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Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! »Kann ich jetzt gehen, Mami?« fragte der achtjährige Florian ungeduldig und fügte noch hinzu: »Ich bin mit den Hausaufgaben fertig. Wenn du willst, kannst du meinen Hausaufsatz heute abend durchlesen und mir sagen, ob er dir gefällt.« »Fein.« Daniela Redlich strich sich über das dichte blonde Haar, das noch nie eine Dauerwelle gesehen hatte, weil das nicht notwendig war. Es bauschte sich in Wellen und Löckchen um das schmale Gesicht der jungen Frau, die vormittags in der Gemeindeverwaltung Ögelas arbeitete, weil die Witwenrente, die sie nach dem Unfalltod ihres Mannes bezog, naturgemäß recht gering war. So gering, daß sie gezwungen war, sich etwas dazuzuverdienen. Aber das ging sehr gut, denn morgens, wenn Florian zur Schule mußte, verließen sie gemeinsam die Wohnung, und mittags holte Florian seine Mutter am Gemeindehaus ab, und sie gingen gemeinsam wieder heim. Sie hatten ihr Leben ganz aufeinander eingestellt, ohne sich einzuengen. Und da sie beide fabelhaft organisieren konnten, kamen sie auch sehr gut zurecht. Daniela strich Florian über das Haar, das etwas dunkler, aber ebenso lockig wie ihres war. »Lauf nur, aber vorher versprichst du mir, nicht leichtsinnig zu sein. Laß dir nicht etwa einfallen, auf den Baggersee zu laufen. Die Eisschicht ist noch nicht dick genug. Sie wird unter dir brechen – und ich brauche dir wohl kaum zu erzählen, wie gefährlich das ist.« »Du kennst mich doch, Mami«, sagte Florian treuherzig. Daniela lachte leise und gab ihm einen liebevollen Klaps auf die Schulter. »Eben, mein Sohn«, sagte sie neckend.
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2021
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»Kann ich jetzt gehen, Mami?« fragte der achtjährige Florian ungeduldig und fügte noch hinzu: »Ich bin mit den Hausaufgaben fertig. Wenn du willst, kannst du meinen Hausaufsatz heute abend durchlesen und mir sagen, ob er dir gefällt.«
»Fein.« Daniela Redlich strich sich über das dichte blonde Haar, das noch nie eine Dauerwelle gesehen hatte, weil das nicht notwendig war. Es bauschte sich in Wellen und Löckchen um das schmale Gesicht der jungen Frau, die vormittags in der Gemeindeverwaltung Ögelas arbeitete, weil die Witwenrente, die sie nach dem Unfalltod ihres Mannes bezog, naturgemäß recht gering war. So gering, daß sie gezwungen war, sich etwas dazuzuverdienen. Aber das ging sehr gut, denn morgens, wenn Florian zur Schule mußte, verließen sie gemeinsam die Wohnung, und mittags holte Florian seine Mutter am Gemeindehaus ab, und sie gingen gemeinsam wieder heim.
Sie hatten ihr Leben ganz aufeinander eingestellt, ohne sich einzuengen. Und da sie beide fabelhaft organisieren konnten, kamen sie auch sehr gut zurecht.
Daniela strich Florian über das Haar, das etwas dunkler, aber ebenso lockig wie ihres war.
»Lauf nur, aber vorher versprichst du mir, nicht leichtsinnig zu sein. Laß dir nicht etwa einfallen, auf den Baggersee zu laufen. Die Eisschicht ist noch nicht dick genug. Sie wird unter dir brechen – und ich brauche dir wohl kaum zu erzählen, wie gefährlich das ist.«
»Du kennst mich doch, Mami«, sagte Florian treuherzig. Daniela lachte leise und gab ihm einen liebevollen Klaps auf die Schulter.
»Eben, mein Sohn«, sagte sie neckend. »Und deshalb sage ich dir ja auch, daß du vorsichtig sein sollst.«
»Keine Sorge, Mami. Du kannst dich auf mich verlassen«, beteuerte Florian, wand sich den von Daniela gestrickten bunten Schal um den Hals und lief schon davon, ehe sie noch etwas sagen konnte. Lächelnd schaute sie hinter ihm drein. Ihr Junge! Er war alles, was sie hatte, alles, wofür es sich zu leben lohnte.
Damals, vor etwas mehr als zwei Jahren, als Hans ihr die Nachricht gebracht hatte, daß Günther tödlich verunglückt sei, hatte sie zuerst geglaubt, das Leben müsse nun auch für sie aufhören. Aber sie hatte sich ihrem schrecklichen Schmerz nur einige Tage überlassen. Dann hatte sie sich daran erinnert, daß da Florian war. Florian, der damals Sechsjährige, der sie brauchte und auf sie angewiesen war.
Tapfer hatte Daniela Redlich ihr Leben selbst in die Hand genommen, war glücklich gewesen, als sie die Stelle bei der Gemeindeverwaltung angeboten bekam, und hatte einsehen müssen, daß die Welt sich weiterdrehte, wenn man auch persönlichen Kummer zu tragen hatte, der fast zu schwer erscheinen wollte.
Langsam, aber sicher, hatte sie ihr Leben und damit auch das Florians, wieder in den Griff bekommen. Sie hatte den Traum vom eigenen Häuschen im Grünen begraben müssen, denn dazu würde sie nie das Geld aufbringen können. Sie hatte sich mit Florian das gemietete Häuschen sehr gemütlich eingerichtet und wünschte sich nur eines – daß es so bleiben möge.
Florian kam in der Schule gut mit. Er war nicht der Klassenbeste, aber das erwartete Daniela auch nicht von ihrem Buben. Er war aufgeschlossen und lernte gut, war ordentlicher als alle seine Freunde zusammen, wie Daniela von den anderen Müttern erfuhr, und dachte stets daran, daß er seiner Mutter so wenig Arbeit wie möglich machte. Manchmal, so dachte Daniela oft, benahm er sich schon wie ein kleiner Erwachsener.
Im Augenblick jedoch war Florian alles andere als erwachsen. Er lief über die dünne Schneedecke, die sich in den letzten Tagen gebildet hatte, hinüber zum Schulhof, wo er sich mit den anderen Buben verabredet hatte. Sie beschlossen, eine Schlittenbahn anzulegen, möglichst lang und breit. Aber schon bald mußten sie einsehen, daß das noch nicht möglich war. Es war einfach noch nicht genug Schnee gefallen. Zwar fing es wieder an zu schneien, aber es würde noch dauern, bis genug Schnee gefallen war, um eine richtige, zünftige Bahn anlegen zu können.
»Was tun wir jetzt?« fragte Klaus Lange, dessen Vater eine Autoreparaturwerkstatt hatte, in der man herrlich spielen konnte. Leider wurde das nur äußerst selten erlaubt, und wenn, dann standen nicht mehr allzu viele Autos da, in denen man die herrlichsten Spiele aushecken konnte.
»Laß uns mal nachsehen, ob bei deinem Vater viel zu tun ist«, schlug Florian vor. Die anderen, Berthold Wieland und Heiner Mander, die mit Florian in eine Klasse gingen, nickten begeistert.
Im Schnee draußen war es sehr schön, und sie waren auch froh, daß endlich mehr Schnee fiel, aber in der Werkstatt war die Heizung an. Und das war auch nicht zu verachten. Unterwegs trafen sie noch drei andere Klassenkameraden, die sich ihnen anschlossen, als sie hörten, daß man zur Werkstatt wollte.
Aber dort wartete eine große Enttäuschung auf sie. Man konnte sie in der Werkstatt nicht gebrauchen, weil ungewöhnlich viel zu tun war. Die meisten Autofahrer erinnerten sich in letzter Sekunde daran, daß man bei diesem Wetter besser Winterreifen aufziehen sollte. Und wieder andere wollten ihr Auto winterfest machen. Jedenfalls war für die nunmehr sechs Buben kein Platz vorhanden. Und so beschlossen sie, weil sie unbedingt zusammenbleiben wollten, daß sie sich etwas anderes einfallen lassen mußten.
Wie immer war Klaus Lange der Wortführer. Und er schlug vor: »Kommt mit! Wir schauen auf das große Thermometer an der Werkstattwand draußen. Und wenn es unter drei Grad ist, sollten wir die Eisdecke auf dem Baggersee kontrollieren. Wäre doch einsame Spitze, wenn wir endlich Schlittschuh laufen könnten, was?«
Florian dachte an das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte. Aber dann sagte er sich, daß sie ja nicht auf den Baggersee wollten, sondern nur nachschauen, ob das Eis bald dick genug war, daß man sich hinauswagen konnte.
Kinder haben es immer eilig. Es war beinahe, als ging es ihnen nicht schnell genug, zum See zu kommen. Sie rannten, schrien durcheinander, hoben die Arme hoch, als wollten sie den fallenden Schnee einfangen. Sie stürmten voran. Ja, Kinder haben es wirklich immer eilig.
So mochten auch einige Einwohner von Ögela denken, denen sie begegneten. Es waren bei diesem Wetter nicht viele Leute unterwegs. Die meisten verschoben die Einkäufe, die sie sich eigentlich vorgenommen hatten, auf den nächsten Tag und blieben lieber daheim in ihren warmen Wohnungen.
Diejenigen aber, denen die Buben begegneten, schauten ihnen kopfschüttelnd nach und mochten sich wohl fragen, was in aller Welt diese Buben dazu brachte, sich bei diesem Wetter draußen aufzuhalten und dazu auch noch die beste Laune zu haben, die man sich nur vorstellen konnte.
Ein paar Leute lächelten mehr oder weniger wehmütig, wohl, weil sie sich an ihre eigene Kindheit erinnerten und daran, daß sie um keinen Deut anders gewesen waren als diese sechs.
Das Ziel der Jungen, der Baggersee, lag am anderen Ende von Ögela, dort, wo es in die Heide ging, wo noch Wacholderbüsche standen und wo die Welt noch in Ordnung war.
Aber jetzt, bei diesem Wetter, war die Heide uninteressant und öde. Keiner der Jungen hätte auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, hinauszulaufen. Außer ein paar aufgeschreckten Kaninchen, die in wildem Zickzack-Kurs davonsprangen, oder einem kreischend davonflatternden Vogel würden sie nichts zu sehen bekommen. Und das war wahrlich nicht das, was sie sich an einem solchen Nachmittag vorstellten. Der Baggersee war tief, aber glasklar im Sommer. Es gab sogar Fische darin, und einige der Männer aus Ögela hatten auch einen Angelschein und eine Angelerlaubnis. Aber auch das interessierte die Jungen heute nicht. Sie wollten die Eisdecke in Augenschein nehmen und entscheiden, ob sie dick genug war oder nicht.
Vor der Baracke, in der das kleine Büro der Kiesgrube untergebracht war, stand ein Laster. Wahrscheinlich sollte Kies oder Sand aufgeladen werden. So stark war der Frost noch nicht, daß man sämtliche Bauarbeiten einstellen mußte. Und Ögela war ein aufstrebender Ort, wo viel gebaut wurde. Man wollte es weiterbringen in Ögela, und möglichst bald Stadt sein. Vielleicht bekam man dann auch eine eigene Autobahnzufahrt, und dann konnte man sicher sein, daß auch bald Fremde kommen würden. Ja, die Einwohner von Ögela hatten nichts dagegen, Marktlücken zu entdecken, die sie dann ganz schnell ausfüllen wollten.
Die Buben schlichen sich an der großen Baracke vorbei. Aus dem Schornstein kam Rauch. Bestimmt war es drinnen gemütlich warm. Aber darum kümmerten sich die Kinder nicht. Sie stiegen vorsichtig, um nicht ins Rutschen zu kommen, hinab bis zum Rand des Sees, der niedrig lag, und hockten sich, der Kälte nicht achtend, auf die großen Steine, die am Ufer verstreut lagen.
Endlich nahm Berthold Wieland einen größeren Stein auf und warf ihn schwungvoll auf die Eisfläche, die sich mehr und mehr mit Schnee bedeckte, denn der Schneefall wurde immer heftiger. Das hatte man schon mit größter Zufriedenheit feststellen können.
Berthold Wielands Stein fiel auf die Eisdecke und holperte noch einige Meter weiter. Nun bildete er in der Schneedecke eine Spur und war selbst als dunkler Fleck zu erkennen.
»Menschenskind! Habt ihr das gesehen? Sie hält! Die Eisdecke hält. Großartig. Dann brauchten wir gar nicht auf mehr Schnee zu warten, denn dann könnten wir die Schlittenbahn auch auf dem Eis anlegen. Sie würde hundertmal glatter und schneller auf dem Eis sein als auf Schnee.«
Jetzt meldete sich Florian recht energisch zu Wort.
»Das ist blanker Unsinn. Glaub nur ja nicht, daß die Eisdecke stark genug für uns alle ist, nur, weil ein Stein sie nicht durchschlagen hat. Ich meine, wir haben doch ein ganz anderes Gewicht als so ein Stein.«
»Das können wir auch ausprobieren.« Berthold mochte es gar nicht, wenn man seinen Vorschlägen nicht sofort zustimmte. Schließlich machte er sie doch, weil er selbst sie gut fand!
Klaus Lange, der für jeden Streich zu haben war, gab ihm Schützenhilfe.
»Ich finde die Idee prima«, sagte er begeistert. »Erst geht einer aufs Eis. Wenn es hält, geht der nächste und immer so weiter. Und dann bleiben wir auch nicht ruhig stehen, sondern hopsen und springen. Wenn das Eis dann noch bricht, weiß ich es auch nicht.«
»Das ist doch der helle Wahnsinn!« wandte Florian ein, aber es gab keinen, der auf ihn hörte.
Heiner Mander wollte wissen: »Und wer soll als erster hinausgehen? Wir sollten das auslosen, damit sich keiner reingelegt fühlt. Meint ihr nicht auch, daß das eine herrliche Mutprobe ist? Ich finde, die wäre schon längst einmal wieder fällig. Die letzte Mutprobe hatten wir im Herbst, als Dieter auf den Mast gestiegen ist.«
»Und er ist auch prompt hinabgefallen und hat sich beide Beine gebrochen«, sagte Florian sachlich. Sie schwiegen und starrten ihn für einen Augenblick betroffen an. Klaus murmelte: »Das arme Schwein liegt noch in der Klinik. Ich meine, wir könnten ihn auch mal wieder besuchen, was?«
»Erst wird das Eis untersucht«, beharrte Berthold Wieland und sah wild um sich. Florian wollte gerade eben vorschlagen, daß er doch seinen Mut beweisen sollte, indem er der Erste von ihnen war, der aufs Eis ging. Aber er schwieg. Man hätte ihn vielleicht für einen Feigling halten können. Und es gab nichts Schlimmeres im Leben eines richtigen Jungen, als für feige gehalten zu werden. Es wurde beschlossen, auf besondere Art zu losen. Und zwar nannten sie es Stein, Schere und Papier.
Die zwei, die gegeneinander losten, mußten eine Faust machen. Es wurde bis drei gezählt, und dann mußten sie die Handstellung halten, für die sie sich entschieden hatten. Flache Hand bedeutete Papier. Faust war Stein, und gespreizter Zeige- und Mittelfinger war die Schere. Je nachdem, was zusammentraf, gab es einen Sieger. Bei Papier und Stein war Papier Sieger, denn darin konnte man den Stein einwickeln. Bei Papier und Schere war die Schere Sieger, weil man mit ihr das Papier schneiden konnte. Und bei Schere und Stein war der Stein Sieger, weil man mit ihm die Schere schleifen konnte. Es war alles ganz einfach. Man zählte bis drei, und dann stand der Sieger fest.
Natürlich hatte man beschlossen, daß derjenige, der übrigblieb, auch als Sieger zu betrachten war, der die Ehre hatte, seinen Mut zu beweisen, indem er als Erster von ihnen aufs Eis ging.
Es traf, wie konnte es auch anders sein, ausgerechnet Florian!
Florian, der gar nicht aufs Eis wollte, der Angst davor hatte, einzubrechen, und der sich ganz ernsthaft daran erinnerte, was ihm seine Mutter eingeschärft hatte.
Nicht etwa, daß Florian ein außergewöhnlich gehorsames Kind war – o nein, das konnte man wahrlich nicht behaupten. Er hatte ebenso seine Fehler und machte seine Ausrutscher wie alle anderen. Das war es ja gerade eben, was die Erwachsenen als Erfahrung-Sammeln bezeichneten. Und da war er halt auch ein richtiger Junge, dem es nicht darauf ankam, ein Verbot nicht nur zu umgehen, sondern es ganz einfach nicht zu beachten.
Nur diesmal, hier am Baggersee, da war es anders. Da begriff er, daß seine Mutter weitsichtiger war als alle anderen einsehen wollten. Und nur aus diesem Grund machte er noch eine Einwendung.
»Es ist der helle Wahnsinn, was wir da tun. Von der Gemeinde prüfen sie doch täglich, ob das Eis dick genug ist, weil sie wissen, wie gern wir darauf spielen. Aber sie haben auch ihre Geräte dazu. Und wir, wir sind nur ein paar Kinder, die dazu noch nicht mal die Erlaubnis haben.«
»Mensch, Florian, komm schon! Sei kein Frosch! Das Eis hält. Und nicht nur dich, sondern uns alle.« Das war Berthold Wieland, der Florian jetzt einen abfälligen Blick zuwarf. »Oder willst du deine Feigheit etwa hinter angeblicher Vernunft verbergen?«
»Man ist nicht feige, wenn man vorsichtig ist. Man ist nicht feige, wenn man vernünftig ist. Und ich halte es für unvernünftig, aufs Eis zu gehen, von dem wir doch alle wissen, daß es noch gar nicht fest genug sein kann.«
»Wenn Florian also zu feige ist, schlage ich vor, wir losen neu aus und schließen Florian aus«, sagte Berthold Wieland da wütend. Er mochte Florian nicht besonders, weil Florian ein besserer Schüler und auch beliebter war als er. Er war sogar Klassensprecher, und das gefiel Berthold gar nicht. Er spielte viel zu gern selbst die allererste Geige. Und er war auch nur nett zu denjenigen, die alles, was er tat, guthießen und ihn bewunderten. Zu denen hatte Florian nie gehört. Und Berthold meinte, jetzt die Macht zu haben, Florian, den Rivalen, in die Knie zu zwingen.
»Sachte, sachte, ich mach es schon. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß die Erwachsenen schon wissen, warum sie uns was verbieten. Aber daß ich feige bin, kann kein Mensch von mir behaupten. Du am allerwenigsten, Berthold.«
Ehe noch einer etwas von sich geben konnte, nahm Florian einen gewaltigen Anlauf und rannte aufs Eis.
Schon nach wenigen Schritten erwies es sich, daß er recht gehabt hatte. Es krachte, knirschte, barst. Florian hatte, weil alles so schnell ging, nicht mal mehr Zeit, einen entsetzten Schrei auszustoßen.
Instinktiv riß er die Arme hoch. Aber das half ihm auch nichts mehr. Blitzschnell versank er vor den Augen seiner Klassenfreunde.
Schreiend und entsetzt rannten sie davon, kopflos. Keiner wußte, was jetzt zu tun war, damit man Florian aus dem eisigen Wasser herausbekam.
Nur zwei behielten den Überblick, und das waren Heiner Mander und Klaus Lange.
Klaus schrie Heiner zu: »Bleib hier, falls er auftauchen sollte. Dann hilf ihm, so gut du kannst, und wenn du ihm nur deinen Schal zuwirfst, damit du ihn daran festhalten kannst. Ich laufe hoch zur Baracke. Vielleicht sind die Männer mit dem Lastwagen noch da. Die können uns dann helfen.«
Heiner erwiderte nichts. Er stand da und starrte auf die Oberfläche des Baggersees, aber es war nichts zu erkennen. Nur das Loch, das es gegeben hatte, als Florian ins Eis einbrach.
Vor lauter Hilflosigkeit und Angst begann der Junge zu weinen. Florian hatte recht gehabt. Er hatte sie alle gewarnt. Und ausgerechnet Florian hatte das Los getroffen. Er hatte nicht auf den See hinausgewollt, aber sie hatten ihn praktisch dazu gezwungen. Jemand, den man vor anderen als Feigling bezeichnete, kann gar nicht anders, als zu beweisen, daß er keiner ist.
Genau das hatte Florian getan. Und nun war er eingebrochen und vielleicht schon tot…
*
Klaus Lange atmete auf, er seufzte, so daß es schon beinahe wie ein Schluchzen klang, als er sah, daß der Laster noch vor der Baracke stand. Er taumelte beinahe, als er hineinrannte. Und dann konnte er kaum Luft bekommen. Er brachte es aber fertig, hervorzustoßen: »Florian – er ist ins Eis eingebrochen. Jetzt gerade. Vielleicht – vielleicht lebt er noch.«
Der eine Mann, dem man ansah, daß er über unbeschreibliche Kraft verfügte, rief: »Rufen Sie in der Klinik Birkenhain an, Helga. Ich laufe hinaus und versuche, den Kleinen herauszuholen.«
Er achtete nicht auf Klaus Lange, der atemlos auf einen Stuhl gesunken war, sondern rannte schon mit Riesenschritten davon. Klaus folgte ihm und dachte ausgerechnet in diesem Moment, daß er sich ganz genau vorstellen konnte, wie der Läufer bei Baron Münchhausen alle anderen hinter sich gelassen hatte.
Peter Michalke, der Mann mit den langen Beinen, kam am Baggersee-Ufer an, zögerte nicht eine Sekunde, sondern sprang in das eisige Wasser und strebte der Stelle zu, an der sich in der dünnen Eisfläche das große Loch befand, das entstanden war, als das Eis unter Florians Gewicht nachgab.