Welt zu umrunden – und zwar in ihren Laufschuhen! Ihr ungewöhnlicher Trip führt die Witwe durch Europa, Russland, Asien und Nordamerika, um nur einige Stationen zu nennen, und beschert ihr auf unglaublichen 20.000 Meilen unzählige Abenteuer. Begegnungen mit Wölfen und Bären, von einem Bus angefahren, verfolgt von einem bärtigen, nackten Mann – nichts kann die passionierte Läuferin stoppen. Als Rosie Swale Pope nach fünf Jahren, 29 Heiratsanträgen und 53 Paar zerschlissenen Schuhen schließlich wieder in ihrer Heimat einläuft, ist sie zwar körperlich erschöpft, aber voller neuer Erfahrungen und Erkenntnisse – und vor allem: voll neuer Hoffnung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»Dinge währen ewig,

nicht in Jahren,

sondern in den Augenblicken,

in denen sie geschehen.«

- Rosie Swale Pope

Für Clive,

Eve und James, Pete,

Jayne und Nigel

und den Rest meiner Familie,

nah und fern.

Prolog

Sibirien, Januar 2005

In den tiefen Wäldern Sibiriens gibt es hundert verschiedene Arten von Stille. Die Atmosphäre wird ein Teil von dir. Gerade nachts lässt sich die Kraft der Stille daran messen, dass jedes noch so kleine Geräusch dein Herz sofort einen Schlag aussetzen lassen kann. Irgendetwas ist dort draußen.

Die Nachtvögel – vielleicht sind es Häher – beginnen auf einmal alarmiert zu kreischen. Vorbei ist ihre lautlose Nachtwache. Es sind scharfe Warnrufe. Dann höre ich das Heulen.

Wenige Augenblicke später steckt ein Wolf seinen Kopf durch die Öffnung meines Zeltes. Im ersten Moment empfinde ich weder Angst noch Gefahr, sondern absolute Bewunderung für die Schönheit des wilden Tieres.

Es ist ein großer, kräftiger Mackenzie-Wolf. Sein gelbbrauner Kopf und seine langen Vorderbeine mit den riesigen pelzigen Pfoten sind mit Tropfen von halb gefrorenem Schnee bedeckt, die auf seinem dichten Fell wie Diamanten funkeln. Er sieht sich gründlich um, denn schließlich ist das hier seine Welt.

Mein Herz hämmert in meiner Brust. Und doch sagt mir mein Instinkt, dass er mich nicht angreifen wird. Ich habe gelernt, meinem Instinkt zu vertrauen. Er ist alles, was ich habe. Ich verharre völlig bewegungslos, doch der Wolf spürt, dass ich aufgewühlt bin. Einem Tier kann man nichts vormachen. Dann zieht er sich zurück und ist wieder verschwunden.

Ich muss hinaus in die eisige Nacht und die zerrissene Zelttür mit Klebeband ausbessern. Der Mond ist aufgegangen und wirft sein Licht auf den Wald und das Rudel Wölfe, das zwischen den Bäumen verharrt.

Am nächsten Morgen sind sie verschwunden. Ich bin auf einer einsamen Straße unterwegs, die sich meilenweit durch den Wald erstreckt. In den letzten paar Tagen habe ich nicht mehr als ein oder zwei Fahrzeuge gesehen, die unterwegs zu den Bergwerken im fernen Osten Russlands waren. Hier gibt es auf Hunderten von Meilen keine Häuser und ich frage mich, ob diese Wölfe je zuvor einen Menschen gesehen haben.

Im Laufe der nächsten Tage taucht das Rudel immer wieder auf, wenn ich mein Nachtlager errichte, um bei Tagesanbruch erneut zu verschwinden. Durch die Anwesenheit der wilden Tiere fühle ich mich unbehaglich – und doch tröstet mich ihre Nähe zugleich auf eine Art, die ich nicht ganz verstehe. Es ist, als ob sie mit mir zusammen laufen. Nach ungefähr einer Woche verschwinden sie ganz. Ich glaube, sie tun es, weil ich ihr Revier verlassen habe; ich habe eine unsichtbare Grenze überschritten.

Diese wunderschönen Tiere mit ihren uralten Instinkten und seltsamen Gewohnheiten gaben mir Kraft, die schmerzlichen Erinnerungen wieder hervorzuholen, warum ich meinen Lauf überhaupt angetreten bin.

Am 12. Juni 2002 starb mein Ehemann Clive in meinen Armen. Wenn wir uns früher überlegt hätten, zum Arzt zu gehen, dann wäre er jetzt vielleicht noch bei mir, denn Clive hatte Prostatakrebs. Nach seinem Tod wusste ich, dass ich etwas tun musste. Die Menschen überzeugen, sie ermahnen und bitten, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen. Ich musste eine Möglichkeit finden, andere aufzurütteln, egal, wie sehr sie es hassten, zum Arzt zu gehen oder über intime Dinge zu sprechen. Der Krebs kennt keine gesellschaftlichen Tabus.

Ich bin nur eine gewöhnliche Frau, aber wenn ich einfach zu Hause geblieben wäre und in meinem Garten Unkraut gejätet hätte, dann hätte sich nichts verändert – das ist der Grund, weshalb ich um die Welt laufe und in kalten Wäldern zusammen mit Wölfen schlafe.

Wenn meine Botschaft auch nur ein einziges Leben rettet – dann war es das alles wert.

KAPITEL 1

Clive

Tenby, Wales, 2002

Wir dachten, er könnte ihn besiegen, genau wie Clive immer alles bezwungen hatte. Vor Jahren war er auf der ganzen Welt umhergesegelt und hatte Jachten ausgeliefert. Er segelte Boote, mit denen niemand sonst zurechtkam. Er entkam auf hoher See Piraten und trotzte allen Stürmen. Er war immer fit gewesen und voller Leben und Lachen.

Clive hatte funkelnde blaue Augen in einem wissbegierigen und fröhlichen Gesicht. Ich lernte ihn 1982 kennen, als ich an einem Tiefpunkt angelangt war, verzweifelt bemüht, ein altes und baufälliges 17-Fuß-Segelboot flott zu machen, um damit allein über den Atlantik zu segeln. Obwohl er ein Geschäftsmann in Pembrokeshire war, konnte er sich vom Meer nie richtig fernhalten und er half bei Kelpie’s Werft in Pembroke Dock aus, wo er mein kleines Boot auftakelte. Clive war, so wie ich, schon einmal verheiratet gewesen und hatte zwei bereits erwachsene Kinder, Jayne und Nigel, die er über alles liebte. Ich stehe meinen Kindern aus erster Ehe, Eve und James, ebenfalls sehr nahe.

Nach meiner Überquerung des Atlantiks feierten wir eine schlichte Hochzeit und hatten fast zwanzig extrem glückliche Jahre miteinander. Wir gingen oft zum Meer hinunter und sahen uns den Sonnenaufgang an, der vom Hafen und North Beach in Tenby, wo wir lebten, eine goldene Bahn aus Licht übers Wasser malte.

»Ich glaube, der Himmel kommt nicht später«, meinte er oft. »Der Himmel ist genau hier und jetzt.«

All diese sorglosen Zeiten endeten jäh. Unsere Welt veränderte sich auf eine Art, die traurigerweise Millionen von Menschen kennen, die aber niederschmetternd neu für uns war. Wir wussten nichts über Krebs – nichts über den furchtbaren Verlust, Schmerz und Kummer. Wir wussten nur, dass er ganz leicht jeden treffen konnte.

Am 26. Juni 2000 ging Clive zu Dr. Griffiths, da er in letzter Zeit ein Unbehagen beim Wasserlassen verspürt hatte. Wir waren schockiert, am Boden zerstört, als die Untersuchungen ergaben, dass Clive Prostatakrebs hatte.

»Das ist nicht so schlimm«, versuchte uns Dr. Griffiths zu beruhigen. »Das ist oft eine der am leichtesten zu behandelnden Krebsarten. Man kann Prostatakrebs haben und neunzig werden – und dann von einem Bus überfahren werden.«

Weitere Untersuchungen ergaben, dass der Krebs bereits in Clives Knochen gestreut hatte. An jenem Abend betete ich um ein Wunder; ich hätte alles getan, um an seiner Stelle zu sein, aber Clive sagte nur: »Ich schaffe das schon.«

Im Laufe des nächsten Jahres ging das Leben fast wie gewohnt weiter. Clive sprach gut auf die Medikamente an und ich staunte über seinen starken Willen. Er begann, am Strand zu laufen, was er noch nie getan hatte – er war kein Läufer. Das Schwere dabei war, dass er lange Zeit nicht wollte, dass irgendjemand – außer mir und seinen Ärzten – von seiner Erkrankung erfuhr.

Eines Tages bemerkte ich, dass er eigentlich nicht mehr dazu in der Lage war, am Strand zu joggen, es aber zu verbergen versuchte. Er blieb stehen und legte den Arm um mich: »Weine nicht«, sagte er, »sonst muss ich mitmachen. Sei stark.«

Es ging ihm gut genug, um sich seinen Wunsch zu erfüllen, im Herbst noch einmal in Irland zelten zu gehen. Es war wunderschön. Die irische Seite meiner Familie sagte immer wieder, wie gut Clive aussehe, was mich mit Stolz erfüllte, aber auch innerlich zerriss, da ich nicht sagen konnte, was los war.

Ich erinnere mich an unser Zelt nahe den nebelverhangenen Dünen, Schilfgewächsen und Gräsern am frühen Morgen in der Nähe von Rosslare Harbour, bevor wir die Fähre zurück nach Hause nahmen. Wir hatten so viel Spaß. Die Zeit unterbrach gnädigerweise ihren grausamen Wettlauf und stand still, wenn auch nur für eine kleine Weile. Es war das Geschenk der Zeit, das alles für uns bedeutete. Dinge währen ewig, nicht in Jahren, sondern in den Augenblicken, in denen sie geschehen.

Clive war wie eh und je voller Träume und Ideen. Letztendlich erzählte er seiner Tochter und seinem Sohn und noch ein paar anderen Leuten von dem Krebs und wir lebten so weiter, wie er es wollte. Es war nicht so, dass er sich seinem Problem nicht stellen wollte; es ging nicht darum, letzte Träume zu verwirklichen. Clive und ich glaubten nicht an das Wort letzte. Träume gründen sich auf die Wirklichkeit und darauf, Schwierigkeiten ins Auge zu sehen. Wir gingen einfach immer weiter vorwärts, da es die einzig mögliche Richtung war.

Er schrieb ein Gedicht, »Ich will die Welt sehen«:

Ich will ein Segler sein, ich will über die Meere ziehen,

nah und fern,

ich will die Inseln sehen und die fernen, entlegenen Länder,

will der Musik der Trommel lauschen.

Ich will auf Kamelen reiten, und auch auf Elefanten,

und mich an Stränden in der Sonne aalen.

Ich will nach Indien reisen und den berühmten Tadsch sehen,

und dann den Everest und seine Gipfel besuchen …

Viel später, auf meinem Lauf um die Welt, wurde mir bewusst, dass es Clive war, der mir beigebracht hat, dass man sich nie beim Aufstieg eine Pause gönnt, sondern immer erst, wenn man über den Gipfel des Berges ist. Und dass die Berge zuerst in unseren Köpfen überwunden werden müssen.

Clive sehnte sich danach, nach Nepal zu fahren. Er war in Indien geboren und sein Vater war in der britischen Armee für die Gurkhas zuständig gewesen. Clive war nie wieder zurückgekehrt, da er nicht als Tourist dorthin fahren wollte. Vor seiner Erkrankung hatte er eine Einladung des Nepal Trust angenommen. Wir sollten dort trekken und dem Trust helfen, ein Krankenhaus in Humla zu bauen. Er sagte noch immer, er würde alles tun, um dorthin zu fahren. Und er wollte nach Kuba reisen, um einen Film über einen Lauf zu drehen.

Er schaffte es auch fast nach Kuba. Es ging ihm besser und er bestand darauf, dass ich vorausfliegen und dann, nach dem Lauf, zurückkommen und ihn holen sollte, um den Film in nur wenigen Tagen drehen zu können. Er nahm an, dass es ihm gut genug gehen würde, um für ein paar Tage zu verreisen.

Dazu sollte es nie kommen.

Auf einmal ging es ihm deutlich schlechter. Es war im Januar 2002, als wir zusammen im Bett lagen. Ich döste vor mich hin und Clive zog an der Decke – das war alles, was er tat, als sein Arm auf einmal laut knackte.

»Ich glaube, er ist gebrochen«, sagte er.

Der Rettungswagen kam. Im Krankenhaus sagte man uns, der Bruch oberhalb des Ellenbogens sei ein klassisches Anzeichen von Knochenkrebs, der außer Kontrolle geraten war und streute. Bis April kam Clive immer wieder ins Krankenhaus und ging tapfer zur Physiotherapie, um möglichst viel Kraft zurückzugewinnen. Er machte seine Übungen so wie von den Ärzten verschrieben, mit dem Arm in einer Schlinge. Ich sah das alles mit an. Ich begleitete ihn überallhin.

Die Physiotherapeuten wunderten sich, dass er Witze reißen konnte. Er sagte immer: »Oh, es ist ja nicht so, dass ich nichts zu verlieren habe. Ich verliere meine Zähne, ich verliere meine Haare, ich verliere meine Augen …«

Am 10. April, seinem Geburtstag, aß er seinen Kuchen oder zumindest ein klein wenig davon. Ich schenkte ihm eine kleine Taschenlampe. Er gab sie mir wieder mit den Worten: »Bitte behalt sie für mich.«

Bald nach seinem Geburtstag kam er ins Krankenhaus, wo er bis kurz vor dem Ende blieb.

Peter Hutchinson von PHD Designs, die die beste Leichtgewicht-Daunenkleidung der Welt herstellen, schickte Clive eine Daunenweste, die nur 250 Gramm wog, für seine zerbrechlichen Knochen, die ihm so viel Behaglichkeit bereitete.

Nach dem Arm brach er sich die Hüfte. Als man eben hoffte, er würde bald wieder laufen können, führten die Tumore in seiner Wirbelsäule dazu, dass seine Beine gelähmt wurden.

Er ertrug das alles und versuchte immer noch, Späße zu machen. Als sein Freund Chester ihn besuchte und fragte, ob Clive irgendetwas bräuchte, erwiderte er: »Ja, ich brauche einen schnellen Wagen.«

Station 10, die Palliativ- und Krebsstation in unserem örtlichen Withybush Hospital in Haverfordwest, ist ein Ort, den ich nie vergessen werde, mit unendlicher Empathie und Fürsorge, von einer Leichtigkeit und Freundlichkeit, die sich nicht in Worte fassen lässt. Anne Barnes, eine begabte und begnadete Krebsspezialistin, trug zum Beispiel keinen Arztkittel, sondern bunte Kleidung, um ihre Patienten aufzumuntern.

Die fürsorglichsten Krankenschwestern, die ich je kennengelernt habe, ließen mich über lange Monate hinweg in meinem Schlafsack oder sogar auf Clives Bettkante schlafen, wo ich ihn einfach nur hielt. Eines Nachts wachte ich auf und bemerkte, dass Clive mich ansah. Er lächelte und sagte: »Du hast so schön geschlafen.« In seinen Augen lag ein Blick von Stolz und Liebe, den ich nicht beschreiben kann. Die Schwestern brachten mir geduldig bei, Clive zum Beispiel beim Waschen zu helfen. Es war mir ein Privileg, das zu tun: Ich hätte alles für ihn getan.

Der Grundsatz des Krankenhauses war, es den Patienten zu ermöglichen, für die letzten Tage nach Hause zu gehen, wenn sie es wünschten. Ich werde nie vergessen, wie rührend sie sich darum kümmerten. Sie ließen uns sogar ein spezielles Krankenhausbett nach Hause bringen und stellten uns eine Rund-um-die-Uhr-Pflege zur Verfügung.

Clive freute sich so, endlich das Geißblatt zu sehen, das er gepflanzt hatte, und er lächelte beim Anblick der Spatzen, die er immer seine »gefiederten Hooligans« nannte und die sich an den Meisenkugeln vor dem Schlafzimmerfenster gütlich taten. Tatsächlich hatte ich sie mit zusätzlichem Futter abgerichtet, bevor er nach Hause kam, damit sie eine Galavorstellung geben konnten. Einen Tag später, am 12. Juni 2002, war er bereits fort.

Nach all dem Schmerz und dem Leid wachte ich neben ihm auf und spürte, dass er noch einmal seine ganze Kraft zurückbekommen hatte, um nun weiterzuziehen.

Nachdem die freundliche Ärztin da gewesen war und die wundervolle junge Paul-Sartori-Schwester (wie unsere hiesigen Macmillan’s-Schwestern) mich umarmt und sich dann nach nebenan zurückgezogen hatte, hielt ich Clive die ganze Nacht einfach nur fest an mich gedrückt. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.

Er war zu einer langen Reise aufgebrochen und ich befand mich ebenfalls auf einer Reise. Am Beginn der einen und am Ende einer anderen Reise. Ich war untröstlich und ich hielt und betrachtete ihn viele Stunden lang. Dann wusste ich, dass man Schönheit nur festhalten kann, indem man sie loslässt.

Er hatte seinen Kampf gewonnen. Man gewinnt einen Kampf nicht aufgrund eines bestimmten Ergebnisses, sondern durch die Art und Weise, wie man sich ihm stellt. Er war unter den Piraten. Er war glücklich.

Selbst während dieses verzweifelten Kampfes hatte Clive nie seinen Sinn für Humor verloren. Mein Denkmal für ihn sollte nicht schmerzerfüllt, traurig oder düster sein. Ich musste etwas für Clive tun, das verrückt und riesengroß sein würde. Ich könnte ein paar Marathons laufen, um das allgemeine Bewusstsein für den Krebs zu fördern.

Ich starrte auf die Weltkarte an meiner Wand und fragte mich, ob ich mir Marathons im Ausland leisten könnte, als plötzlich ein neuer Gedanke meine Trauer durchbrauch und jeden Teil meines Wesens erfüllte: Ich würde stattdessen um die ganze Welt laufen!

KAPITEL 2

Der Plan

Tenby, Wales, August 2002

Ich bin in Davos in der Schweiz geboren, wo meine Mutter, die an Tuberkulose litt, in einer Klinik war, während mein Vater in der britischen Armee diente. Als ich zwei Tage alt war, gaben die Ärzte eine Anzeige in der Lokalzeitung auf, um eine Pflegemutter zu finden, da meine Mutter sich nicht um mich kümmern konnte. Wie ich erst viele Jahre später erfuhr, gab es 45 Bewerber. Meine Mutter entschied sich für die Ehefrau des örtlichen Postboten, die gut zu mir war. Um meine Lungen zu kräftigen, unternahm meine Pflegemutter mit mir lange Spaziergänge, die immer auf dem Gelände der TB-Klinik endeten, damit meine Mutter mich von ihrem Fenster aus sehen konnte, denn aufgrund ihrer Infektion war es ihr unmöglich, physischen Kontakt zu mir zu haben. Ich habe schattenhafte Erinnerungen an die Gesichter meiner Mutter und meiner Pflegemutter und die schwarzen Eichhörnchen, die mir Nüsse aus der Hand fraßen. Meine Pflegemutter kleidete mich immer wunderschön und ließ Fotos von mir aufnehmen, die meine arme Mutter später um ihr Bett herum hängen konnte.

Ich habe meine Mutter nie kennengelernt, aber ich werde immer so viel Liebe und Dankbarkeit für sie empfinden; und dafür, dass sie den Mut aufbrachte, mich zur Welt zu bringen, als sie so krank war, und auch für ihren noch größeren Mut, als sie vor der Entscheidung stand, mich wegzugeben. Ich habe das Gefühl, mein Leben vielen außergewöhnlichen, fürsorglichen und liebevollen Menschen zu verdanken.

Als ich zwei war, starb meine Mutter bedauerlicherweise und meine anglo-irische Großmutter, die Carlie hieß, kam, um mich mit zu sich nach Irland, in die Grafschaft Limerick, zu nehmen. Sie schenkte mir ein Kaninchen namens Peter und brachte mich weg. Sie kappte die Verbindung.

Meine letzte Erinnerung an meine Pflegemutter war die einer Dame mit einem braunen Dutt, die weinend neben dem Zug herlief, der mich wegbrachte. Von da an kümmerte sich Carlie um mich, obwohl sie wenig später von Arthrose verkrüppelt wurde.

1951, als ich fünf war, heiratete mein Vater, ein hochgewachsener, charismatischer Armeeoffizier mit freundlichen Augen, eine wundervolle schweizerisch-französische Dame – Marianne. Carlie war inzwischen bettlägerig, aber mein Vater hatte das Gefühl, dass ich glücklich bei ihr war und es mich aus dem Gleichgewicht bringen würde, verpflanzt zu werden, daher kümmerten wir uns irgendwie umeinander. In diesen längst vergangenen Tagen in Irland wurde das Leben einfach so gedeichselt, wie es alle für das Beste hielten. Ich bedauere es nicht. Im Jahr 1957 starb mein Vater ebenfalls und hinterließ Marianne mit ihren vier Kindern, die sie allein großziehen musste. Er war erst 47.

Obwohl ich nie bei ihnen einzog, behielt Marianne, deren Cottage am Flussufer nur einen Steinwurf von dem meiner Großmutter Carlie entfernt lag, mich liebevoll im Auge. Marianne hatte schwer damit zu kämpfen, ihre vier Kinder allein durchzubringen. Sie war stolz und sehr fleißig. Sie gab Französischstunden, Nähstunden, Tanzstunden, alles, um über die Runden zu kommen. Als ich erwachsen war, wurden wir enge Vertraute.

Das Seltsame ist, dass wir uns charakterlich sehr ähnlich sind, obwohl Marianne nicht meine leibliche Mutter ist und mich nicht großgezogen hat. Marianne ist heute das Oberhaupt der Familie und die Grundlage des Glücks meiner eigenen Kinder und Enkelkinder. Ich liebe und bewundere Marianne und ihre Kinder bedingungslos – meine Halbschwester Maude und meine Halbbrüder Gerald, Nicolas und Ronnie.

Carlie brauchte mich und ich war die einzige Person, auf die sie wirklich ansprach und zu der sie freundlich war. Nachts im Bett klopfte sie oft mit ihrem Stock auf den Boden, damit ich kam und ihr beistand. Ich fühlte mich so hilflos, während ich zuhörte, wie sie stundenlang vor entsetzlichen Schmerzen schrie, die keine Pillen lindern konnten. Ich liebte sie, aber ich erinnere mich auch an meine Wut und die Sorgen. Selbst noch ein Kind, war ich bereits ihre Pflegerin geworden. Aufgrund ihrer schwierigen Art blieben ihre Krankenschwestern nie lange.

Carlie leitete mich in vielerlei Hinsicht. Sie war sehr religiös und unterrichtete mich jahrelang selbst. Ich ging nicht regelmäßig zur Schule, bis ich 13 war. Aber vor allem lehrte Charlie mich, dass Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gehen, dass das Leben die beste Schule ist und dass jeder alles erreichen kann.

»Rosie«, sagte sie oft, »gutes Aussehen oder natürliche Gaben sind nicht das, worauf es ankommt – zum Glück für dich, mein Mädchen! –, es ist der Wille, Dinge zu tun, mit dem man sie erreicht.«

Ich war groß, dünn und schlaksig, mit langen Zöpfen.

Für einen Englischaufsatz schickte sie mich auf meinem Esel Jeanette los, um danach über meine Abenteuer zu schreiben und sie zu unterhalten. Es war Carlies Einfluss, der mich auf einen Lebensweg voller Abenteuer gebracht hat.

Wir waren alles andere als wohlhabend, da es in Irland keinen staatlichen Gesundheitsdienst gab und ihre Medikamente sehr teuer waren. Wenn ich zum Markt nach Limerick fuhr, um Blumen aus Carlies Garten zu verkaufen, nahm ich immer auch Blumensträuße von meinem eigenen kleinen Blumenbeet mit, da es mein Traum war, Geld für ein Pony zusammenzusparen. Ich verhökerte heimlich auch die meisten meiner Kleider in einem Secondhandladen, aber ich schaffte es eigentlich nie, mehr als ein oder zwei Pfund für das Pony zu sparen. Tiere waren mein Leben und meine Liebe. Ich war mit ihnen aufgewachsen, da Carlie überzeugt war, dass es die Tiere sind, die uns Respekt vor dem Leben einflößen. Hauptsächlich sammelten wir Waisen ein. Letztendlich besaß ich die schon etwas ältere Jeanette und vier kleine, mutterlose Eselfohlen, für etwa fünf Schillinge von Bauern gekauft, die sie nicht behalten wollten, einen kleinen Hund namens Bobby, sieben Ziegen, ein Huhn mit nur einem Bein und eine wunderschöne Milchkuh namens Cleopatra, die gute Milch gab, obwohl sie schon etwas älter war. Tiere waren meine Erziehung – und ich hätte keine bessere haben können.

Letztendlich bekam ich aber doch noch ein Pferd, auf eine Weise, die ich mir nie hätte träumen lassen. Als ich ungefähr neun war, wurden alle einheimischen Kinder zu einem Picknick und Sommerfest auf den Landsitz einer vornehmen Dame namens Mrs. de Vere eingeladen. Wir durften auf einer alten schwarzen Stute reiten, die vom Gärtner auf und ab geführt wurde. Die Stute war sehr unglücklich darüber und versuchte immer wieder, nach jedem zu schnappen und zu beißen, aber ich verliebte mich sofort in sie. Sie war groß – etwa 16 Handbreit hoch – und sehr dick, entschlossen und mit einem wilden Blick. Ich erinnere mich, wie ich mit den ganzen anderen Kindern zu einer alten Eiche ging und man uns sagte, wir könnten uns dort etwas wünschen, da es ein Glücksbaum sei. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, Columbine, wie die Stute hieß, würde mir gehören.

Wie durch ein Wunder stand die alte Stute drei Monate später vor meiner Tür, mit Sattel und Zaumzeug, geführt von Mrs. de Veres Gärtner. Er erklärte, Mrs. de Vere würde sie nicht mehr von ihm ­reiten lassen, da er zu schwer und die Stute zu alt sei – weshalb sie entschieden hätte, mir Columbine zu schenken. Sie fand, ich hätte einen besonderen Umgang mit Tieren, da ich das einzige Kind war, das Columbine nicht zu beißen versucht hatte!

Die Stute war so groß, dass sie mich mehr oder weniger in ihre Obhut nahm und mich großzog – sie war über Jahre hinweg meine Freundin. Es machte Spaß, meiner Halbschwester Maude, die nur vier Jahre jünger war als ich, beizubringen, sie zu reiten.

Als ich jung war, träumte ich davon, eine Läuferin zu werden, glaubte aber, nicht gut genug zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich einen Marathon laufen könnte, geschweige denn einmal um die Welt. Viel später, als ich ungefähr 47 war, fiel mir in einer Arztpraxis eine Ausgabe der Runner’s World in die Hand, während ich auf eine Impfung wartete. Nachdem ich das zerfledderte Exemplar der Zeitschrift gelesen hatte, dachte ich: Das kann ich auch, und am selben Abend machte ich mich auf, um einmal um den Block zu laufen.

Ein Jahr später, 1995, beschloss ich, am London-Marathon teilzunehmen, und begann, dafür zu trainieren. Eines Tages, während ich mich mühsam einen steilen Hügel hochkämpfte und dachte, ich sei verrückt, einen Marathonlauf zu versuchen, holten mich zwei extrem durchtrainierte einheimische Läufer ein und sagten: »Hey, du machst das gar nicht schlecht.« Sie verlangsamten ihr Tempo und wir liefen die restliche Strecke zusammen. Sie brachten mir bei, an mich selbst zu glauben, genau wie Carlie früher, und das änderte alles.

Nach dem London-Marathon wurde ich auf den Schweizer-Alpen-Marathon in Davos aufmerksam. Ich fand, es wäre eine wundervolle Gelegenheit, um an meinen Geburtsort zurückzukehren. Als ich den Organisatoren des Laufs gegenüber erwähnte, ich hätte meine frühe Kindheit in Davos verbracht, veröffentlichten sie einen Artikel, um meine Pflegemutter zu finden. Ich hatte nie wieder Kontakt zu ihr gehabt, da meine Großmutter nicht über die Vergangenheit zu sprechen wünschte und mir nie ihren vollständigen Namen gesagt hatte. Keine der Frauen in meiner Familie redete über die Vergangenheit. Marianne, die so gutmütig war, hätte es vielleicht tun können, aber ich konnte die Aura des Schmerzes und des Mitleids nicht ertragen. Ich brauchte Jahre, um alles zu erfahren.

Doch sie fanden sie – Frieda Fridli, die jetzt, mit 98, die älteste Einwohnerin von Davos war. Das hielt sie nicht davon ab, zur Ziellinie zu kommen. Sie lud mich zu sich nach Hause ein – und sie hatte Fotos von mir als Baby auf ihrem Kaminsims stehen. Es war, als hätte sie nur da­rauf gewartet, mich wiederzusehen. Ich war so stolz darauf, sie mit Clive bekannt zu machen, der mich als Fotograf begleitet hatte, und wir blieben mit ihr in Verbindung, bis sie im Alter von einhundert Jahren starb.

Das führte mir vor Augen, dass Laufen weitaus mehr ist als ein Sport; es ist eine Art der Kommunikation. Das Laufen hatte mich vor all den Jahren zu meiner Vergangenheit zurückgeführt und auf einmal war ich mir sicher, dass es mir helfen würde, nach vorn zu blicken und auch Clives letztem Kampf Ehre zu erweisen.

Ich verbrachte nun Stunden damit, Landkarten zu studieren. Ich sah, dass ich tatsächlich einmal um die ganze Welt laufen könnte, ohne irgendwelche Ozeane überqueren zu müssen. Ich würde durch eisige nördliche Breiten laufen müssen, die härtesten Breiten der Erde, aber der Gedanke setzte sich in meinem Kopf fest und wirbelte aufgeregt darin umher.

Ich stürzte mich in die Planung. Die Vorbereitungen sollten über ein Jahr dauern. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich vielleicht mehr Zeit darauf verwenden sollen, aber es erschien mir einfach sehr wichtig, so bald wie möglich aufzubrechen; ich hatte Clive im Kopf und auch all diese Gesichter auf Station 10; Menschen, die Träume hatten, Menschen, die ein achtsames Leben geführt und Zukunftspläne geschmiedet hatten, die sie jetzt nicht mehr verwirklichen konnten.

Ich nahm an, ich könnte von meiner eigenen Haustür nach London und Harwich laufen, die Fähre nach Hoek van Holland nehmen und dann durch Europa nach Moskau und weiter durch ganz Sibirien laufen. Das nächste Meer nach dem Ärmelkanal würde auf dieser Route das kurze Stück über die Beringsee sein. Dann würde ich die riesige Wildnis des hohen Nordens von Alaska erreichen, durch den nordamerikanischen Kontinent nach Nova Scotia, dann Grönland und durch den Norden Islands und schließlich der Länge nach durch Großbritannien wieder zurück zu meiner Haustür laufen. Es war wie eine Seereise auf zwei Beinen. Ich musste es tun.

Mir brach das Herz, als ich erkannte, dass das Schicksal mich jahrelang auf das hier vorbereitet hatte, mich aber nicht rechtzeitig vor dem Krebs gewarnt hatte. Und doch hatten mir meine früheren Expeditionen, wie das Einhandsegeln über den Atlantik, die nötige Kraft und das Wissen mitgegeben. Ich fühle mich gesegnet, allein auf dem Ozean gewesen zu sein, wo ich versuchte, über den Horizont hinauszublicken und nach den Sternen zu navigieren. Die Seereise hatte siebzig Tage gedauert, da das Boot so klein und alt war. Während dieser Zeit hatte ich kein menschliches Gesicht, keinen Baum und kein Land gesehen; ich hoffte, dass ich dadurch gelernt hatte, mit der Einsamkeit umzugehen, die ich auch auf dieser Reise spüren würde.

Harte Lektionen der Vergangenheit können sehr wertvoll sein. Außerdem hatte ich zwischen 1995, als ich mit dem Laufen anfing, und Clives Tod im Jahr 2002 an verschiedenen Marathons teilgenommen, das Laufen aber oft als Möglichkeit benutzt, um für mein Schreiben Länder zu bereisen und zu recherchieren. Die Reisen waren mit etwa sechs Wochen und ungefähr tausend Meilen pro Reise kurz und führten mich in Länder wie Albanien, Rumänien, Island und den vom Krieg zerrissenen Kosovo.

Da ich diese Reisen selbst oder nur mit einem kleinen Auftrag von Runner’s World finanzierte, musste ich genügsam sein, einen Rucksack tragen und in einem Zelt schlafen – und so alles mit einem kleinen Budget bewältigen. Ich hatte gelernt, mich am Straßenrand wie ein Tier zusammenzurollen und zu schlafen, und ich hoffte, auf dieser Expedition dasselbe tun zu können. Der Lauf um die Welt würde einfach eine etwas längere Version meiner früheren Läufe sein.

Mein örtlicher Laufclub, TROT St Clears (TROT steht für »Taf Running and Orienteering Team«), war mir eine enorme Stütze und ermutigte mich unentwegt. Ich begann zu trainieren, indem ich an Läufen in den walisischen Hügeln teilnahm. Ich nahm mein Biwakzelt mit und kampierte in der Nacht davor im Freien. Ich fand Trost darin, unter den Sternen zu schlafen, und ich begann zu verstehen: Ich musste nicht gegen meine Trauer ankämpfen und ich musste mich für meinen Schmerz nicht schämen – er ist keine Schwäche. All diese Dinge wurden mir klarer, während ich draußen in der offenen Weite der Landschaft war, zwischen der Schönheit von Sternen, Mond und Morgendämmerung und sogar im Regen.

Als Nächstes lief ich im August 2002 den Cardiff-Marathon und einen Monat später noch den Loch-Ness-Marathon. Etwa auf halber Strecke stolperte ich über ein Schlagloch und knallte mit voller Wucht auf den Asphalt – in dem Moment eindeutig keine sehr aussichtsreiche Kandidatin für einen Lauf durch die Wildnis! Doch obwohl ich mir das Gesicht aufgerissen hatte und Blut auf die Straße zu tropfen begann, fühlten sich meine Beine gut an. Es tat nicht weh und ich konnte weiterlaufen.

Ich habe es bis zur Ziellinie geschafft. Es war umwerfend. Mein Name wurde aufgerufen und ich gewann den ersten Preis des Cardiff-Marathons in der Kategorie Ü-50. Ich hatte ein blaues Auge und eine geschwollene Wange und als der Fotograf der Lokalzeitung kam, um ein Foto von mir zu schießen, fragte ich ihn: »Wollen Sie mein bestes Foto?«, während ich mir Eis aufs Gesicht drückte und gleichzeitig versuchte, eine Banane zu essen.

Wir sahen uns an und begannen zu lachen. Das war der Moment, als mir bewusst wurde, dass ich seit Monaten nicht mehr richtig gelacht hatte.

Ich wusste, dass Clive gewollt hätte, dass ich laufe. Er hatte sein letztes Jahr damit verbracht, Dinge zu regeln, damit ich nach seinem Tod nach vorn blicken konnte. Er wäre stolz, mich so dazu inspiriert zu haben, aber er würde es hassen, wenn sich dabei alles um ihn drehte oder sentimental anfühlte. Unsere Gefühle waren und sind sehr persönlich. Daher würde es bei meinem Lauf darum gehen, nach vorn zu blicken – ein Lauf auf das Leben zu, so wie es sich Clive gewünscht hätte.

Obwohl wir nie über meinen Lauf gesprochen haben, wusste er, dass ich irgendetwas tun würde. Er hatte mir mehrfach gesagt, er wolle, dass ich mein Leben mit Mut lebte. Ich würde nicht innerlich sterben und ich würde nicht Clives Andenken beschmutzen, ­indem ich meine Reise wie einen Zwanzigtausend-Meilen-Trauerzug um die Welt behandelte. Ich würde das Leben für ihn doppelt beim Schopf packen, mehr Liebe spüren, mehr sein. Wenn jemand, den du liebst, für dich die Fahne hochhält, dann kann der Tod besiegt werden.

All das gab mir in jenem ersten Sommer Kraft. Ich wusste, dass das, was ich tun wollte, passieren würde.

»Du schaffst das, Mum«, meinte meine Tochter Eve, »weil es Menschen gibt, denen du viel bedeutest.«

Meine verehrte Stiefmutter Marianne rief an, sobald sie hörte, dass ich einmal um die Welt laufen würde. »Ich werde in Tenby an der Ziellinie auf dich warten«, erklärte sie. Marianne ist jetzt Anfang achtzig. Sie lebt noch immer in Irland, fährt einen Wagen wie ein Rennfahrer und unterrichtet in der Grafschaft Limerick Französisch bis zum Hochschulniveau.

Mein Sohn James hatte bereits begonnen, über die Rosiearound­theworld-Website nachzudenken. Der Plan sah vor, Hilfsorganisationen mit der Website zu verlinken, sodass die Menschen Geld dorthin schicken konnten; und wenn mir Geld gegeben wurde, würde ich es weiterleiten, aber ich würde nicht darum bitten, da ich vollauf damit beschäftigt sein würde, einfach nur zu überleben; außerdem würde ich in der Wildnis und in einigen der ärmsten Länder der Welt unterwegs sein. Trotzdem hoffte ich, dass ich in einer einzigartigen Position sein würde, um das allgemeine Bewusstsein für den Krebs zu fördern.

Ich hatte nicht viel Geld, aber ich hatte fabelhafte Ausrüstungs-Sponsoren und die Unterstützung und Freundschaft von Runner’s World. Ich versuchte gar nicht erst, ein großes finanzielles Sponsoring an Land zu ziehen, da ich das Gefühl hatte, dass es mir ohnehin nicht gelingen würde und meine ganzen Ersparnisse womöglich nur bei dem Versuch, es zu bekommen, draufgehen würden. Aber vor allem war ich noch immer viel zu traurig, um irgendjemanden, den ich nicht schon kannte, um Hilfe zu bitten. Die Vorstellung, mit fremden Leuten Clives Tod und Details für ein Sponsoring zu erörtern, war etwas, das mich entsetzte, und ich würde es nicht tun.

Aber ich hatte ein fabelhaftes »A-Team«. Eve, James und meine wundervolle Freundin Catherine in London machten sich prompt an die Recherchearbeit.

Steven Seaton, der Herausgeber von Runner’s World UK, hatte mich in der Vergangenheit immer wieder zum Schreiben ermuntert, indem er mich mit Artikeln über meine Laufabenteuer beauftragte. Ich musste nicht einmal fragen, bevor er sagte, dass Runner’s World mich sponsern würde.

Ann Rowell, eine meiner besten Lauffreundinnen, bot an, sich um meine Buchhaltung zu kümmern und die Dinge im Auge zu behalten, während ich fort war, da meine Familie weit entfernt lebte. Außerdem würde sie die Gerichtsvollzieher abwehren, indem sie Rechnungen von meinem Konto bezahlte. Sie und eine andere wundervolle Freundin, mit der ich früher laufen ging, Kath Garner, hatten eine Gesamtvollmacht, aufgesetzt von meinem Anwalt. Ann meinte optimistisch, das sei sinnvoll, da sie kommen und mich retten könnten, »falls ich ohne Bewusstsein und Besinnung irgendwo in Sibirien liegen sollte«.

Ann schlug auch vor, dass Matt Evans, ein fantastischer Läufer, der in zehn Tagen zehn Marathons gelaufen war, die Vermietung meines Hauses durch seine Firma, das Pembrokeshire Coastal Cottages Holiday Letting Business, übernehmen sollte. Es war ein kluger Rat. Ich würde alle Einkünfte brauchen, die ich kriegen konnte.

Hinsichtlich meiner Ausrüstung fragte ich diejenigen, deren Produkte ich seit Jahren benutzte und denen ich vertraute, und sie halfen mir, ohne Fragen zu stellen. Saucony UK sponserte meine Schuhe; Peter Hutchinson und sein Team bei PHD Designs in Staybridge entwickelten das Schlafsacksystem, das auf meinem Lauf für eine Temperaturspanne von hundert Grad geeignet war, von dem kleinen Minimus-Daunenschlafsack für den Sommer, der nur 450 Gramm wog, bis hin zu den Schlafsäcken für extrem kaltes Wetter, die mir bei Temperaturen unter sechzig Grad minus das Leben retten würden.

Terra Nova, deren Produkte ich ebenfalls seit Jahren benutzte, sponserten die Zelte für die Reise, darunter ihr unschätzbares Saturn-Biwakzelt, mein Zuhause während des gesamten ersten Winters, das nur zwei Pfund und zwei Unzen wog. Ich hatte eine Thirstpoint-Filterflasche, sodass ich jedes beliebige Wasser trinken konnte, und vieles mehr. Solch einfache Dinge würden einen Riesenunterschied machen.

Ich musste sehr genau planen, was ich mitnehmen würde. Selbst kleine, schlichte Gegenstände waren wichtig, wie zum Beispiel Gesichtspflege. Das Einzige, was ich mitnahm, war Sonnencreme und Vaseline – um es später durch die einheimische Entsprechung des jeweiligen Landes zu ersetzen, in dem ich zufällig war. Meine wundervolle Freundin Eva Fraser, die die Facial Fitness Clinic in London leitet, brachte mir Gesichtsübungen bei, um die Durchblutung, das Aussehen und die mentale Einstellung zu fördern, und zeigte mir, wie ich mein Gesicht pflegen konnte, ohne Tiegel und Töpfchen mit mir herumzuschleppen. Jeder Teil des Körpers ist wichtig.

Ein russisches Visum zu bekommen, war ein Problem. Wegen der Länge meines Laufs war die einzige Art Visum, die infrage kam, ein einjähriges russisches »Geschäftsvisum«, aber wie der Leiter einer der Agenturen hervorhob, gibt es in den Tiefen der sibirischen Wälder nicht allzu viele Geschäftstreffen und die Leute, die die Dinge für ihn in Russland arrangierten, würden in Schwierigkeiten kommen. Die Polizei würde sie und mich ohne Frage hochnehmen. Ich würde im Gefängnis landen. Die Auftragsbestätigungen und Empfehlungsschreiben, ausgestellt von Runner’s World, meiner Buchagentur Watson, Little Ltd und den Machern der Daily Telegraph Adventure Show, die ich stolz präsentiert hatte, schienen die Agenturen nur noch mehr abzuschrecken, da sie klarstellten, dass es mir mit dem Lauf ernst war. Jemand schlug vor, ich sollte einfach sagen, ich würde »nach Russland fahren, um über das Laufen zu recherchieren«, aber ich entschied, dass ich offen und ehrlich sagen musste, warum ich das Visum wollte, denn es war von entscheidender Bedeutung, dass alles ordnungsgemäß arrangiert wurde.

Ich hatte das Glück, für ein paar Vorträge gebucht zu werden, um bei der Spendenbeschaffung zu helfen und zu beginnen, über das notwendige allgemeine Bewusstsein für Krebserkrankungen zu sprechen.

Ein besonders denkwürdiger Anlass war ein Lunch-Empfang bei der Handelskammer von Bolton und Bury. Ich trainierte inzwischen hart und war am Abend zuvor in den Hügeln gelaufen. Dort hatte ich auch gezeltet, sodass meine einzige gute Bluse völlig zerknittert war, da ich versehentlich darauf geschlafen hatte. Kein Prob­lem. Ich lief früh am Morgen hinunter in die Stadt Bury und ging zu einem McDonald’s, da es in dem Café dort schön harte Sitze gab, sodass ich mich auf die Bluse setzen konnte, um sie zu »bügeln«. Ich war so zufrieden mit dem Ergebnis, dass ich ein bisschen übermütig wurde und beschloss, mir auf der Damentoilette auch noch die Haare zu waschen, wenn ich schon einmal hier war. Dummerweise blieb ich irgendwo mit dem Kopf hängen, doch zu meiner Erleichterung kamen zwei Mädchen herein und retteten mich und alles ging gut. Die Gefahren des modernen Lebens! Aber es erteilte mir eine wertvolle Lektion in der sanften »Kunst des Zurechtkommens« oder der Improvisation, die sich auf meinem Lauf noch als sehr nützlich erweisen würde.

Die Vorträge bestärkten mich in meinem Plan. Der Vorsitzende der Handelskammer posierte sogar mit den Saucony-Schuhen um den Hals, um seine Solidarität mit meinen Zielen zu bekunden, und dann hängten sie mir die Schuhe für ein Foto in ihrer Zeitschrift um den Hals und standen da und applaudierten mir, während ein Bischof, der zufällig anwesend war, die Schuhe segnete und Gott bat, mich auf meinem Weg zu begleiten – was er tatsächlich tat.

Inzwischen hatte ich jedes Gefühl von Aufregung oder Ängstlichkeit hinter mir gelassen; ich hatte keine Zeit für eine Nabelschau. Jede einzelne Sekunde wurde darauf verwendet, mich vorzubereiten, darüber nachzudenken, zu versuchen, alles richtig zu machen.

An Weihnachten blieb ich zu Hause, telefonierte mehrere Stunden mit meiner Familie und schwang mich dann auf mein schönes neues Fahrrad, das meine Freunde Chester und Jean in Pembroke Dock mir gekauft hatten. Ich verbrachte den Großteil des Tages damit, mit dem Fahrrad herumzugondeln und Freunde zu besuchen, wobei ich immer nur kurze Zeit blieb und dann weiter zu den nächsten fuhr – ich musste aufpassen, nicht zu viel Wein zu trinken! Ein ganzes Weihnachten mit der Familie konnte ich noch immer nicht ertragen – es tat weh –, aber dann auf einmal, im neuen Jahr, wusste ich, dass Clive glücklich war, dass er oben im Himmel einen Riesenspaß hatte und dass ich mir keine Sorgen machen musste. Er war bei seinen Freunden.

Ich entschied, im Oktober 2003 aufzubrechen. Ich würde durch den europäischen Winter nach Moskau laufen müssen, aber dadurch würde ich den ganzen ersten Sommer haben, um im gefährlichen Sibirien möglichst weit voranzukommen, bevor der nächste Winter hereinbrach.

Sibirien leitet seinen Namen von »Siber« – Land ohne Ende – ab und genau das ist es auch. Ich konnte dem sibirischen Winter nicht entkommen, da das Land so riesig ist und die Entfernungen zu groß sind, aber ich wollte möglichst viel davon durchlaufen, bevor die extreme Kälte einsetzte. Vermutlich würden es um die vierzig oder fünfzig Grad minus sein, aber in Ostsibirien konnten die Temperaturen auch auf bis zu siebzig Grad minus fallen.

Ich plante meine Route durch Holland, Deutschland, Polen, Litauen und Lettland nach Riga, dann von Riga nach Moskau und von dort weiter nach Sibirien – und darüber hinaus. Das große russische Visum hatte ich noch immer nicht, aber ich arbeitete daran. Für Litauen und Lettland benötigen britische Staatsangehörige kein Visum. Falls das russische Visumproblem gelöst wurde, bestand eine geringe Möglichkeit, von Polen durch das russische Kaliningrad nach Riga zu laufen, da diese Strecke kürzer war als durch Litauen und Lettland, aber das würde ich dann sehen müssen.

Die Planungen und Vorbereitungen für meinen Lauf um die Welt nahmen mich völlig in Beschlag und es galt Versprechen zu halten, noch bevor ich überhaupt aufgebrochen war. Clive und ich hatten vor seinem Tod das Trekking in Nepal geplant, um den Nepal Trust und die Arbeit des Rotary Club in den entlegenen Himalayas zu unterstützen. Als Clive sehr krank war, bat er mich, zu der großen Rotary-Konferenz nach Glasgow hochzufahren – und ich versprach einem Publikum von zweitausend Zuhörern, dass wir nach Nepal fahren würden, wenn es ihm besser ging. Da er es nicht mehr tun konnte, musste ich nun allein reisen.

Und so brach ich im April für sechs Wochen zu diesem seltsamen Abstecher auf. Es war ein wertvolles Höhentraining, aber es war weitaus mehr als das. Liz und Jim Donovan, die den Nepal Trust leiten, luden mich zu einem Lauf und Trekking ein, um Clives innigsten Wunsch zu erfüllen. Diese kleine Hilfsorganisation hat, mit großer Unterstützung von Rotary International, in den vergessenen hohen Himalayas in Humla und anderen besonders entlegenen Gegenden, in denen die Not am größten ist, den Menschen zu Gesundheit, Bildung und Einkommen verholfen. Sie haben diese Arbeit selbst während des Bürgerkriegs in Nepal, bei dem in den acht Jahren zuvor über zehntausend Menschen ums Leben gekommen waren, entschlossen aufrechterhalten.

Begleitet von zwanzig jungen nepalesischen Männern und Frauen, so zäh und schnell wie Gurkhas, unternahm ich ein »Speed-Trekking« über 32 Gebirgspässe zum Everest-Basislager. Obwohl wir immer wieder von Maoisten aufgehalten wurden, schafften wir 1750 Kilometer in 68 Tagen, in denen wir Geld für das Krankenhaus und die Kliniken sammelten.

Über den Nepal Trust lernte ich Liza Hollingshead kennen, die die Ecologia Travel Company leitet, gegründet zur Unterstützung der Kitezh Community for Children in Russland, die sich um Waisen kümmert, die aus herzzerreißenden Situationen gerettet wurden. Ich war so beseelt davon, diese beiden Hilfsorganisationen zu unterstützen, dass ich sie, zusammen mit dem allgemeinen Bewusstsein für den Krebs, den anderen Anliegen hinzufügte, die ich auf meinem Lauf fördern würde. Mit Entschlossenheit und Engagement gelang es Liza, mir das russische Langzeitvisum zu besorgen, an dem alle anderen gescheitert waren.

Meine Sorgen, dass ich in Sibirien keinerlei Kontakte haben würde, waren ebenfalls geklärt, als ich in einer Laufzeitschrift eine Anzeige für den Sibirien-Marathon entdeckte, der am 3. August stattfand. Woman’s Weekly beauftragte mich, einen Artikel zu schreiben, daher würde ich genügend Geld haben, um an dem Marathon teilzunehmen. In Omsk wohnte ich bei Elena in ihrem hübschen Zuhause in einer baufälligen Wohnung und lernte in meinen wenigen Tagen dort ziemlich viel über das Leben in Westsibirien.

Omsk ist eine schöne Stadt, aber das Leben dort ist hart. Die Menschen reinigen ihr Wasser, indem sie es filtern und drei Tage lang immer wieder abseihen und kochen, bevor sie es bedenkenlos trinken oder sich eine Tasse Tee machen können. Sie sind zu arm, um die alten sowjetischen Fabriken flussaufwärts auszutauschen, die gefährliche Chemikalien ins Wasser ablassen. Für das Auge sieht es sauber aus, aber es ist oft giftig und die Krebsrate hier ist hoch. Die Ärzte führen diesen Kampf, obwohl ihre Gehälter so niedrig sind, dass ein Arzt mehrere Jobs ausüben muss, um sich über Wasser zu halten – und das Krankenhaus ist nur unzureichend ausgestattet. Ich freute mich so, den Sibirien-Marathon zur Unterstützung des Sibirischen Eisenbahnkrankenhauses zu laufen, nachdem ich es besichtigt hatte.

Die Menschen stellten für den Sibirien-Marathon wirklich alles auf die Beine. Bunte Buden, die alle möglichen Dinge zum Verkauf anboten, wurden aufgebaut und Flaggen gehisst. Alle säumten die Straßen und jubelten uns von der ersten Meile an lautstark zu, genau wie beim London-Marathon.

Ich würde sechstausend Meilen laufen müssen, bevor ich Omsk das nächste Mal sah, aber ich hatte dort bereits ein Zuhause und gute Freunde. Und ich hatte das große Glück, Geoff Hall kennenzulernen, den einzigen anderen britischen Läufer, der es mir sogar gestattete, ihn für Woman’s Weekly zu fotografieren. Geoff wurde zu einem einzigartigen Unterstützer meines Laufs; er koordinierte meine Ausrüstung von England aus, schickte mir Schuhe und andere Gegenstände in entlegene Winkel der Welt und machte einfach den entscheidenden Unterschied. Es war erstaunlich, dass ich bis nach Sibirien fahren musste, um einen der britischen Dreh- und Angelpunkte meines ganzen Laufs zu finden.

Als mein Flugzeug nach dem Lauf in einen herrlichen sibirischen Sonnenaufgang startete, der den Horizont purpurrot färbte, war mein Herz ganz erfüllt und ich hatte so vieles, worüber ich nachdenken musste. Ich wusste, dass ich mehr herausfinden musste; und dass zwischen Nepal und Kitezh und dem Sibirischen Eisenbahnkrankenhaus die Welt riesig ist – so absolut, absolut riesig.

Schließlich, am 2. Oktober 2003, nach all dem Träumen und Überlegen und Planen und Vorbereiten, war der Tag gekommen. Ich stand vor meinem Haus in Tenby, unter Freunden, startbereit. Ich hatte entschieden, an diesem Tag aufzubrechen, da es mein Geburtstag war, mein 57., um genau zu sein.

Es gab kein großes Aufheben – der Weltumsegler Sir Francis Chichester pflegte zu sagen: »Die Feierlichkeiten kommen nach der Fahrt« –, aber mein Sohn James war da, mein Bruder Nicolas, der extra aus Irland angereist war, ein paar enge hiesige Freunde, Laufkumpel und noch ein paar andere Leute wie zum Beispiel Chas und Carol, die Besitzer von Tenby Autoparts. Während Clive immer wieder irgendwelche Teile für Cassidy, unser betagtes Campmobil, besorgte, hatten er und Chas etliche Witze und Flunkergeschichten ausgetauscht.

Mein Bruder Nicolas malte den Umriss meines Fußes auf die Steinplatte in meinem Hauseingang – der erste Schritt. Der Plan sah vor, dass ich den letzten Schritt meines Laufs auf genau derselben Steinplatte in Tenby tun würde, nachdem ich die Welt umrundet hatte.

Alles ging so schnell. Das Lokalfernsehen filmte mich, alle küssten mich und schon lief ich los. Ich lief die Straße hinunter, um die nächste Ecke und dann war ich verschwunden.