Meine chinesische Großmutter - Lars Saabye Christensen - E-Book

Meine chinesische Großmutter E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Wie kommt es, dass sich eine junge Kopenhagenerin Anfang des 20. Jahrhunderts allein auf eine lange, beschwerliche und gefährliche Seereise nach Hongkong macht? "Dieses Buch ist ein Juwel!" VG

Wie kommt es, dass sich eine junge Kopenhagenerin Anfang des 20. Jahrhunderts allein auf eine lange, beschwerliche und gefährliche Seereise nach Hongkong macht? Genau dorthin, in diesen internationalen Meltingpot und vibrierenden Handelsplatz, hatte es den Dänen Jørgen Christensen bereits kurz zuvor verschlagen – zu seiner Arbeitsstelle bei Svitzers Bjergnings-Enterprise, die älteste Seerettungs- und Bergungsgesellschaft der Welt. Jørgen und die junge Kopenhagenerin sind Lars Saabye Christensens Großvater und Großmutter väterlicherseits.

Wer waren diese Menschen, von denen er stammt? Wie sah dieses koloniale, vom Handel geprägte Leben aus? Erst als sein Vater auf dem Totenbett liegt, wagt es Lars Saabye Christensen, ihn nach jener Zeit zu fragen, die seine Großeltern im fernen Osten verbrachten. Eine Spurensuche beginnt, die Überraschungen bereit hält. Indem er sich akribisch an die vorhandenen Quellen hält, zeichnet Lars Saabye Christensen ein faszinierenderes Gemälde einer Zeit und einer Familie, das noch lange im Gedächtnis bleibt.

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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Wie kommt es, dass sich eine junge Kopenhagenerin Anfang des 20. Jahrhunderts allein auf eine lange, beschwerliche und gefährliche Seereise nach Hongkong macht? Genau dorthin, in diesen internationalen Meltingpot und vibrierenden Handelsplatz, hatte es den Dänen Jørgen Christensen bereits kurz zuvor verschlagen – zu seiner Arbeitsstelle bei Svitzers Bjergnings-Enterprise, der ältesten Seerettungs- und Bergungsgesellschaft der Welt. Jørgen und die junge Kopenhagenerin sind Lars Saabye Christensens Großvater und Großmutter väterlicherseits.

Wer waren diese Menschen, von denen er stammt? Wie sah dieses koloniale, vom Handel geprägte Leben aus? Erst als sein Vater auf dem Totenbett liegt, wagt es Lars Saabye Christensen, ihn nach jener Zeit zu fragen, die seine Großeltern im fernen Osten verbrachten. Eine Spurensuche beginnt, die Überraschungen bereithält. Indem er sich akribisch an die vorhandenen Quellen hält, zeichnet Lars Saabye Christensen ein faszinierendes Gemälde einer Zeit und einer Familie, das noch lange im Gedächtnis bleibt.

Autor

LARSSAABYECHRISTENSEN, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.

Lars Saabye Christensen

Meine chinesische Großmutter

Aus dem Norwegischen und Dänischen von Hannes Langendörfer

Die norwegische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Min kinesiske farmor« bei Cappelen Damm, Oslo, und wenig später bei Grif, Kopenhagen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Übersetzung wurde gefördert von NORLA.

Der btb Verlag bedankt sich dafür.

Copyright © der Originalausgabe 2020 Lars Saabye Christensen / Cappelen Damm AS

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Alette Bertelsen

Coverfoto und Foto des Vor- und Nachsatzes: © Lars Saabye Christensen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28089-5V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

1

– Merkwürdig, diese Uhr.

Mein Vater sagt das. Ich sitze an dem Bett, in dem er im Sterben liegt. Er ist fast neunzig. In der tiefen Grube am Hals klebt ein Morphiumpflaster, nicht größer als die kleinen Schnipsel Papier, die Väter immer nahmen, wenn sie sich beim Rasieren geschnitten hatten, also vor dem Siegeszug des Elektrorasierers, das muss Ende der Fünfziger gewesen sein, und das war auch die Zeit, in der Großmutter aus Kopenhagen zu Besuch kam, am liebsten im Sommer, da mochte sie Oslo am liebsten, sagte sie, die Luft, die Aussicht, die Menschen. Manchmal brachte sie uns Geschenke mit, in der Regel etwas zum Essen, was Süßes, was Dänisches, Bonbons, Konfekt, Schokolade, darum war es, als käme sie aus einer anderen Welt, und in meinen Augen tut sie das immer noch. Einmal hatte sie auch ein dickes Buch mit blauem Plastikeinband dabei; Jahr für Jahr stand auf dem Einband, und innendrin: Memorandum, kurzgefasstes, vergleichendes Tagebuch für 5 Jahre, zum Festhalten erinnernswerter Begebenheiten. Das muss 1960 gewesen sein, im selben Jahr, als ich in die Schule kam. Meistens fuhren aber wir sie besuchen, entweder mit der Dänemarkfähre oder mit dem Auto, einem Volvo Duett, auch Milchwagen genannt, aber das war etwas später, den Autoführerschein machte Vater nämlich erst 1963, dabei hatte er schon lang den Motorradschein, seit seiner Militärzeit in Viborg, wo er im Ingenieurkorps diente, und wann immer er Urlaub hatte, fuhr er mit seiner Royal Enfield nach Kopenhagen. (Die Engländer hatten die Royal Enfield, die im Volksmund Königliche Einfalt hieß, in Dänemark war ja fast alles irgendwie königlich, beim Abzug einfach stehengelassen.) Die Maschine hatte einen Beiwagen, und als meine Mutter ins Bild kam – kurz nach dem Krieg war sie Au Pair bei einem Großhändler im sogenannten Whisky-Gürtel, dem feinen Wohnviertel am Strandvej – war sie die erste, die eine Runde fahren durfte, also im Beiwagen. Ich sehe die beiden vor meinem inneren Auge, doch nicht so, wie ich sie kenne, ich kenne sie von einer anderen Seite; außerdem ist es eine Erinnerung von vor meiner Zeit, versteht sich, die sich aus einzelnen Fotografien und Episoden, die sie selbst erzählt haben, zusammensetzt, aber über diese Periode, ihre Verlobungszeit, haben sie wenig gesprochen, sie waren diskrete, private Menschen, auch mir gegenüber: In voller Fahrt die schnurgeraden, dänischen Straßen entlang, die Küste hoch, nach Hornbæk, wo die Familie ein Sommerhaus hatte, die im Fahrtwind flatternden Schals, die Lederjacken, Vater mit Helm, Mutter nur mit einer Haube, oder einem Hut, einem schwarzen Herrenhut, den sie von Zeit zu Zeit gut festhalten muss, die Handschuhe, die Sonnenbrillen, die leuchtenden, strahlenden Gesichter. Ihre Jugend ist mir vollkommen fremd. Und dennoch kann ich mir ihre grenzenlose, bedingungslose Freiheit vorstellen, ihre Sorglosigkeit, obendrein ist auch noch der Krieg vorbei, und jetzt denke ich, es ist genau diese Freiheit, die Kindern ihren Eltern in dem Augenblick nehmen, in dem sie geboren werden. Von dem Haus im Julianehåbsvej, in dem Großmutter wohnte, erinnere ich mich vor allem an die chinesischen Gegenstände, Truhen, Waffen, Teppiche, Vasen, Figürchen, Stühle, die dem Interieur eine traumartige Atmosphäre verliehen, die ich, zusammen mit dem exotischen Geruch von Gewürzen, getrockneten Rosenblättern oder Parfüm, vielleicht etwas anderem, Düften, die ich ohnehin nicht einordnen konnte, für eine andere Welt hielt und immer noch halte. Und diese andere Welt habe ich in allem, was ich geschrieben habe, immer erstrebt.

Vater meint die Uhr an der Zimmerwand. Er findet sie merkwürdig. Ich begreife auch nicht, warum sie da hängt.

– Soll ich jemand bitten, sie abzuhängen?

– Warum?

– Ich dachte, sie stört dich vielleicht.

– Warum soll sie mich stören?

– Na ja, du hast doch gesagt, dass sie…

Vater fällt mir ins Wort, beinah zornig:

– Siehst du das denn nicht!

Ich versuche ein Lachen.

– Komme ich außerhalb der Besuchszeit?

– Sie geht falsch!

– Ah ja? Bist du sicher?

Ich sehe auf meine eigene Uhr. Sie zeigt halb vier, genau wie die Uhr an der Wand. Meine Uhrzeit stimmt mit der Zeit der Welt überein. Ich gehe richtig. Vater ist der, der sich irrt. Trotzdem ärgert es mich, dass er jetzt, wo er im Sterben liegt, auf diese verdammte Uhr schauen muss. Als ob irgendwer das Bedürfnis hätte, in diesem Zustand die Zeit zu messen. Der Tod ist so oder so ein persönlicher Rekord, egal wie weit man kommt, oder nicht? In einem Krankenhaus braucht man keine Uhren, auch keine Spiegel. Ich werde mich um die Sache kümmern. Das ist das mindeste, was ich tun kann. Aber Vater kommt mir zuvor.

– Die geht doch rückwärts!

– Na, jetzt mach mal halblang.

Ich bereue sofort, was ich gesagt habe. Wenn Vater es so sieht, habe ich keinen Grund, daran zu zweifeln. Das gehört sich nicht. Ich will seine Wahrheit schützen, so gut ich kann, auch wenn sie beinah konstruiert und darum unwahr wirkt. Ich weiß bloß nicht, wie ich es sagen soll. Wir haben selten oder nie über meine Schriftstellerarbeit gesprochen, er hat die Bücher gelesen, natürlich, aber selten oder nie etwas zu ihnen gesagt. Vielleicht ist jetzt der Moment. Ich könnte etwas sagen wie, dass das Schreiben, das literarische Schreiben, so wie ich es betreibe, ähnlich ist wie diese Uhr, es ist anachronistisch, es geht nach, bleibt oft an einem beliebigen Punkt zwischen den Stunden stehen, ganz einfach weil das Schreiben mehr umspannen muss als meine eigene Zeit, darum reicht es nicht, einfach die Uhr zu können, wie es als Kind früher hieß. Ich könnte in dem Zusammenhang auch die Uhrmacher am Drammensveien erwähnen, die gegenüber dem Schlosspark in einer Reihe lagen, Vater nahm mich zu einem von ihnen mit, als ich meine erste Uhr bekam, das ist, soweit ich mich erinnern kann, das einzige Mal, dass er mich irgendwohin mitnahm, Vater und ich standen uns nah, aber es gab selten oder nie wirklich Nähe. Doch das ist nicht, woran ich ihn erinnern will. Das kommt nicht in Frage. Ich will lieber erzählen, dass diese Uhrmacher mich inspirierten, mein erstes Gedicht zu schreiben, also ein Gedicht, das ich als meins, nur meins betrachten konnte, denn so, wie ich es damals sah, hätte niemand außer mir es schreiben können. Ich stand also vor einem der Uhrmachergeschäfte am Drammensveien, und plötzlich sah ich, dass alle Uhren im Schaufenster eine andere Zeit zeigten. Ich sah es plötzlich, wirklich auf einen Schlag, und dieser Anblick war darum eine Art Vision, ich war zwölf Jahre, und hier im Diakoniekrankenhaus, im Sommer 2009, 45 Jahre später, und das Uhrmacherschaufenster noch immer ebenso klar vor Augen, kommt mir der Gedanke, dass das Schreiben und das Totenbett eines gemeinsam haben: die Zeit.

– Erzähl mir von China, sage ich.

2

Großmutters Buch, das Erinnerungsbuch, oder das Memorandum, wurde mit der Zeit mein liebster Besitz. In ihm war kein Platz für Erinnerungen, schlicht weil ich noch keine Geschichte und darum noch nichts zu erinnern hatte. Das ist die einzige Freiheit des Kindes. Die Erinnerungen kamen mir eher entgegen, Träume verkleidet als Erwartung und Hoffnung. Aber ich schuf mir mithilfe des Buchs ein Privatleben. Nicht, dass ich es mit Geheimnissen gefüllt hätte, verbotenen Gedanken, schmutzigen Wörtern oder anderen zwielichtigen Dingen, nein, weit gefehlt, das wäre nicht meine Art gewesen. In diesem Memorandum stand nichts, was ich nicht meinen Eltern oder auch meiner Großmutter hätte zeigen können, doch in den Entscheidungen, die ich traf, lag ein Muster verborgen, ein Muster, das selbst ich nicht bemerkte, und darum ist es vielleicht doch richtig zu sagen, dass ich meine Geheimnisse, meine offenen Geheimnisse eintrug: Ich notierte Adressen.

Zu dieser Zeit, in meinem letzten Jahr auf der Volksschule, und danach im Herbst 1967, als ich auf die Realschule kam, verdiente ich mir als Blumenbote etwas Geld dazu. Drei Tage die Woche radelte ich mit den Sträußen in einem Pappkarton auf dem Gepäckträger in der Gegend herum. Sobald ich nach Hause kam, holte ich das Memorandum hervor und schrieb die Adressen auf, an die ich Blumen geliefert hatte, sonst nichts, weder, was ich mit jeder Fahrt verdient, noch ob ich Trinkgeld bekommen hatte, auch das Datum notierte ich nicht, nur diese Adressen, in alphabetischer Reihenfolge. Unter J steht zum Beispiel:

Josefines gate Klinikk

Jacob Aalls gate 49

Josefines gate Klinikk

Jacob Aalls gate 12

Josefines gate 2

Die Josefines gate, die nach der schwedischen Königin Joséphine benannt ist, geht von Uranienborg bis nach Homansbyen, wo mehrere aus meiner Volksschulklasse wohnten; zum Glück habe ich bei ihnen nie Blumen geliefert, ich weiß nicht genau, warum, aber ich fand es irgendwie unpassend, die Dinge zu vermischen. Ich bin übrigens in der Josefines gate Klinikk auf die Welt gekommen, am 21. September 1953, eine durchaus beschwerliche Geburt für meine Mutter, da ich mit den Füßen zuerst kam, also auch beschwerlich für mich, und obwohl ich dem Memorandum zufolge zweimal mit Blumen dort war, sehe ich das Innere der Klinik nur schemenhaft vor mir; ich erinnere mich jedenfalls an eine breite Treppe, ein massives Geländer, aus Stein, abgerundet und glatt und schön, mit der Hand drüberzufahren, das Echo meiner eigenen Schritte, und ansonsten die Stille, wie es sich für so einen Ort gehört. Ich musste den Strauß an einer Art Rezeption abliefern, wo eine ältere Dame in weißer Krankenschwesteruniform den Zettel unterschrieb, den ich später Herrn Radoor, dem Inhaber des Blumengeschäfts, aushändigen musste, als Bestätigung, dass der Auftrag ausgeführt wurde, aber diese Quittung war auch als Lohnzettel zu betrachten: Sie hatte einen Wert von anderthalb Kronen. Die Jacob Aalls gate, die unten am Vestkanttorget beginnt und sich bis ganz nach Fagerborg zieht, war eine gute Straße, um Blumen zu liefern, es war leicht, die verschiedenen Nummern zu finden, und wenn ich über die Suhms gate hinausmusste, bekam ich fünfzig Øre Zuschlag, also insgesamt zwei Kronen. Wenn ich so weit fahren musste, nahm ich im selben Aufwasch oft noch Lieferungen ins Ullevål-Krankenhaus mit. Hinterher konnte ich dann den Kirkeveien runterrollen, die Tasche voll Wertpapiere und mit einer Hand am Lenker! Nr. 49 lag an der Ecke Ole Vigs gate, und ich kann mich bei ihr an nichts Besonderes erinnern, sie verschwimmt mit anderen, ebenso namenlosen Adressen in einem Schummerlicht, das den farbigen Glasfenstern dieser alten Treppenhäuser aus dem Jahrhundert vor mir geschuldet ist.

Unter S steht:

Studentenheim

Skovveien 15

Skovveien 7

Schives gate 12

Stensgate 16

Skovveien 20

Der Skovveien lag gleich beim Blumenladen um die Ecke, er hatte seinen Namen von dem Waldgebiet, das früher bei Uranienborg lag. Die Nummer 7 war im Vergleich mit den anderen Häusern im Skovveien ein ziemlich modernes Gebäude im Stil des Funktionalismus, 1936 von dem Architekten Fredrik Stoud Platou entworfen, er war es, bei dem Vater Anstellung fand, als er von Kopenhagen nach Oslo kam, und in diesem Architekturbüro sollte er den Rest seines Lebens arbeiten. Ich erinnere mich, dass in der Nummer 7 niemand zu Hause war. In so einem modernen Haus wohnten nämlich moderne Menschen. Auch der Nachbar machte nicht auf, zum Glück, hätte ich beinahe gesagt, denn es war nie angenehm, jemand zu bitten, Blumen für andere anzunehmen, im ersten Moment dachten sie nämlich, das Bukett sei für sie, und ihre kaum verhohlene Enttäuschung war schwer zu ertragen. Am Ende musste ich das Bukett vor die Tür stellen und hoffen, dass jemand nach Hause kam, ehe die Blumen verwelkten, eine zutiefst unbefriedigende Lösung, da ich keine Quittung bekam, was wiederum Herrn Radoor grantig und giftig machte, und er war eh schon mürrisch genug. Direkt gegenüber der Nr. 7 lag die Vestheim Skole, an der ich die erste Klasse der Realschule besuchte. Ich wollte lieber niemand begegnen, den ich kannte, was auch selten geschah; ich blieb die meiste Zeit ungesehen, wenn ich näher nachdenke, war es so, dass ich nie jemand begegnete, ich war ein unsichtbarer Bote, der durch die Stadt radelte und gute Nachrichten überbrachte: Blumen. Aber das war nach der Schule, und der verlassene Schulhof erfüllte mich mit einer müden Melancholie. Die Schives gate ist nach dem Numismatiker Claus Jacob Schive benannt, dessen Spezialgebiet römische Münzen waren. Sie beginnt am Arno Bergs plass und endet am Vestkanttorget, zwei geografische Punkte, die in meinen Träumen von Oslo für Musik und Kameradschaft stehen. Ich mochte die bunten Häuser in der Schives gate, rote, grüne, gelbe mit kleinen Gärten drumrum. In der Schives gate war immer jemand zu Hause, und hier bekam ich am häufigsten Trinkgeld. Aber nicht in der Stensgate. Die wird nach einem Stein benannt sein. Die Stensgate ist jedenfalls ein ungemütliches Stück von der Thereses gate zum Ullevålsveien, da gehört sie irgendwie hin, entlang der östlichen Grenze von Fagerborg, und es ist wohl kein Zufall, dass Einrichtungen wie das Osloer Altenheim für Frauen, das Erziehungsheim Kleinkindwohl und die Kinderkolonie Stensgate hier ihre Adressen hatten. Die Nummer 16 war, soweit ich mich erinnere, ein recht neuer Wohnkomplex, man musste erst unten klingeln, um ins eigentliche Treppenhaus zu kommen, und dann stand man da und musste erklären, wer man war und was man wollte, ein mühsames und oft auch unangenehmes Geschäft, weil die Kunden dachten, jemand wolle sie reinlegen, nein, die Stensgate konnte ich nicht ausstehen, ich war nie scharf drauf, dort hinzuradeln, auch wenn die Fahrt zwei Kronen einbrachte. Das Studentenheim lag im Underhaugsveien, zwischen Pilestredet und Bogstadsveien, hier wohnten, soweit ich weiß, nur christliche Studenten, aber warum einer von ihnen Blumen bekommen sollte, kann ich nicht sagen.

Ich führe mir die Langsamkeit dieser Adressen vor Augen, ein aufwendiger Plan, der sich kreuz und quer durch die Stadt meiner Kindheit zieht, und das erinnert mich an das alte Spiel, Land abnehmen, das wir oft in den Parks spielten: Wir warfen ein Taschenmesser so, dass es zitternd steckenblieb, und zogen von dem Punkt eine Linie, die markierte, was uns und was dem Gegner gehörte. Erst jetzt sind diese Adressen, die nur für den Augenblick, den Tag gedacht waren, Erinnerung geworden. Die Zeit hat das Memorandum sozusagen auf die Seite gedreht wie eine Schildkröte, die nach einer starken Welle hilflos auf dem Rücken liegt.

Und dann fing ich an, Gedichte zu schreiben. Der Auslöser war der Anblick der Uhren in den Uhrmachergeschäften am Drammensveien. Wahrscheinlich auch zusammen mit den Texten der Platten, die ich in dieser Zeit hörte, The Beatles, The Lovin’ Spoonful, Kinks und schließlich The Doors. Mein größter Wunsch, den ich mit allen Gleichaltrigen teilte, war, in einer Band zu sein. Aber was hatte ich schon zu bieten? Ich ging auf die Klavierakademie am Solli plass. Keine Band in Oslo konnte einen klassischen Pianisten gebrauchen. Dann kam mir die Idee, eine Art Notlösung: Ich konnte die Texte schreiben. Oder anders gesagt, und so wahr, wie es nur geht: ich konnte es nicht lassen. Ich schrieb Gedichte, weil ich es nicht lassen konnte. Ich schrieb sie zwischen die Adressen. Ich legte mir zu diesem Zweck also nicht ein eigenes Buch zu, sondern benutzte Großmutters Buch. Ich hätte mir leicht ein neues beschaffen können, mein Vater war wie gesagt Architekt und auf dem schrägen Zeichentisch im Esszimmer lagen jede Menge Notizblöcke, Hefte und lose Blätter. Ich muss gedacht haben, dass die Adressen und meine Gedichte zusammengehörten und nicht dadurch getrennt werden durften, dass sie in verschiedenen Heften standen. Warum das so war, hatte ich wahrscheinlich keine Ahnung. Dass es etwas mit meinem Privatleben zu tun hatte, steht außer Frage, aber es war mehr als das. Denn in dieser Entscheidung, die Adressen und die Gedichte zu vereinen, liegt das verborgene Muster. Ich muss geahnt haben, dass es eine Bedeutung hatte. Die Ahnung an sich war schon bedeutungsvoll. Ich glaube, dass es so zu verstehen ist: Was die Gedichte und die Adressen gemeinsam hatten, war die Stadt, kurz: mein Radius, meine geografische Möglichkeit, aber mehr als alles andere war meine Großmutter das gemeinsame Glied zwischen dem Gefühl meiner Zugehörigkeit und meiner Phantasie. Ich wollte, dass es so war.

So makellos die Adressen sind, im Sinn von: unveränderlich, sind die Gedichte eher durchwachsen. Ich will mich nicht lang mit ihnen aufhalten, will nur daran erinnern, dass wir uns im Jahr 1967 befinden, ich bin gerade vierzehn geworden und höre unter anderem Magical Mystery Tour, vor allem I’m the Walrus fasziniert mich. Darum können zwischen Riddervolds gate und Pilestredet Strophen auftauchen wie diese: Bist du je aufs Rathaus geklettert, wenn du denkst wie eine giftspritzende Kobra, und du lachst dich kaputt? Sitzt ganz oben im Mast, glaubst, dass du den Kopf festgeklebt hast. Bist immer kurz vorm Sterben. Das ist ehrlich gemeint, aber wahrhaftig werde ich erst mit meinem Gedicht über die Uhrmacher am Drammensveien: Wenn ich / zwei Uhren / auf einmal sehe / die verschiedene Zeiten zeigen / bekomme ich Angst / Bin ich es/ der falsch geht? Hier bin ich meiner eigenen Stimme so nah, wie es nur geht. Alles, was ich seitdem geschrieben habe, ist nur eine Ausweitung des Feldes, das diese Zeilen umreißen. Und dieses Gedicht ist die Tür, die ich zu Großmutters Geschichte öffnen kann.

3

Im Jahr 1952 schrieb mein Großvater die folgenden Zeilen an meinen Vater, eine Art Merkzettel:

Vor vielen Jahren, vermutlich um die Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft (1788), kam ein Mann zu einer Landauktion in Asdal in Vendsyssel. Der Mann kam mit einem alten Ochsenkarren gefahren, er war mit weißen Lederhosen bekleidet und schien ein armer Mann zu sein, doch im Karren hatte er eine Eisenkiste voll Goldgeld, und auf der Auktion erwarb er die Höfe Hestehaven, Skovgård und Gedebro sowie eine Menge Land und bezahlte mit klingender Goldmünze. Wie der Mann hieß, oder wo er herkam, ist nie geklärt worden. Er war dein Urururgroßvater. Sein einziger Sohn liegt auf dem Friedhof in Asdal begraben. Er war Dein Ururgroßvater. Er hieß Jokum Jokumsen, dein Ururgroßvater. Jokum hatte 4 Söhne und 1 Tochter. Die Tochter bekam Hestehaven und Gedebro. Peter bekam einen Hof in Bindslev und war sehr wohlhabend und angesehen. Laurits hatte einen Hof in Asdal. Lars hatte Skovgård. Thomas, dein Urgroßvater, hatte einen großen Hof in Horne. Er war mit Ane, geb. Isaksen verheiratet, und sie bekamen 14 Kinder, von denen 9 in recht jungem Alter starben. Thomas und Ane ließen sich später scheiden, und der Hof wurde verkauft. Ane blieb in einem Haus in der Nähe des Hofs und bezog ein Ausgedinge, sie hatte ihr reichliches Auskommen. Thomas hatte 3 Kinder außer der Ehe und baute auch schöne Häuser für 2 Frauen. Von den verbliebenen 5 ehelichen Kindern wohnte eine Tochter in Anes Haus. Auch Jens wohnte dort später. Laurits war Offizier und Zollbeamter in Dänisch Westindien und sehr wohlhabend. Ein dritter Sohn war in der Nähe von Hjørring wohnhaft. Ein vierter Sohn, Maurermeister Christian Thomsen, dein Großvater mütterlicherseits, war mit Ane Marie verheiratet und wohnte in Hjørring. Sie hatten 10 Kinder, von denen Hulda mit mir, Jørgen Christensen, verheiratet ist, wohnhaft in Kopenhagen.

Was veranlasst einen älteren Mann, seinem Sohn eine solche Notiz zu schreiben? Ist es, weil er krank ist und vor Ende des Jahres sterben muss und er deshalb den Wunsch hat, unsere Lebensläufe in einen größeren Zusammenhang, den Gang der Generationen zu stellen? Vielleicht hat er das in China gelernt: Um sich selbst zu verstehen, muss man wissen, wo man herkommt, am besten fünf Generationen zurück, und man sollte auch imstande sein, ebenso viele Glieder vorauszusehen. Nur dann ist man überhaupt in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Aber genauso gut kann es eine Liebeserklärung an seine Frau, Hulda, meine Großmutter sein, geschrieben von einem schweigsamen, sterbenden Schiffskapitän, der mit diesen Worten zeigen will, wie wundersam unser Dasein eingerichtet ist, wenn ein unbekannter Mann ohne Namen, der Ende des 18. Jahrhunderts bei einer Landauktion in Asdal erscheint, eine Familie stiftet, die es hundert Jahre später Hulda Thomsen ermöglicht, in Hjørring das Licht der Welt zu erblicken, am 17. April 1880, und in die mein Großvater sich im Jahr 1905 vom Fleck weg verliebte, als er das Hutgeschäft in Aalborg betrat, wo sie als Modistin angestellt war.

Ich habe eine Fotografie von Großmutter Hulda und ihren Schwestern aus dieser Zeit um die Jahrhundertwende. Sie ist im Atelier Empire aufgenommen, das in der Frederiksberggade 38 in Kopenhagen lag und mit Photographie auch an dunklen Tagen und abends bei Elektrischem Licht warb. Die Schwestern fuhren also den weiten Weg in die Hauptstadt, um sich fotografieren zu lassen, das war teuer, und eine so beträchtliche Ausgabe war nicht rein zum Vergnügen, die Fotografie sollte auch als Reklame für das Hutgeschäft in Aalborg dienen. Mit ihren schönsten Kreationen auf den Köpfen stehen die fünf jungen Frauen Schulter an Schulter, und wenn man sie sieht, begreift man leicht, dass es Jørgen Christensen, der eben erst von Admiral Amdrups großer Grönlandexpedition zurückgekehrt war, den Atem verschlug. Ihre Gesichter sind ernst, aber das wird nicht nur am Ernst des Augenblicks gelegen haben, sondern eher der Zeit, die es dauerte, das Licht auf die Platte zu bannen. Fotografiert werden hier hieß damals beinahe buchstäblich hinters Licht geführt zu werden. Und man kann auch nicht ewig lang lächeln. Der Ernst ist also neutral. Doch er hängt auch mit ihrer Erziehung zur Bescheidenheit zusammen, als Töchter von Maurermeister Thomsen. Ihr Ernst macht die extravaganten Hüte weniger protzig. Die Thomsen-Schwestern plustern sich nicht unnötig auf. Das gehört sich nicht. Dafür spricht aus ihrer Haltung und ihrem Blick ein natürliches Selbstvertrauen. Links im Bild steht Laura, 1887 geboren und schlicht Tante La genannt, sie wollte Künstlerin werden, lebte eine Zeit in Paris und malte romantische Bilder, die hauptsächlich von Familie und Freunden geschätzt wurden. Sie heiratete nicht, hatte nie ein eigenes Zuhause, sondern wohnte ihr Leben lang nur übergangsweise, vor allem bei ihren Schwestern. Einer dauerhaften Beziehung noch am nächsten kam sie während des Krieges, als sie eine Zeit lang in einem Sommerhaus in Hornbæk Schutz suchte, zusammen mit einem holländischen Flüchtling, der später spurlos verschwand. Ich traf Tante La, als sie am Ende doch einen festen Wohnsitz hatte, im Altersheim in Birkerød, zusammen mit Großmutter Hulda, und ich habe sie als ein Original in Erinnerung, eine lachende, aufbrausende und aufmüpfige Alte in wallenden Gewändern und mit wilder Frisur, so weit weg von dem stilisierten Porträt im Atelier Empire wie nur möglich. Und doch, lassen die retuschierten Gesichtszüge der jungen Frau schon ein Schicksal ahnen? Ja, Mund und Augen umspielt eine Traurigkeit, die bereits damals von etwas Unerfülltem zeugt, und der ausladende schwarze Hut unterstreicht diese Ahnung, indem er ihr Gesicht in Schatten taucht. Tante La starb im Jahr 1971. Neben ihr steht Marie Thomsen, die später bloß Tante Mie hieß. Sie heiratete Julius Thorsen, Großhändler und Vorsitzender des Dänischen Fechtverbands. Das Paar wohnte all die Jahre in einer Dachgeschosswohnung in Nørrebro in Kopenhagen mit Schrägdecke und Gaubenfenstern. Gleich beim Reinkommen fiel der Blick auf zwei Fässchen mit Portwein und Sherry, aus denen man sich nach Belieben bedienen durfte. Tante Mie arbeitete als Buchhalterin in einer kleinen Reederei. Die beiden hatten keine Kinder, lebten aber glücklich und zufrieden. Sieht man das vielleicht nicht schon an Tante Mies Hut, so hell schimmernd und schattenlos, wie er ist? Ich bin ihnen nie begegnet. Woher weiß ich dann das alles? Mein Vater hat vor seinem Tod Notizen gemacht. In ihnen steht, was ich weiß. Er machte also dasselbe wie sein Vater, er wollte die Erinnerungen, den Rohstoff der Geschichte, an uns weitergeben, solange er es noch vermochte. Alma Thomsen, in der Mitte, 1882 geboren, starb im Jahr 1929, als mein Vater erst zehn Jahre alt war. Sie heiratete Emil Francis, einen wohlhabenden Arzt, und wohnte in einer schicken Wohnung im Herzen eines der besseren Viertel von Kopenhagen. Vater hatte sie gleichwohl als einen schwermütigen Menschen in Erinnerung, aber das kann genauso gut etwas sein, was ihm erzählt wurde, denn am stärksten in Erinnerung blieben ihm die Weihnachtsfeiern in der Wohnung: wenn die Flügeltüren aufgingen und plötzlich ein riesiger, kerzengeschmückter Baum vor ihm stand wie eine Offenbarung. Die beiden hatten einen Sohn, der auch Arzt wurde und am Koreakrieg teilnahm. Im Übrigen besaßen sie ein wahres Prachtexemplar von einem Auto, einen deutschen Adler. Caroline Thomsen, ganz rechts, wurde 1876 geboren und starb 1961. Sie heiratete den Postbeamten Christian Erichsen. Sie wohnten zuerst in Valby, bekamen fünf Töchter, zogen dann aber nach Birkerød, als Christian dort zum Postmeister befördert wurde. Mein Vater radelte oft die zwanzig Kilometer von der Cort Adelers gade zu ihnen raus, angelockt von der Buchbindewerkstatt, die Cousine Bodil auf dem Dachboden eingerichtet hatte. Wahrscheinlich wurde hier sein Interesse für Bücher als Gegenstand, in dem Kunst und Handwerk sich vereinen, geweckt, ein Interesse, das zeitlebens nie erlosch. Und links neben Caroline steht also Hulda Thomsen, meine Großmutter, auf dem Kopf einen prächtigen Hut, eine weiße Welle mit Rand aus schwarzer Seide. Sie trägt ihn mit schlichter Selbstverständlichkeit. Und an ihr erkenne ich sie sofort wieder, diese selbstverständliche, besonnene Art, der Zweifel und Klagen stets fremd waren. Noch als sie alt, bucklig und faltig war und mit der Dänemarkfähre nach Oslo kam, nein, sie kam mit der Oslofähre aus Kopenhagen, trug sie sich mit dieser Selbstverständlichkeit, die frei war von Überlegenheit oder großen Ansprüchen, sondern Ausdruck eines Menschen, der seinen Platz kennt, was nicht Unterwürfigkeit heißt, sondern im Gegenteil Stärke. Sie hatte sich ihren Platz erkämpft. Was war also der Platz von Hulda Christensen, geborene Thomsen? Ich hätte gerne dichterisch über sie geschrieben. Sie ist Material für Fiktion. Das habe ich seit jeher gewusst. Sie ist der Roman, den ich immer schreiben wollte. Ausgehend von den wenigen biografischen Auskünften, die mir zur Verfügung stehen, hätte ich einen Roman geschrieben, in dem drei Städte je ihren Teil gehabt haben würden: Hjørring, Kopenhagen und Hongkong. So habe ich immer gearbeitet: Wo meine Erfahrung endet, beginnt meine Fantasie. Und weil Meer, Schiffbruch und Rettung aus Seenot der epische rote Faden gewesen wären, hätte ich mit der Erzglocke an Bord der englischen Fregatte The Crescent begonnen, die am 5. Dezember 1808 bei Rubjerg Knude an der Westküste Jütlands auf Grund lief. Von 325 Seelen an Bord konnten nur 55 gerettet werden. Noch heute kursieren über diesen Schiffbruch Gerüchte, die im Lauf der Zeit zu Legenden geronnen sind. Das havarierte Schiff war von Land aus zu sehen, in dem unerbittlichen Nordostwind kämpfte die Besatzung einen letzten, verzweifelten Kampf gegen die übermächtigen Wogen, die über das Deck hereinbrachen und währenddessen läutete die Glocke der Crescent ohne Unterlass. Als der Sturm sich legte, war das Meer voller Leichen, die langsam an Land trieben. Am Ende war der ganze Strand mit Leichen bedeckt. Die Offiziere und ihre Gemahlinnen in ihren kostbaren Kleidern lagen Seite an Seite mit den Matrosen. Die Fischerleute bestatteten die Toten in einem Gemeinschaftsgrab in der Nordwestecke des Maaruper Friedhofs, dem Ort für die Heimatlosen. Das Wrack der Crescent lag noch viele Jahre vor der Küste auf Grund, bis der Sand es nach und nach verschluckte. Doch bei Ebbe ragte die Erzglocke aus den Fluten, die Brandung brachte sie zum Schwingen und ihr tiefer, mächtiger Klang war die ganze Küste entlang zu hören und gemahnte an die Schiffbrüchigen und all jene, die in diesen rauen Gewässern dasselbe Schicksal erleiden sollten. Nach vielen Jahren wurde die Glocke schließlich geborgen. Nun hängt sie in der Kirche von Skallerup und ruft dort jeden Sonntag die Lebenden. Ihr Ruf sollte auch in meinem Roman erklingen, von der Jammerbucht nach Hjørring, von Hjørring nach Kopenhagen, und von den Lagerhäusern am Nyhavn bis nach Hongkong. Ich habe immer gedacht: Die Dichtung verhält sich zur Wirklichkeit wie die Musik zum Instrument. Aber welches Recht habe ich, über meine Großmutter zu dichten? Wozu soll das gut sein? Ist sie selbst etwa nicht genug? Großmutter ist mehr als genug. Sie füllte ihr Leben voll und ganz. Ich bin derjenige, der zu kurz greift, wenn ich zu ihrer Geschichte etwas hinzudichte, ganz gleich, was für ein Klang entsteht. Nur weiß ich eben nicht sonderlich viel von ihr. Eins steht jedoch fest: Sie hatte, nein, sie nahm sich ihren Platz unter den Männern der Zeit, will heißen starken, autoritären und vermutlich rechtschaffenen Männern, die ihrerseits nicht an ihrem Platz zweifelten. In so einer Schar kann man leicht untergehen. Denn während die Leben dieser Männer durch Zeugnisse, Würdigungen, Orden, Interviews, Festreden und Nachrufe dokumentiert sind, fehlt von den Leben der Frauen jeder Beleg. In der Zeitung Nordjyske Dagblad vom 11. Oktober 1918 kann man die folgenden Worte über Huldas Vater, meinen Urgroßvater, lesen:

Ein alter Ehrenmann hat seine Augen geschlossen. Die Rede ist von Maurermeister Chr. Thomsen, Hjørring. Er ist gestern im Alter von 76 Jahren verstorben. Als junger Mann kam Thomsen nach Hjørring und fand Arbeit in der Aktienbrennerei in der Nørregade. Doch der strebsame Mann arbeitete sich nach oben und brachte es im Lauf der Jahre zu einem eigenen, bedeutenden Betrieb. Er war Handwerker der alten Schule, ein guter Bürger, der frühmorgens stets frisch und freudig ans Werk ging. Er war kein Mann vieler Worte, sondern ein Mann der Tat. In Hjørring hat er eine Reihe großer Bauten errichtet oder ihrem Bau vorgestanden. So lag viele Jahre alle Arbeit an staatlichen Gebäuden in seinen Händen, und von den Bauherren, mit denen seine Arbeit ihn zusammenbrachte, wurde er sehr geschätzt. Gut 30 Jahre war Thomsen Brandinspektor, bis ihn der Stadtingenieur in diesem Amt ablöste. Thomsen tat jedoch weiterhin als Vize-Brandinspektor Dienst. Darüber hinaus war er Brandgutachter in Versicherungsfällen, Mitglied des Kirchenrats und des Bauausschusses, usw. Bei seinem Tod war er Vorsitzender der »Dänischen Waffenbrüder«, Abteilung Hjørring. Thomsen war Veteran von 1864.

Wie erwähnt war Thomsen im Alltag ein recht schweigsamer Mann. Doch in festlicher Gesellschaft legte er zuweilen großen Witz an den Tag und war lebendig und sprudelnd wie wenige.



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