Mein Sommer mit Zelda - Juliana Weinberg - E-Book

Mein Sommer mit Zelda E-Book

Weinberg Juliana

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Beschreibung

Endlose Tage an der Riviera und die Freundschaft mit den Fitzgeralds Die aufgeweckte Mylène findet Arbeit in einem kleinen, aber feinen Hotel an der südfranzösischen Riviera. Dort lernt sie nicht nur den ruhigen Medizinstudenten Sébastien kennen, zudem sie sich sofort hingezogen fühlt, sondern auch das glamouröse Schriftsteller-Ehepaar Zelda und F. Scott Fitzgerald. Mylène und Zelda freunden sich schnell an und die Schriftstellerin bietet ihr einen Job als Kindermädchen. Mylène zieht zu den Fitzgeralds in deren Haus an der Riviera, und wird in den Strudel des glamourösen Lebens gezogen. Sie verliert sich in den rauschenden Festen und gerät immer wieder zwischen die Fronten von Zelda und Scott, die eine stürmische Ehe führen. Die Freundschaft der beiden Frauen wird auf die Probe gestellt. Und dann ist da noch Sébastien, der Mylène neues Leben an der Seite der Fitzgeralds mit Argwohn betrachtet ...  Die goldenen 1920er an der französischen Küste: Sonne, Glanz, Glamour und tiefblaues Wasser  

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Mein Sommer mit Zelda

Die Autorin

JULIANA WEINBERG wurde in Neustadt an der Weinstraße geboren. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Kindern im Pfälzer Wald. Neben dem Schreiben ist ihr Beruf als Lehrerin ihre große Erfüllung. 

 

Von Juliana Weinberg ist in unserem Hause bereits erschienen: Audrey Hepburn und der Glanz der Sterne Josephine Baker und der Tanz des Lebens 

Juliana Weinberg

Mein Sommer mit Zelda

Mit den Fitzgeralds an der Riviera

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage November 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Ilina Simeonova / Arcangel;www.buerosued.de Autorinnen-Foto: © Kai MehnE-Book Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-8437-2828-7

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Nachwort

Zitate

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

 

 

The loneliest moment in someoneʼs life is when they are watching their whole world fall apart, and all they can do is stare blankly.F. Scott Fitzgerald

Der einsamste Moment im Leben eines Menschen ist der, in dem er zusieht, wie seine ganze Welt zusammenbricht, und in dem er nichts anderes tun kann, als ins Leere zu starren.

Prolog

Nyon, Genfer See, August 1930

Jules und Hélène liefen lachend voraus. Mylène hatte alle Mühe, ihnen zu folgen, und strauchelte ein paarmal im hohen Gras. Der Genfer See lag klar und glatt wie ein Spiegel vor ihnen, eingerahmt vom beeindruckenden Massiv der Alpen, deren Spitzen selbst im Hochsommer weiß gezuckert aussahen.

»Ich hab dich«, rief Mylène und hob ihren fünfjährigen Sohn in die Luft. Er quietschte vor Vergnügen, als sie ihn herumwirbelte. Seine Wangen waren heiß und rot, und seine Augen, blaugrau wie die seines Vaters, glänzten. Für die Kinder waren die Urlaubstage am See paradiesisch. Mylène küsste ihn auf die verschwitzte Kinderstirn, dann ließ sie ihn zu Boden und sah sich nach ihrer dreijährigen Tochter um, die ein paar Meter entfernt Gänseblümchen pflückte; das Fangspiel hatte sie bereits wieder vergessen.

»Sieh nur, Maman.« Jules deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die gezackte Kette der Gebirgsformation, die sich jenseits des Sees erhob. »Das sieht aus wie Schnee, aber wie kann das sein?«

Mylène legte einen Arm um ihn. »In den Bergen ist es im Sommer viel kälter als unten im Tal, deshalb liegt hier oft Schnee.«

Jules lauschte ihren Worten konzentriert. In diesem Moment sah er seinem Vater sehr ähnlich, was Mylène schmunzeln ließ. Hoffentlich konnte sich ihr Mann bald von seiner Korrespondenz loseisen und zu seiner Familie stoßen, denn der Urlaub tat auch ihm merklich gut.

Mylène atmete tief durch und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die ihre Haut liebkosten, und den Anblick der Ausflugsdampfer vor dem wildromantischen Panorama. Sie bemühte sich, die Landschaft tief in sich aufzunehmen und im Gedächtnis zu verwahren, um sie später für eine ihrer Geschichten verwenden zu können.

»Wo ist Hélène schon wieder?« Umsichtig, wie er als großer Bruder war, schaute Jules sich um, während Mylène aus ihren Träumereien schrak. Notizen für ihre Geschichten konnte sie sich am Abend machen, jetzt standen die Kinder im Vordergrund. Hektisch suchte sie mit den Augen die Wiese ab, doch ihr Sohn hatte Hélène bereits entdeckt und rannte auf sie zu.

Die Kleine, die in einem niedlichen, erdbeerroten Sommerkleid steckte und einen Strohhut auf den dunklen Locken trug, hatte sich zu einer Frau gesellt, die unter einer weit ausladenden Weide saß und malte. Ohne sich stören zu lassen, setzte sie Pinselstrich für Pinselstrich auf die Leinwand.

»Hélène!«, rief Jules und rannte auf seine Schwester zu, doch Mylène hielt ihn am Kragen fest.

»Du störst die Frau, sei nicht so laut!«

Die Malerin schien jedoch keinen von ihnen zu bemerken. Den Glockenhut tief über das Gesicht gezogen, beschäftigte sie sich mit ihrem Gemälde. Als Mylène näher kam, bemerkte sie, dass Gesicht und Hals der Frau von einem feuerroten Ausschlag verunstaltet wurden. Die Arme litt gewiss Höllenqualen.

»Hier, Madame, für Sie!« Hélène hielt der Frau in ihrer pummeligen Kleinkinderhand einen Strauß Gänseblümchen hin und strahlte sie an. Sie war in dem Alter, in der sie Fremden vorbehaltlos und unerschrocken gegenübertrat. Mylène nahm ihre Tochter rasch an die Hand und zog sie ein Stück weg.

»Pardon, Madame, wir wollten nicht aufdringlich sein.«

In diesem Moment wandte sich ihnen die Frau erstmals zu, der Pinsel schien in der Luft erstarrt.

»Zelda?«, drang die besorgte Stimme einer weiteren Frau zu ihnen. Mylène und die Kinder drehten sich um; eine junge Krankenschwester in gestärkter Tracht und mit einem Häubchen auf den Haaren saß etwas abseits auf einem Stuhl. Offensichtlich handelte es sich um die Begleiterin der Malerin, die sichergehen wollte, dass nichts die ihr Anvertraute verstören konnte.

Zelda … Als Mylène den Namen hörte, geriet ihr Inneres in Aufruhr, Gefühle und Erinnerungen an sonnendurchflutete Tage voller Müßiggang an der Riviera, Nächte unter schwarzem Sternenhimmel drangen in ihr Bewusstsein. Leidenschaft und Schmerz eines lang vergangenen Sommers. So plötzlich an diese Zeit erinnert zu werden erschien ihr im Nachhinein, als werfe sie einen verbotenen Blick auf einen Stapel alter, vergilbter Fotografien.

»Maman?« Jules und Hélène schienen ihre Verunsicherung zu spüren, denn sie umklammerten je einen ihrer Arme und sahen fragend zu ihr auf.

»Zelda«, murmelte sie, ohne auf die Kinder einzugehen. »Bist du es wirklich?«

Die Malerin musterte sie einen Moment mit ausdruckslosem Gesicht, dann glitt ein Funkeln des Erkennens über ihre Züge. »Mylène?«

Mylène lächelte, insgeheim schockiert über das einfache, geflickte Kleid und Zeldas entzündete Haut, die unerträglich brennen musste.

»Ja, ich bin es. Ich wusste nicht, dass du auch in der Schweiz bist.« Sie wollte nach Zeldas Ehemann Scott fragen, brach jedoch ab. Seit Längerem hatte sie keine Klatschspalten mehr gelesen und war nicht auf dem Laufenden, ob das einstige Glamourpaar Zelda und Scott überhaupt noch zusammen war. Ihr Alltag mit den Kindern und ihren Geschichten nahm sie zu sehr in Anspruch, als dass sie Zeit gefunden hätte, den Lebensweg der beiden weiterzuverfolgen. Sie hatte einen einzigen Sommer mit ihnen zusammen verbracht, dann hatten sich ihre Wege getrennt.

Zelda deutete auf eine Bank, die nah am Ufer des Sees stand, und holte sich mit einem kurzen Blick das Einverständnis der Krankenschwester, sich mit Mylène dorthin begeben zu dürfen.

Verwirrt setzte sich diese, Hélène auf dem Schoß, Jules dicht an sie gedrängt, neben Zelda auf die Bank.

»Wie geht es dir, Zelda?« Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, hätte sie sie am liebsten gleich wieder zurückgenommen. Dass es Zelda schlecht ging, war offensichtlich. Zwar war sie noch immer schön – so zierlich und agil wie eh und je, und das Haar quoll noch immer wie dunkles Gold unter dem Hut hervor –, doch wirkte etwas in ihr gebrochen, so als habe man einem schillernden Schmetterling einen Flügel halb abgetrennt und notdürftig wieder angenäht.

»Mal so, mal so«, antwortete Zelda ausweichend. Ihr Blick verlor sich in der Ferne, schien das ferne Gebirge in seiner kühlen Pracht zu fixieren, bevor er wieder ziellos umherschweifte. »Ich bin seit einigen Monaten in der Klinik hier untergebracht. Les Rives de Prangins. Zum Glück habe ich wieder Ausgang, in Begleitung natürlich«, sie sah rasch zu der Krankenschwester hinüber, die regungslos auf ihrem Stuhl saß, sie aber dennoch scharf beobachtete. »Die Zeit in der geschlossenen Abteilung war furchtbar. Sie haben mir verboten, zu schreiben und zu malen.«

Mylène fühlte Zeldas Schmerz, als wäre es ihr eigener. Sie konnte gut nachvollziehen, welch eine Tragödie es für die Künstlerin in Zelda sein musste, sich nicht ausdrücken zu dürfen. Wahrscheinlich war es, wie den Kopf unter Wasser gedrückt zu bekommen und nicht atmen zu können.

»Les Rives de Prangins ist sündhaft teuer«, vertraute Zelda ihr an. »Scott muss viele Kurzgeschichten schreiben und verkaufen, um all das finanzieren zu können.«

»Schreibt er auch wieder an einem Roman?« Mylène erinnerte sich der Szenen, die sich damals in der Villa über den Felsen abgespielt hatten, als Scott den Großen Gatsby geschrieben hatte, seiner Frustration, wenn er sich in seinem Schreibfluss blockiert fühlte, seiner Trinkerei, um ebendiesen Frust zu betäuben, seiner Schlaflosigkeit, der Zankereien zwischen ihm und seiner Frau.

»Scott schreibt immer an einem Roman.« Zelda nahm geistesabwesend ein Gänseblümchen entgegen, das Hélène ihr hinhielt. »Oder er versucht es zumindest. Seit dem Großen Gatsby hat er allerdings kein glückliches Händchen mehr fürs Schreiben.«

Auch Zelda schien das Glück ihrer früheren Lebensjahre abhandengekommen zu sein.

Die Tatsache, dass sie in einer Nervenheilanstalt gelandet war, überraschte Mylène nicht. Wieder überschwemmten sie Erinnerungsfragmente an die Zeit vor sechs Jahren: die rauschenden Partys auf der Steinterrasse der alten Villa hoch über dem Meer, Gelächter, das durch die laue Abendluft schallte …, aber auch die Anspannung und die Tränen.

»Und was machst du hier? Deine Kinder sind entzückend.« Zelda versuchte, Konversation zu machen, aber Mylène spürte, dass sie aus der Übung war.

»Wir machen hier Urlaub. Mein Mann müsste gleich nachkommen. Das sind Jules und Hélène.« Sie strich ihren Kindern über die Haare und wagte es dann doch, nach Scott zu fragen: »Ist Scott … auch hier?«

Ein trauriges Lächeln umspielte Zeldas Lippen. »Scott wohnt im Hotel, um in meiner Nähe zu sein. Aber im Moment darf er mich nicht besuchen, meine Ärzte finden das nicht sinnvoll.«

Mylène konnte sich gut vorstellen, dass es Zelda durcheinanderbrachte, Besuche von Scott zu empfangen. Dieser ewige Kreislauf aus Trinken und Schreiben, Schreiben und Trinken, in den Scott bereits vor sechs Jahren verstrickt gewesen war, dauerte bestimmt noch immer an. Er und Zelda schienen für immer in dieser Achterbahn aus Hoffnung und Selbstzerstörung gefangen.

»Und Scottie?«, fragte sie leise. Hélène legte den zerzausten Kopf an ihre Schulter und schloss die Augen, wahrscheinlich wurde sie allmählich müde von der frischen Luft und der Bewegung. Mylène wollte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, von ihren Kindern getrennt zu sein, so wie Zelda. Allein der Gedanke war ihr unerträglich. Wie alt Scottie jetzt wohl war? Acht oder neun? In jenem Sommer war sie ein Kleinkind gewesen.

»Scottie ist in Paris mit ihrem Kindermädchen.« Zeldas Stimme klang brüchig, und ihre Augen schienen wässrig. Sie berührte die brandrote Haut ihrer Wange, wie um sich zu kratzen, ließ es dann aber bleiben. »Wir wollten nicht, dass sie die Schule wechseln muss. Im Juni durfte sie mich das erste Mal hier besuchen, und dann noch einmal vor ein paar Tagen.«

Aus ihrem sehnsüchtigen Tonfall schloss Mylène, dass der Besuch nicht sehr erfolgreich abgelaufen war, was sie nicht überraschte. Seltene Kontakte zwischen Mutter und Kind, die Mutter lediglich ein blasser, kranker Abklatsch ihrer selbst – das schadete jeder noch so liebevollen Beziehung. Mylène erinnerte sich des pausbäckigen Kleinkinds, das sie im Sommer vor sechs Jahren gehütet hatte. Damals war die Welt noch in Ordnung. Nein, korrigierte sie sich im Stillen, auch damals zeigte das Glück der berühmten Familie bereits feine Risse, die die glänzende Oberfläche lädierten.

»Ich hoffe, es geht ihr gut in Paris«, murmelte sie, um einen Hauch von Optimismus auszustrahlen.

»Gewiss.« Zelda sank wieder in sich zusammen und starrte regungslos auf den See. Sie wirkte auf einmal völlig abwesend, so als schotte sie sich von der Außenwelt ab und ließe nur ihre äußere Hülle auf der Bank zurück. Von hinten näherte sich die Krankenschwester.

»Zelda, wir sollten langsam zurückgehen«, sagte sie leise.

»Oh!« Zelda schrak auf wie aus einem Traum. »Ja, natürlich.« Doch sie machte keinerlei Anstalten, aufzustehen und ihre Malsachen zusammenzusuchen, sondern blickte Mylène durchdringend an, was einen seltsamen Kontrast zu ihrer vorherigen Selbstversunkenheit darstellte. »Wo ist dein Mann, Mylène? Ihr wart so ein hübsches Paar.«

»Er ist noch im Hotel, er muss ein paar Briefe schreiben. Ich denke, dass er gleich kommt. Wir wollten essen gehen.« Sie biss sich auf die Lippen, denn es kam ihr wenig feinfühlig vor, von alltäglichen und doch so schönen Vorhaben wie einem Restaurantbesuch zu erzählen, wo derlei für Zelda unmöglich war.

Zelda summte eine kleine Melodie vor sich hin, die Mylène als einen Hit des Jahres 1924 erkannte, jenes verheißungsvollen und schicksalhaften Jahres, in dem sich die Welt für sie schneller drehte, bis sie stillzustehen schien.

»Sechs Jahre ist es her, nicht wahr?«, sinnierte Zelda. Die Krankenschwester berührte sie an der Schulter, doch sie ignorierte sie. »Es kommt mir vor wie gestern. Du und dein Liebster wart so jung und unschuldig und frisch wie Morgentau, während Scott und ich uns bereits in diesem Strudel aus Euphorie und Selbstzerfleischung befanden … Es konnte nicht gut gehen.«

»Wir müssen wirklich zurück«, insistierte die Schwester nun und griff nach Zeldas Ellenbogen. Seufzend erhob sie sich und packte ihre Pinsel zusammen.

Sich einfach sang- und klanglos zu verabschieden erschien Mylène mit einem Mal unmöglich. »Wir gehen ein Stück mit.«

Jules half Zelda stolz, die Staffelei zu tragen, und Hélène bestand darauf, die Pinsel zu halten.

»Grüße Scott und Scottie, wenn sie wieder zu Besuch kommen«, sagte Mylène, bereute aber auch dies sofort wieder. Wer wusste schon, wann die beiden Zelda wiedersehen durften? Es war sehr mühevoll, ein unbeschwertes Gespräch in Gang zu halten, wenn man so viele Klippen umschiffen musste. »Mein Mann könnte dir einen Arzt empfehlen, der sich deinen Ausschlag ansieht, bestimmt gibt es ein Mittel dagegen …«

Zelda begann sich zu kratzen, was flammend rote Striemen in ihrem Gesicht hinterließ und sie vor Schmerz zusammenzucken ließ. »Das ist nicht nötig, meine Liebe … Docteur Forel hat die Ekzeme bereits wochenlang unter dicken Verbänden verborgen.«

»Hat es geholfen?«, fragte Mylène misstrauisch.

»Nein. Es hat wie Feuer gebrannt und mich wahnsinnig gemacht. Ich habe es kaum noch ausgehalten. Daraufhin haben sie mich mit Tabletten ruhiggestellt und an meinem Bett festgebunden.« Zelda klang so unbeteiligt, als erzähle sie von einem Spaziergang am See. Mit einem Mal wünschte sich Mylène nun doch, sich möglichst rasch zu verabschieden, sie sehnte sich nach der Normalität ihres Lebens, nach der Geborgenheit, die ihr Mann ihr und den Kindern schenkte. Wo blieb er nur?

»It ainʼt gonna rain no mo …«, sang Zelda plötzlich munter vor sich hin. Mylène erkannte das Lied sofort. Es war in jenem Sommer ebenfalls ein Hit gewesen, und sie hatten es in Endlosschleife auf dem Grammofon gehört. Zeldas Stimmungsschwankung von melancholisch zu sorglos-beschwingt verwirrte sie, aber bereits damals war sie immer für eine Überraschung gut gewesen.

»Warum singt die Frau?«, flüsterte Jules, der ihre Hand ergriff. Sie schüttelte den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass sie seine Fragen später beantworten würde. Mit ihrem Sohn an der Hand und ihrer Tochter auf dem Arm ging sie ein Stück des Wegs neben Zelda her, die noch jede Zeile des Songs auswendig kannte und sang, als sei sie allein unterwegs. Mylène hatte kein Auge mehr für die malerische Landschaft, der stille, in der Sonne leuchtende See, die mit Schnee betupften Gipfel der Berge zerflossen zu einem pastellfarbenen Hintergrundgemälde, während ihre Gedanken mehr und mehr ins Jahr 1924 zurückdrifteten, sie in den Sog ihrer lange verblassten Erinnerungen zogen …

Kapitel 1

Hyères, März 1924

Eine heftige Windbö, die vom Meer heranwehte, trieb eine alte Zeitung über den Weg, die an ihren blank gewienerten Schuhen hängen blieb, noch dazu wirbelten Schmutz und Staub auf.

»Verflixt«, murmelte Mylène nervös und bückte sich, um die Zeitung aufzuheben. Als sie sich nach einem Abfalleimer umsah, entdeckte sie auf den verstaubten Seiten des Blattes das Porträt eines glamourösen Paares, offenbar der Mittelpunkt einer Party: Die Augen aller Gäste fixierten den gut aussehenden Mann mit dem intensiven Blick und die zierliche, elfenartige Frau an seiner Seite. Die Kronleuchter über ihnen setzten die beiden in Szene, als seien sie ein Paar auf einer Bühne.

»F. Scott und Zelda Fitzgerald waren wieder einmal der strahlende Mittelpunkt eines rauschenden Festes im Ritz-Carlton in New York City, allerdings beklagten Hotelmitarbeiter, dass sie ihr Zimmer in einem recht desolaten Zustand hinterließen – überall lagen leere Flaschen, kaputte Gläser, zersprungene Lampenschirme«, las sie fast gegen ihren Willen. Sie sollte sich besser um den Zustand ihrer Schuhe kümmern, als in den Klatschspalten der Zeitung zu versinken. »Nach diesem ausschweifenden Leben befragt, das das Schriftstellerehepaar führt, äußerte Fitzgerald, er wüsste nicht, ob er und seine Gattin real seien oder lediglich Romanfiguren, wie sie in seinen Geschichten vorkommen.«

Mylène riss sich vom Anblick des amerikanischen Traumpaares los, so sehr sie die Neuigkeiten auch faszinierten, und stopfte die Zeitung in einen Papierkorb. Rasch zerrte sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und rieb ihre verschmutzten Schuhe, so gut es ging, sauber. Wieso musste ihr solch ein Missgeschick geschehen? Es war so wichtig, im Grimmʼs Park Hotel einen guten Eindruck zu hinterlassen!

Von außen sah das in Hyères gelegene Hotel so aus, wie Mylène sich ein Schloss vorstellte. Sie war noch nie in Paris gewesen, ja, sie hatte mit ihren zweiundzwanzig Jahren noch nie die Region Provence-Alpes-Côte d’Azur verlassen, aber das Bild, das sie sich vom Palast des Sonnenkönigs in Versailles machte, glich dem, das sie vor Augen hatte.

Die klassizistische Fassade wirkte durch ihren hellgelben Anstrich freundlich und einladend, die beiden seitlich vorgesetzten Flügel und die korinthischen Säulen, die links und rechts den Eingang flankierten, strahlten eine vornehme Würde aus. Auf dem Dach befanden sich steinerne Brüstungen, die in Mylène den Wunsch wachriefen, dort oben zu stehen und bis zum Mittelmeer zu schauen. Sofort machte sie sich eine geistige Notiz – Luxushotel, Dachterrasse, Meerblick –, die sie bei nächster Gelegenheit in ihr kleines Büchlein eintragen würde, das sie immer bei sich trug. Wenn man wie sie den Kopf voller Fantasiegestalten und Geschichten hatte, die sich fast ohne ihr Zutun entwickelten, musste man sich alles aufschreiben, um nichts davon zu vergessen.

Mit klopfendem Herzen trat sie durch die Eingangstür in die imposante Halle. Wo sie nur hinsah, entdeckte sie Marmor, Säulen, prunkvolle Ölgemälde und kristallene Leuchter, die von der hohen Decke hingen, das Tageslicht einfingen und es funkelnd zurückwarfen.

Es herrschte eine fast gespenstische Stille in der Halle, so als sei das Hotel unbewohnt. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat an die Rezeption, um sich bemerkbar zu machen und auf die Klingel zu drücken. Doch in diesem Moment kam bereits ein junger Concierge aus einem hinter dem Empfang gelegenen Raum, und gleichzeitig erschienen einige betagte Engländerinnen wie ein Schwarm schnatternder Vögel. Sie belagerten den Tresen und erkundigten sich nach Restaurants, obwohl Mylène vor ihnen da gewesen war. Der junge Mann hinter dem Tresen lächelte ihr entschuldigend zu.

Während sie wartete, betrachtete sie sich unbehaglich in der Spiegeltür zu dem kleinen Dienstraum, aus dem der Concierge gekommen war. Sie trug ein einfaches beiges Kleid mit einer Strickjacke, dazu einen altmodischen Hut, der früher ihrer Großmutter gehört hatte, und weiße Handschuhe. Ihre Haare, die sie in kinnlange Wellen gelegt hatte, hatten die Farbe von dunklen Kirschen, und ihre Sommersprossen leuchteten wie unzählige Zimttupfer in ihrem hellen Gesicht. Verlegen verstaute sie ihr Halstuch, das ihr auf dem Weg nach Hyères als Sitzunterlage gedient hatte und das nach muffigen Hühnern roch, in ihrer Tasche. Ich gehöre nicht hierher, dachte sie, diese Umgebung ist viel zu vornehm für mich. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass sie ja zum Arbeiten und nicht zum Urlaubmachen hergekommen war.

»Vielen Dank, junger Mann, dann versuchen wir es mit dem Chez Maurice.« Endlich waren die Engländerinnen zufrieden und verließen das Hotel, wobei sie eine Wolke schweren Lavendelparfüms hinterließen.

Der Concierge seufzte erleichtert auf, und Mylène musste schmunzeln, obwohl sie sich noch immer beklommen fühlte. Armand Goutier, entzifferte sie auf dem Namensschild an der dunkelroten Weste des Hotelangestellten.

»Was kann ich für Sie tun, Mademoiselle?«

»Ich habe einen Termin beim Hoteldirektor, bei Monsieur Guillaud.« Wie zur Bestätigung zog sie den zerknitterten Brief aus ihrer Handtasche, in dem der Direktor ihr den heutigen Termin bestätigt hatte. Sie wünschte, sie hätte eine andere Möglichkeit gehabt, in die Stadt zu gelangen, als auf dem wackligen Viehtransporter ihres Nachbarn Hervé. Ob der Angestellte den Geruch nach Hühnerausscheidungen wahrnehmen konnte, der dem Tuch in ihrer Handtasche entströmte?

»Oh, natürlich!« Armands Gesicht hellte sich auf. »Ich weiß Bescheid! Monsieur le Directeur erwartet Sie. Einen Moment, ich rufe Rosalie, sie wird Sie nach oben ins Büro bringen.«

Der Concierge läutete die Glocke, und einige Momente später eilte eine junge Frau in Mylènes Alter herbei, die eine Hausmädchentracht mit weißer, rüschenbesetzter Schürze trug. Das dunkle Haar hatte sie mithilfe vieler Haarnadeln zu einem strengen Chignon zusammengesteckt.

»Salut, ich darf dich doch duzen, oder?«, verfiel Rosalie sogleich in lockeren Plauderton, als sie ihr voran über den dicken, alle Geräusche schluckenden Teppich ging und dann die Treppe hochstieg. »Ich freue mich, dass du hier bei uns arbeiten willst, im Moment sind wir nämlich nicht so viele, weißt du, das Hotel ist wie ausgestorben, da braucht Monsieur eigentlich nicht so viel Personal.«

Mylène wartete, bis Rosalie zwischendurch Luft holte, um zu bemerken: »Ich hoffe, ich bekomme die Stelle überhaupt.« Sie musste die Stelle einfach bekommen, sie hatte keine Ahnung, wie sie sich sonst über Wasser halten sollte. In Riboux, wo sie herkam, konnte sie auf keinen Fall bleiben, dort gab es nichts für sie zu tun. Außer einigen wenigen einsamen Gehöften hatte der kleine Ort nichts zu bieten. Aber hätte Monsieur Guillaud eine Stellenanzeige aufgegeben, wenn er keine Arbeitskraft brauchte?

»Bestimmt«, beruhigte Rosalie sie. »Hoffen wir das Beste. Wenn du bleibst, ziehst du bestimmt in mein Zimmer. Wäre das nicht lustig zu zweit?«

Mylène hatte sich in den letzten Monaten so einsam gefühlt, dass sie sich nur schwer vorstellen konnte, mit diesem lebensfrohen Mädchen eine Unterkunft zu teilen. Doch sie brauchte erst einmal eine Zusage, bevor sie sich darüber Gedanken machen konnte.

»Die Arbeit hier ist wirklich nicht allzu anstrengend.« Rosalie bog schwungvoll um die Ecke, Mylène hatte Mühe, ihr zu folgen. »Vor allem im Frühling und Sommer, wenn nichts los ist. Die Gäste sind alt, um nicht zu sagen, uralt.« Sie zog eine Grimasse in Mylènes Richtung. »Da ist niemand Interessantes dabei, falls du vorhast, dich nach einem Ehemann umzusehen.«

»Das habe ich nicht vor.« Nichts lag ihr nach den schweren Monaten, die hinter ihr lagen, ferner. Es würde ihr vollends genügen, ein Dach über dem Kopf zu haben und die Füße wieder auf den Boden zu bekommen.

»Irgendetwas riecht hier seltsam …« Rosalie schnupperte, und Mylène lief rot an.

»Wahrscheinlich … Nun, mein Halstuch …« Sie geriet ins Stammeln, als sie auf ihre Handtasche zeigte, aus dem ein Zipfel des beigefarbenen Leinenschals hervorlugte. Sie hätte im Erdboden versinken mögen – am besten hätte sie das Tuch nach der Fahrt zwischen den gackernden Hühnern gemeinsam mit der Zeitung, die ihr um die Füße geweht war, in den Abfall geworfen! Doch das hatte sie versäumt, und nun würde der Hoteldirektor sie bestimmt nicht einstellen. Ein Zimmermädchen, das allzusehr nach Landluft roch, hatte in diesem eleganten Hotel nichts verloren. »Ein Nachbar aus meinem Heimatdorf hat mich mit nach Hyères genommen … mich und seine Hühner.«

Zu ihrer Erleichterung lachte Rosalie nur, sie schien Mylènes Geständnis nicht schlimm zu finden.

»So, hier sind wir.« Rosalie blieb vor einer Tür stehen, neben der eine Plakette mit der Aufschrift Claude Guillaud befestigt war. Wahrscheinlich sah sie Mylène ihre Aufregung an, denn sie raunte ihr zu: »Keine Angst, er beißt nicht!«, bevor sie sich umwandte und der Treppe nach unten entgegeneilte.

Zaghaft klopfte Mylène an und trat auf ein gedämpftes »Herein« hin ein. Hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus dunklem Holz saß ein Mann mittleren Alters in gestreiftem Anzug mit Weste. Die Fenster hinter ihm gaben den Blick auf die Altstadt mit ihren Befestigungsmauern und Türmen, die engen Gassen und die Parks mit den prächtigen Palmen frei. Um wie viel ansprechender die Stadt doch als ihr winziges Heimatdorf Riboux mit seiner felsigen Berglandschaft war! Sie hoffte so sehr, in Hyères ein neues Leben beginnen zu können und die Einsamkeit und den Schmerz, die sie in Riboux begleitet hatten, abzustreifen wie eine alte Haut.

»Mademoiselle Collard!« Der Direktor erhob sich, eilte um den Schreibtisch herum und begrüßte sie herzlich. »Wie schön, Sie zu sehen. Hatten Sie eine gute Anreise?«

»Ja, danke sehr.« Mylène verschwieg ihre Anreise per Viehtransport, sie wollte keinen altbackenen Eindruck machen. Wer in einem Hotel dieser Größe und dieses Ansehens arbeiten wollte, musste sicherlich weltgewandt wirken. Mit zitternden Händen schob sie ihren Schal in ihrer Handtasche ganz nach unten, um den Geruch unter Verschluss zu halten. Ihr Gesicht glühte vor Verlegenheit.

»Setzen Sie sich.« Monsieur Guillaud deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Dann wollen wir mal …« Er wurde jäh von einem ohrenbetäubenden Hämmern unterbrochen, das durch eine nur angelehnte Verbindungstür zum Nebenzimmer drang. Mylène zuckte unwillkürlich zusammen, der Direktor, der den Lärm gewöhnt schien, verzog nur schmerzhaft das Gesicht. »Verzeihen Sie, wir nutzen die Zeit, in der keine Saison ist, für Reparaturarbeiten. Sie kommen aus Riboux. Wo haben Sie vorher gearbeitet?«

»In Le Castellet, in einem kleinen Restaurant namens Les Papilles. Als Kaltmamsell.«

»Ah ja, das haben Sie in Ihrem Bewerbungsbrief geschrieben.« Monsieur Guillaud blätterte durch einen Stapel Briefe, gab dann aber die Suche auf. »Und wieso haben Sie Ihre Stelle dort aufgegeben?«

»Ich …« Gerade als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, verstärkte sich das Hämmern nebenan. Sie bemühte sich, lauter zu sprechen, um sich verständlich zu machen. »Meine Großmutter, bei der ich aufgewachsen bin, wurde krank. Schwer krank. Ich musste meine Arbeit kündigen und nach Riboux zurückkehren, um sie zu pflegen.«

»Ich hoffe, es geht ihr inzwischen wieder besser?«

Mylène senkte den Kopf. Die Trauer war noch so frisch, sie musste sich zusammenreißen und durfte sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen. Hier und jetzt war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür. »Sie ist vor Kurzem gestorben.«

»Mein Beileid«, sagte der Direktor mitfühlend. Er wartete einen Moment, wie um ihr Zeit zu geben, sich zu fassen. Sie hielt sich krampfhaft an den Henkeln ihrer Handtasche fest, als böten sie ihr Halt und Schutz gegen dieses überwältigende Gefühl der Verlassenheit, das wie eine eisige Woge über ihr zusammenschlug.

»Und Sie konnten Ihre alte Stelle nicht wiederbekommen«, stellte er dann fest.

»Nein, sie war inzwischen natürlich anderweitig vergeben.«

»Nun, dann will ich Ihnen etwas über unser Hotel erzählen.« Monsieur Guillaud räusperte sich. »Wie Sie sicher gemerkt haben, wimmelt es hier nicht gerade vor Gästen. Unsere Küste ist zwar im Herbst und Winter recht beliebt – vor allem bei wohlhabenden Engländern, die das milde Klima schätzen. In der warmen Jahreszeit jedoch bleiben die Gäste fort. Der Tourismus hat unsere Gegend noch nicht erobert, fürchte ich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich das irgendwann ändern wird. Frankreich hat so viele bezaubernde Landstriche und Küsten, was sollten die Menschen aus dem Norden hier bei uns an der Riviera verloren haben?«

Erneut fragte sich Mylène, wieso der Direktor in der Zeitung annonciert hatte, wo ihr doch jeder hier erklärte, dass kein Bedarf an weiteren Hausmädchen bestand. Furcht kroch in ihr hoch. Wo sollte sie hin, wenn sie im Hotel nicht unterkam? Sie hatte keine Menschenseele, zu der sie gehen konnte, kein Dach über dem Kopf und keinen Sou in der Geldbörse. Einer jener anfallsartig auftretenden Anfälle von Panik überkam sie urplötzlich, ließ ihr Herz klopfen wie eine Gewehrsalve.

»Trotzdem, Sie haben Glück, Mademoiselle.« Der Direktor lächelte sie aufmunternd an, so als ahne er ihr Dilemma. »Wir müssen ein Hausmädchen, das gerade ausgeschieden ist, ersetzen. Wann können Sie anfangen?«

Er schob Mylène einen maschinengeschriebenen Vertrag hinüber und reichte ihr einen Stift. Sie fühlte sich ein wenig überrumpelt, obwohl sie ihr Glück kaum fassen konnte. Sollte es ihr tatsächlich so mühelos gelungen sein, eine Arbeitsstelle mitsamt Unterkunft ergattert zu haben? Sie würde Riboux hinter sich lassen können, das enge kleine Dorf, das Haus, in dem sie ihre Jugend bei ihrer Großmutter verbracht hatte, das nun aber längst an neue Mieter gegangen war. Mit all dem Ballast, der Trauer um die geliebte Grand-mère, dem Gefühl, plötzlich entwurzelt zu sein wie ein junger Baum, der seinen ersten großen Sturm nicht überstanden hatte. Doch sie nahm auch schöne, wertvolle Erinnerungen mit, die sie hüten würde wie einen Schatz. Jedenfalls würde der Umzug nach Hyères eine große Zäsur in ihrem Leben darstellen. Nichts würde mehr sein wie zuvor.

»Ich kann sofort anfangen«, gestand sie fast beschämt. Sicher war es armselig, einen solch bedürftigen Eindruck zu machen.

Monsieur Guillaud sah sie erstaunt an. »Sofort? Nun, ich denke, Sie müssen bestimmt noch ein paar Dinge regeln, bevor Sie sich im Hotel einrichten. Ich habe an den 1. April gedacht. Passt Ihnen der Termin?«

Da von nebenan nun ein lautes Sägen einsetzte, nickte sie nur. Sie rechnete nach, wie viele Nächte sie noch im Haus ihrer Nachbarin Jeanne verbringen musste, bis sie endgültig nach Hyères übersiedeln konnte. Jeanne hatte bestimmt nichts dagegen, sie noch ein paar weitere Tage zu beherbergen, auch wenn sie mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern eng zusammenrücken musste. Trotzdem hasste Mylène es, sich der Familie aufzudrängen, sie fühlte sich wie ein Fremdkörper.

»Der Lärm geht mir schrecklich auf die Nerven«, brummte Monsieur Guillaud. »Hoffentlich ist Marais bald fertig für heute. Ich komme mir vor, als würde ich auf einer Baustelle leben. Unterschreiben Sie bitte hier, Mademoiselle. Und tragen Sie in der Spalte oben Ihre jetzige Adresse ein.«

Mylène sah verlegen auf, errötete erneut wie ein gekochter Krebs. »Ich habe eigentlich keine … Ich wohne im Moment bei Nachbarn.«

»Oh, na gut.« Der Direktor sah sie mit einem Anflug von Mitleid an. »Dann lassen wir das einfach frei.« Er zog an einer Klingelschnur, die sich neben seinem Schreibtisch befand, und irgendwo im Haus läutete eine Glocke. »Rosalie wird Ihnen schon mal Ihr Zimmer zeigen. Sie wird Sie dann auch einweisen, sobald Sie bei uns angefangen haben. Da wir, wie gesagt, alles andere als ausgelastet sind, wird die Arbeit überschaubar bleiben.«

Während sie auf das Hausmädchen warteten, trommelte Guillaud mit seinen Fingerspitzen auf die Tischplatte, als könne er es nicht erwarten weiterzuarbeiten. Das Sägen im Nebenzimmer hatte einen hohen, kreischenden Ton angenommen, dann brach es abrupt ab, und es herrschte Stille. Kurz rumpelte es, dann trat ein junger Mann in Arbeitskleidung durch die Tür. Staub lag auf seinem welligen braunen Haar. Seine blaugrauen Augen verweilten einen Moment auf Mylène, dann gab er sich einen Ruck und wandte sich an den Direktor. »Ich bin fertig, Monsieur le Directeur. Morgen kann ich mit den Reparaturen im Dachgeschoss anfangen.«

»Jaja.« Monsieur Guillaud winkte nur zerstreut ab. »Danke, Marais. Machen Sie Schluss für heute, Ihnen muss der Kopf doch genauso hämmern wie mir von dem ständigen Krach, nicht wahr?«

Der junge Mann lächelte flüchtig, schenkte Mylène noch einen kurzen Blick und verabschiedete sich. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihm nachschaute. Im gleichen Moment kam Rosalie, um ihr das künftige gemeinsame Zimmer zu zeigen.

»Au revoir, Mademoiselle, bis bald.« Monsieur Guillaud reichte ihr über den Schreibtisch hinweg die Hand, damit war sie entlassen.

»Hast du die Stelle?«, raunte Rosalie, als sie die Treppe nach oben gingen. Ihr leiser, verschwörerischer Tonfall wäre nicht nötig gewesen, denn es war weit und breit niemand in Sicht. Aus keinem einzigen Zimmer hörte man Geräusche.

»Ja.« Mylène strahlte über das ganze Gesicht, und auch Rosalie lächelte. Wahrscheinlich freute sie sich, Gesellschaft zu bekommen. »Am 1. April darf ich anfangen. Wie viele Zimmer hat das Hotel eigentlich?«

»Achtzig.« Sie hatten die obere Etage erreicht, auf der sich außer einer Suite am Ende des Korridors offenbar nur die Unterkünfte der Angestellten oder hauswirtschaftliche Räume befanden, wie Mylène vermutete, denn der Teppich im Flur war dünn und abgenutzt, nicht so flauschig und farbenprächtig wie in den anderen Stockwerken. Auch hingen hier keine Gemälde an den Wänden. »Und hier ist deine zukünftige Luxussuite.« Rosalie schloss ihr Zimmer auf und ließ Mylène den Vortritt.

»Wie findest du es? Es ist ganz annehmbar, wenn du mich fragst.«

Selbst wenn das Zimmer eine schäbige Absteige gewesen wäre, hätte Mylène es gemocht, denn in ihrer Situation durfte sie nicht wählerisch sein. Es war ihr tatsächlich gelungen, sowohl eine Bleibe als auch eine Arbeit zu ergattern. Ihr fiel ein, dass Monsieur Guillaud ihr nicht mitgeteilt hatte, wie hoch ihr Lohn sein würde. Aber das war egal, denn sie lebte ohnehin sparsam und hatte keine hohen Ansprüche. Doch ein neues Sommerkleid wäre schön, sie sah sich bereits an ihrem freien Tag in einem pastellblauen Blumenkleid am Strand entlangflanieren. »Ich finde es sehr schön. Es bietet Platz für uns beide.«

Sie sah sich um. Der Raum beinhaltete nur das Nötigste – zwei Betten, einen einfachen Tisch, zwei Stühle, einen Schrank und eine Kommode –, aber Rosalie hatte ihm durch einen Blumenstrauß, der in einem Marmeladenglas auf dem Tisch stand, und einem kleinen Gemälde vom Meer einen Hauch von Heimeligkeit verliehen. »Du hast es sehr nett eingerichtet.«

»Danke.« Rosalie war sichtlich angetan von dem Lob. »Die linke Schrankhälfte ist für dich. Und die untere Kommodenschublade. Du kannst auch gerne Bilder aufhängen. Hast du einen Verehrer?« Neugierig musterte sie Mylène, während sie ein paar Haarnadeln, die aus ihren Haaren zu rutschen drohten, neu befestigte.

Mylène schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie hatte das letzte halbe Jahr am Krankenbett ihrer Großmutter verbracht und kaum das Haus verlassen; zudem war Riboux mit seinen wenigen Einwohnern wohl kaum dazu geschaffen, neue Bekanntschaften zu machen.

»Ich sage es dir am besten gleich – Armand ist für mich reserviert.« Rosalie schaute sie erwartungsvoll an, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Armand? Ach, der Concierge, nicht wahr?« Mylène warf einen Blick aus dem Fenster auf die belebte Innenstadt. Sie sehnte sich plötzlich danach, durch die Gassen zu spazieren, den Geruch des Meeres einzuatmen und den Wind zu spüren, der mit ihren Haaren spielte. Doch ein Spaziergang würde warten müssen, zuerst musste sie noch einmal nach Riboux zurückreisen. »Keine Angst, Rosalie, ich habe kein Interesse daran, mich mit jemandem einzulassen.«

Trotz ihrer Beteuerung beschlich sie ein mulmiges Gefühl; Rosalie schien recht eifersüchtig veranlagt zu sein, ob ihr Zusammenwohnen auf Dauer harmonieren würde?

»Perfekt.« Ihre neue Zimmergenossin schien erleichtert. »Armand und ich gehen manchmal zusammen aus, weißt du? Tanzen in einer der Bars oder einen Cocktail trinken. Hyères ist zwar nicht Paris, ein bisschen Spaß kann man aber auch hier haben. Du kannst uns gerne mal begleiten.«

»Danke, warum nicht?« Tatsächlich hatte sie große Lust, einmal tanzen zu gehen, doch würde das nicht wieder Rosalies Eifersucht befeuern, wenn sie sich ihr und Armand anschloss? Aber die letzten Monate war sie in Riboux wie gefangen gewesen, außer ihren Geschichten, die sie abends im trüben Lampenschein geschrieben hatte, hatte es keinerlei Zerstreuung für sie gegeben.

»Was an Arbeit zu erledigen ist, erkläre ich dir am besten, wenn du im April anfängst. Wir müssen uns hauptsächlich um die Zimmer der Gäste kümmern, aber da, wie ich schon gesagt habe, nur wenige belegt sind, ist das schnell erledigt. Und die alten Herrschaften, die ihren Urlaub hier verbringen, sind oft schon etwas tüdelig und nehmen es mit der Ordnung nicht ganz so genau. Nur der russische Möchtegerngraf in der ersten Etage schaut einem ganz genau auf die Finger.«

»Möchtegerngraf?«, fragte Mylène verwundert.

Rosalie seufzte theatralisch. »Ja, er ist Dauergast hier. Aleksej Fjodorowitsch. Sein Zimmer fällt in deinen Tätigkeitsbereich. Er wird dir mit Sicherheit in aller Ausführlichkeit erzählen, wie er vor den Bolschewiken geflohen ist, ob du es hören willst oder nicht. Er behauptet, ein Verwandter der Romanows zu sein. Na ja, ich weiß nicht. Sein Zimmer ist ein bisschen wie ein Museum, er hortet dort angebliche Kunstgegenstände, die er aus Russland schmuggeln konnte.«

»Da bin ich aber mal gespannt.«

»Trinkgelder gibt es hier so gut wie gar nicht, da muss ich dich gleich vorwarnen. Diese steinalten Engländer sind zu geizig dazu, und Aleksej Fjodorowitsch hat selbst so gut wie keinen Centime.«

Damit war alles gesagt, und Rosalie brachte Mylène wieder nach unten in die Eingangshalle.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Armand, der am Empfangstresen lehnte und einen milchig weißen Pastis trank; zu tun hatte er offenbar nichts.

»Sie hat die Stelle«, klärte Rosalie ihn auf.

»Prima! Ich bin übrigens Armand.« Der Concierge tippte auf sein Namensschild.

»Das weiß sie bereits. Und nun komm, Mylène, ich bringe dich zur Tür.« Trotz Mylènes Beteuerung, kein Interesse an Armand zu haben, verspürte Rosalie anscheinend doch ein wenig Eifersucht, ihre plötzlich verschlossene Miene zeigte es nur allzu deutlich.

»Auf Wiedersehen, Armand«, rief Mylène dem jungen Mann über die Schulter hinweg zu, während sie Rosalie hinterhereilte. »Ich habe wirklich kein Interesse an Armand, da kannst du ganz unbesorgt sein.«

»Na schön.« Rosalie zeigte sich versöhnlich. »Und er hoffentlich nicht an dir. Wie auch immer. Ich freue mich, dass wir bald Kolleginnen sind. In der Zwischenzeit drohe ich, vor Langeweile einzugehen.«

Mylène lachte. »Halte durch, es sind ja nur noch ein paar Tage.« Rosalie schien wirklich nett zu sein, ihre Bedenken, nicht gut mit ihr, Mylène, auszukommen, da sie in ihr eine Konkurrentin sah, die Interesse an Armand haben könnte, würde sie in der nächsten Zeit bestimmt noch weiter zerstreuen können.

Sie küssten sich zum Abschied auf die Wangen, dann trat Mylène durch die Tür in den Frühlingssonnenschein. Die plötzliche Wärme, die in auffallendem Kontrast zu der Kühle der marmornen Eingangshalle des Hotels stand, liebkoste ihr Gesicht. Die hohen, majestätischen Palmen wiegten sich in der Brise, die vom Meer her wehte. Locker warf sie sich ihre Handtasche über die Schulter, nun musste sie sich nicht mehr sorgen, wegen des Geruchs nach Hühnerdreck unangenehm aufzufallen. Zuversicht erfüllte sie, verdrängte die Unsicherheit, die sie noch vor einer Stunde, als das Hotel so würdevoll vor ihr aufgeragt war, empfunden hatte, und sie atmete tief die salzige Luft ein. Vielleicht würde die herrliche Umgebung ihre Lebensgeister wieder wecken.

Von Hervé, der sie auf seinem Wagen wieder mit nach Riboux mitnehmen würde, war weit und breit noch nichts zu sehen, und so schlenderte sie den Häusern der Altstadt entgegen, die sich unweit des Hotels erstreckten. Gleich zu Beginn der Straße lag das Café de lʼUnivers. Im Schatten seiner gestreiften Markisen saßen unzählige Menschen an kleinen runden Tischen, tranken, aßen und unterhielten sich lebhaft, vor allem ältere Männer und junge Paare. Mylène setzte sich auf ein niedriges Mäuerchen und beobachtete die Szenerie, ließ sie auf sich wirken. Wie immer zuckten Ideen für Geschichten wie Blitzlichter in ihrem Kopf auf, und sie murmelte sie lautlos vor sich her, um sie nicht zu vergessen. Café – malerische Altstadt – leuchtende Nachmittagssonne. Zum Glück hatte sie nun Zeit, ihre Beobachtungen in ihr Notizbüchlein einzutragen; in ihrem Innern begann bereits eine neue Geschichte Gestalt anzunehmen. Vielleicht kam sie heute Abend dazu, schon mal ein paar Abschnitte zu schreiben. Obwohl – im Haus ihrer einstigen Nachbarin Jeanne, in dem ständig die Kinder um sie herumwuselten, fand sie dazu wahrscheinlich keine Ruhe. Plötzlich sehnte sie sich so heftig nach den alten Zeiten mit ihrer Großmutter zurück, in denen sie abends ungestört unter dem hellen Lichtkegel der Küchenlampe sitzen und schreiben konnte, dass ihr die Tränen in den Augen brannten. So manche Geschichte hatte sie dort verfasst, während ihre Großmutter ruhig neben ihr gesessen und die Kleider fremder Leute ausgebessert hatte, wodurch sie sich ein bisschen Geld verdiente. Sobald eine Geschichte fertig war, hatte Mylène sie Großmutter vorgetragen und sich deren begeistertes Lob angehört.

Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Hervé musste jeden Augenblick kommen, und er sollte sie nicht verweint hier sitzen sehen. Gefühlsregungen überforderten den wortkargen Mann aus Riboux völlig.

Um sich abzulenken, betrachtete sie die Gäste des Café de lʼUnivers. Zu ihrem Erstaunen entdeckte sie ein bekanntes Gesicht, nämlich das des jungen Handwerkers aus dem Hotel, dessen Lärm den Direktor so gestört hatte. Er saß allein an einem Tisch und aß eilig etwas, das ein Croque Monsieur sein konnte, genau konnte Mylène es nicht erkennen, da die Entfernung zu groß war. Wie er so dasaß, inmitten der plaudernden und lachenden Menschen, erschien er ihr wie eine Insel weit draußen im Meer, einsam und ganz auf sich gestellt. Auf irgendeine Weise erinnerte er sie an sich selbst; das lag nicht nur an der Tatsache, dass er als Einziger unter der Markise ohne Gesellschaft war, sondern auch an seinem Gesichtsausdruck, der ihr ein wenig verloren erschien.

Als sie ihn so ansah, hob er den Blick und bemerkte sie auf dem Mäuerchen. Sie hielt seinem Blick einen Moment stand, dann sah sie schnell weg. Später wanderten ihre Augen noch einmal zu ihm. Die alten Männer am Nebentisch gestikulierten so lebhaft, dass sie ihn mit ihren Ellenbogen fast berührten. Doch inzwischen hatte er seine Mahlzeit beendet und stand auf, um zu gehen. Sie verfolgte jede seiner Bewegungen. Er trat auf die in der Sonne glühende Straße, blieb kurz stehen und lupfte seine Baskenmütze in ihre Richtung, nickte ihr zu und lächelte. Mylènes Herz setzte einen Schlag aus; auch er hatte sie wiedererkannt. Sein Lächeln wirkte so warm und liebenswürdig, schloss sie für einen Moment in seine Welt ein, dass sie es sofort erwiderte.

Er setzte seine Mütze wieder auf und ging in Richtung Hotel, und da hörte Mylène auch schon das Trappeln von Hervés Pferdegespann aus dem Motorengebrumm zweier Automobile heraus.

Der Nachbar aus Riboux hielt die Pferde an und kurbelte die Bremse fest. Das Menschengetümmel schien ihn zu überfordern; er beschattete die Augen mit der Hand und sah sich suchend um. Sie winkte ihm zu und lief rasch zu ihm.

»Ah, da bist du. Komm, steig auf, Mylène.« Er reichte ihr die prankenähnliche Hand und zog sie auf die Wagenfläche. »Pass auf, die Hühnerdamen haben ein paar Federn gelassen.«

»Und nicht zu wenige«, erwiderte Mylène. Sie kramte ihr Halstuch hervor, breitete es wieder auf dem schmutzigen Boden aus, auf dem die Federn klebten, und setzte sich darauf. Noch immer roch es durchdringend, doch das machte nichts, denn sie hatte ihr Ziel erreicht und die Arbeitsstelle im Hotel bekommen. Selbst wenn sie ihr Tuch und das Kleid nicht mehr sauber bekäme, im Hotel würde man ihr ein adrettes schwarzes Kleid, so wie Rosalie eines trug, geben. Ihr neues Leben rückte in immer greifbarere Nähe.

Kapitel 2

Am Einunddreißigsten des Monats März stand Mylène am Fenster der kleinen, engen Wohnküche ihrer Nachbarin Jeanne und schaute auf das Haus ihrer Kindheit. Hier hatte sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr mit ihrer Großmutter gewohnt, bis diese vor drei Wochen gestorben war und der Vermieter, ein eleganter Mann aus Toulon, ihr eine Frist von wenigen Tagen eingeräumt hatte, die vertrauten Räume zu verlassen. Außer ihrer Großmutter hatte sie keine Verwandten mehr, und deshalb empfand sie ihren Verlust als doppelt schlimm. Sie hatte buchstäblich nichts mehr – niemanden, zu dem sie gehörte, kein Zuhause, kein Geld. Die letzten Ersparnisse ihrer Großmutter hatten sie für den Arzt und Arznei ausgeben müssen, allerdings war das Geld, das die alte Dame in einer Blechbüchse in der Küche aufzubewahren pflegte, seit einigen Jahren ohnehin knapp bemessen. Ihr Sohn, Mylènes Vater, hatte sie zeitlebens unterstützt, hatte er doch mit seinen Investitionen in moderne Stahlwerke und Eisenbahngesellschaften ein Vermögen angehäuft, doch seit seinem Tod war der Geldfluss versiegt. Mylène hatte erst nach dem Ableben ihrer Großmutter das ganze Ausmaß der Geldnot erfasst; seit Monaten war keine Miete mehr an den Hauseigentümer bezahlt worden, weshalb dieser unerbittlich darauf bestand, dass sie rasch auszog und sich eine neue Bleibe suchte. Das war leichter gesagt als getan – nächtelang hatte sie verzweifelt ins Dunkle gestarrt und sich gefragt, wie es mit ihr weitergehen, wo sie eine Arbeit finden sollte.

»Hast du alles eingepackt?«, fragte Jeanne, die wie immer ein Putztuch in der Hand hatte und an den zahlreichen Flecken herumrieb, die ihre sechs Sprösslinge an Türen, Wänden und Möbeln hinterließen. Das blonde Haar hing ihr aufgelöst ins Gesicht.

Mylène nickte und zeigte auf ihren Koffer und die zwei Kisten mit Büchern, die ihren ganzen Besitz darstellten. Die inzwischen abgegriffenen Exemplare erinnerten sie an eine lange entschwundene Zeit, in der ihre Eltern noch gelebt und sie in dem großzügigen Haus in Rocbaron gelebt hatten, umgeben von Gemälden und stets mit duftenden Blumen gefüllten Porzellanvasen. Schnell schob sie die Erinnerungen beiseite und vergewisserte sich, dass ihr neuestes Manuskript und ihr Notizbuch sicher in ihrer Handtasche verstaut waren, es wäre eine persönliche Katastrophe für sie, diese Habseligkeiten zu vergessen.

»Sei froh, dass du aus diesem Nest rauskommst«, brummte Jeanne und putzte im Vorbeigehen ihrem Jüngsten die laufende Nase. »In Riboux ist man lebendig begraben, hier gibt es ja nichts. In Hyères wirst du bestimmt oft ans Meer gehen können oder zum Tanzen. Oder was junge Leute anderswo auch immer tun.« Sie schnaubte verbittert, und Mylène empfand Mitleid für die Nachbarin, die nur wenige Jahre älter war als sie, aber bereits so verlebt aussah, als sei sie doppelt so alt.

»Ich weiß nicht, ob ich dazu Gelegenheit haben werde«, antwortete sie rasch, damit Jeanne sie nicht noch missmutiger ansah. »Ich werde ja den ganzen Tag arbeiten.«

»Bestimmt lachst du dir bald einen gut aussehenden Mann an und heiratest.« Jeanne trennte zwei ihrer Kinder voneinander, die auf dem Boden lagen und sich balgten. »Aufhören, ihr zwei, sofort.«

»Ich habe ganz andere Ziele«, erklärte Mylène und wandte sich wieder dem windschiefen Häuschen zu, in dem sie mit Großmutter gewohnt hatte. »Ich möchte Schriftstellerin werden. Oder vielleicht auch als Journalistin für eine Zeitung arbeiten.« Normalerweise hielt sie ihre Wünsche geheim, um nicht ausgelacht oder verspottet zu werden, doch sie würde Jeanne wahrscheinlich nicht wieder begegnen. Sie waren lediglich Nachbarinnen, die das Schicksal zusammengewürfelt hatte, keine Freundinnen; Jeanne hatte sie aus Pflichtgefühl bei sich aufgenommen, weil man dies auf dem Dorf, wo man enger zusammenrückte als in der Stadt, eben tat.

Wie erwartet verzog Jeanne den Mund. »Schriftstellerin? Journalistin? Auf welchem Stern lebst du? Bis jetzt hat deine Großmutter, Gott hab sie selig, immer ihre Flügel schützend über dir ausgebreitet, aber in der Stadt wirst du schon merken, wie hart das echte Leben ist. Als Frau hast du keine andere Möglichkeit, als zu heiraten, glaub mir.«

»Das werden wir sehen«, murmelte Mylène und überprüfte zum wiederholten Mal, ob sich ihr Manuskriptblock auch wirklich in ihrer Tasche befand. Als ihre Eltern noch lebten, hatte sie ein Mädchenlycée besuchen dürfen, ihr Vater war da sehr fortschrittlich gewesen. Natürlich würden ihre Chancen, ihre Träume zu verwirklichen, viel besser stehen, wenn sie die Schule tatsächlich mit dem Bakkalaureat hätte abschließen können. Das Schicksal hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber musste es nicht doch eine Möglichkeit geben, ihre Ziele zu verwirklichen? Auf jeden Fall hatte sie keine Lust, mit Jeanne über ihre Optionen zu diskutieren und zuzulassen, dass ihr deren pessimistische Haltung aufs Gemüt drückte. Ihre Großmutter hatte sie immer darin bestärkt, an ihren Träumen festzuhalten, ihr hatte sie alle ihre Geschichten vorgelesen und mit ihr Verbesserungsvorschläge besprochen. Großmutter war äußerst belesen gewesen, das Regalbrett über der Holzbank in der Küche hatte sich gebogen vor Büchern, denn Mylène hatte ihr während ihrer Zeit als Kaltmamsell in Le Castellet bei ihren Heimatbesuchen stets ein Buch mitgebracht, das sie in dem kleinen Buchladen in der Nähe des Restaurants sorgfältig ausgesucht hatte – sofern ihre mühsam zusammengetragenen Ersparnisse es zuließen.

»Du bist intelligent und schön«, hatte Großmutter ihr so manches Mal eindringlich gesagt, wenn Mylène an der Qualität ihrer Geschichten zweifelte oder befürchtete, kein Magazin würde sie je abdrucken. »Du kannst alles erreichen. Sieh jede Niederlage lediglich als kleinen Stolperstein an, über den du auf dem Weg zum Ziel hüpfen musst.«

Großmutters Zuspruch hatte ihr immer so gutgetan, sie beflügelt, weiterzuschreiben. Doch nun war ihre engste Vertraute tot. Insgeheim hatte sie Angst, die Erinnerung an sie könnte irgendwann verblassen, so wie das Bild ihrer Eltern, das mit den Jahren immer undeutlicher geworden war. Sie waren durch tragische Umstände ums Leben gekommen, und seitdem hatte Mylène bei Großmutter gewohnt, die sich nach Kräften bemüht hatte, ihr ein liebevolles Zuhause zu schenken.

Das Einzige, was ihr nun blieb, waren die Bücherkisten, die sie mit ins Hotel nehmen würde, und der kleine silberne Kreuzanhänger, den Großmutter immer an einer Kette um den Hals getragen hatte. Jetzt gehörte er ihr. Vorsichtig berührte sie das kleine Schmuckstück, als brächte es sie ihrer Großmutter noch einmal nah.

»Hervé ist da«, verkündete Jeanne, als sie von draußen das Getrappel von Pferden vernahmen. »Dann au revoir, und viel Glück in der Stadt.«

»Danke für alles. Und danke, dass ich bei euch wohnen durfte.« Mylène umarmte ihre Nachbarin, was diese unbeholfen über sich ergehen ließ.

Jeanne wies die Kinder an, beim Tragen des Koffers und der Kisten zu helfen, und mit vereinten Kräften hievten sie alles auf den Viehtransporter.

Die Kinder winkten ihr fröhlich nach, als sich der Wagen langsam entfernte. Das kleine Wohnhaus mit dem krummen Dach, der sprudelnde Wasserlauf, der sich am Bergrücken dahinter seinen Weg grub – das waren das die letzten Bilder, die Mylène von Riboux mitnahm.

Die erste Nacht im Hotel war ungewohnt. Als sie am Morgen aufwachte, war sie einen Moment orientierungslos, und wie immer in den letzten Wochen zersplitterte ihr Herz in tausend Stücke, sobald ihr die traurige Erkenntnis erneut ins Bewusstsein rückte: Großmutter war tot, und sie war ganz allein auf der Welt. Zum Glück plauderte Rosalie auch am frühen Morgen bereits ohne Unterlass, was den stechenden Schmerz in ihrer Brust vorerst dämpfte.

Mylène knöpfte ihr neues schwarzes Kleid zu und band sich die weiße, rüschenbesetzte Schürze um, dann bürstete sie ihr Haar, das jedoch zu kurz war, um es wie Rosalie aufzustecken.

»Beim Frühstück lernst du die anderen kennen«, versprach ihr die Zimmergenossin, »ich stelle dir alle vor. Monsieur le Directeur hat mir gestern gesagt, ich soll dich unter meine Fittiche nehmen. Aber ich denke, du wirst dich bald zurechtfinden.«

»Das glaube ich auch.« Mylène hoffte, möglichst viel zu tun zu haben, um von ihrem Elend und ihrer Trauer abgelenkt zu werden.

Auf dem Weg hinunter begegnete ihnen Monsieur Guillaud, der ihr einen guten Start wünschte. In der Küche ging es bereits geschäftig zu. Rosalie stellte ihr die Belegschaft vor, die gerade ein schnelles Frühstück zu sich nahm.

»Das ist Fernand, unser Koch«, sie deutete auf einen langen, schmalen Mann mit Schnauzer und weißer Kochmütze auf dem Kopf, der zur Begrüßung kurz den Kopf neigte, »und das sind die Küchenjungen, Philippe und André. Die drei Frauen, die draußen auf dem Hof stehen und rauchen, kommen frühmorgens zum Putzen, aber du wirst kaum etwas mit ihnen zu tun haben, sie haben andere Arbeitszeiten. Zum Servieren im Restaurant sind Étienne und Maël angestellt, aber die sind natürlich gerade dabei, oben das Frühstück der Gäste vorzubereiten.«

»Und mich kennst du ja schon«, ergänzte Armand, der sich mit einer Tasse Kaffee zu ihnen gesellte.

»Da du den Eingang belagerst, kommt an dir wahrlich niemand vorbei«, spottete Rosalie voller Zuneigung, »es sei denn, er schleicht sich über den Hintereingang ein.«

»Vielleicht solltest du dich ein wenig sputen und nicht so viel erzählen«, zog Armand sie auf, während er genüsslich in eine dick mit Butter bestrichene Scheibe Weißbrot biss. »Die Zeit könnte knapp werden, wenn du Mylène vor der Arbeit noch das ganze Hotel zeigen willst.«

Hektisch trank Rosalie den Rest ihres Kaffees aus und sprang auf. »Oh ja, du hast recht. Monsieur le Directeur hat mir gestern Abend noch aufgetragen, dir erst mal alle Räumlichkeiten zu zeigen. Komm!«

»Äh … ja.« Mylène legte ihre halb aufgegessene Brotscheibe auf den Teller zurück, Appetit hatte sie ohnehin keinen, sie war viel zu aufgeregt, wie sich ihr erster Arbeitstag gestalten würde und ob sie alles hinbekäme, ohne allzu viele Fehler zu machen. Nicht auszudenken, wenn sie sich ungeschickt anstellen würde, sodass der Direktor sie wieder entlassen musste! Dann stünde sie endgültig auf der Straße, denn nach Riboux gab es kein Zurück mehr. Rasch kämpfte sie die Panik nieder, die sich wie eine giftige Schlange in ihr emporwand.

Rosalie zog sie ungeduldig am Ärmel. »Nun komm. Wir sehen uns später, Armand. Wollen wir heute Abend ausgehen?«, rief sie ihrem Verehrer über die Schulter zu.

»Ich bin zu jeder Schandtat bereit«, grinste der Concierge.

Während sie die stillen Gänge des Hotels abliefen und Rosalie sie auf die einzelnen Räumlichkeiten hinwies, fühlte sich Mylène wie bei ihrem ersten Besuch beeindruckt von der Grandeur des Gebäudes. Die Gästezimmer waren mit edlen Materialien und zierlichen Möbeln aus glänzendem Mahagoni ausgestattet, und vor den Fenstern bauschten sich bodenlange Vorhänge aus weinrotem, schwerem Brokat. Mylène dachte an die karge Einrichtung im Haus ihrer Großmutter zurück und kam sich erneut vor wie in einem Palast. Wie herrlich es wäre, in einem der breiten Betten mit den gedrechselten Bettpfosten unter den schneeweißen Decken zu liegen und in die satte Morgensonne zu schauen, die zwischen den Gardinen hereinblinzelte! Sie versuchte, sich das Bild, das in ihrem Kopf immer deutlichere Konturen annahm, gut einzuprägen, um es in ihrer nächsten Geschichte zu verwenden. Sie war überzeugt, hier im Hotel viele neue Inspirationen zu finden.

»Träumst du?« Rosalie stieß sie mit dem Ellenbogen in die Rippen. »Wo bist du nur immer in Gedanken? Pass jetzt gut auf, ich zeige dir das Zimmer des Exilrussen.«

Mit ihrem Generalschlüssel schloss sie die Zimmertür auf, während Mylène ihr beklommen zuschaute.

»Und wenn er da ist?«

»Keine Bange, mit Sicherheit nicht. Er sitzt immer schon lange vor den offiziellen Frühstückszeiten im Restaurant, als hätte er Angst, nichts zu bekommen. Nach seinen Essenszeiten kann man die Uhr stellen.« Rosalie ging ihr voran in das Zimmer, das eines der kleineren des Hotels zu sein schien.

Mylène fielen sofort einige merkwürdige Gegenstände auf, die auf einem Regal aufgereiht standen, und sie erinnerte sich an Rosalies Beschreibung der Kunstgegenstände, die der Russe in seinem Zimmer ausstellte.

»Nicht anfassen!«, rief Rosalie schrill, obwohl sie noch nicht einmal in die Nähe des Regals gekommen war.

»Was sind das für Dinge?«, fragte Mylène. »Sie sehen so alt und fremdartig aus. Die Buchstaben auf der Titelseite des Buches sind unlesbar – ist das Kyrillisch?«

»Nein, das ist Russisch. Aleksej Fjodorowitsch hat mir mal erklärt, dass es sich um eine Bibel handelt.«

Mylène bestaunte den golden glänzenden Rücken des dicken Buches; die Seiten schienen hauchdünn zu sein. »Die Russen schreiben kyrillische Buchstaben.«

Rosalie verdrehte die Augen. »Wie auch immer. Ist mir egal, wie das heißt. Laut Aleksej ist die Bibel ein sündhaft teures Familienerbstück. Auf der Flucht vor den Bolschewiken konnte er kaum etwas von seinen Besitztümern mitnehmen, nur die Bibel, dieses Ölbild daneben und das seltsame Ei.«

Mylène beugte sich zu dem kleinen Bildnis, das eine Heilige mit frommem Gesichtsausdruck und goldenem Heiligenschein zeigte; es war so alt, dass die Farben stumpf wirkten und haarfeine Risse aufwiesen. »Das ist eine Ikone, wie interessant.«

»Was du nicht alles weißt.« Dass Mylène sich besser mit den Kunstgegenständen auskannte als sie, schien Rosalie zu wurmen. »Und was soll dieses bunte Osterei darstellen?«

Mylène betrachtete das purpurrote Oval, das auf goldenen Füßen stand, eingehend. Feine goldene Linien zeichneten ein Rautenmuster auf die gewölbte Oberfläche, und filigrane Blüten aus funkelnden Steinen – Diamanten? – schmückten die Spitzen der geometrischen Formen. »Es ist wunderschön. Aber ich weiß leider auch nicht, was das für ein Kunstwerk ist.«

»Ich finde das viele Gold sehr aufdringlich, und wenn du mich fragst, sieht es recht billig aus. Das kann unmöglich echtes Gold sein. Wahrscheinlich sind die Dinger nicht viel wert.« Rosalies Blick schweifte recht gelangweilt über die Gegenstände, während Mylène noch ganz in deren Betrachtung vertieft war.

»Wenn sie nichts wert wären, hätte Monsieur Aleksej sie bestimmt nicht aus Russland herausgeschmuggelt. Das muss sehr gefährlich gewesen sein.«

»Kann sein.« Rosalie schien das Interesse an Aleksej Fjodorowitschs Habseligkeiten verloren zu haben. »Auf jeden Fall darfst du die drei Gegenstände auf keinen Fall abstauben. Wir haben ein striktes Verbot. Normalerweise bewahrt er sie im Hoteltresor auf, aber manchmal vergisst er es. Er holt sie nämlich jeden Tag heraus, um sie zu bewundern.«

»Wahrscheinlich erinnern ihn die Stücke an seine verlorene Heimat«, sagte Mylène leise. Sie konnte den unbekannten Russen gut verstehen, denn sicherlich fühlte er sich wie sie entwurzelt, wusste nicht, wohin er gehörte.

»Lass uns weitergehen. Ich will dir noch den Rest des Hotels zeigen, bevor wir mit der Arbeit beginnen.« Rosalie schloss wieder hinter ihnen ab, und sie setzten ihren Rundgang fort, wobei ihnen kaum ein Gast begegnete. Im Erdgeschoss befand sich im letzten Zimmer eine kleine, aber sehr gemütliche Bibliothek. An allen vier Wänden zogen sich Regale mit Büchern bis zur stuckverzierten Decke hoch, und Samtsofas und Sessel luden zum Lesen und Verweilen ein.

Mylène glaubte sich wie im Paradies. Ehrfürchtig ging sie an den Regalreihen entlang und las die Titel auf den Buchrücken. Sämtliche berühmten Autoren waren hier zu finden, von Balzac, Zola und Hugo über Proust, Verne und Dumas. Tatsächlich fand sie eine Vielzahl an Büchern, von denen sie noch nie gehört hatte. Behutsam zog sie ein Werk von Stendhal hervor, Rot und Schwarz. Es drängte sie, sofort mit dem Lesen zu beginnen, doch dann besann sie sich, dass sie ja nicht zum Vergnügen hier war.

»Die Bibliothek ist nur für Gäste.«

»Im Ernst?« Mylène starrte Rosalie enttäuscht an, und die wunderbare Vorstellung, wie sie ihre Abende hier verbringen würde, im Schneidersitz auf einem der Sofas kauernd, ein dickes Buch auf dem Schoß, und in fremden Welten versank, zerplatzte wie eine Seifenblase. »Wir Angestellten dürfen nicht hierher? Dürfen wir uns wenigstens Bücher ausleihen und in unserem Zimmer lesen?«

Rosalie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ehrlich gesagt habe ich mich das noch nie gefragt, ich bin kein Bücherwurm. Allerdings habe ich noch nie einen Gast gesehen, der sich hierher verirrt hat. Ich glaube, die Bibliothek steht immer leer. Wenn du so versessen auf Bücher bist, komm einfach nach Feierabend her, wenn die Gäste das Nachtleben erkunden – zu dieser Zeit ist die Gefahr, entdeckt zu werden, vielleicht am geringsten.«

»Hm.« Mylène kaute nervös auf ihrer Unterlippe und überlegte, ob sie das Risiko, sich unbefugt hier aufzuhalten, wirklich eingehen sollte. Sie wollte nichts tun, was ihre Stellung gefährdete; andererseits wusste sie nicht, wie sie sich dem Zauber des stillen, nach dem Staub alter Bücher duftenden Raumes entziehen sollte, ihre Leidenschaft für Geschriebenes aller Art war einfach zu groß. »Macht Monsieur le Directeur abends noch Rundgänge durchs Haus?«

Rosalie lachte, als habe sie einen Scherz gemacht. »Natürlich nicht. Er ist froh, wenn er sich abends in seine Wohnung im oberen Stockwerk zurückziehen, Zigarre rauchen und sich seiner jungen Frau widmen kann. Und jetzt komm, wir müssen weiter.«

Mylène nickte ergeben, doch beim Hinausgehen blieb ihr Blick an einem Stapel Zeitungen hängen, der auf einem kleinen runden Beistelltisch lag. Kurz ereilte sie ein Déjà-vu – wie am Tag ihres ersten Besuchs im Hotel erkannte sie das bekannte Schriftstellerpaar F. Scott und Zelda Fitzgerald, nur dieses Mal auf dem Titelbild des Magazins Vanity Fair statt in einer Klatschkolumne. Party-Exzesse auf Long Island, lautete die Schlagzeile. F. Scott und Zelda Fitzgerald wegen nächtlicher Ruhestörung im Fokus der New Yorker Polizei. Nachbarn fühlen sich gestört durch Lärm bis in die Morgenstunden und Umgehung der Prohibitionsgesetze.

Rosalie, die bereits auf dem Flur stand, steckte ihren Kopf in die Bibliothek. »Wo bleibst du?«

»Ich komme …« Ein letztes Mal betrachtete Mylène das Glamourpaar, nahm die sorglose Heiterkeit in sich auf, die in ihrem Lachen steckte; jedoch entging ihr nicht, dass die Fröhlichkeit die Augen der beiden Berühmtheiten nicht erreichte.

Der Rest des Tages flog nur so dahin. Mylène sollte vorerst noch keine selbstständige Arbeit erbringen, sondern lediglich Rosalie begleiten und sich die nötigen Handgriffe von ihr abschauen. Aleksej Fjodorowitsch trafen sie nicht an, dafür vier betagte, aber rüstige Engländerinnen, die in einer Suite zusammensaßen und Bridge spielten. Eine von ihnen, sie hatte wie ihre Begleiterinnen akkurate, silbergraue Löckchen, die in regelmäßigen Reihen auf ihrem Kopf festgepinnt schienen, hielt einen kleinen Malteser-Mops im Arm, der die beiden Hausmädchen mit hängenden Lefzen ausdruckslos anstarrte.