Mein schwerster Weg - Cornelia Schäfer - E-Book

Mein schwerster Weg E-Book

Cornelia Schäfer

0,0

Beschreibung

Das Leben ist schön, von einfach war nie die Rede! Als Nadja die Krebsdiagnose ihres Vaters erfährt, bricht für sie die Welt zusammen. Entsetzt durchleben die beiden Phasen der Angst, leiser Hoffnung, Ohnmacht und das Gefühl, völlig neben sich zu stehen. Dennoch verlieren sie hierbei niemals ihren unerschütterlichen Humor. Noch nie lagen Weinen und Lachen so nah beieinander. Wird ihre gemeinsame Kraft ausreichen, dem Krebs die Stirn zu bieten?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 382

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Ein einziger Anruf

Kapitel 2: Kunigunde

Kapitel 3: Die ersten Tage

Kapitel 4: Der erste Schock

Kapitel 5: Der Befund

Kapitel 6: Helfende Proteine

Kapitel 7: Der Versuch, es zu verstehen

Kapitel 8: Kurze Erholung

Kapitel 9: Frau Fischer

Kapitel 10: Die zweite Operation

Kapitel 11: Die Überraschung

Kapitel 12: Nichts als die Wahrheit

Kapitel 13: Die genaue Aufschlüsselung

Kapitel 14: Was jetzt

Kapitel 15: Admin Micha

Kapitel 16: Die entscheidende Untersuchung

Kapitel 17: Simon

Kapitel 18: Sahara Kuchen

Kapitel 19: Die Veränderung

Kapitel 20: Die Bestätigung

Kapitel 21: Haus Würdevoll

Kapitel 22: Die Entscheidung

Kapitel 23: Badehose

Kapitel 24: Eine letzte Reise

Kapitel 25: Aufatmen

Kapitel 26: Zurück im Alltag

Kapitel 27: Max oder Moritz

Kapitel 28: Damenbesuch

Kapitel 29: Mehr als nur ein Brief

Kapitel 30: Der Anruf

Kapitel 31: Die Nacht zieht auf

Kapitel 32: Morning has broken

Kapitel 33: Der Abschied

Kapitel 34: Ein letzter Besuch

Kapitel 1

Ein einziger Anruf

Noch heute höre ich die Melodie meines alten Handys in den Ohren, welche mir einen neuen Anruf verkündet. Sehe all das, was danach geschah, vor meinem inneren Auge. Immer wieder den permanent ablaufenden Film, dem ich völlig hilflos folge und an dem ich nichts verändern kann. Vernehme die Worte, aber begreife nicht sofort, was sie bedeuten. In diesem Moment will und kann ich das Ausmaß dessen, was geschehen wird, nicht einmal erahnen.

Ab meinem fünfzehnten Lebensjahr lebte ich für einige Jahre, nachdem die Ehe meiner Eltern vor dem Scheidungsrichter beendet wurde, bei meinem Vater.

In diesen Jahren wurde das schon immer gute Verhältnis zu ihm noch inniger. Selbst in turbulenten Zeiten und nach seiner zweiten Heirat, mit einer, sagen wir mal …. gewöhnungsbedürftigen Frau, brach der Kontakt nie ab.

Was jedoch meinen Vater dazu getrieben hatte, diese Person zu ehelichen, blieb ein ungelöstes Rätsel. Mein Bruder Frank und ich akzeptierten sie, als seine zweite Frau, jedoch keinen einzigen Schritt weiter. Wir gingen ihr geflissentlich aus dem Weg. Er besuchte uns meist allein und so kamen wir mit der Situation gut zurecht.

Über all die Jahre war es selbst dieser Person nicht gelungen, die enge Bindung zwischen uns zu zerstören. Wann immer ich Unterstützung brauchte, ein Anruf genügte und Dad war zur Stelle.

Doch beginnen wir von vorne und nicht mitten im Albtraum, der mein komplettes Leben und meine Sicht auf gewisse Dinge für immer verändern sollte. Denn danach war nichts mehr so unbekümmert wie noch kurz zuvor.

Es war an einem Donnerstag. Im Grunde genommen begann der Tag ganz unspektakulär, wie jeder andere in einer normalen Arbeitswoche. Lediglich hörte ich bei den Worten meiner Kollegen genauer hin und war vorsichtiger, was sie mir an Akten auf den Tisch legten. Schließlich war der erste April und man konnte nie wissen, wer zum Frühstück einen Clown gegessen hatte, und versuchte, einen in den April zu schicken.

Gegen zehn erklang ‚The Hanging Tree‘, der Klingelton meines Handys. Mit einem Blick auf das Display erkannte ich, dass die zweite Frau meines Dads mich anrief. Unwillkürlich kniff ich die Augen zusammen und legte die Stirn in Falten. Was um alles in der Welt konnte ausgerechnet SIE von mir wollen? Da wir so gut es ging, nicht miteinander kommunizierten, konnte ihr Anruf nur einen einzigen Grund haben: Meinem Vater war etwas passiert!

Wie üblich spielte mein Gehirn sofort sämtliche vorstellbaren Horrorszenarien ab. Mit einem Tastendruck nahm ich das Gespräch an und meldete mich knapp mit einem „Hallo“.

„Hallo Nadja, hier ist Kunigunde“, waren ihre ersten Worte. Ich klatschte mir mit der freien Hand an die Stirn. Wer sonst sollte mich mit ihrem Handy anrufen?

„Hey Kuni, was ist mit Dad?“, fragte ich besorgt und hielt die Luft an.

„Er wird gerade mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren“, antwortete Kunigunde mit emotionsloser Stimme, als sei es etwas, das jeden Tag geschieht.

„Was ist passiert? Hatte er einen Unfall?“ Ich hielt die Luft an.

Warum musste ich ihr nur alles aus der Nase ziehen? Konnte diese Frau nicht ein einziges Mal in ihrem Leben einen klaren, aussagekräftigen Satz formulieren?

„Nein, er hatte keinen Unfall“, drang an mein Ohr.

Sofort ließ ich die angehaltene Luft meiner Lungen entweichen und begann wieder zu atmen.

„Warum liegt er dann in einem Rettungswagen?“, ‚los rede endlich!‘, hämmerte es gegen meine Stirn.

„Ich konnte seine Schmerzen nicht mehr mitansehen“, murmelte sie in ihren nicht vorhandenen Bart.

„Welche Schmerzen? Was ist los? Jetzt sag schon!“, schrie ich sie an.

Meine Kollegin Maria, die mir gegenübersaß, blickte von ihrem Schreibtisch auf und sah mich verstört an.

„Bernd hat seit einiger Zeit immer wieder Schmerzen im Bauch“, begann Kuni endlich zu erklären.

Was für Schmerzen und warum um alles in der Welt hatte Dad mir bei seinem kurzen Besuch letzte Woche nichts davon erzählt?

Ja, er hatte etwas blasser als sonst ausgesehen, aber als ich ihn darauf angesprochen hatte, erklärte er lediglich, mehr Schlaf zu brauchen. Alles, bis auf Kunis ewig sinnloses Geplapper sei in Ordnung, hatte er versichert.

„Was hat der Arzt gesagt?“, versuchte ich etwas herauszufinden.

„Er meinte, Bernd hätte starke Druckschmerzen und hat dann sofort den Krankenwagen gerufen. Ich kann ja kein Auto mehr fahren.“

Sie schnatterte weiter von ihrem nicht mehr vorhandenen Führerschein, was ich jedoch nicht wirklich hörte.

Starke Druckschmerzen im Bauch; was konnte das bedeuten?

Bereits vor zwei Jahren war Dad schon einmal wegen solcher Beschwerden im Krankenhaus. Damals stellte es sich als Magengeschwür heraus und nach ein paar Tagen Behandlung und einer Nahrungsumstellung konnte er die Klinik wieder verlassen.

Wenn ich mit Kuni zusammenleben müsste, würde mir das auch auf den Magen schlagen, kam mir spontan in den Sinn.

„Wo bist du jetzt?“, wollte ich erfahren. Mutmaßte jedoch, dass sie zu Hause auf ihrem Sofa saß und die Wand anstarrte.

„Ich bin zu Hause und warte darauf, dass das Krankenhaus mich informiert“, bestätigte sie wie erwartet.

Kopfschüttelnd erklärte ich: „Okay, ich werde nach Dad sehen, mit den Ärzten reden und dich dann anrufen.“

Eine knappe Verabschiedung und ich beendete das Gespräch.

Langsam glitt mein Arm in Richtung Boden. Maria stand auf und trat zu mir herüber.

„Was ist passiert? Du bist leichenblass“, meinte sie besorgt.

„Mein Vater wird gerade mit dem Rettungswagen in die Klinik gefahren und seine dusslige zweite Frau hat mal wieder, wie so oft, nicht die Spur einer Ahnung, was los ist“, unterrichtete ich sie.

Entsetzt bestimmte Maria: „Fahr zu ihm! Überstunden hast du eh genügend. Ich bekomme das schon hin. Schau nach deinem Vater!“

„Danke, das werde ich tun“, entgegnete ich und fuhr augenblicklich den Rechner herunter. Ein Blick über die Unterlagen auf meinem Schreibtisch bestätigte mir, dass nichts Dringendes liegen bleiben würde. Alles, was zu tun war, könnte ich noch morgen erledigen, denn die Touren für die Monteure nächste Woche waren bereits fertig geplant und alle Kunden benachrichtigt.

Als ich meine Jacke angezogen hatte, nahm Maria mich in den Arm. „Die Chefs informiere ich, mach dir keine Gedanken, Nadja. Ich hoffe, dass es deinem Vater bald wieder besser geht.“

Dankend nickte ich ihr stumm zu und verließ die Firma. In diesem Moment konnte ich das Ausmaß dessen, was vor uns lag, nicht einmal erahnen, und das war auch gut so.

Während der Fahrt zum Kreiskrankenhaus bereitete ich mich auf das Schlimmste vor. Hatte mein Dad ein größeres Problem mit dem Magen? Musste er gar operiert werden? Oder würde es den Ärzten erneut gelingen, ihm einzig mit Medikamenten zu helfen?

Er musste unbedingt kürzertreten! Und warum um alles in der Welt arbeitete er noch immer Vollzeit, obwohl er bereits das zweite Jahr in Rente war? Doch darauf gab es eine einfache Antwort: So musste er nicht jeden Tag mit Kunigunde verbringen!

Auch nach den vielen gemeinsamen Ehejahren verstand ich noch immer nicht, warum Dad Kunigunde überhaupt geheiratet hatte.

Jeden Morgen ging er pünktlich um Viertel vor sieben aus dem Haus, um seine Tour zu starten. Die Mittagspause verbrachte er unterwegs. Teilweise auf Parkplätzen, um dann am Nachmittag gegen halb fünf wieder zu Hause anzukommen. Jetzt, so wusste er, war es still in der Wohnung. Denn Kunigunde verließ sie gegen Viertel nach vier, um mit dem Bus zu ihrer Putzstelle zu fahren. In dieser Zeit gehörten die Räume ihm allein und er konnte völlig, ohne angemeckert zu werden, tun und lassen, was er wollte. Wenn sie gegen zwanzig Uhr zurückkam, ruhte er meist in seinem Zimmer auf dem Bett, um zu lesen. Lag darin die Erfüllung einer Ehe? Mir glich es eher einem nie enden wollenden Albtraum! Aber es war Dads Leben und ich hatte nicht das Recht, mich einzumischen. So ließen wir das Thema ‚Kunigunde‘ bei seinen Besuchen geflissentlich aus.

Nachdem ich das Auto im Parkhaus abgestellt hatte, betrat ich die große Eingangshalle der Klinik und näherte mich schnellen Schrittes der Information.

„Guten Tag, mein Vater, Bernhard Sommer wurde mit dem Krankenwagen eingeliefert. Wo bitte kann ich ihn finden?“,

erkundigte ich mich und drückte die Finger auf die Taschenablage vor dem Schalter flach auf, bis die Fingerkuppen weiß hervorblitzten.

„Einen Moment bitte, ich werde nachsehen“, antwortete die Dame hinter der Glasscheibe.

Ich blickte mich hilflos um. Kaum etwas war für mich schlimmer, als zu warten. Zu gern nahm ich die Dinge selbst in die Hand, nur um nicht anderen ‚ausgeliefert‘ zu sein. Und doch war mir bereits jetzt bewusst, dass ich in der nächsten Zeit viel Geduld aufbringen musste. Denn sicherlich würden nicht einmal die Ärzte sofort Antworten auf all meine Fragen parat haben.

„Ihr Vater wurde gerade in der Urologischen Station, Stockwerk 3 im Anbau, aufgenommen“, informierte mich die Frau.

Angespannt murmelte ich ein: „Dankeschön“, zerbrach mir aber sogleich den Kopf: ‚Warum auf diese Station und nicht auf die Innere?‘

Da ich früher, während der Krankheit meiner Freundin Inge, längere Zeit im Krankenhaus verbrachte, kannte ich zum Glück alle verwinkelten Wege vom Altbau in den Neubau. Kaum zehn Minuten später klopfte ich an der Tür des Schwesternzimmers der Urologie. Als mich jemand bemerkte, erklärte ich: „Ich suche Bernhard Sommer, meinen Vater. Er müsste vor kurzem zu Ihnen auf die Station gekommen sein.“

Die Schwester trat zu mir und bestätigte: „Herr Sommer wartet in Zimmer 318 auf den Arzt. Sie können gerne zu ihm.“

Ich nickte knapp und lief den nicht enden wollenden Flur entlang. Bevor ich an die Tür klopfte, fühlte ich ihn, diesen dicken Kloß, der sich in meinem Hals ausbreitete und sich in Richtung Magen aufmachte. ‚Stell dich nicht so an!“, schimpfte ich mich selbst. ‚Es wird schon alles gut werden. Dad hat doch nie etwas.

Also öffne endlich die Tür!‘

Vorsichtig, als würde die Gefahr eines elektrischen Schlages bestehen, näherten sich meine Finger der Türklinke. Die Augen zusammengekniffen, tief eingeatmet, dann gab es kein Zurück mehr. Ich öffnete die Tür.

Da lag er, mein Dad, leichenblass und das Gesicht eingefallen. Er wirkte alt, gebrechlich und ich erkannte deutlich die Angst in seinen Augen. Der dicke Kloß erreichte plumpsend meinen Magen.

„Hey Dad, was machst du denn für Sachen?“, begrüßte ich ihn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Ach, es wird schon nichts Schlimmes sein“, begann er. „Ich wollte nur mal ein paar Tage Ruhe vor Kuni.“ Hierbei versuchte er, witzig mit einem Auge zu zwinkern, was ihm jedoch nicht im Geringsten gelang.

Ich zog einen Stuhl ans Bett, setzte mich darauf, nahm seine Hand in meine Hände. „Sag schon, was ist los und versuch erst gar nicht, mir irgendeinen Mist zu erzählen!“

„Okay, du gibst ja so oder so keine Ruhe. Bereits seit Weihnachten habe ich immer wieder mal so ein Ziehen“, begann er.

Ich schüttelte den Kopf, schloss die Augen und schnaubte laut wie ein wütendes Pferd.

„Ja, ich weiß, was du sagen willst“, stoppte er mich, bevor ich ein einziges Wort aussprechen konnte. „Aber bisher habe ich es mit Schmerzmitteln wunderbar hinbekommen.“

„Wunderbar hinbekommen!“, rief ich laut. „Das sehe ich! Darum musstest du auch mit dem Rettungswagen eingeliefert werden und liegst nun hier.“

„Das ist nur, weil Kunigunde nicht mehr mit dem Auto fährt“, versuchte er die Sache abzuschwächen. „Und das ist auch gut so.

Wer weiß, auf welcher Station ich sonst gelandet wäre“, lachte er gespielt.

So war er, mein Dad. Selbst in einem schlimmen Moment einen Spaß auf den Lippen, um abzulenken und die Menschen um ihn herum nicht zu beunruhigen.

Es klopfte an der Tür und zwei Männer samt einer Frau traten ein.

„Guten Tag, ich bin Doktor Gläser. Das sind mein Kollege Doktor Hanselmann und Schwester Sabine“, stellte der Größere jeden vor.

„Hallo, mein Vater, Bernhard Sommer und ich heiße Nadja Sommer“, erwiderte ich, während Dad nur stumm nickte.

„Dann wollen wir Sie mal untersuchen, Herr Sommer“, kam der Arzt sofort zur Sache und trat an das Bett.

Es vergingen etwa fünf Minuten, in denen beide Ärzte nacheinander den Bauch meines Vaters abtasteten, sich den Hals und auch den Rücken ansahen. Hierbei entging mir nicht Dads schmerzverzerrtes Gesicht und die gerunzelte Stirn von Doktor Gläser.

„Herr Sommer, wie lange haben Sie diese Schmerzen bereits?“, versuchte der Arzt zu erfahren.

„Noch nicht so lange“, antwortete Dad.

„Das stimmt nicht!“, warf ich sofort ein. „Er hat sie bereits seit Weihnachten, aber mit Schmerzmitteln betäubt. Sie müssen wissen, dass er eine Phobie gegen Krankenhäuser und Ärzte im Allgemeinen hat.“

„Aha, nun wird mir einiges klar“, bestätigte Doktor Hanselmann.

„Schwester Sabine, holen Sie bitte den Sonowagen und Blut müssen wir auch abnehmen.“

Die Pflegerin nickte dem Arzt zu und verließ umgehend den Raum.

„Was denken Sie, was ihm fehlt?“, versuchte ich zu erfahren.

Doktor Gläser sah in die Patientenakte meines Vaters und meinte danach: „Ein Magengeschwür, wie beim letzten Aufenthalt können wir grundsätzlich ausschließen. Aber um sicher zu sein, werden wir eine Sonografie, sprich einen Ultraschall und ein großes Blutbild machen. Dann sehen wir weiter.“

Kein Magengeschwür, für mich hörte sich das gut an und schon wollte ich meinem Dad glauben, dass er nur eine Auszeit von Kunigunde nötig hatte. Aber woher kamen dann diese Schmerzen?

„Herr Sommer, wir benötigen zudem eine Urinprobe“, sprach der Arzt. „Gehen Sie bitte kurz auf die Toilette, dort stehen Becher bereit.“

Langsam und vorsichtig stand mein Vater auf und verschwand im Bad.

„Was vermuten Sie wirklich?“, fragte ich und sah Doktor Gläser fest in die Augen.

Er senkte den Blick und sprach: „Noch können wir nichts Genaues sagen.“

Der Kloß in meinem Magen explodierte, und ein stechender Schmerz zwang mich, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Nur zu gut kannte ich solche Worte eines Arztes! Hatte ich sie doch vor Inges Diagnose vor vier Jahren ebenfalls gehört. Sie bedeuten, dass die Ärzte einen schlimmen Verdacht hatten, aber noch nicht darüber sprechen wollten, um den Patienten und seine Angehörigen nicht unnötig in Angst zu versetzen.

Ich sah zu Boden, schloss die Augen und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Nein, ich musste stark sein und durfte mir meine Angst nicht anmerken lassen! Schnell die Hände zu Fäusten geballt, die Fingernägel fest in die Haut gedrückt und vom Stuhl aufgestanden. ‚Reiß dich zusammen, für Tränen ist keine Zeit!‘, schrie die Stimme des Engelchens in meinem Kopf. ‚Du weißt gar nichts und mit dummen Vermutungen machst du lediglich alle verrückt. Also hör damit auf!‘

Die Tür wurde erneut geöffnet und herein kam Schwester Sabine mit einem Wagen. Im selben Moment trat Dad aus dem Badezimmer. In seiner Hand einen Becher, der leer war. Hierbei entging mir nicht der Blick, den die beiden Ärzte miteinander austauschten.

„Entschuldigung, leider muss ich gerade nicht. Vielleicht geht es ja später“, entschuldigte sich mein Vater. Stellte den Becher auf das Tablett und legte sich wieder behutsam aufs Bett.

„Dann wollen wir mal sehen, was mit Ihnen los ist, Herr Sommer“, sagte Doktor Gläser. Schob das Sweatshirt meines Vaters nach oben, quetschte das Gel aus der Flasche, um es auf seinem Bauch zu verteilen.

Die Untersuchung dauerte nur drei, vier Minuten. Doktor Hanselmann riss das ausgedruckte Bild ab und sah mit besorgter Miene darauf, während der zweite Arzt meinem Vater mehrere Ampullen Blut abnahm. Hierbei unterhielten sich die beiden und warfen sich medizinische Begriffe an den Kopf. Ich verstand nicht wirklich etwas, jedoch das Wort Niereninsuffizienz fiel hierbei mehrmals.

‚Wo hatte ich es schon einmal gehört?‘, zermarterte ich mir das Gehirn. Irgendjemand hatte es in meiner Gegenwart erwähnt.

Nur wer? Wann war das gewesen und wo?!?

Wie unter einem lauten Trommelwirbel öffnete sich mein Verstand, und plötzlich wusste ich es! Tante Elsbeth hatte das Wort ausgesprochen. Ihr Mann, Onkel Harald, war seit vielen Jahren mehrmals in der Woche zur Dialyse. Oh mein Gott!!! Es bedeutete Nierenversagen!

Einen Fuß setzte ich vor den anderen und trat nach vorne an das Bett. Dad lag darauf und ließ alles geduldig über sich ergehen. So wie ich ihn kannte, dachte er, die Ärzte würden ihm Infusionen und Tabletten verabreichen, eine Auszeit verordnen und dann wäre er wieder ganz der Alte und könnte die Klinik bald verlassen.

„Werden Sie operieren müssen?“, erkundigte ich mich mit möglichst ruhiger Stimme.

„Was und warum operieren?“, fragte Dad völlig unverständlich.

Doktor Gläser blickte zuerst mir in die Augen, anschließend sah er zu meinem Vater. „Herr Sommer, bei Ihnen liegt ein akutes Nierenversagen vor. Wir werden Sie operieren. Noch können wir nicht sagen, was wir genau vorfinden, da der Ultraschall leider nicht alles zeigt.“

„Dann machen Sie das. Hauptsache es geht mir hinterher wieder besser und ich kann bald nach Hause“, stellte Dad klar.

Ich ahnte, ihm war die Tragweite eines Nierenversagens nicht bewusst. Meine Alarmglocken hingegen schrillten auf höchster Stufe! Sollte sich der Zustand seiner Nieren nicht verbessern, hieße das im Klartext, zumindest eine Zeit lang, Dialyse. Im schlimmsten Fall sogar lebenslang. Selbstverständlich lebte man damit heutzutage recht gut, aber eine gewaltige Einschränkung bedeutete es allemal. Im Moment konnten wir jedoch nichts tun.

Zuerst einmal musste Dad operiert werden, danach würden wir uns über alles Weitere, was eventuell eintreten würde, Gedanken machen und entsprechend handeln. Ein Schritt nach dem anderen und nicht gleich das Schlimmste annehmen, mahnte mich mein Verstand.

„Wir warten die Blutergebnisse ab. Sobald uns diese vorliegen, können wir mehr sagen“, teilte Doktor Gläser mit.

„Vielen Dank“, antwortete ich und fragte: „Bis wann rechnen Sie mit den Ergebnissen?“

„Spätestens morgen früh müsste alles vorhanden sein“, erhielt ich zur Antwort. „Bitte entschuldigen Sie, aber wir müssen weiter.“

Kaum ausgesprochen, verschwanden die drei und ließen uns allein im plötzlich viel zu kleinen Zimmer zurück.

Ich setzte mich zu Dad auf die Bettkante und nahm seine Hand.

Er blickte wortlos an die Decke und doch entging mir nicht, wie Tränen in seinen Augen schimmerten.

„Hey, ich bin hier“, drückte ich seine Hand etwas fester. „Du bist nicht allein, auch das stehen wir gemeinsam durch.“

„Wenn du das sagst, Große“, zwinkerte er und sah mir direkt in die Augen. „Dann wird alles gut.“

‚Reiß dich zusammen!!!‘, schrillte es in meinem Kopf. ‚Lass ihn auf keinen Fall deine Angst sehen oder gar spüren!‘

„Aber klar doch!“, kam selbstsicher über meine Lippen. „Ich werde jetzt zu Kuni fahren und ein paar Sachen für dich holen.

Sie wird sicherlich nichts eingepackt haben“, stellte ich grinsend fest.

„Ach, wo denkst du hin!“, lachte er. „Du kennst sie doch, sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“

Ich grinste ihn kopfschüttelnd an. „Okay, dann bin ich mal weg.

Bis später, Dad“, erklärte ich und drückte noch einmal fest seine Hand, ehe ich das Zimmer verließ.

Auf dem Flur angekommen, lehnte ich mich an die Wand. Schloss die Augen und drückte erneut die Fingernägel fest in die Handballen, um nicht sofort loszuweinen.

‚Bleib stark für ihn!‘, flüsterte mein Engelchen und ich setzte dann, einem Roboter gleich, einen Fuß vor den anderen.

Kapitel 2

Kunigunde

Mit schnellen Schritten verließ ich das Krankenhaus, bezahlte am Automaten die Parkgebühren, eilte zum Auto und nahm darin Platz. Welche Maßnahmen waren als Nächstes nötig? Jahrzehntelang erprobt organisierte mein Engelchen alles und übernahm die Führung.

Als Erstes musste ich David und meinen Bruder Frank unterrichten. Schon immer war mein Mann für Dad nicht nur ein Schwiegersohn, sondern glich vielmehr einem weiteren Sohn. So wählte ich seine Nummer zuerst.

„Hey Schatz“, grüßte er nach dem zweiten Läuten.

Ein leises „Hey“, kam über meine Lippen.

„Was ist los?“, fragte David sofort. „Irgendetwas stimmt nicht!“

Wie gut er mich doch kannte. „Dad ist mit akutem Nierenversagen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich war gerade bei ihm und fahre nun zu Kuni, um Kleidung und alles Weitere abzuholen.“

„Ach du Scheiße!“, drang laut an mein Ohr und ich hielt das Handy weiter weg. „Wie, warum ... ein Nierenversagen kommt doch nicht einfach über Nacht!“

„Du kennst ihn doch“, antwortete ich. „Er hat wohl schon seit Weihnachten immer wieder Schmerzen, aber Tabletten dagegen genommen.“

„Das müssen dann aber ordentliche Hämmer gewesen sein!“, brachte es David auf den Punkt.

Durch seine eigene Krankengeschichte hatte er eine genaue Vorstellung von den unterschiedlichsten Schmerzstufen. „Wie geht´s weiter? Werden sie operieren?“

„Höchstwahrscheinlich, aber sie müssen noch die Blutergebnisse abwarten“, setzte ich ihn ins Bild.

„Okay, ich mach heute früher Feierabend und werde was kochen“, bestimmte David. „Fahr du zu Kuni und nimm dir bei deinem Dad die Zeit, die du brauchst.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Schmeckte, wie sich das süße Blut in meinem Mund sammelte und versuchte, nicht loszuweinen.

David hatte sofort erkannt, was los war und dass er sich um die alltäglichen Dinge kümmern musste, um mich zu entlasten.

„Danke und bitte sag Tim noch nichts“, flüsterte ich. „Bis später dann und vergiss nicht, ich hab dich lieb.“

„Ich liebe dich auch“ und ein Kuss waren seine Antwort.

‚Tief Luft holen!‘, sagte ich mir. ‚Atme langsam und bleib ruhig. Es hilft keinem, wenn du in Panik verfällst!‘

Stumm zählte ich auf drei und wählte anschließend Franks Nummer. Kurz und knapp unterrichtete ich ihn über Dads Einlieferung und die derzeitige Diagnose.

„Puh ... das hört sich nicht gut an“, war seine Reaktion. „Danke, dass du mich gleich informiert hast und bitte halte mich auf dem Laufenden.“

„Natürlich mache ich das“, sicherte ich ihm zu. „Wenn ich es doch nur schon Kunigunde erklärt hätte.“

„Na, dann viel Spaß“, lachte Frank. „Bin gespannt, ob die überhaupt begreift, was los ist. Aber so wie ich sie kennengelernt habe, hat die keinen Plan.“

„Das befürchte ich auch“, stöhnte ich. „Also, ich melde mich wieder bei dir, bis dann, Kleiner.“

„Pass auf dich auf, Große“, sprach er und beendete die Verbindung.

Während der zwanzigminütigen Fahrt überlegte ich mir, welche Worte die besten und einfachsten wären, um Kunigunde alles zu erklären. Hatte mein Dad eine Patientenverfügung? Falls nein, war es nicht wichtig, dies vor einer Operation nachzuholen?

Sollte es erforderlich sein, dass Entscheidungen getroffen werden müssten, durften diese keinesfalls in Kunis Händen liegen. Ich entschied, meinen Dad später danach zu fragen.

Als ich an der Haustüre von Kunigunde und Dad läutete, lief ein leichter Schauer über meinen Rücken. Es war ein seltsames Gefühl, hier zu stehen und zu wissen, dass er nicht zu Hause war.

Es dauerte etwas, doch dann hörte ich den Türöffner und trat mit großen Schritten die Treppenstufen in den ersten Stock hinauf.

„Hallo Nadja, schön dich zu sehen“, empfing mich Kuni mit einem Lächeln. „Komm herein. Möchtest du einen Kaffee? Ach, ist das schön, dass du mich besuchst“, zwitscherte sie mit ihrer quietschigen Stimme.

‚Wie dumm kann ein Mensch nur sein?‘, überlegte ich.

‚Tief einatmen, nicht schreien!‘, murmelte ich gedanklich gebetsmühlenartig vor mich hin, um sie nicht zu schütteln und zu fragen, was mit ihr nicht stimmte. Ich zog meine Jacke aus, hängte sie im schmalen, dunklen Flur an die Garderobe und folgte Kunigunde ins Wohnzimmer. Wieder einmal schoss mir durch den Kopf: Wieso nur hatte er sie geheiratet? Und wie konnte er nur mit ihr zusammen in diesem Museum, vollgestopft mit Puppen und all dem sonstigen Krimskrams leben?

„Kuni, Dad muss im Krankenhaus bleiben und wahrscheinlich operiert werden“, geradeheraus, ja das hielt ich für die beste Strategie. Etwas anderes würde sie nicht verstehen.

„Warum denn das?“, schaute sie verständnislos.

„Weil er ein akutes Nierenversagen hat. Sprich, er kann nicht mehr pinkeln“, klare, einfache Worte, wie zu einer Fünfjährigen.

Nur so war es möglich, sie zu erreichen.

„Wie, er kann nicht Pipi machen?“, rief sie entsetzt.

Boah!!! ‚Ruhig bleiben, spring ihr nicht an den Hals! Schüttele sie nicht! Bring sie nicht um! In Häftlingsklamotten siehst du garantiert nicht gut aus!‘, beruhigte mich Engelchen. Ich trat hinüber zum Terrarium und sah hinein. Darin lebten der Gecko Helmut und die Bartagame Angela, der ganze Stolz meines Vaters. Angela fraß ihm sogar aus der Hand und durfte sich teilweise frei in der Wohnung bewegen, wenn Dad zu Hause war. Neben dem großen Terrarium auf einer Kommode entdeckte ich ein zweites, kleineres.

„Ist das neu?“, fragte ich.

„Ja, darin leben Max und Moritz“, strahlte Kunigunde mich an.

Es schien, als hätte sie das soeben Gehörte bereits wieder vergessen.

„Die hat jemand verschenkt, weil er sie nicht mehr wollte, und da hat Berndi sie genommen.“

Wie bitte hatte sie meinen Dad genannt? Berndi!?! Luft holend plumpste ich auf das Sofa. Es würde schwer werden!

„Kuni, setz dich mal bitte zu mir“, forderte ich sie auf. „Dad wird operiert, weil er kein Wasser mehr lassen kann. Stell dir einen Schlauch vor, der verstopft ist.“

„So, wie eine verstopfte Toilette?“, hier sprach eindeutig die Putzfrau in ihr.

„Ja, ganz genau so!“, bestätigte ich schnell, damit sie nicht wieder vergaß, worüber wir eigentlich redeten. „Die Ärzte müssen nun alles wieder freibekommen. Wenn alles sauber ist, kann er auch wieder pinkeln.“ Ich beschloss, dass das genug an Information für sie wäre. Alles Weitere würde sie überfordern.

„Wann kommt er wieder nach Hause?“, wollte sie erfahren. „Wir sind nämlich nächste Woche Donnerstag zum Geburtstag meiner Schwester eingeladen.“

„Das kann ich dir leider nicht sagen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Dazu muss erst einmal die Operation stattfinden. Aber ich denke nicht, dass es so schnell gehen wird. Und genau deshalb bin ich hier, um einige Sachen für Dad einzupacken und ihm diese ins Krankenhaus zu bringen.“

„Dann suche ich am besten gleich mal einen Koffer“, säuselte sie und stand auf. „Ach, was bin ich froh, dass wir auf dem Flohmarkt die zwei Koffer gekauft haben. Sonst hätte ich nun keinen.“

Ich trat hinüber in das Zimmer meines Vaters. Ja, hier sah alles nach meinem Dad aus. An den Wänden hingen Bilder von Indianern und Wölfen. Auf der Kommode standen Indianerfiguren und überall, an jeder freien Stelle, standen oder lagen Bücher.

„Ich hab ihn gefunden“, rief Kuni erfreut und betrat mit einem Koffer in der Hand den Raum. „Was braucht er denn alles?“

„Ich würde sagen Schlafanzüge, T-Shirts, Jogginghosen, Hausschuhe, Bademantel, Unterwäsche, Socken, Wasch- und Rasierzeug, sowie Handtücher“, zählte ich auf.

„Bademantel hat er keinen, aber den Rest packe ich ein“, zwitscherte sie vergnügt.

„Kein Problem, ich bringe ihm einen Bademantel von uns“, erklärte ich.

Während sie die Kleidung einpackte, entdeckte ich drei Bücher mit herausblickenden Zetteln. Mein Dad benutzte nie Lesezeichen, sondern nahm meist irgendwelche Zeitungsschnipsel. Grinsend legte ich die drei Bücher in den Koffer. Dann setzte ich mich auf sein Bett und wartete, bis Kunigunde die Toilettenartikel zusammengetragen und eingepackt hatte. Gemeinsam schlossen wir den Koffer.

„Gut, dann will ich ihm das mal bringen“, verabschiedete ich mich. „Falls du ihn besuchen möchtest, er liegt im Anbau, dritter Stock, Zimmer 318.“

„Ach, mal sehen, ob ich es morgen hinbekomme“, überlegte sie.

„Nun muss ich erst einmal zur Arbeit. Schön, dass du mich besucht hast und bis bald, Nadja.“

„Bis bald, Kuni“, murmelte ich und verließ die Wohnung.

Im Auto angekommen konnte ich nicht anders und fing lauthals an zu lachen. Oh mein Gott!!! War das alles wirklich geschehen?

Oder kam gleich der Geist von Kurt Felix mit der versteckten Kamera um die Ecke, um alles aufzulösen? Mit der Hand strich ich mir über die Augen und schüttelte den Kopf. Kein Mensch würde mir je glauben, was sich soeben zugetragen hatte.

Kapitel 3

Die ersten Tage

Zurück im Krankenzimmer fand ich meinen Dad schlafend vor und verstaute die mitgebrachten Dinge aus dem Koffer.

„Hey, da bist du ja wieder“, flüsterte er mit verschlafener Stimme und öffnete die Augen.

„Hey Dad, ja ich bin wieder da und hab Kuni überlebt“, grinste ich ihn an. „Wahrscheinlich kommt sie dich morgen besuchen.“

„Falls sie den Weg findet“, lachte er, verzog hierbei jedoch schmerzverzerrt das Gesicht. „Irgendwie wirken die Schmerzmittel nicht so ganz.“ Dabei sah er am Infusionsständer zum Beutel empor.

Wenn mein Vater zugab, dass er Schmerzen hatte, dann mussten diese enorm sein. Ich erinnerte mich daran, wie er früher selbst mit zwei Händen seine herausgesprungene Kniescheibe zurück an die richtige Position gedrückt hatte. Hierbei kam ihm nicht ein einziger Laut über die Lippen, lediglich an seinen Augen konnte man die Qualen erahnen.

„Ich hab dir auch drei deiner Bücher mitgebracht“, versuchte ich ihn abzulenken. „Hoffe, meine Auswahl ist okay.“

„Lass mal sehen, welche du eingepackt hast.“ Sofort griff er nach ihnen. „Ja, das sind die Letzten, in denen ich gelesen habe. Das eine handelt von der Geschichte einer ‚Blackfoot‘ Indianerin und dem Leben ihrer Vorfahren.“

Schon immer begeisterten Dad die nordamerikanischen Indianerstämme. Nicht die erfundenen Geschichten wie ‚Winnetou‘, sondern die oft fürchterlichen Dinge, welche diese Stämme erleiden mussten, nachdem der weiße Mann in ihr Land eingedrungen war. Sein Bruder Olaf hatte über die Jahre bereits mehrmals unsere Verwandtschaft in Amerika besucht. Auch er war von der Geschichte des Landes fasziniert, besonders von der Zeit des Bürgerkrieges. Eigentlich war es der Traum von beiden gewesen, einmal gemeinsam über den großen Teich zu fliegen und all die bekannten Orte zu besuchen. Doch nach einem Schlaganfall war Onkel Olaf nicht mehr derselbe und nur noch schlecht zu Fuß.

„Sag mal, Dad“, begann ich meine unangenehme Frage. „Hast du eigentlich eine Patientenverfügung?“

Verständnislos starrte er mich an. „Nein, habe ich nicht. Warum auch?“

„Weil man eine haben sollte, um seinen eigenen Willen zu erklären und soweit möglich selbst zu bestimmen“, begründete ich. „Bereits seit Jahren habe ich in meinem Geldbeutel einen Organspenderausweis, den Ausweis der DKMS und zu Hause meine Patientenverfügung, die ich alle zwei Jahre erneut bestätige.“

„Du hast schon immer an alles und jede Eventualität gedacht“, schüttelte er den Kopf. „Wo du das nur herhast? Von mir jedenfalls nicht. Doch du ähnelst deiner Oma in sehr vielen Dingen.“

„Es ist wichtig“, betonte ich. „Gerade vor einer Operation. Jeder hofft und denkt, dass alles gut geht. Leider ist das nicht immer der Fall und man sollte vorbereitet sein.“

„Das stimmt schon“, bestätigte Dad. „Aber bisher habe ich mir darüber ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht. Zudem weißt du doch, was ich will.“

„Bist du dir da sicher?“, fragte ich und blickte zu Boden.

„Ja, du weißt es“, antwortete er bestimmt.

„Aber möchte ich es auch im Fall der Fälle so ausführen?“, meine Augen senkten sich zum Boden.

„Das vielleicht nicht“, gab er zu. „Und doch würdest du dafür sorgen, dass es umgesetzt wird“, betonte er mit fester Stimme.

„Wenn ich es kann“, konterte ich. „Denn an erster Stelle steht Kunigunde, deine Frau, in einem solchen Fall.

„Oh Gott, dann bin ich verloren“, rief er entsetzt.

„Dad, das ist ein ernstes Thema!“, tadelte ich.

„Was ist das Allerwichtigste im Leben?“, sah er mich schräg an.

„Niemals den Humor verlieren und niemals aufgeben!“, sprachen wir gleichzeitig und lachten los.

„Ganz genau! Du weißt es noch immer“, grinste mein Vater.

„Doch manchmal muss man auch den Ernst der Lage erkennen und dementsprechend handeln“, wies ich ihn mit ernstem Blick zurecht.

„Okay, du hast mich überredet. Ich werde eine machen“, gab er klein bei. „Kannst du dich um alles kümmern?“

„Ich werde danach sehen und im Beisein eines Arztes kannst du diese dann unterschreiben“, erklärte ich. „Sie ist dann bestätigt und in deiner Krankenakte hinterlegt. Somit hat alles Hand und Fuß!“

„Durchorganisiert wie immer“, grinste er. „Das ist meine Tochter.“

„Ich werde dann mal gehen und morgen bring ich dir alles mit“, verabschiedete ich mich. „Sei anständig und halte die Schwestern nicht so auf Trab.“

„Das kann ich nicht versprechen“, zwinkerte er frech. „Die eine ist schon ein echt heißer Feger.“

„DAD!“, schimpfte ich mit erhobenem Zeigefinger. Warum nur hatte ich seit langer Zeit das Gefühl, die Erwachsenere von uns beiden zu sein? „Bis morgen“, drückte ich ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Bis morgen, meine Große, und richte deinen Männern einen Gruß aus“, verabschiedete er sich.

Zu Hause erwartete mich David mit besorgter Miene. „Wie geht´s Bernd?“

„Er hat starke Schmerzen, will es aber nicht zugeben“, flüsterte ich.

Er nahm mich in die Arme und drückte mich an seine Brust.

Völlig gleich, welche Worte er auch immer wählen würde, sie alle konnten nichts ändern. Das Einzige, was ich im Moment brauchte, das gab er mir. Die Geborgenheit und das Wissen, dass ich nicht allein war.

Tim kam aus seinem Zimmer und da David, wie angekündigt gekocht hatte, setzten wir uns an den Tisch. Mein Sohn plapperte wie immer und erzählte von den Erlebnissen seines Tages. Doch ich registrierte kaum ein Wort, noch brachte ich einen Bissen hinunter. Sondern stocherte lediglich auf dem Teller herum. Verständnisvoll sah David mich an.

„Mama, hast du heute keinen Hunger?“, wollte mein Sohn erfahren.

„Nicht wirklich“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Opa wurde ins Krankenhaus gebracht und er muss operiert werden.“

Tim zuckte erschrocken zusammen. „Was hat er denn? Kann ich ihn besuchen?“

„Im Moment noch nicht, aber in ein paar Tagen ganz bestimmt“, versprach ich. „Doch Opa weiß, dass du an ihn denkst, und das hilft ihm dabei, wieder gesund zu werden. Ich soll euch zwei übrigens noch von ihm grüßen.“

„Du weißt schon, dass ich inzwischen kein kleines Kind mehr bin, oder?“, sah er mich skeptisch an.

Ja, ab und an vergaß ich tatsächlich, dass mein Sohn zum Teenager mutierte.

„Opa hat Probleme mit den Nieren und das muss operiert werden“, setzte ich ihn ins Bild.

„Dann ist nur gut, dass er zwei davon hat. Falls eine ausfällt, gibt es noch die zweite“, erklärte er neunmalklug.

Stumm nickte ich und Tim war mit sich und der Welt erst einmal zufrieden. Nachdem der Tisch abgeräumt war, verschwand er wieder in sein Zimmer.

Es war an der Zeit den Rest der Familie zu informieren. Schon wählte ich die Nummer von Dads Schwester.

Mit kurzen, knappen Worten erklärte ich Tante Elsbeth, wie es um ihren Bruder stand. Sie blieb gefasst und ich versprach, sie weiter auf dem Laufenden zu halten.

Im Anschluss rief ich Onkel Olaf an und berichtete ihm dasselbe.

Jetzt konnte ich sicher sein, dass die Verwandtschaftsinformationskette ihren Lauf nahm.

Während David die Küche aufräumte, verschwand ich unter die Dusche. Hier ganz allein von warmem Wasser umhüllt, ließ ich meinen zurückgehaltenen Tränen freien Lauf. Den Kopf fest an die Fliesen gedrückt, hämmerte ich mit den Fäusten dagegen.

Warum, warum nur? Dröhnte es in meinem Gehirn. Mit jeder einzelnen Träne bahnte sich die Panik um meinen Vater ihren Weg nach draußen. Wie immer hatten wir locker über alles gesprochen und die Angst in uns damit zum Schweigen gebracht.

Doch ich war mir sicher, dass Dad allein in seinem Zimmer, ebenfalls von seinen Gefühlen überrollt wurde.

Konnten die Ärzte ihm helfen? Würde mit der Operation wirklich alles erledigt sein? Woher kam nur plötzlich diese fürchterliche Angst? Das ungute Gefühl, dass dies erst der Anfang eines langen Weges sein würde? Schon oft in meinem Leben plagten mich Vorahnungen. Bisher war es mir immer gelungen, nach außen die starke Frau zu sein, die sich jeder noch so großen Welle gefahrlos in den Weg stellte. Nie zuließ, dass etwas oder jemand sie brach, sondern gerade das zum Ansporn nahm, um noch stärker zu werden. Hinterher einen kurzen Blick über die Schulter zurückwarf, um festzustellen: Ja, diese Hürde habe ich erneut gemeistert. Jeden noch so steinigen Weg, wenn andere sagten: ‚versuch es so, das ist einfacher‘, nahm ich mit einem Lächeln auf mich. Doch nun kroch diese unsagbare, nicht zu greifende Angst in mir herauf wie ein eisigkalter Luftzug an einem kühlen Dezembermorgen. Was, wenn mein Dad die Operation nicht überstehen würde? Selbst bei einem routinemäßigen Eingriff konnte jederzeit etwas schiefgehen.

Nicht einen einzigen Tag seiner Rente hatte er bisher genossen, sondern als sei es das Natürlichste von der Welt, einfach weitergearbeitet. Seine Lehre hatte er mit fünfzehn Jahren begonnen und inzwischen zweiundfünfzig Arbeitsjahre auf dem Rücken.

Ein Leben lang hatte er den Traum, Amerika für mehrere Wochen zu bereisen. Ich beschloss, ihn, ob er es wollte oder nicht, nach der Operation in den Urlaub zu schicken! Er sollte endlich lernen, sich um die schönen Dinge zu kümmern und das Leben zu genießen. Doch woher kam diese unerklärliche, nicht zu packende Angst tief in mir? ‚Bleib ruhig, alles wird gut gehen‘, versuchte Engelchen mich zu beruhigen. ‚Besinn dich auf deine Stärken und gib ihm die Kraft und so den Halt, den er benötigt! ’ Es half niemanden, wenn ich mich hier unter der Dusche im Selbstmitleid ertränkte. Schnell wusch ich mir die Haare, zog die Nase hoch und bekam mich wieder in den Griff.

Später, im Wohnzimmer, schickte ich eine Nachricht an Maria und bat sie, für mich am nächsten Tag einen weiteren Urlaubstag einzutragen. Kaum hatte ich das Handy auf dem Tisch abgelegt, klingelte es und Maria rief mich an.

„Was ist mit deinem Vater?“, wollte sie ohne Begrüßung sofort erfahren.

Mit knappen Worten schilderte ich ihr alles, was sich seit meinem schnellen Verschwinden aus dem Büro ereignet hatte.

„Ich werde gleich morgen früh mit Herrn Schmitt reden“, sicherte Maria zu. „Da es seiner Mutter im letzten Jahr auch nicht so gut ging, wird es sicherlich keine Probleme geben.“

„Maria, habe ich dir schon einmal gesagt, dass du die beste Kollegin auf der Welt bist?“, fragte ich.

„Irgendwo habe ich das schon einmal gehört“, lachte sie. „Aber du bist auch nicht ohne. Ich drück dich und mach dir nicht so viele Gedanken, das wird bestimmt wieder“.

Tief atmete ich aus. „Das hoffe ich wirklich und nochmals dankeschön. Du hast was gut bei mir.“

„Quatsch, ich bin froh, wenn ich dir auch mal etwas zurückgeben kann. Halt mich auf dem Laufenden und tschüss“, beendete sie unser Gespräch.

Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück und kuschelte eng an David, der gerade Platz genommen hatte. Kater Rolli drückte sich an meine Beine, denn er spürte genau, mit Frauchen stimmte irgendetwas nicht. Völlig gleich, was im Fernsehen lief, nur der gemeinsame Moment war wichtig und tat mir so gut.

Am nächsten Tag fuhren David und ich gemeinsam ins Krankenhaus. Mein Dad hatte Gesellschaft von einem rüstig wirkenden Rentner bekommen und die beiden unterhielten sich, als wir nach dem Anklopfen das Zimmer betraten.

„Hey Dad, dir scheint es ja gut zu gehen“, begrüßte ich ihn.

„Hallo, ich bin Nadja, Bernds Tochter, und das ist David, mein Mann“, stellte ich uns dem Herrn vor.

„Hallo, ich bin der Rudi“, erwiderte er freundlich.

Hey, Rudi und Bernd“, begrüßte David die beiden.

„Hallo Rudi, schön dich kennenzulernen“, nickte ich in seine Richtung und hängte den mitgebrachten Bademantel an den dafür vorgesehenen Haken an der Wand.

„Du siehst schon etwas besser aus“, lächelte ich Dad an.

„Dank der tollen Medis geht´s mir auch schon viel besser“, zwinkerte er. „Toll, dass du meinen Lieblingsschwiegersohn mitgebracht hast.“

„Ich muss ja schließlich mal nach dir sehen, damit du nicht nur Blödsinn machst“, erwiderte David.

„Was hat der Arzt denn gemeint? Sind deine Blutwerte schon da?“, wollte ich wissen.

„Ich habe ihn noch nicht gesehen“, zuckte Dad mit den Schultern. „Aber Schwester Anika meinte, dass im Moment viel los sei.

Bestimmt melden die sich noch.“

„Ich mach mich mal auf die Suche. Vielleicht bekomme ich etwas heraus“, teilte ich mit und verschwand aus der Tür.

David würde die beiden sicherlich solange unterhalten. Dass noch immer kein Arzt bei meinem Vater war, ließ mich unruhig werden. Schließlich war er mit akutem Nierenversagen eingeliefert worden und nicht mit einem Schnupfen. Wie konnte es nur sein, dass außer der Medikamentenabgabe nichts unternommen wurde?

Beim Schwesternzimmer angekommen klopfte ich an die offenstehende Tür und blickte hinein. Ein Pfleger drehte den Kopf zu mir und kam auf mich zu.

„Hallo, ich bin Nadja Sommer, die Tochter von Bernhard Sommer in Zimmer 318“, stellte ich mich vor. „Gestern wurde bei meinem Vater Blut abgenommen und aufgrund dieser Ergebnisse sollte entschieden werden, ob er eine Operation benötigt oder nicht.“

Wissend nickte der Mann mir zu. „Und Sie möchten nun wissen, ob die Ergebnisse bereits da sind, richtig?“

„Ganz genau“, bestätigte ich. „Zudem würde ich, wenn möglich, noch mit dem Arzt sprechen wollen.“

„Sie haben Glück“, erklärte er. „Doktor Gläser müsste in den nächsten zehn bis fünfzehn Minuten zur Visite ins Zimmer Ihres Vaters kommen.“

„Vielen Dank für die Auskunft“, bedankte ich mich mit einem Lächeln. „Dann werde ich ins Zimmer gehen und warten.“

Zurück im Zimmer informierte ich alle, dass der Arzt in Kürze erscheinen würde und wir dann sicherlich die weiteren Schritte bereden könnten. Während wir warteten, plauderten wir zu viert über dieses und jenes, um die Zeit zu überbrücken.

Etwa zehn Minuten später, nach einem knappen Anklopfen, öffnete sich die Tür und Doktor Gläser, gefolgt von zwei Männern und zwei Frauen, trat ein. Er begrüßte alle im Raum, bat David und mich, das Zimmer zu verlassen, und schritt auf Rudis Bett zu.

„Ich würde aber gerne meine Tochter und ihren Mann dabeihaben“, stoppte Dad David und mich am Hinausgehen.

„Von mir aus können die beiden auch im Zimmer bleiben“, stimmte Rudi mit ein. „Ich habe nichts zu verbergen und mir ist es gleich, wer im Raum ist.“

Der Arzt blickte leicht irritiert in die Runde, nickte stumm in unsere Richtung und wandte sich weiter Rudi zu.

So sehr ich auch versuchte, nicht zuzuhören, so unmöglich war es, nicht mitzubekommen, dass Rudi an einem Struma litt und am Montag operiert werden würde. Da meine Oma ebenfalls unter einer vergrößerten Schilddrüse gelitten hatte, konnte ich den Begriff sofort zuordnen.

Anschließend schritt der Tross ans Bett meines Dads.

„Herr Sommer, Ihre Kreatinin- sowie die Cystatin-C-Werte sind massiv erhöht. Wir werden Sie gleich morgen früh operieren“, brachte es Doktor Gläser ohne Umschweife auf den Punkt.

„Wir planen, Ihnen sogenannte Harnleiterschienen in die Nieren zu legen, damit der Urin wieder abfließen kann.“

Dad lag völlig still in seinem Bett und starrte den Arzt an.

„Wie lange müssen diese Schienen dortbleiben?“, fragte ich den Doktor.

„Das lässt sich im Voraus nicht genau festlegen“, lautete die Antwort. „Bei der Sonologie konnten wir nicht alles genau sehen und wissen somit nicht, was uns erwartet. Ich rechne jedoch mit einer guten Woche. Aber keine Angst, das bekommen wir hin, Herr Sommer“, stellte er fest und drückte kurz auf die Füße meines Vaters. Danach drehte er sich um und verließ samt seiner Gefolgschaft das Zimmer.

Noch immer lag Dad stumm auf dem Bett.

„Hast du verstanden, was der Arzt gesagt hat?“, fragte ich ihn vorsichtig.

„Nicht so ganz“, folgte die bereits vermutete Antwort.

„Sie werden dich morgen operieren und dir dabei kleine Schläuche in die Nieren legen, die dann den Urin statt in die Blase hinausleiten“, versuchte ich zu erklären. „Diese Schläuche bleiben dann etwa eine Woche dort, bis alles wieder normal ist und werden dann wieder entfernt.“

Mein Vater rollte mit den Augen.

„Du brauchst gar nicht so zu schauen!“, schimpfte ich ihn.

„Wärst du gleich bei den ersten Schmerzen zum Arzt gegangen und hättest dich nicht seit Weihnachten mit Schmerzmitteln betäubt, wäre es vielleicht nicht nötig.“

„Ja, wärst du mal lieber freiwillig zum Arzt gegangen“, mischte sich nun auch David ein.

„Pahhhh“, prustete Dad säuerlich vor sich hin. „Oder sie hätten mich vor Weihnachten schon operiert.“

„Hätte, hätte, Fahrradkette“, bäffte ich wie ein kleines Kind.

„Das weiß keiner, aber nun ist es so und da musst du durch.

Wichtig ist nur, dass es dir bald wieder besser geht und dass du für die Zukunft etwas daraus lernst.“

„Ja, ja, hör auf deine kluge Tochter“, sprach Rudi laut zu meinem Vater herüber.

„Danke Rudi, wenigstens ein Vernünftiger im Zimmer“, lächelte ich ihn an.

„Und ich dachte schon, der einzig Vernünftige wäre ich“, grinste David.

„Gerade du“, zwinkerte mein Dad. „Du hast meine Tochter geheiratet und sprichst von Vernunft.“

Gemeinsam lachten wir laut los und Rudi stimmte mit ein.

„Shit, jetzt habe ich doch tatsächlich die Patientenverfügung vergessen!“, klopfte ich mir mit der flachen Hand an die Stirn.

„Das ist nicht schlimm“, beruhigte mich Dad sofort. „Wir werden schon noch eine machen.“

„Es tut mir leid. Ich werde mich auf jeden Fall noch darum kümmern“, versprach ich. „Aber jetzt werden wir wieder gehen, so kannst du dich ausruhen. Ich sehe dir ganz genau an, dass du müde bist“, drückte ich die Hand meines Vaters. „Sag mal, war Kuni heute schon hier?“

„Leider ja“, kam knapp über seine Lippen.

„War das die dauerplappernde, kreischende Katastrophe?“, wollte Rudi erfahren.

„So wie du sie beschreibst, hast du den Nagel auf den Kopf getroffen“, stimmte David zu.

„Warum geht´s meinem Berndi nur so schlecht? Hab ich nicht alles getan? Hat die dauernd gerufen“, äffte Rudi sie nach.

„Ich hab zu ihr gesagt, wenn sie mit dem Gekreische nicht aufhört, kann sie gleich wieder gehen“, knirschte Dad durch die Zähne.

Laut lachte ich los. Nur zu gut konnte ich mir Kunigundes Spektakel im Krankenzimmer vorstellen. Zwar lag Dad hier, aber sie war die Person, deren Tragik nicht zu überbieten war.

„Trotzdem werde ich sie später anrufen“, stellte ich fest. „Ach, fast hätte ich es vergessen. Ich soll dir liebe Grüße von Elsbeth, Olaf, Frank und natürlich von Tim ausrichten.“

„Du hast nicht wirklich gleich alle angerufen?“, rollte Dad schon wieder die Augen, während David still nickte.

„Klar hab ich das“, starrte ich ihn an. „Die werden schon den Rest der lieben Verwandtschaft informieren. Und wenn du nicht darauf hörst, was die Ärzte zu dir sagen, kommt dich jeden Tag einer von ihnen besuchen“, grinste ich frech.

„Bloß das nicht!“, rief er mit gespieltem Entsetzen.

„Also dann bis morgen, ihr beiden und schlaft gut“, verabschiedete ich mich.

„Und lasst die Nachtschwestern in Ruhe“, zwinkerte David den beiden zu.