Magnet - Lars Saabye Christensen - E-Book

Magnet E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Wie zwei Magneten ziehen sie sich an: Jokum Jokumsen, Student der Literaturwissenschaft, Jazzliebhaber und – zu seinem Leidwesen - über zwei Meter groß. Und Synne Sager, Studentin der Kunstgeschichte, Vegetarierin und Besitzerin von Hubert, einem Hamster, der illegalerweise bei ihr wohnt. Ein Studentenwohnheim in Oslo in den 1970er Jahren. Hier lernen sie sich kennen und lieben. Im Laufe ihres Lebens zieht es die beiden nach San Francisco, wo Jokum sich der Fotografie widmet. Auf seinen Bildern zeigt er das Schöne und die Melancholie des Gewöhnlichen. Er fühlt sich wohl auf der Straße, im Alltäglichen, wo er nicht auffällt. Wohler als in Galerien oder Museen. Synne hingegen ist Kuratorin. Und möchte bekannt werden. Das Besondere leben. Eben gerade nicht gewöhnlich sein. So ungleich sie auch sein mögen, so groß ist doch die Liebe zwischen ihnen. Eine magnetische Liebe. Mit Plus- und Minuspol. Mit Anziehungs- und Abstoßungskraft …

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Seitenzahl: 1434

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Zum Buch

Wie zwei Magneten ziehen sie sich an: Jokum Jokumsen, Student der Literaturwissenschaft, Jazzliebhaber und – zu seinem Leidwesen – über zwei Meter groß. Und Synne Sager, Studentin der Kunstgeschichte, Vegetarierin und Besitzerin von Hubert, einem Hamster, der illegalerweise bei ihr wohnt. Ein Studentenwohnheim in Oslo in den 1970er Jahren. Hier lernen sie sich kennen und lieben. Im Laufe ihres Lebens zieht es die beiden nach San Francisco, wo Jokum sich der Fotografie widmet. Auf seinen Bildern zeigt er das Schöne und die Melancholie des Gewöhnlichen. Er fühlt sich wohl auf der Straße, im Alltäglichen, wo er nicht auffällt. Wohler als in Galerien oder Museen. Synne hingegen ist Kuratorin. Und möchte bekannt werden. Das Besondere leben. Eben gerade nicht gewöhnlich sein. So ungleich sie auch sein mögen, so groß ist doch die Liebe zwischen ihnen. Eine magnetische Liebe. Mit Plus- und Minuspol. Mit Anziehungs- und Abstoßungskraft …

Zum Autor

LARS SAABYE CHRISTENSEN, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind vielfach preisgekrönt und wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman »Der Halbbruder«, für den er den »Nordischen Literaturpreis« erhielt, feierte er in ganz Europa und den USA Triumphe. Der Autor lebt in Oslo.

LARS SAABYE CHRISTENSEN

MAGNET

ROMAN

Aus dem Norwegischenvon Christel Hildebrandt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die norwegische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Magnet« bei Cappelen Damm, Oslo.
Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.Der Verlag bedankt sich dafür.
Gemälde: Johan Gørbitz »Mannsakt«; Fotograf: Jacques Lathion; © Nationalmuseum für Kunst, Architektur und Design, Oslo; Stiftung Architekturmuseum
Die Illustrationen von Storm P. »Den underlig mand 2«, »Den underlig mand 1941«, »I badesaesonen« und »Verdenssituationen« auf den Seiten 230 und 231 wurden uns freundlicherweise vom Storm P. Museum, Kopenhagen, zur Verfügung gestellt.
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Lars Saabye Christensen Copyright © 2018 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © Two People, The Lonely Ones, Edvard Munch/Whitworth Art Gallery, The University of Manchester/Bridgeman Images Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-19224-2V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

PROLOG

Dieser Roman beginnt nicht so:

Ich war niemals in Amerika.

Einige werden sicher einwenden, es handele sich eigentlich um zwei Romane und jeder solle für sich stehen. Denen möchte ich zuvorkommen: Dieser Meinung bin ich nicht. Es muss so sein. Das Leben selbst, wenn ich so große Worte benutzen darf, brach mit solcher Kraft und Präzision in die Arbeit ein, dass jeglicher Widerstand unmöglich war. Es gibt Entscheidungen, die außerhalb aller Kritikfelder liegen. Im Laufe der Lektüre wird der Leser das verstehen. Aber zumindest ist es jetzt gesagt.

Und auch das kann ich noch sagen:

Fotografieren bedeutet, etwas wegzulassen. Schreiben bedeutet, etwas hinzuzufügen.

Wer nach Material über Jokum Jokumsens fotografische Technik sucht, den möchte ich auf Artikel in diversen Zeitschriften und Katalogen verweisen, u. a. Moma Annual, Louisiana Revy, Popular Photography und 54. Venice Biennale. Ich bin mehr interessiert an dem Handwerk, das ich als Bindeglied zwischen Technik und Kunst ansehe.

Meine eigene Schriftstellertätigkeit, die in alle Richtungen sprießt, habe ich hintangestellt und alles lieber in einer einzigen Ausgabe zusammengefügt, nämlich in dem Roman, den ich schon immer schreiben wollte, Magnet.

An einigen Stellen habe ich beträchtlich gebremst, in anderen Bereichen habe ich übertrieben und bin vielleicht sogar zu weit gegangen, je nachdem, wie die Laune es gerade befahl. Ich schreibe, weil ich keinen Schwanz habe, mit dem ich wedeln oder den ich mir zwischen die Beine klemmen kann. Aber trotzdem bin ich der Meinung, dass ich den Grundton des Romans getroffen und gehalten habe: Letztendlich geht es darum, die Zeit verstreichen zu lassen.

Was bedeutet, dass es sowohl feste Knoten als auch lose Fäden gibt.

Bei einzelnen Charakteren war ich nicht imstande, ihnen bis ins Ziel zu folgen, einfach weil ich sie aus den Augen verloren habe, wie beispielsweise Dr. Q., aber Gerüchte besagen, dass er seine Tage im Gram-Parsons-Zimmer im Joshua-Tree-Nationalpark nahe der Wüste von Mojave beschlossen hat. Ich hätte auch gern gewusst, wer hinter der Bombendrohung gegen das Chateau Neuf stand, als Leonard Cohen dort im Mai 1976 sein Konzert gab. Aber die festen Knoten sind zweifellos in der Mehrzahl. Es sollte kein Zweifel daran herrschen, dass Jokum Jokumsen und Synne Sager die Hauptpersonen sind und ich ihnen gefolgt bin, solange es möglich war. Ich bringe in diesen Roman ein ziemlich schweres Päckchen ein, nämlich den einzigen Wunsch, er möge leicht zu lesen sein. Mit anderen Worten: Der Leser hat nichts zu befürchten.

Es wird schon gut gehen.

Ich erinnere mich an einen Spruch aus der Volksschule: in die Blockflöte spucken. Das sagte man, wenn es in dem Instrument gurgelte und aus dem Mundstück Speichel statt Töne tropfte.

Auch hier gibt es Spucke in der Blockflöte, doch das gehört zu meinem Orchester.

Übrigens hatte ich das große Vergnügen, wenn ich so sagen darf, die beiden Hauptpersonen bei zwei Gelegenheiten zu treffen, das erste Mal in Sogn Studentby, im Herbstsemester 1976, und später unter weniger angenehmen Umständen in Dänemark 2001, im Løkke Sanatorium, das im Volksmund Das Haus auf halber Strecke genannt wird, wo sowohl Jokum als auch ich eingewiesen wurden und wo ich außerdem die Gelegenheit hatte, seine Träume zu teilen, bis wir zum Schluss gemeinsam wieder die Freiheit erlangten, dort, wo sie hingehört, nämlich auf dem Grund. Deshalb bin ich nicht seiner Meinung, wenn er denkt, direkt vor seiner halsbrecherischen Untat, dass wir ganz unten alle gleich niedrig sind. Es ist umgekehrt, möchte ich behaupten: Ganz unten sind wir alle gleich groß. Dennoch lege ich Wert darauf zu betonen, dass ich mich nach bestem Wissen und Gewissen im Hintergrund gehalten habe, obwohl ich hin und wieder verstohlen bei einigen ihrer Treffen aufgetaucht bin. Ein einziges Mal habe ich auch der Versuchung nicht widerstehen können, die Fenster der Erzählung zu öffnen und zu sagen, was ich meine. Betrachten Sie das bitte nicht als ein literarisches Stilmittel, sondern vielmehr als die plötzliche Redseligkeit des Einsamen. Ein wenig Vergnügen muss auch mir vergönnt sein.

Ich habe es mir nicht zum Ziel gesetzt, sämtliche Fotos von Jokum Jokumsen zu erwähnen. Wer mehr wissen will, der kann das aus anderen Quellen erfahren, einige davon sind eingangs bereits erwähnt worden. Aber ich bin davon überzeugt, dass ich dennoch seine wesentlichen Arbeiten mit einbezogen habe, auch wenn ich gern Platz für die Serien aus seiner Studienzeit mit Synne in Kopenhagen gehabt hätte, aber sie passten leider gerade nicht dazu. Ein anderes Bild, dem ich gern größere Aufmerksamkeit gewidmet hätte, ist Norwegian Halleluja, fotografiert in der Norwegischen Seemannskirche in San Francisco, wahrscheinlich 1985, in meinen Augen ein Höhepunkt seines Schaffens. Jokum sah es eher als eine Art Witz an, einen Kommentar. Da bin ich nicht seiner Meinung. Was die Selbstporträts betrifft, die Jokum im Laufe der Zeit gemacht hat, so habe ich diese beiseitegelassen und möchte sie lieber in meiner Schilderung seiner Person durchscheinen lassen.

Der barocke dänische Dichter und Metzgersohn Robert Storm Pedersen (Storm P.), der laut Woels Danske Litteraturhistorie die sogenannte knock-out-form kreiert hat und den Lauritz Jokumsen, Jokums Vater, zu jeder Gelegenheit zitierte, schrieb übrigens: Drüben in San Francisco sterben jeden Tag fünfhundert Menschen vor Lachen – und was ist das für ein Lachen – ich habe einen Mann gekannt, der lachte eine ganze Stunde – in fünf Minuten.

Und ich möchte ihn noch einmal zitieren: Die Blätter des Herbstes fielen, wie die Tage von einem Kalender fallen.

Hätte ich die Energie gehabt, ich hätte mehr über Jens Olesens Weltuhr in Kopenhagen geschrieben, vor allem von der Zeit, als Jokum gemeinsam mit seinen Eltern in den Sommerferien in Hillerød war und sich aussuchen durfte, ob er lieber in den Zoo oder zur Weltuhr fahren wollte. Später erklärte er, er bereue seine Entscheidung.

Und ganz besonders gern hätte ich Alfhild Jokumsen gesehen, Jokums Mutter, wie sie kerzengerade auf ihrem schwarzen Damenfahrrad mit Lebensmitteln, Wollknäueln und Nähgarn im Korb vorn am Lenker durch Skillebekk radelte.

Ich bin, wie man wohl bemerken wird, von der Reihenfolge besessen. Etwas muss zuerst kommen, und etwas muss darauf folgen. Das betrifft Mahlzeiten, Musik, Arbeit, Reisen, Sport, Kleidung, Kunst, Liebe, Krankheit, den Geschlechtsverkehr und Romane. Doch selbst wenn die Reihenfolge meiner Aufzählung zufällig ist, die Summe bleibt die gleiche: Das Leben ist eine Reihenfolge.

Zufälle sind ein Teil dieser Reihenfolge.

Ich möchte Synne Sager danken, dass ich Die Wege, die verschwinden anhängen durfte, es ist ein Teil ihrer Doktorarbeit über Edward Hopper. Ebenso möchte ich mich dafür bedanken, dass ich in ihren Studienunterlagen blättern durfte, wobei mich besonders die Sekundärliteratur interessierte, u.a. Professor Norbert Schneiders Die Realität und die Symbolik der Dinge.

Außerdem möchte ich Arve Storviks Ehefrau Ruth Storvik danken, dass sie es mir gestattet hat, seine Texte zu verwenden. Wer die Melodie dazu lernen möchte, muss die Schallplatten kaufen.

Dieser Roman könnte folgendermaßen anfangen:

Um zu zeigen, dass die Zeit vergangen ist, muss man mindestens zwei Bilder haben.

Doch auch das war nicht ganz richtig.

Vielleicht ist es das Einzige, was mir klar geworden ist.

Sollte mich jemand ausnahmsweise einmal wiedererkennen, werde ich meistens gefragt, aus Verblüffung darüber, dass ich überhaupt am Leben bin, was ich seitdem getan habe. Dann antwortete ich: Ich? Ich habe das Silber geputzt.

Und die Fliegen auf Abstand gehalten.

STUDENTENVIERTEL

DER PROZESS

Jokum war wie üblich der Letzte im Lesesaal. Er studierte Literaturwissenschaft, auf Diplom. Er glaubte, einmal Schriftsteller werden zu können. Das wurde er nicht. Er wurde Fotograf. Es war April, im Jahr 1976. Es war außerdem ein Freitag. Er musste die Kolloquiumsarbeit zu Franz Kafkas Der Prozess fertigbekommen. Aber das mussten die anderen in der Gruppe ja auch, und die waren alle schon seit Langem fertig. War Jokum fauler oder fleißiger als sie? Unmöglich, das jetzt schon zu sagen. Er dachte: Ich sitze nach. Wieder sitze ich nach. Er hatte bereits acht A4-Seiten, liniert, geschrieben, doch aus seiner Sicht war daraus nichts geworden, nichts, wo mit er zufrieden hätte sein können. Er fand sowieso, dass nur aus wenigem überhaupt etwas wurde. Etwas? Was war etwas? Auch darauf hatte Jokum keine Antwort. Was er schrieb, hatte er entweder zuvor gelesen oder von anderen gehört, das über das Individuum, das vom System zerbrochen und ausgelöscht wird, von dem bürokratischen Fegefeuer, all das, was bereits da steht, schwarz auf weiß, das Offensichtliche, worüber man an einem schlechten Tag selbst nur zu gähnen vermochte. Und heute war ein schlechter Tag. Ein Freitag. Aber dieser Roman, der schon längst gelesen und bearbeitet worden war, hatte etwas an sich, das Jokum nicht zu fassen bekam, und das quälte ihn. Er wollte so gern etwas Originelles schreiben, etwas Einzigartiges, wenigstens etwas Persönliches, im besten Fall etwas Neues, einen Gedanken, der zum ersten Mal gedacht wurde. Aber woher sollte er wissen, wenn ihm ein derartiger Gedanke, wider jedweder Vermutung, tatsächlich kommen würde, dass ihn noch nie zuvor jemand gedacht hatte? So etwas war unmöglich. Vielleicht hatte sogar jemand gleichzeitig mit ihm diesen Gedanken. Vielleicht saß ein anderer Student in einem Lesesaal – beispielsweise in der Mongolei, wenn es denn dort überhaupt Lesesäle gab – und dachte das Gleiche wie Jokum? Das meiste kann man nicht wissen. Nein, er hätte einen anderen Roman aussuchen sollen, einen Roman, den nur er gelesen hatte, dann hätten auch seine Gedanken neu sein können, sozusagen frei, aber gab es so einen Roman? Und wie sollte er sicher sein, dass kein anderer ihn gelesen hatte. In diesem Fall müsste er ihn selbst schreiben. Ihm kam die Idee, einen Roman selbst zu schreiben und ihn dann zu interpretieren, aber weiter kam Jokum mit dieser Idee nicht. Also blieb es dabei. Wie üblich. Er hörte auf zu denken, soweit das möglich war, und nahm sich stattdessen das Ende des Prozesses vor, mit dem er sich schon lange beschäftigt hatte, sowohl in wachem wie in träumendem Zustand: Als Josef K. endlich den Dom verlassen soll, sagt er zu dem Pfarrer: Ich kann mich aber im Dunkel allein nicht zurechtfinden. Und das war Jokums Pointe, seine schlichte Zusammenfassung, dass Josef K. Hilfe haben will, Hilfe ist alles, was er will, aber alle, die sagen, sie wollten ihm helfen, führen ihn stattdessen auf den Tod zu. Was bedeutet das? Es bedeutete laut Jokum, dass man sich auf niemanden verlassen kann und dass dieses Leben, hier gemeint als das Dasein an sich, im Grunde genommen tragisch ist. Wir wissen, dass wir sterben werden, und auf dem Weg dorthin ist es auch nicht besonders gemütlich.

Das Leben ist also ein Teufelskreis.

Das sollte vorläufig genügen.

Aber da gab es noch etwas anderes, das Jokum quälte, doch das befand sich außerhalb, oder eher hinter dem Roman selbst, und war dennoch unlösbar mit ihm verknüpft. Denn in einem Nachwort erzählt Max Brod, der enge Freund des Autors, dass er sich Kafkas inständigem Wunsch widersetzt habe, alles was sich in meinem Nachlass findet, restlos und ungelesen zu verbrennen. Damit rettete Max Brod unter anderem den Prozess vor den Flammen. Man stelle sich das mal vor. Man stelle sich eine Welt ohne Der Prozess vor! Kann man sich das überhaupt vorstellen?, fragte Jokum sich und hatte damit also wieder angefangen zu denken. Eigentlich schon. Der Zweite Weltkrieg wäre dadurch nicht vermieden worden. Norwegen hätte so oder so gegen die EWG gestimmt. Jemand hätte früher oder später die Atombombe erfunden, und die Miete in Sogn Studentby wäre trotz allem gleich hoch.

Ja, und?, dachte Jokum. Ja, und?

Die Sache war die: Wäre Der Prozess nicht veröffentlicht worden, säße er nicht hier und schriebe eine Kolloquiumsarbeit darüber. Er wäre vielleicht an einer anderen Stelle, draußen, in der Stadt, unterwegs, oder auf der Piste, wie es auch hieß. Aber höchstwahrscheinlich säße er dennoch genau hier, der letzte Mann an einem Freitagabend im April, im Lesesaal von Sophus Bugge, Universität Oslo, nur mit einem anderen Roman als Der Prozess, beispielsweise mit Der Fremde von Camus oder Hamsuns Auf überwachsenen Pfaden. Der einzige Unterschied wäre mit anderen Worten, dass seine Gedanken woanders wären, nicht bei Josef K., sondern bei Mersault oder bei dem Greis in der psychiatrischen Klinik von Vinderen, aber sein verdammter Körper wäre exakt derselbe, und er säße auf demselben harten Stuhl, nein, das Leben war ein Kreis, ein Teufelskreis. Jokum fiel nichts ein, was Jokum zu einem anderen hätte machen können als zu dem, der er war, es sei denn, er wäre gar nicht geboren worden, und ein anderer hätte seinen Platz eingenommen, wenn er nicht ganz einfach leer geblieben wäre, aber was brachte das ihm, Jokum, nichts, absolut nichts, aber vielleicht hätte es ihm geholfen, hätte er anders geheißen, nicht Jokum, oh, wie konnten sie, diese seine Eltern, nur auf so eine Idee kommen? Er hätte beispielsweise Josef K. heißen können, wenn Max Brod, Kafkas untreuer Freund, den Prozess verbrannt hätte, denn dann wäre dieser Name noch frei gewesen. Aber Jokum? Aus allen Namen, die zur Wahl standen, entschieden sie sich für Jokum, und der Vorname verfolgte ihn auch noch in seinem Nachnamen, er war dort sein eigener Sohn, denn sein vollständiger Name war Jokum Jokumsen.

Aber was wäre passiert, wäre er bei der Geburt vertauscht worden? Hätte man ihn im Krankenhaus liegen lassen, und hätte ein anderer seinen Platz eingenommen?

Auch das war nur ein geringer oder gar kein Trost.

Doch wenigstens brachte es Jokum einen guten Abschluss ein, die Erkenntnis, dass das Leben im Großen und Ganzen gesehen tragisch war, nahezu sinnlos, wir waren nach dem Bild eines sinnlosen Gottes geschaffen worden, wenn es denn Gott überhaupt gab, etwas, woran Jokum stark zweifelte, was er aber auch nicht mit Sicherheit von sich weisen konnte, also zweifelte er. Es gefiel ihm, sich so zu bezeichnen, in guten Momenten wohlgemerkt, ein starker Zweifler. Er legte die Seiten in einen braunen Umschlag, leckte an dessen Rand, es schmeckte verschimmelt, wie ihm schien, vielleicht hatte der Geschmack etwas mit Fallobst zu tun, braunen, weichen Äpfeln im Gras, die im Begriff waren, sich aufzulösen, er musste mehrere Male schlucken, plötzlich war ihm übel, oder er wurde müde, seine Augen brannten, bevor er den Umschlag zuklebte und mit dem Namen des Leiters der Kolloquiumsgruppe beschriftete. Ottar Hansen, sein Name war Ottar Hansen, solide, geradeheraus, kein Firlefanz, Ottar Hansen war ein Name, der seinem Namen alle Ehre machte. Plötzlich saß Jokum im Dunkeln. Er verbarg sein Gesicht in den Händen und glaubte sofort, diese Dunkelheit käme von innen, aus seiner eigenen Dunkelkammer, dass sein Inneres jetzt freigelassen worden war, vielleicht war es der ersehnte Zusammenbruch, ja, es war ein Zusammenbruch. Der musste ja kommen. Er genoss dieses Bild von sich selbst, es war fast wie eine Theatervorstellung: Letztendlich kam es zum Zusammenbruch des beständigen und treuen, aber trotz allem menschlichen Studenten. Ja, so hatte es kommen müssen, früher oder später. So konnte es ja nicht weitergehen. Und jetzt war es dazu gekommen. Wenn eines der hübschen Mädchen, beispielsweise vom kunsthistorischen Institut, ihn hier so sitzen sehen könnte, tragisch, allein im Lesesaal, am späten Freitagabend, mit dem Gesicht in den Händen, badend in seiner inneren Finsternis, würde das nicht einen gewissen Eindruck machen? Auf jeden Fall. Aber vielleicht hatten die Mädchen vom kunsthistorischen Institut ja ein Herz aus Stein? Was wusste Jokum schon von kunsthistorischen Herzen? Wenig. Die kunsthistorischen Herzen waren eine Lektion, die ihm nicht vertraut war. Aber er arbeitete daran. Das muss man betonen. Jokum hatte den großen Wunsch, sich mit dieser Lektion intensiv vertraut zu machen. Ich denke da besonders an eine bestimmte Person, die Wand an Wand mit ihm in der Sogn Studentby wohnte, die das Aufbaustudium in Kunstgeschichte absolvierte und auf die wir später zurückkommen werden. Jokum konnte sich gut vorstellen, in ihr geprüft zu werden, sowohl schriftlich als auch mündlich. Denn er saß ja sowieso in der Dunkelheit, und somit konnte ihn auch niemand sehen. Aber es handelte sich eher um eine Dunkelheit im übertragenen Sinn, von der hier die Rede ist, eine Dunkelheit, in der man gesehen werden kann, in dem Nachtschein der Melancholie. Es sollte schicksalsschwerer sein, mein Leben, dachte Jokum, es sollte mehr Größe haben, mehr Höhe, nicht nur Zentimeter, es sollte ganz einfach mehr zu verlieren geben, nein, Letzteres zog er sofort wieder zurück, warum sollte er mehr zu verlieren haben? Er wollte nicht mehr zu verlieren haben, wenn doch, müssten das einige dieser Zentimeter sein, mit denen er gesegnet oder eher verflucht worden war, möglichst viele. Es gibt einen Begriff, in die Höhe schießen. Und nur, damit es einmal gesagt worden ist: Jokum war in die Höhe geschossen. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht, ein Ziel, das er sich übrigens nie gesetzt hatte. Es war der Körper, der sein Ziel erreicht hatte. Jokum war also mit seinem Körper aus dem Takt gekommen. Sie hatten unterschiedliche Interessen. Der Körper wollte sich hervortun. Jokum wollte sich am liebsten auflösen. Der Körper wollte hoch hinaus. Jokum wollte hinab. Lange Zeit hatte er daran gezweifelt, ob das überhaupt sein Körper war, ob er sich nicht nur einfach geirrt hatte und dieses Missverständnis eines Morgens aufgeklärt sein würde und er in einem ganz normalen Körper aufwachte, einem Körper, der weder mehr noch weniger war. Dazu kam es jedoch nicht. Das Leben war kein Teufelskreis. Das Leben war eine Teufelsleiter.

Er nahm die Hände vom Gesicht, und noch im selben Moment kehrte das Licht zurück, nicht sein inneres Licht, sondern das entlang der Röhren an der Decke, in der Leselampe auf dem Tisch, es knisterte überall, elektrische, mystische Koordinaten, Verbindungen außerhalb seiner selbst, und die Dinge um ihn herum, auf den anderen Tischen, begannen zu glänzen, unbedeutende, vergessene Dinge, die er zuvor nie bemerkt hatte, rückten plötzlich näher und forderten mehr Raum: ein Anspitzer, ein Flaschenöffner, ein Brieföffner, ein Schlüssel, ein Kronkorken, es war, als übernähmen diese Dinge das Licht, oder besser gesagt, als käme das Licht in ihnen zum Vorschein, ohne diese Dinge wäre das Licht unsichtbar. Jemand räusperte sich laut. Jokum drehte sich um. An den Türrahmen gelehnt stand der Hausmeister höchstpersönlich, immer noch mit der Hand auf dem Hauptschalter, allmächtig, anmaßend, streng. Also war es acht Uhr. Jokum schob den Umschlag in die Schultertasche, räumte seinen Platz auf und ging zu dem Hausmeister, der nicht so ohne Weiteres bereit war, diesen letzten Studenten vorbeizulassen. Er schaute zu Jokum hoch, was etwas ganz anderes ist, als zu jemandem aufzuschauen.

»Du studierst zu viel«, sagte der Hausmeister.

»Ja?«

»Ja, das ist mir aufgefallen.«

»Tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich. Deine Augen sind ganz rot. Und du bist so blass.«

»Aha. Und?«

»Und? Du solltest draußen sein, leben. Mager bist du auch noch.«

Jokum duckte sich, eine Angewohnheit von ihm, indem er die Schultern hochzog und Rücken und Nacken krümmte. Auf diese Art und Weise sparte er vielleicht ein paar Zentimeter, aber es war kein schöner Anblick. Eher ähnelte er einer misstrauischen Person, und wozu sollte das gut sein? Denn er wollte ja einen schöneren Anblick bieten, schön und gewöhnlich. Aber statt kleiner zu erscheinen, wirkte er suspekt, ein Mensch, der etwas zu verbergen hat. Die Eitelkeit, dieser Schatten der Schüchternheit, war größer als die Vernunft. Niemand ließ sich davon täuschen, niemand außer ihm selbst. Und Jokum duckte sich, ohne darüber nachzudenken. Er musste vielmehr bewusst daran denken, wenn er es nicht tun wollte, sich gegen das unendliche Gedächtnis des Körpers wehren. Könnte dieser Körper doch nur leichter vergessen, seine Lektion vergessen, genau wie Jokum auch gern seinen Körper und seinen in die Länge gezogenen Namen vergessen hätte.

»Ich weiß«, sagte er.

»Was?«

»Dass ich mager bin.«

»Na, das ist ja auch nicht so schwer zu merken! Und dann sitzt du hier mutterseelenallein. An einem Freitag!«

»Das weiß ich auch. Aber vielen Dank für den Hinweis. Sonst wäre ich nie selbst darauf gekommen.«

»Ach, da nicht für. Keine Ursache.«

Endlich machte der Hausmeister Platz, auf eine übertriebene Art und Weise, er verneigte sich tief und wischte fast den Boden mit den Händen. Machte er sich über Jokum lustig? Es wäre nicht das erste Mal. Jokum wollte vorbeihuschen, aber jetzt, da der Weg frei war, entschied er sich anders, so war er nun einmal, er war ein unentschiedener Mensch, er konnte sich um seine eigene Achse drehen.

»Haben Sie Der Prozess gelesen?«, fragte er.

»Der Prozess? Da klingelt was. Aber das ist lange her. Sehr lange.«

»Und an was erinnern Sie sich noch spontan?«

Es wirkte so, als hätte der Hausmeister das Bedürfnis, eine Erklärung abzugeben, warum er den Prozess gelesen hatte, dass es nicht freiwillig gewesen war, dass es unter besonderen Umständen stattgefunden hatte, unter einem gewissen Druck, und Jokum schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es für ihn genau umgekehrt war, dass er erklären musste, warum er einen Roman, von dem die Rede war, eventuell nicht gelesen hatte, und welche Erklärung gab es dafür, doch, ja, die Zeit, Lesen dauert seine Zeit, und auch wenn man alle Zeit einsetzt, die einem zur Verfügung steht, man muss ja leider auch noch arbeiten, unter anderem, um sich die Bücher überhaupt kaufen zu können, hat man noch lange nicht die Zeit, alles zu lesen. Mit anderen Worten, es herrscht ein radikales Ungleichgewicht zwischen Zeit und Literatur, und da man an der Zeit nur wenig verändern kann, sollte man stattdessen die Literatur begrenzen, man könnte sich ein veröffentlichungsfreies Jahr vorstellen, mit dem Ziel, dass Leser die Produktion einholen können, à jour kommen, insoweit das überhaupt möglich ist, es wäre auch nicht unangebracht, den Autoren gewisse Grenzen aufzuerlegen, sind sie doch oft redselig und eitel, ohne das Korrektiv der Bescheidenheit, eine höchst unglückliche Kombination. Jokum konnte sich auf Anatomy of Melancholy von Robert Burton berufen, das 1621 erschien, in dem der Autor Folgendes schrieb: Wir haben bereits ein unendliches Chaos und ein Wirrwarr an Büchern. Wir werden von ihnen zerdrückt, unsere Augen schmerzen vom Lesen, unsere Finger vom Blättern.

Jokum sah also acht Titel pro Autor vor sich, ganz gleich, welches Genre, das musste reichen, und der Schriftsteller, der das, was er zu sagen hatte, nicht mit acht Titeln hatte sagen können, hatte sowieso nichts zu sagen, und daraus wurde nur selten gute Literatur. Das dachte Jokum unter anderem, während der Hausmeister ausführte:

»Ich habe Der Prozess gelesen, als ich mit einer Frau zusammen war, die schrecklich gern Romane las, und während wir zusammen waren, las sie genau dieses Buch. Also habe ich es auch gelesen. Um zu sehen, womit sie sich so beschäftigte, nicht wahr. Vielleicht hat sie mich auch darum gebeten. Ja, so war es. Sie hat mich gebeten, den Prozess zu lesen, weil sie wissen wollte, was ich davon hielt. Ich glaube, es war eine Art Test. Hörst du überhaupt zu?«

»Ja. Und woran erinnern Sie sich noch am besten?«

»An die Frau«, antwortete er klar und deutlich.

»An wen?«

»An die Frau, die mich gebeten hat, den Roman zu lesen.«

Langsam wurde Jokum müde. Er hätte sich nicht darauf einlassen sollen. Alles erschien für einen Moment unerreichbar, blockiert. Er sagte:

»Ich habe eher an den Roman an sich gedacht. An was erinnern Sie sich noch aus …«

»Nun, vielleicht ist es etwas unpassend, aber …«

Der Hausmeister zog einen gelben, schmutzigen Putzlappen aus der Tasche und fing an, den Lichtschalter zu putzen.

»Die dreckigsten Stellen in der ganzen Universität«, erklärte er. »Lichtschalter. Dreckige Finger. Waschen sich Studenten eigentlich nie die Hände?«

»Druckerschwärze«, entgegnete Jokum.

»Aber das Schlimmste daran ist, dass die Studenten gar nichts an den Lichtschaltern zu suchen haben. Ich und niemand sonst schaltet hier das Licht ein oder aus. Und jetzt werde ich es ausschalten.«

Jokum machte sich noch krummer.

»Was haben Sie mit unpassend gemeint?«

Der Hausmeister zuckte mit den Schultern.

»Ich fand, er war witzig. Der Prozess, meine ich.«

»Witzig?«

»Ich habe jedenfalls gelacht.«

»Die ganze Zeit?«

»Nein, nein, nicht die ganze Zeit. Das ist ja wohl auch nicht beabsichtigt. Und wer schafft es, die ganze Zeit zu lachen? Aber als sie kommen, um diesen, diesen – wie hieß er noch?«

»Josef K.«

»Ja. Josef K., als sie zum Schluss kommen, um ihn zu holen. Meine Güte, sie sind ja die Höflichkeit in Person, diese Herren! Mit Zylinder! Da musste ich wirklich herzhaft lachen.«

Der Hausmeister schob den Putzlappen wieder in die Tasche und lachte allein bei dem Gedanken an diesen schicksalsschweren Auftritt los. Jokum stimmte in sein Lachen ein. Man sollte niemals jemanden mit seinem Lachen allein stehen lassen.

»Ja, nach so viel Höflichkeit kann man lange suchen«, seufzte der Hausmeister. »Aber diese Frau, die mich dazu gebracht hat, das Buch zu lesen, ihr gefiel es nicht, dass ich gelacht habe.«

»Nein?«

»Nein, das war auch der Grund, warum sie mit mir Schluss gemacht hat. Dass ich gelacht habe. Hast du eine Freundin?«

»Ich? Nein. Ich …«

»Nun, ich will dir trotzdem einen guten Rat geben. Solltest du jemals eine Freundin haben, lies nie ein Buch, das ihr gefällt, solange ihr im gleichen Zimmer seid. Niemals! Verstanden?«

»Ich denke schon.«

»Und jetzt geh. Andere haben auch ihre Arbeit zu erledigen!«

Jokum verließ das Gebäude und setzte sich auf die Treppe. Er sah, wie das Licht drinnen im Lesesaal ausging und formulierte diese Erscheinung sogleich um: Ich sehe, wie die Dunkelheit eingeschaltet wird. Der große Hausmeister arbeitete. Er löschte das Licht und schaltete die Dunkelheit ein. Der Himmel über Blindern bog sich in alle Richtungen. Der April zerrann. Die Zeit zerrann, und was war die Zeit anderes als das Leben selbst? Also war es sein Leben, das zerrann. Er öffnete den Umschlag, zog die Bögen heraus und fügte hinzu, obwohl er kein einziges Mal gelacht hatte: Ich möchte außerdem betonen, dass Der Prozess als Komödie gelesen werden kann, soweit man lacht, und erwiesenermaßen tun das einige. Er legte die Hausaufgabe wieder an Ort und Stelle, leckte am Umschlagrand, und dieses Mal erinnerte ihn der Geschmack nicht an vergammelte, braune Äpfel im Gras, er ließ ihn auch nicht an Tauchermasken denken, oder besser gesagt an einen Schnorchel, an das ovale Mundstück des Schnorchels, ein gleichzeitig weiches und raues Gefühl an den Lippen, bevor man sich sinken lässt und die Eindrücke ihre Schwere und Geschwindigkeit ändern. Dass diese beiden Erinnerungen, das Verdorbene und das Gummi, mit dem Sommer verbunden waren, zumindest mit dem Spätsommer, musste Zufall sein, aber gleichzeitig verständlich, da Jokum nicht zu denen gehörte, die besonders viel Wert auf den Sommer legen, auch nicht auf den Frühling, der möglicherweise bereits begonnen hatte, dieser bejubelte Frühling. Nein, es waren andere Jahreszeiten, die ihm mehr am Herzen lagen, beispielsweise der Herbst, und hier besonders der Oktober, und sollte er die beste Zeit im Oktober bestimmen, dann würde er sich für die beiden mittleren Wochen entscheiden, und geradezu perfekt wäre es, könnte er in diesen beiden Wochen im Oktober auf beide Sonntage verzichten, gern auch auf die Samstage, und es regnen lassen, ja, es durfte gern von morgens bis abends und auch noch die Nacht hindurch regnen. Dann hätte Jokum ein Ass gezogen, etwas, das ihm nur selten zuteilwurde. Andererseits, wer ständig ein Ass zieht, der spielt höchstwahrscheinlich mit falschen Karten. Eines wunderte Jokum: Er hatte nie getaucht, weder im Meer noch in der Badewanne, auch nicht mit Taucherbrille und schon gar nicht mit einem Schnorchel. Wieso konnte er sich dann an dessen Geschmack erinnern, wenn er doch nie einen Schnorchel benutzt hatte? Führten die Erinnerungen ihr eigenes Leben? Oder holten sie ihr Wissen aus den Träumen, und für die Träume konnte er ja nicht bürgen. Doch dann wusste Jokum genau, wonach dieser Umschlag schmeckte, er schmeckte nach einem Magneten. Er hatte sich einmal einen Magnet in den Mund gesteckt, um zu sehen, ob dieser seine Gedanken aufsammeln könnte. Er konnte es nicht. Stattdessen verlor er die letzten Milchzähne. Der Magnet war ein Geschenk vom Vater gewesen. Die Mutter verbot ihm daraufhin, damit zu spielen, auf keinen Fall durfte er ihn in den Mund stecken. Was suchte ein Magnet auf einmal hier? Er erinnerte sich nicht daran, wann er das letzte Mal an ihn gedacht hatte, an diesen magischen Staubsauger, wo war er jetzt, lag er irgendwo herum und sammelte Eisenspäne und Gedanken?

Aber Jokum gelang es nicht, den Umschlag wieder ordentlich zu verschließen. Wie jeder weiß, hält der Kleber nur einmal, das ist das Wesen des Klebers. Der Umschlag war eher offen als geschlossen, als Jokum ihn schließlich in den Briefkasten des Instituts für Literaturwissenschaft einwarf. Das ist erledigt, dachte er und wurde doch nicht fröhlicher bei dem Gedanken. Es war der Umschlag von einem, der zweifelt, von einem, der sich nicht entscheiden konnte, geschlossen, geöffnet und wieder geschlossen. Dann ging er heim, wenn man das denn ein Heim nennen kann, ein Heim von zwölf Quadratmetern in der Sogn Studentby, Block 3, gleich hinter dem Pub, hier teilte er Küche, Bad und Telefon mit drei anderen Studenten. Mit Arve Storvik, Musikwissenschaft, Bengt Åker, Sozialwissenschaft und last but not least Synne Sager, Kunstgeschichte, auf die Jokum bereits ein wachsames Auge geworfen hatte und die ihrerseits wiederum einen äußerst lebendigen und ebenso verbotenen Hamster in einem Karton bei sich beherbergte, oder eher in einer Art Käfig, unter dem Schlafsofa; übrigens hieß das Tier Hubert. Nein, dachte Jokum, nicht sie, Synne Sager, ist last but not least, ich bin es. Es hatte auf seiner Schülerkarte zum Abitur, seiner Russ-Karte gestanden: last but not least, der Letzte, aber nicht der Kleinste. Und was nützte es ihm? Er träumte oft das Gegenteil, der Erste, aber nicht der Größte. Am allerliebsten wäre er in der Mitte, im Durchschnitt, den so viele verachteten, den Jokum jedoch als etwas Abgeklärtes und Schönes ansah, ein Bereich, in dem er sich nicht hervortun musste, nicht herausragen.

An seiner Zimmertür hingen zwei Nachrichten, die eine mit einer Heftzwecke befestigt, die andere mit Tesafilm. Seine Tür war eine Wandzeitung. Er wollte seine Tür nicht als Wandzeitung benutzt sehen. Seine Tür sollte eine Tür sein, die man öffnen und schließen konnte, nicht lesen, und das erinnerte ihn wieder an den Umschlag, dass er sich auch jetzt nicht entscheiden konnte, dass er ständig die Tür öffnete und schloss und kaum zu sagen vermochte, welchen Weg er einschlagen wollte, kam er oder ging er, und als er in seinen Gedanken schon einmal so weit gekommen war, konnte er dann nicht ebenso gut denken, dass er selbst die Aufgabe war, die Aufgabe, mit der er niemals zufrieden war, dass er sich selbst in den Umschlag schob und immer wieder herausholte? Doch an wen sollte er sich verschicken? Wer sollte ihn lesen? Wenn es doch nur Synne Sager wäre. Ihr würde er sich gern ausliefern. Jokum riss die Zettel herunter und nahm sie mit in sein Zimmer, das abgesehen von den vier Wänden, Decke, Fußboden und Fenster aus einem Schlafsofa bestand, das zu kurz war, einem Billy-Bücherregal, das zu klein war, einem Schreibtisch, der zu niedrig war, zwei Stühlen, die auch zu niedrig waren, und einem schmalen Kleiderschrank mit einem Spiegel auf der Innenseite, auf dem Jokums Porträt im Verborgenen hing, geduckt und zusammengeklemmt, als wäre der Kleiderschrank ein Fotoautomat, jedes Mal, wenn er das Hemd wechseln wollte. Eine Zeit lang stand er am Fenster, gedankenverloren und müde. Studenten waren auf dem Weg zwischen den Häuserblocks, alle in Begleitung eines anderen, miteinander. Drüben im Pub, der so nah war, dass Jokum sich vorstellte, er bräuchte einfach nur die Hand ausstrecken und einen halben Liter vom Tresen nehmen, saßen noch mehr Studenten, und ganz sicher schmiedeten sie Pläne fürs Wochenende, sorgfältiger als sie sich auf die Prüfungen vorbereiteten. Dann zog Jokum die Gardinen vor, setzte sich auf das Schlafsofa und faltete die Zettel auseinander. Die erste Nachricht stammte von Arve Storvik, dem Musikstudenten, Party im Fünfer, garantiert Bier & Ladys. Um Arve Storvik herum wimmelte es immer von irgendwelchen Ladys. Das hatte etwas mit seiner akustischen Gitarre zu tun, die er nie weit weg legte. Aber wenn die Ladys ihn nicht bekamen, wollten sie auch keinen anderen, und was sollte das Ganze dann? Dann war man wieder genauso weit gekommen oder noch kürzer. Man war abgewiesen worden. Man hatte es in seinen Pass gestempelt bekommen: unerwünscht. Der zweite Zettel war von Bengt Åker, also dem Sozialwissenschaftler: Vollversammlung im Hochhaus, Mietstreik. Von Synne Sager gab es keinen Zettel. Womit einem eigentlich alles andere auch egal sein konnte. Die Damen waren nicht gerade Jokums starke Seite. Er erinnerte sich an seinen ersten Kuss. Den bekam er erst als Abiturient. Es tut mir leid, dass ich hier die Chronologie unterbreche, aber Erinnerungen kennen keine Reihenfolge, sie bilden ein einziges Durcheinander, oder, um einen Ausdruck aus Arve Storviks Branche zu benutzen: Erinnerungen folgen keiner Setlist. Sie ergeben ein einziges chaotisches Konzert. Schlimmer ist nur, dass das, woran man sich erinnern möchte, häufig in Nebel gehüllt bleibt, undeutliche, verschwommene Punkte, während das, was man am liebsten vergessen würde, näher heranrückt, wie aufdringliche, Forderungen stellende Gäste. Verhielt es sich mit Erinnerungen wie mit Dingen, nur dass es die Zeit war, nicht das Licht, die sie zum Leuchten brachte? Und diese Zeit beschloss also, in schlechten Erinnerungen in Erscheinung zu treten. Was ich sagen wollte: Jokum Jokumsens erster Kuss: Er war auf einem Fest, einer Abifeier der Vestheim Schule, in einer Villa auf Bygdøy. Er war nicht eingeladen worden. Jeder konnte kommen, open house. Kein Haus ist geschlossener als eines, das offen ist. Er ging hin. Das hätte er nicht tun sollen. Er trank Gin. Auch das hätte er nicht tun sollen. Er stand draußen auf der Terrasse. Paare, die im Garten zur Musik des dünnen Laubs und des Fjords tanzten, der wie ein blauer Schimmer zwischen den Bäumen im Hintergrund lag. Leise, unsichtbare Stimmen in der Dunkelheit, die den Garten umringte. Gelächter in den Räumen des Hauses. Das Fest war nicht mehr jung. Ich bin endlich frei, dachte Jokum, leicht wie nichts, und schluckte die Eiswürfel hinunter. Da trat ein Mädchen zu ihm, mit roter Russ-Mütze und roter, weiter Hose, sie sah aus wie ein Clown. Sie war niedlich. Alle Mädchen sind süß, dachte Jokum. Zumindest heute Abend. Heute Abend sind alle Mädchen süß. Er hätte die Stille im Haus bemerken müssen. Er hätte die Gesichter hinter den Fensterscheiben bemerken müssen. Aber er achtete nur auf dieses Mädchen, so sehr war er mit sich selbst beschäftigt. Er hatte sie noch nie vorher gesehen. Vielleicht kam sie von einer anderen Schule. Vielleicht kam sie von einem anderen Planeten. Egal. Sie war zu ihm gekommen. Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte. – Wollen wir tanzen? Bevor Jokum antworten konnte, ergriff sie seine Hände und zog ihn auf den Rasen. Sie tanzten. Sie tanzten zu den Wellen und dem Laub in dem weichen, feuchten Gras. Sie waren ein ungleiches Paar. Alle Paare, von denen Jokum ein Teil war, waren ungleich. Sie hatten den ganzen Garten für sich. Jokum konnte nicht glauben, dass das hier wahr sein sollte. Aber es war erst einmal wahr. Er dachte nicht weiter darüber nach. Er war frei. – Du bist also last but not least, der Letzte, aber nicht der Kleinste, sagte sie. Da hätte Jokum bereits einen Verdacht hegen müssen. Aber wer frei ist, der ahnt nur Frieden und keine Gefahr. »Was steht auf deiner Russ-Karte?«, fragte er. »Rate mal.« »Die Erste aber nicht die Größte.« Jokum wusste nicht, woher er das hatte. »Du bist ja auch noch witzig«, sagte sie. »Na, ob das stimmt, weiß ich nicht«, erwiderte er und nahm sie in den Arm. Das heißt, er umarmte ihre Schultern. Hatte er die Liebe seines Lebens gefunden? Nicht ausgeschlossen. »Ich will dich küssen«, sagte sie. Was Jokum zu Tode erschreckte, aber er ließ sich dennoch nicht erschrecken. Denn er war betäubt von der Freiheit und dem Gin. Dabei hätte er daran denken sollen, dass der Frühling nicht seine Jahreszeit war. Er hätte vorschlagen sollen, den Faden lieber wieder im Herbst aufzunehmen. »Von mir aus gern«, sagte er. Jokum nahm all seinen Mut zusammen und trat die Reise zu ihr hinunter an, obwohl sie doch auf Zehenspitzen stand. Aber plötzlich unterbrach sie ihn. »Warte mal«, sagte sie. Für einen kurzen Moment verschwand das Mädchen, kam dann zurück mit einem Tritthocker. Die stellte sie vor Jokum hin. Doch, er hätte es besser wissen müssen. Was hätte man noch besser wissen müssen? Man hätte es besser wissen müssen als das, was man weiß. Was wusste Jokum? Nichts. Sie kletterte die Stufen des Hockers hoch und stellte sich auf die oberste Trittfläche. Es reichte noch nicht. Sie reichte trotzdem noch nicht bis ganz nach oben. Jokum hörte bereits Gelächter in der Dunkelheit. Gesichter kamen zum Vorschein, glänzende, fleckige Gesichter. Sie fingen an zu rufen, im Takt: Leiter, Leiter, Leiter! Jetzt wusste Jokum es besser: Alles. Doch was half das? Nichts. Jemand kam mit einer Leiter und lehnte sie gegen Jokums Brustkorb. Das Mädchen, das vorhin noch süß gewesen war, jetzt aber einen bitteren Beigeschmack bekommen hatte, begann zu klettern, langsam, Stufe für Stufe, im Scheinwerferlicht des Monds, während die Gäste näher rückten, einen Kreis um die beiden bildeten. »Tut mir leid, dass ich keinen Fahrstuhl habe«, sagte Jokum, schließlich hatte er ja Humor. Als sie oben angekommen war und der Applaus kein Ende nehmen wollte, beugte sie sich über seine Schulter und flüsterte: »Bitte entschuldige. Die haben mich dazu gezwungen.« Dann küsste sie ihn. Aber worauf hatte Jokum an diesem späten Freitag im April am meisten Lust? Er hatte Lust auf Synne Sager. Es war ganz still in ihrem Zimmer, zumindest soweit er hören konnte, wenn er das linke Ohr an die Tapete legte und lauschte. Er hörte nicht einmal Huberts kleines Rad. Worauf hatte er sonst noch Lust? Die Studenten hatten die Wahl, zwischen Bier und Vollversammlung. Doch es gab eine dritte Möglichkeit, zwischen soll und soll nicht, ein Schlupfloch. Das hieß Abwesenheit. Das hieß Schlafsofa in Zimmer 318, Sogn Studentby.

Also ging Jokum an keinen anderen Ort als an den, an dem er sich bereits befand. Und schließlich legte er sich hin, dorthin, wo schon so viele schlaflose Studenten vor ihm gelegen und sich vor den Prüfungen gefürchtet hatten, den schriftlichen wie den mündlichen, vor dem nächsten Tag und dem danach, sich vor dem Leben gefürchtet hatten, das vor ihnen lag, ihrer strahlenden Zukunft, die viel schwerer wog als der Augenblick, den sie bereits durchlebt hatten. Und auch Jokum konnte nicht schlafen. Es gab zu viele Gedanken. Sie kamen in Scharen und übermannten ihn, das Sonntagsessen bei den Eltern, Vater, der wieder feststellen würde, dass er zu dünn sei und apropos, war es nicht langsam an der Zeit, sich ein Mädchen anzulachen, es gab ja wohl auch an dieser Universität Mädchen, und Mutter, die ihn dazu zwingen würde, aufs Klo zu gehen und das Kotelett auszukotzen, zumindest die gebratene Ananas, mit der sie es immer dekorierte. Es verhielt sich nämlich so, dass Jokum selten oder nie hungrig war. Dafür konnte er nichts. Ärzte hatten ihn untersucht, sie hatten nichts Schlimmes herausgefunden, sicher, er war groß, ungewöhnlich groß für jedes Alter, aber die Ärzte konnten nichts Schlimmes an ihm feststellen, also konnte er ja wohl nicht gesund sein, so sah es jedenfalls Jokum, aber mit dieser Ansicht stand er allein da. Hunger war eine Eigenschaft, die er ganz einfach nicht besaß. Lag es an seiner Größe? Dann musste es jedenfalls eine armselige Größe sein, und außerdem konnte er nichts dafür, und deshalb war es wohl gar keine Größe, denn Größe musste doch etwas sein, für das man etwas konnte, etwas, wofür man sich einsetzte, gern sogar im Gegensatz zu dem, was man sich selbst wünschte. Jokums Leibgericht waren gekochte Kartoffeln mit Schale. Wo war er? Wo war er in seinen Gedanken? Er war bei seinen Eltern. Er wollte ins Bad, um zu kotzen. Aber dieses Mal nicht! Dieses Mal wollte er stattdessen vom Tisch aufstehen, gern dabei die Gläser umwerfen und laut rufend fragen: Warum habt ihr mich Jokum getauft? Und er wollte sich erst wieder hinsetzen, wenn er eine Antwort bekommen hatte. Er hörte Stimmen aus dem Pub, wo er auch hätte sitzen und sein Bier trinken können, aber stattdessen lag er hier, in seinen eigenen Gedanken. Auch eine Art Gesellschaft, wenn auch auf die Dauer eine einsame. In der Küche fand eine Feier statt, akustische Gitarre, Flaschen und Mitternachtsimbiss, die mit einer ziemlich dürftigen Version der Internationale beendet wurde, die wiederum von etwas abgelöst wurde, das kräftigem Saitenspiel und Armdrücken ähnelte. Jokum hätte dorthin gehen können, es war nicht weit, aber er blieb auf dem viel zu kurzen Schlafsofa liegen, das an der Wand stand, und auf der anderen Seite genau dieser Wand lag Synne Sager, die höchstwahrscheinlich nicht wusste, dass er, Jokum Jokumsen, auf der anderen Seite lag. Hörte er sie jetzt atmen, sich drehen, gähnen, schluchzen? Warum sollte sie schluchzen? Dann hätte er an die Tür klopfen und sie fragen können, ob sie Trost brauche. Er musste etwas aus seinem Leben machen. Wenn es sonst keiner machte. Aber in erster Linie dachte Jokum an die Hausaufgabe. Er würde sich lächerlich machen. Das gesamte Kolloquium würde sich über ihn vor Lachen ausschütten, nein, nicht vor Lachen, verhöhnen würden sie ihn, ihn bloßstellen, und das unterschied sich nicht wirklich voneinander. Sowohl Komödie als auch Tragödie! Doch jetzt war es zu spät. Sollte er sich des Nachts, wie man sagte, bei Nacht und Nebel noch einmal in den Lesesaal schleichen und den ganzen Briefkasten stehlen? Nein, wie gesagt, dazu war es zu spät. Es begann bereits zu dämmern, diese schrecklichen Nächte im April, die immer kürzer wurden und in den Abfluss und Kummer des Frühlings versickerten. Dann trieb es Jokum schließlich trotz allem in einen kühlen Schlaf, doch auch hier ließ die Literatur ihn nicht aus ihren Klauen, aber jetzt war es das Pensum der Träume: Er sah vor sich die Bilder, die nach der Lektüre in seinem Kopf geblieben waren. Tiefsinnige Gedanken, Botschaften, Visionen, Ideologie und andere Steckenpferde, die zurückgeblieben waren, Bilder, ganz einfach Bilder von Gesichtern, wie Porträts in einer dunklen Geheimgalerie, und diese Gesichter waren mit einer Menschlichkeit geladen, Menschlichkeit in allen möglichen Formen, und jedes einzelne Gesicht hatte seine besondere Prägung, seinen Ausdruck, denn die Menschlichkeit war ohne Grenzen, es gab Platz für alle Gesichter, jedwede Menschlichkeit. Das berührte Jokum so stark, dass er kurz davor war, im Schlaf zu weinen, denn unter diesen Gesichtern, diesen Porträts, befand sich auch seins, sein Gesicht, er gehörte in einen Zusammenhang, trotz allem hing er in dieser menschlichen Galerie. Aber Jokum wurde in diesem Traum auch unruhig. Ein Satz aus Der Prozess ließ ihn nicht los, nicht einmal im Schlaf, und dieser Satz hätte mehr aus der Hausaufgabe machen können. Es ging dabei um eine der Eigenschaften von Leni, dieser einfachen und doch so komplizierten Frauensperson bei dem alten Advokaten, die Jokums Aufmerksamkeit erregt hatte: Diese Sonderbarkeit besteht darin, dass Leni die meisten Angeklagten schön findet.

Ging das allen Frauen so?

Jokum wachte mit dem hartnäckigen Gefühl auf, jemand sei in seinem Zimmer. Und ganz richtig, an der Tür, die geschlossen war, stand ein fremder Mann, die Hände auf dem Rücken, er trug eine Art grauen, vielleicht auch blauen Anzug, die Jacke war bis zum Hals zugeknöpft, während ein anderer Mann, genauso fremd und in gleicher Weise gekleidet, den Schrank öffnete, und Jokum begegnete seinem Blick im Spiegel auf der Innenseite der Tür. Der Mann drehte sich sofort um und hob die Arme, abwehrend, während Jokum sich hinsetzte, erschrocken, aber in erster Linie überrascht.

»Bleib nur liegen«, sagte der Mann, höflich, seine Stimme war angenehm.

Jokum legte sich wieder hin und beobachtete die langsamen, sorgfältigen Bewegungen der Männer. Der an der Tür stand, ging jetzt zum Schreibtisch, nahm ein paar Bücher hoch und überflog schnell einen Stapel an Vorlesungsnotizen, halbherzig, aber dennoch gewissenhaft, was Jokum glauben ließ, dass sie Erfahrung hatten, dass sie das schon oft gemacht hatten, in anderen Zimmern. Der andere untersuchte den Schrank, schob die Bügel mit Jokums drei Hemden hin und her. Jokum fiel auf, dass beide Männer Handschuhe trugen, helle, dünne Handschuhe, die aussahen wie eine zweite Haut, Handschuhe, die eins wurden mit den Händen. Waren es nicht Spione, Detektive und Diebe, die solche Handschuhe benutzten? Derartige hatte Jokum noch nie gesehen, dennoch erinnerten sie ihn an jemanden, und dann fiel ihm ein, an wen, sie erinnerten ihn an die Zeugen Jehovas, die in seiner Kindheit an der Wohnungstür auftauchten, höfliche junge Männer, nein, sie waren eher alterslos, genau wie diese Männer, und genauso gekleidet, sie trugen lange, dunkle Mäntel, dunkle Anzüge, weiße Hemden, und sie ähnelten auch einander. Seine Mutter ließ sie nie eintreten, ganz im Gegenteil, sie jagte sie davon, weg, weg, pflegte sie immer zu sagen, Und wenn seine Mutter weg, weg sagte, dann hatte man sich fernzuhalten. Sollte Jokum das Gleiche versuchen, einfach weg, weg sagen, vielleicht bekäme er damit die Männer fort, brächte sie dazu zu verschwinden? Der eine, der in den Büchern und Notizen herumwühlte, schob den Stuhl ans Bett und setzte sich rittlings darauf.

»Schläfst du immer in deinen Kleidern, Jokum?«, fragte er.

»Nein, das tue ich …«

»Ist gestern wohl etwas spät geworden, oder?«

»Nein, ich war im Lesesaal bis …«

»Und du hast das Schlafsofa umgestellt?«

»Ja. Wieso?«

»Wieso? Sollten nicht eher wir fragen, wieso?«

»Weil … weil ich auf dieser Seite am besten schlafe. Aber ich kann es gern wieder zurückschieben. Sind Sie vom Studentenwerk?«

Der andere, der sich in erster Linie für den Schrank interessiert hatte, unterbrach Jokum, stand aber weiterhin mit dem Rücken zu ihm.

»Interessierst du dich für Edvard Munch, Jokum?«

Jetzt setzte sich dieser auf, ob sie es nun wollten oder nicht.

»Munch? Natürlich.«

Endlich drehte der Mann sich um und der andere, der rittlings auf dem Stuhl saß, lachte, nur kurz, und strich sich dabei gleichzeitig mit dem glatten Handrücken über den Mund.

»Wieso glaubst du, dass wir vom Studentenwerk sind?«

»Ich weiß nicht. Es sind meine Eltern, die … sie bezahlen die Miete für mich. Wenn es darum geht. Sind Sie von der Polizei?«

»Hast du etwas verbrochen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste. Könnten Sie nicht …«

Der auf dem Stuhl unterbrach Jokum erneut.

»Warst du gestern im Pub?«

»Nein, warum?«

»Wir stellen hier die Fragen. Antworte einfach nur.«

»Nein. Ich war nicht im Pub. Ich gehe selten dorthin. Ich habe im Lesesaal gesessen, bis der geschlossen wurde, und dann bin ich direkt nach Hause gegangen, ich meine, hierher, und ich bin nicht wieder rausgegangen.«

»Schläfst du gut, Jokum?«

Jokum hatte einen trockenen Mund, aber er traute sich nicht, um ein Glas Wasser zu bitten, und er traute sich auch nicht, in die Küche zu gehen, obwohl es besser gewesen wäre, dort das Gespräch fortzusetzen, oder war es ein Verhör, ja, es ähnelte mehr einem Verhör, und dann war es vielleicht doch am besten, wenn es hier drinnen stattfand und die ganze Sache unter ihnen blieb, obwohl er nicht glaubte, etwas falsch gemacht zu haben, abgesehen davon, dass er das Schlafsofa, das ihm nicht gehörte, sondern fester Bestandteil des Inventars war, verschoben hatte, aber er erinnerte sich nicht daran, im Mietvertrag oder in der Hausordnung gelesen zu haben, dass so etwas verboten war.

»Nun, das ist unterschiedlich. Mal so, mal so. Mit dem Schlafen, meine ich. Besonders, wenn es heller wird. Nachts.«

»Du bist viel zu lang für dieses Sofa. Das macht die Sache sicher nicht besser.«

»Nein, aber ich bin das gewohnt.«

»Dann warst du die meiste Zeit wach letzte Nacht?«

»Kann sein.«

Die beiden Männer schauten sich einen Moment lang an, fast unglücklich, und Jokum kam der Gedanke, er könnte für sie verantwortlich sein, er dürfte sie nicht enttäuschen, er müsste dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlten.

»Ich kann nicht leugnen, dass ich eine Weile wach gelegen habe. Besonders zwischen zwölf und zwei.«

»Zwischen zwölf und zwei. Und hast du etwas Besonderes gehört?«

»Nein. Nur das Übliche. Die Afterparty.«

»Dann haben die anderen dich also wach gehalten? Helle Nächte, ein zu kurzes Schlafsofa und rücksichtslose Kommilitonen. Du hast es nicht leicht, oder, Jokum?«

Sofort bereute Jokum seine Worte. Er wollte in keiner Weise die anderen in ein schlechtes Licht stellen oder gemein über sie reden, über die, die ihm sozusagen am nächsten standen. Andererseits wollte er diesen fremden Männern gegenüber auch nicht unkooperativ erscheinen.

»So ist das wohl in einer Studentensiedlung«, sagte er.

Der eine lachte erneut, auf die gleiche Art und Weise, kurz und heiser, und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Der andere schloss den Schrank, trat ans Fenster, schaute zwischen den Gardinen hinaus und während er so dastand, fing er an zu reden.

»Wir leben in einer freien Gesellschaft, nicht wahr?«, begann er.

»Doch, schon. Wir …«

»Doch? Hast du da deine Zweifel?«

»Nein. Überhaupt nicht.«

»Und was bedeutet das?«

»Das bedeutet wohl, dass wir, dass wir gewisse Rechte haben. Deshalb …«

Jetzt lachten beide Männer, herzlos, wie es Jokum vorkam, ein mechanisches Lachen, das jäh abbrach.

»Gewisse Rechte, ja, ja. Nein, das bedeutet, dass wir besonders gut aufpassen müssen. Je besser wir aufpassen, um so freier ist sie. Bist du nicht auch meiner Meinung?«

»Ja, schon, da ist wohl was dran. Ich meine, da ist was dran.«

»Übrigens – stehst du oft hier? Hier am Fenster?«

»Das kommt schon vor. Ja.«

»Und siehst das Leben Revue passieren, wie man so schön sagt?«

Diese Formulierung war merkwürdig, und Jokum fühlte sich noch unwohler in seiner Haut als vorher. Er erwiderte nichts und war sich auch nicht sicher, ob es sich bei der Äußerung überhaupt um eine Frage gehandelt hatte oder nur um eine Art Betrachtung, eine herablassende Betrachtung. Weg, weg, sagte er im Stillen, aber deshalb verschwanden die beiden Männer noch lange nicht. Der am Fenster redete weiter, und was er sagte, das erleichterte Jokum fast, denn es deutete eine gewisse Absicht an, die hinter diesem unangemeldeten Besuch steckte.

»Du bist dir doch im Klaren darüber, dass an den Wänden des Pubs da unten Gemälde von Edvard Munch hängen?«

»Ja. Aber wenn es um ihn geht, also um Munch, dann ist es vielleicht besser, wenn Sie mit Synne reden.«

»Synne?«

»Synne Sager. Sie studiert Kunstgeschichte. Sie wohnt im Zimmer nebenan.«

Der Mann zog die Gardinen mit einem Ruck zur Seite, und graues, fast schmutziges Licht fiel auf den Boden und breitete sich wie fahler Staub darauf aus. Jokum musste sich für einen Moment die Augen zuhalten, geblendet von dem Morgen, ganz gleich, wie trüb und schmutzig er war, vielleicht saß er auch nur deshalb so da, weil er Synne Sagers Namen erwähnt hatte, sie damit fast in diese Angelegenheit mit hineingezogen hatte, um die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken. Er hielt es bald nicht länger aus. Der Mann ließ die Gardinen los und rieb sich die Hände, was klang wie ein aufgeregtes Insekt.

»Auch wenn Munchs Bilder dort hängen, in dieser Studentenkneipe, bedeutet das nicht, dass sie den Studenten gehören. Sie sind nur eine Leihgabe. Diese jungen Leute dürfen sich nicht alle Freiheiten nehmen. Die Gemälde gehören nämlich dem norwegischen Volk. Verstehst du?«

»Ja, natürlich.«

»Und deshalb müssen wir besonders gut aufpassen.«

»Dafür habe ich vollstes Verständnis.«

»Na also. Da sind wir uns ja einig. Wir müssen uns nur gegenseitig Respekt erweisen.«

Jokum hätte gern den Faden aufgenommen und gefragt, wie sie denn hereingekommen seien. Er war sich sicher, die Tür vor dem Hinlegen verschlossen zu haben, wie jeden Abend, warum also nicht gestern. Und in dem Fall mussten die Männer die Tür aufgebrochen oder sich einen passenden Schlüssel besorgt haben, ohne seine Zustimmung, und wo blieb da bitte schön der Respekt? Sie mussten vom Studentenwerk kommen. Denn die hatten schließlich Schlüssel für alle Zimmer. Aber der Mann kam seinen Fragen zuvor.

»Und als du letzte Nacht hier am Fenster standst, hast du nichts Besonderes bemerkt?«

»Nein, habe ich doch schon gesagt. Aber ich stand auch nicht sehr lange da.«

Für einen Moment schwieg der Mann. Dann ging er schnell zur Tür. Der andere folgte ihm. Und er war es auch, der andere, der ebenso gut der Erste hätte sein können, zwischen ihnen war ja kaum ein Unterschied festzustellen, der das letzte Wort hatte:

»Du wirst noch von uns hören.«

Viele Jahre später, als das meiste bereits geschehen war und Jokum glaubte, alles wäre vorbei, da würde er sich an diese Worte erinnern, du wirst noch von uns hören. Leider gibt es Menschen, die halten, was sie versprechen.

Sie schlossen die Tür hinter sich, lautlos. Jokum blieb reglos sitzen und lauschte, ob sie dem Rest der Wohnung auch einen Besuch abstatteten, aber er hörte nichts. Vielleicht hatten sie das schon vorher erledigt, bevor sie zu ihm kamen. Jokum eilte ans Fenster, stieß dabei jedoch gegen den Stuhl, der ja zur Seite geschoben worden war, fiel der Länge nach hin, und als er aufstehen wollte, schlug er mit dem Kopf gegen die Tischkante, er fluchte und verfluchte diese hinterhältigen Männer, die in seiner so sorgfältig berechneten Zimmereinrichtung diese Unordnung geschaffen hatten. Wenn man eine Höhe wie Jokum erreicht hatte, musste man mit allem sehr genau sein, peinlich genau, und Rücksicht auf fast alles nehmen, Türrahmen, Zwischenräume, Kronleuchter, Bettpfosten, Zimmerdecken, Hausdächer, Abstände und nicht zuletzt die, die hinter dir sitzen, beispielsweise im Kino, im Hörsaal oder auch ausnahmsweise einmal im Theater, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Der Weg zwischen den Häusern lag menschenleer da. Die dicken braunen Gardinen im Pub waren zugezogen. Das einzige Lebenszeichen war ein altes Spruchband, das immer noch zwischen Wäschetrockenplatz und Infotafel hing, auch wenn die Schlacht schon vor langer Zeit gewonnen worden war. Geh zur Seite, EWG, du stehst mir in der Sonne. Ein kleiner Trost war, dass es angefangen hatte zu regnen.

Jokum duschte, das Bad war frei und niemand störte ihn, überhaupt wirkte alles wie ausgestorben, verlassen. Dann beeilte er sich, wieder in sein Zimmer zu kommen, zog die gleiche Kleidung erneut an und sparte die letzte saubere Wäsche für den nächsten Tag auf, für das Sonntagsessen bei den Eltern, dann schob er die Möbel wieder an Ort und Stelle und legte die Vorlesungsnotizen in die richtige Reihenfolge. Anschließend ging er in die Küche und setzte Kaffee auf, das heißt, Wasser. Der Kühlschrank stand offen. Von einem Regal tropfte es auf das nächste, zähe, blaue Tropfen, die auf einer aufgerissenen Packung mit Salami landeten, die grellen Farben des Kühlschranks blendeten ihn, ein botanischer Garten, plötzlich erinnerte er sich an den alten Kühlschrank zu Hause, als er noch ein Kind war, es war das Geräusch, an das er sich erinnerte, ein stetes Brummen, industriell und einschläfernd, ein Kühlschrank, nach einem anderen Prinzip gebaut, um die Wärme draußen zu halten, und nicht wie jetzt, um die Kälte drinnen zu halten. Er schloss die Tür und war froh, dass er keinen Hunger hatte. Auf dem Boden lag die Gitarre, mit zwei gerissenen Saiten, ansonsten leere Bierflaschen, Brotkrümel und ein grauer Strumpf. Auch hier räumte Jokum auf.

Wo waren die anderen? Hielten Arve Storvik und Bengt Åker ihn zum Narren? Ihm kam ein Gedanke. Vielleicht waren sie es gewesen, die sich diesen ganzen Morgen ausgedacht hatten. Ihm fiel kein anderer Ausdruck ein als sich diesen ganzen Morgen auszudenken. Jokum kannte nur zu gut diverse Streiche. Aber dieser? Als das Wasser kochte, kam Synne Sager, sie schob zwei Scheiben in den Toaster und setzte sich. Ihr Haar war zottelig, die Dauerwelle der Träume, er hätte einen ganzen Lehrplan für das Wissen gegeben, wovon sie träumte, und seine Hand dafür, einmal mit dieser durch ihr Haar streifen und die Kletten glätten zu dürfen. Ansonsten war sie barfuß, acht ihrer Zehennägel waren rot, und sie trug nur einen burgunderfarbenen Morgenmantel, Seide, der ein Geräusch von sich gab, wenn sie ihn fester um den Leib zog, das an Laub erinnerte. Als wollte sie verbergen, wie platt sie eigentlich war. Sofort begann Jokum sich zu schämen. Platt? Sie war genau richtig dort, wo es so sein sollte. Und würde Synne Sager überhaupt etwas vor ihm verbergen wollen? Jokum konnte sich niemanden vorstellen, der hübscher war als Synne Sager, und eigentlich war es sogar schön festzustellen, dass auch sie mal unordentlich aussah. Er fing umgehend zu zittern an, aber es gelang ihm schließlich doch, Pulver und Wasser für eine Tasse Kaffee zu mischen, die er vor sie auf den Tisch stellte.

»Gestern gefeiert?«, fragte er.

»Nein, nur schlecht geschlafen. Danke. Du bist so lieb, Jokum.«

»Ich auch.«

»Was?«

»Schlecht geschlafen.«

Er setzte sich. Zusammen tranken sie ihren Kaffee. Sie schaute ihn über die Tasse hinweg an, sagte aber nichts weiter. Lag da etwas in ihrem Blick? Etwas Spöttisches? Oder betrachtete sie ihn nur, wie Leni es in Der Prozess gemacht hatte, als einen angeklagten und deshalb schönen Mann. An Letzterem zweifelte er. Jokum musste etwas sagen. Er senkte die Stimme.

»Hast du auch Besuch gehabt?«

»Nein. Wie meinst du das? Besuch?«

»Zwei Männer. So um die dreißig. Ungefähr. Die waren vor Kurzem hier.«

»Keine Ahnung, wovon du redest.«

»Beide waren genau gleich gekleidet. So Anzugjacken ohne Kragen, du weißt schon. Ungefähr wie die von den Beatles am Anfang. Oder von Mao.«

»Hast du Besuch von den Maoisten gehabt?«

»Sie haben von Munch gesprochen. Von den Bildern im Pub.«

»Was ist mit denen?«

»Sie haben gesagt, dass wir, also die Studenten, sie nur geliehen bekommen haben. Dass sie dem Volk gehören.«

»Und um dir das zu erzählen, sind sie zu dir gekommen?«

»Ja! Und dann trugen sie Handschuhe. Helle, hautenge Handschuhe.«

»Bist du dir sicher, dass du das nicht geträumt hast, Jokum?«

»Ehrlich gesagt habe ich mich das auch schon gefragt. Aber …«

»Aber …«

»Sie haben meinen Stuhl verschoben und in den Büchern herumgewühlt.«

»Vielleicht bist du schlafgewandelt. Ich habe letzte Nacht viele merkwürdige Geräusche aus deinem Zimmer gehört.«

Fast hielt Jokum die Luft an. Allein das, allein dass sie ihn hörte. Lag sie auch mit dem Ohr an der Wand? Nein, es gab schon einen gewissen Unterschied zwischen ihren und seinen Geräuschen. Synne Sager lockte. Jokum störte. Aber trotzdem.

»Tatsächlich? Was denn für welche?«

»Das möchte ich nicht laut sagen, Jokum. Auch du sollst etwas für dich behalten dürfen.«