Meine Heimlichkeiten - Uwe Strauß - E-Book

Meine Heimlichkeiten E-Book

Uwe Strauß

0,0

Beschreibung

'Meine Heimlichkeiten' umfasst drei in sich abgeschlossene, mittellange Erzählungen. Jayden trifft einen Jungen von einer magisch verborgenen Insel, einem Ort, der in der Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Wegen all der technischen Errungenschaften fühlt er sich Seliân überlegen. Doch der fordert ihn auf ganz andere Weise, denn dort scheint die Liebe unter Jungen etwas ganz Normales zu sein. Ein Jahr später bricht er zum Gegenbesuch nach Loron auf. Er ahnt nicht, dass diese Reise sein Leben komplett auf den Kopf stellen wird. Die titelgebende Erzählung enthält die Tagebuchaufzeichnungen von Henrik, der mit seiner Familie umziehen muss. Er hat zwar eine erste Freundin, doch auch seinen besten Freund Chris in der alten Heimat. Als dieser später Opfer einer Schlägerei wird und ins Koma fällt, tut Henrik alles, um bei ihm sein zu können. Ihm wird bewusst, dass das stärkste Gefühl aus seiner Sorge und Verzweiflung um dessen Überleben herrührt: Liebe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 551

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uwe Strauß

Meine Heimlichkeiten

First-Love-Erzählungen

Von Uwe Strauß bisher im Himmelstürmer Verlag erschienen:

In Feindesland ISBN 978-3-86361-476-8

Auch als E-book

www.uwestrauss.de

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, Mai 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: shutterstock.com

Umschlaggestaltung: Markus Köppen

Ausführung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-536-9

ISBN epub 978-3-86361-537-6

ISBN pdf: 978-3-86361-538-3

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

DER FREMDE JUNGE

Jayden

Es gibt Tage im Leben eines jungen Menschen, auf die man sich freut; Geburtstage, Weihnachten, sonstige Bescherungstage, ja, und nicht zuletzt die, an denen es endlich wieder Schulferien gibt – was ja auch irgendwie einer Bescherung gleichkommt.

Und dann gibt es die vielen Tausend stinknormalen Tage, die kaum das Papier eines Tagebuchs wert sind, das man mit diesen Bedeutungslosigkeiten quält.

Aber außerdem gibt es noch ein paar ganz wenige Tage, vor denen man nichts als nackte Angst hat – und das meist zurecht – Tage, die man, wenn man vorausschauend genug ist, am besten im kuscheligen Bett verbringt und auf morgen verschiebt.

Dem Himmel sei Dank dafür, dass dies aber nur äußerst wenige Tage sind.

Was jedoch nicht von der Tatsache ablenken kann, dass heute genau solch ein schrecklicher Tag war:

 

Jayden Fisher hatte es nicht eilig. Er wusste, was ihn erwartete. Vielleicht trat seine böse Vorahnung nicht direkt ein, doch spätestens am Abend würde er seinen Eltern Rede und Antwort stehen müssen. Davor konnte er nicht davonlaufen. Davor konnte niemand davonlaufen.

Er erreichte mit seinem leuchtend grünen Rennrad gerade die ersten Häuser des kleinen Küstendorfs, in dem er wohnte. Auf dem weißen Ortseingangsschild stand in großen, schwarzen Lettern Castney, doch er beachtete es nicht. Es gehörte zu seinem Schulweg, weshalb er es schon beinahe Tausend Male in beide Richtungen passiert hatte.

Jayden war jetzt 16 Jahre alt, schlank, und er hatte dunkelblonde und recht kurze Haare. Seine alten Bluejeans vom letzten Jahr, die nun ohnehin zu kurz geworden wären, hatte er selbst unterhalb des Knies abgeschnitten. Inzwischen waren sie leicht ausgefranst. Über einem roten T-Shirt mit dem Aufdruck „It wasn’t me“ trug er einen schwarzen Rucksack, in dem er seine Schulsachen verstaut hatte. Er sah angespannt aus, doch das war kein Wunder. Er hatte seine dunkelbraunen Brauen über den blauen Augen zusammengezogen, und er verzog den Mund. Etwas Flaum stand kaum sichtbar darüber und unter einer, wie er fand, viel zu kleinen Nase.

Irgendjemand hatte ihn vor über einem Jahr mal vor dem Unterricht damit aufgezogen, dass man an der Nasengröße erkennen könnte, wie groß das beste Stück wäre. Da hatten ihm alle ins Gesicht gesehen und begonnen offen über ihn zu lachen, während er peinlichst berührt knallrot geworden war. Doch dann hatte er den Schulkameraden voller Wut kurzerhand und wuchtig gegen die Klassenraumtür geschubst, und das Thema war nie wieder aufgekommen. Dafür hatte er zwei Stunden nachsitzen müssen, was er als unfair empfunden hatte, weil der andere ohne Strafe davon gekommen war. Doch diese gemeine Beleidigung hatte Jayden verunsichert. Nun maß er alle Vierteljahr nach und schrieb sich die Ergebnisse auf einen winzigen Zettel, den er seitdem in der Joshua Tree Schallplattenhülle von U2 sicher vor Entdeckungen aufbewahrte. Von dem, was er heimlich las oder hinter vorgehaltener Hand aus seinem Freundeskreis hörte, lag er im Durchschnitt, und das beruhigte ihn dann doch wieder.

Nachdem er noch um ein paar Ecken gebogen war, erreichte er ein doppelstöckiges Reihenhaus. Er lehnte sein Rad an die Hauswand und schloss es sorgfältig ab. Es war sein größter, fast sein einziger Stolz. Umständlich kramte er einen Hausschlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Eingangstür auf. Dabei bemühte er sich, möglichst kein Geräusch zu machen, auch als er die Wohnung betrat und die Tür beinahe lautlos schloss. Er konnte das Donnerwetter jetzt wirklich noch nicht gebrauchen.

Erleichterung spielte um sein Gesicht, als er registrierte, dass noch niemand sonst zu Hause war. Ellie, seine kleine Schwester, wurde gewiss von ihrer Mutter am letzten Tag ihrer Grundschulzeit von ihrer Schule im Ort abgeholt. Er erinnerte sich, dass darüber am frühen Morgen gesprochen worden war. Und sein, wie er fand, strenger Vater würde noch bis zum Nachmittag arbeiten. Verschweigen konnte er es ohnehin nicht. Deshalb, so hatte er schon auf dem Rückweg überlegt, würde er sein Zeugnis einfach kommentarlos auf dem Esstisch hinterlassen. Dann war die Schockwirkung vielleicht schon verpufft, wenn seine Eltern ihn mit der Enttäuschung konfrontierten, die er ihnen ganz sicher bereitet hatte und die er, so fürchtete er, vermutlich dadurch auch geworden war.

Obwohl ihm sein Unterbewusstsein immer wieder erklärte, dass er alleine im Haus war, verhielt sich Jayden nach wie vor, als wolle er niemanden wecken, der eventuell gerade schlief. Er zog die Schuhe aus und schlich auf Socken in die Küche. Tief durchatmend legte er sein Zeugnis auf eine Kante des Tisches und schüttelte den Kopf. Wenn es doch nur einen Ausweg gäbe.

Er wandte sich nach links, öffnete den Kühlschrank und sah für gut dreißig Sekunden unschlüssig hinein. Dann nahm er sich eine der wirklich guten Frikadellen vom Vortag heraus, legte sie auf einen kleinen Teller und kippte reichlich Ketchup darüber. Kurz schien er zu überlegen, wie er sie nun noch mit den Fingern anfassen könnte, verzog dann den Mund und zog eine Gabel aus einer Schublade. Aus einem großen Fach im Kühlschrank nahm er noch eine Plastikflasche Limonade heraus und machte sich auf den Weg nach oben in sein Zimmer. Da er keine zweite Hand frei hatte, öffnete er die Flasche bereits auf der Treppe mit den Zähnen. Nach der Rückfahrt hatte er wirklich Durst.

Oben warf er sich auf sein Bett und zog eine Jugendzeitschrift aus dem ungeordneten Stapel unter dem Bett hervor. Er aß die Frikadelle während er darin blätterte und auf einem Konzertbericht von Iron Maiden hängen blieb. Seine Augen wanderten zur Decke und er lächelte kurz. Von den Maiden, den Jungfrauen, wie er sie nannte, hing ein Poster zwischen einigen anderen, mit denen er sein Jugendzimmer zugepflastert hatte. Als er zu Ende gegessen hatte, trank er den Rest aus der Flasche in einem Zug aus und legte sich gemächlich auf den Rücken. Dann atmete er tief durch und dachte einen langen Augenblick lang nach.

Mit einer gewissen Entschlossenheit, die er sonst nicht allzu oft zu Tage treten ließ, blätterte er nur drei Seiten weiter. Es war ihm sehr bewusst, was er hier finden würde. Auch wenn er anderen gegenüber behauptete, dass er die Zeitschrift wegen der Musikberichte las, waren doch genau die Aufklärungsseiten der eigentliche Grund, weshalb er sie kaufte und die Seiten, die er vor allen anderen durchsah. Im Übrigen glaubte er auch fest, dass seine Klassenkameraden die gleiche Lüge verbreiteten, sie kauften sie nur wegen der Reportagen über die Bands.

Meist las er diese Seiten zwei- oder dreimal, und so kannte er die, wie seine Freunde glaubten, gefakten Fragen und Antworten oder die Portraits von Jugendlichen, die über ihre ersten sexuellen Erfahrungen berichteten, schon beinahe auswendig. Er nahm nicht wahr, dass er trotzdem vor gespannter Aufregung mit geöffnetem Mund las. Unbewusst fuhr Jayden sich mit seiner Zunge über die Lippe, als er nur Momente später auf die sich langsam aber deutlich abzeichnende Beule in seiner Jeans sah. Vielleicht wurde der Tag ja doch nicht ganz so schlimm. Doch schon als seine Hand den Gürtel zu lösen begann, hörte er unten die Haustür und die vertraute, helle Stimme seiner Schwester.

„War ja klar“, dachte er enttäuscht. „Heute geht alles daneben.“ Kopfschüttelnd schlug er das Heft wieder zu und legte es sorgfältig unter sein Bett zurück. Es würde zu warten haben. Dann griff er sich sein Paar Kopfhörer, setzte sie auf und machte Musik an. Obwohl sie laut war, entspannte er sich, als er die Augen schloss, und seine Erregung war ebenso schnell verpufft wie sie gekommen war.

Dass es eine gute Stunde später an seiner Tür klopfte, nahm er nicht wahr. Zu laut war die Musik, die er inzwischen auf sich eindröhnen ließ, um sich abzulenken und um seinen Frust nicht zu stark durchkommen zu lassen. Doch er hatte die Augen geöffnet und starrte ins Leere, als nun sein Vater eintrat. Randy Fisher war Anfang vierzig, groß, glatt rasiert, und er trug noch seine Arbeitskleidung. In seinem Fall als Controller einer Bank war dies ein dunkler Anzug, dessen Jackett er unten jedoch abgelegt hatte, zudem Hemd und Krawatte. Auch er war blond, allerdings dunkler als sein Sohn.

„Jayden?“

Gemächlich setzte sein Sohn sich auf und nahm fast provozierend langsam die Kopfhörer ab. „Was ist?“

„Das ist.“ Er wedelte mit einem Papier vor seiner Nase umher, von dem Jayden nur zu genau wusste, was darauf verzeichnet war.

„Es lief nicht sonderlich gut dies Jahr”, sagte er ruhig.

„Nicht sonderlich gut?“, hakte sein Vater mit tiefer Stimme nach. „Das ist wohl stark untertrieben. Deine Noten sind eine absolute Frechheit“, redete er sich langsam in Rage. „Was tust du eigentlich den ganzen Tag in der Schule?“

Noch schaffte es Jayden, ruhig zu bleiben. „Reg dich ab. Ich habe die Versetzung ohne Probleme gepackt, also, was willst du?“

„Ohne Probleme? Um Haaresbreite meinst du wohl.“ Und noch lauter werdend fragte er: „Was ich will? Ich will, dass du uns wie früher Zeugnisse präsentierst, die deinem Leistungsvermögen entsprechen. Und ich weiß sehr wohl, wo das liegt.“ Er sah sich suchend um. „Wo ist deine Schultasche?“

Jayden nickte unwillig in Richtung Kleiderschrank. Sein Vater ging die zwei Schritte hinüber, nahm den Rucksack heraus und legte laut vorlesend die Bücher einzeln auf den Schreibtisch. „Geschichte, Biologie, Mathematik. Was ist das hier? Physik. Ah, englische Literatur und Chemie. Na, das lohnt sich ja.“

„Hör auf. Ich hab Ferien.“

„Du hast das ganze Schuljahr Ferien gehabt.“

„Das ist nicht fair“, maulte Jayden.

„Nicht fair?“, ereiferte sich sein Vater. „Ich erzähle dir mal, was nicht fair ist. Es ist uns gegenüber nicht fair, dir eine laue Zeit zu machen. Schließlich haben wir dich sechzehn Jahre lang durchgefüttert und unterstützt.“

„Was ist mit Nizza?“ fragte Jayden ängstlich.

„Nizza fällt aus. Wenigstens für dich”, sagte sein Vater mit harter Stimme.

„Nein”, brach es fast unhörbar aus Jaydens Mund hervor. Das konnte unmöglich sein. Er war so schockiert, dass er nun sogar zitterte. Dass er in irgendeiner Form den Stoff würde nacharbeiten müssen, hatte er schon befürchtet. Schließlich kannte er seine Eltern gut genug. Aber das?

„Oh doch”, bestätigte sein Vater, und es klang wie eine Drohung, auf die es keine Widerworte geben konnte.

„Das könnt ihr nicht machen. Ich ...“ Er war so vor den Kopf gestoßen, dass er stockte. „Ihr wollt alleine fahren?“

Sein Vater nickte entschlossen.

„Während ich hier von euch zurückgelassen werde und lernen soll?“

„So haben deine Mutter und ich es beschlossen.“

„Aber, nein, das könnt ihr nicht tun”, rief er verzweifelt, „ich hab mich doch so darauf ...“ Er beendete den Satz nicht.

Mit den Worten „Ich denke, du hast verstanden”, drehte sich sein Vater um, wandte sich zur Tür und deutete dann drohend mit dem Finger auf seinen Sohn. „Du hast dreimal ein derart schlechtes Zeugnis mit nach Hause gebracht, mein lieber Jayden, das erste, einzige und auch das letzte Mal!“ Damit ging er hinaus und schloss entschlossen die Tür.

„Mein lieber Jayden”, sagte dieser leise zu sich, schüttelte den Kopf und warf sich bäuchlings auf sein Bett. Dann vergrub er verzweifelt den Kopf im Kissen. Dies war noch viel schlimmer geworden, als er befürchtet hatte.

 

Ihn selbst wunderte es keineswegs, dass er keinerlei Appetit verspürte, als er abends bei den anderen am Tisch saß und alle außer ihm aßen.

„Nun iss schon, Jayden”, forderte ihn seine Mutter auf. Sie war deutlich kleiner als er, etwas jünger als ihr Mann und mit schulterlangen, braunen Haaren wirklich hübsch. Über dem Tisch waren sonst nur ihre farbenfrohe Sommerbluse und eine schlichte Halskette zu erkennen.

„Danke. Mir ist der Appetit aus irgendeinem unerfindlichen Grund vergangen”, sagte er mit aller Bitterkeit, zu der er fähig war.

„Jayden, bitte. Nimm dich zusammen. Jeden Tag bekommen wir mindestens zweimal von dir zu hören, wie erwachsen du glaubst zu sein. Jetzt kannst du es uns beweisen. Sieh das Ganze doch mal als Chance. Beweise uns, dass wir dir häufiger und mehr vertrauen können.“

„Ich will diese beknackte Chance nicht”, rief er ungehalten. „Ich will mit nach Frankreich!“

„Die Diskussion ist beendet”, mischte sich Mr Fisher in strengem, endgültigem Tonfall ein. „Du bleibst! Wenn du weiter mit diesen kindischen Argumenten kommst, werde ich Onkel Carl auch noch fragen, ob er dich für die drei Wochen ganz zu sich nimmt.“

„Hat mich sowieso schon gewundert, dass ich keinen Babysitter kriege”, sagte Jayden pampig.

„Ein Wort noch, und ich besorg dir einen.“

Jayden verkniff sich weitere Widerworte, auch wenn es ihm offensichtlich sehr schwer fiel. Missmutig biss er von einer Scheibe Brot ab, auf die er Schinken gelegt hatte.

Nach einer kurzen Pause sprach seine Mutter in verständnisvollerem Ton weiter. „Hör zu, Jayden. Wir werden Onkel Carl und Tante Cindy Geld für dich geben. Davon kannst du dir das zu essen kaufen, was du für dich zum Frühstück und Abendessen brauchst.“

„Im Klartext, ihr traut mir nicht einmal zu, dass ich mit Geld umgehen kann.“

Sein Vater lächelte zustimmend und nickte ihm herausfordernd zu. Doch seine Frau sprach weiter. „Mittags, wenn du gelernt hast, wirst du bei ihnen essen. Tante Cindy wird gern für dich mitkochen. Laura und der kleine Michael sind ja auch da. Ob sie nun für vier oder für fünf Personen kocht, macht keinen großen Unterschied, sagt sie selbst. Ich habe vorhin mit ihr telefoniert.“

„Toll wie ihr das so schnell hinbekommen habt. Kompliment”, murrte Jayden.

Ohne auf seine Bösartigkeit zu reagieren, fuhr seine Mutter fort: „Es ist wie in der Schulzeit. Du hast den ganzen Nachmittag und Abend für dich. Es liegt an dir selbst, was du aus deinen Ferien machst. Wir haben nichts dagegen, wenn du deine freie Zeit mit deinen Freunden verbringst – solange du lernst.“

„Ihr wisst überhaupt nichts!“, schrie er nun beinahe. „Ken fliegt nach Ägypten, und Tom, Marc und Davy sind im Ferienlager in Lancashire.“ Sarkastisch fügte er hinzu: „Ich hatte euch davon erzählt, dass ich ihnen abgesagt habe – wegen Nizza. Herzlichen Dank.“

Damit stand er auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Esszimmer. Beinahe erstaunt registrierte er, dass niemand ihn versuchte aufzuhalten.

 

Jayden hatte vor unterdrückter Wut extrem schlecht geschlafen. Er hatte seine Eltern spüren lassen, dass er sie für diese, wie er fand, unmenschliche Entscheidung verachtete. Trotzdem stand er nun an seinem Schreibtisch und starrte bewegungslos aus dem Fenster. Vor dem Haus stand ein weißer Camper mit hellbraunen Streifen. Er hatte die Lippen zusammen gekniffen und sah Ellie zu, wie sie übertrieben mädchenhaft eine kleine, rote Tasche in der Hand haltend die drei Stufen zum offenen Camper emporstieg. Den hatten seine Eltern, die ihr unterhaltend folgten, für die drei Wochen angemietet. Sie trugen die letzten Taschen hinein. Seine Mutter kam alleine wieder heraus und ging zurück zum Haus. Er hörte sie die Treppe emporsteigen, drehte sich aber nicht zu ihr um, als sie sein Zimmer betrat. „So, mein Großer, jetzt bist du uns los.“

Jayden reagierte nicht. Deshalb sprach seine Mutter weiter: „Wir werden uns bei Tante Cindy melden, damit du in aller Ruhe weiter schmollen kannst. Keinen fremden Besuch. Hörst du?“

Doch Jayden ließ noch immer mit keinem Laut oder irgendeiner Regung seines Körpers erkennen, dass er verstanden hatte.

„Du machst das schon. Fünf Stunden am Tag sind nicht die Welt.“ Sie steckte ihm etwas in die hintere Gesäßtasche.

Jaydens Verbitterung hatte sich indes nicht um ein Jota gelegt, und so bedankte er sich nicht, obwohl er ahnte und innerlich auch hoffte, dass es Geld war.

Dann wandte sie sich um und sagte: „Bis in drei Wochen, mein Sohn.“ Als sie den Raum verließ, hörte er ihr Flüstern, obwohl er sich nicht sicher war, ob er es hören sollte. „Es tut mir leid.“

Er sagte erst ganz leise „Tschüß”, als der Camper bereits langsam anfuhr und er ohne hinzusehen eine Fünf-Pfundnote in den Fingern drehte.

 

Cindy Grady war früher eine attraktive, brünette Frau gewesen, doch zwei Schwangerschaften hatten einige Kilos hinterlassen, die ihr einfach nicht stehen wollten. Sie hatte gerade ihren Jüngsten in einen Hochstuhl gesetzt und band ihm ein Lätzchen um, während sie mit ihm sprach. „So, das bekommst du auch wieder, mein kleiner Dreckspatz. Interessiert dich eigentlich, was es heute zu essen gibt?“

Wenn „Bppfff“ eine Antwort gewesen sein sollte, so konnte sie sie jedenfalls nicht als solche einordnen.

„Das soll ein Möhrengemüse sein. Ja, ich weiß, es sieht genauso aus wie das Zeug gestern.“ Sie lachte ein wenig für sich und nahm etwas Brei auf einen kleinen Löffel. „Wenn du jetzt noch den Mund öffnest, können wir beginnen.“

Doch noch während sie dies sagte, schellte die Türglocke. Mit freundlicher Stimme rief sie in den Nebenraum: „Laura, machst du bitte auf? Das muss Jayden sein.“

Aus dem Wohnzimmer stürmte ein kleiner, blonder Blitz zur Tür. Dort stand wirklich Jayden, der jedoch eigenartig schüchtern wirkte. Die siebenjährige Laura zog ihn an der Hand in die Küche. „Nun komm schon, hierein.“

„Hey, ist ja gut”, sagte Jayden lachend. „Ich komme ja schon. Hallo, Tante Cindy.“

„Hallo, Sorgenkind.“ Sie hatte noch immer einen mit oranger Masse bestrichenen Löffel in der Hand.

Jayden gab ihr einen Kuss auf die Wange und tätschelte dann Michael ganz leicht den Kopf. „Na du, kriegst du immer noch kein richtiges Steak?“

„Das wird wohl noch ein wenig dauern”, antwortete sie an Michaels Stelle. „Schön, dass du hier bist.“

Er verzog den Mund. „Du weißt genau, dass ich jetzt viel lieber auf dem Weg nach Frankreich wäre.“

Sie lächelte verständnisvoll.

Nicht nur weil er nicht weiter darüber reden wollte, fragte er: „Tante Cindy, darf ich Mikey füttern?“

„Oh, ich bin für jede Art Hilfe empfänglich.“ Sie übergab ihm den Löffel, und Jayden lächelte seinen kleinen Cousin an. An Laura gewandt, sagte Mrs Grady: „Spatz, sagst du Papa, dass wir in zehn Minuten essen können?“

 

Mrs. Fisher stand alleine vor einer Telefonzelle und kramte in ihrer Börse nach Münzen. Mit diesem französischen Geld kam sie noch nicht so leicht klar. Aber das würde sich in den drei Wochen geben. Die Telefonzelle gehörte zum Hauptgebäude eines Campingplatzes in der Nähe des Fährhafens. Sie öffnete sie, trat hinein, warf die Münzen in einen Schlitz und wählte.

Als nach fünfmaligem Durchläuten noch keine Antwort kam, sprach sie mehr zu sich selbst in den Hörer: „Nun komm schon. Ich weiß, dass du zu Hause bist. Der Kleine kriegt doch bestimmt gleich Essen. Ah, - Guten Morgen, Cindy, hier ist Diana. Ich wollte nur hören, wie es euch geht und ob das mit Jayden geklappt hat.“

...

„Ah, das ist gut.“

...

„Nein, Randy hat gesagt, es sei besser, wenn wir ihn die ersten Tage noch nicht anrufen. Er möchte, dass sich Jayden erst ein wenig von dem Schock erholt.“

...

„Ich weiß. Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben, aber vielleicht wächst er ja wirklich durch die Selbstverantwortung.“

...

„Nein, wir sind ganz gut durchgekommen.“

...

„Irgendwo in der Nähe von Calais. Wir haben eine der letzten Fähren genommen.“

...

„Nein, wir starten in einer halben Stunde.“

...

„Ja, danke. Das wünsche ich dir auch. Wenn Jayden nachher kommt, grüß ihn bitte ganz lieb. Würdest du das …“, doch in diesem Moment rutschten der letzte Franc durch, und so beendete sie den Satz nicht mehr. Das war nicht so schlimm, befand sie. Sie war im Großen und Ganzen mit ihrer Botschaft durchgekommen. Nickend legte sie auf und ging zum Camper zurück.

 

Das Meer war ruhiger, als es dies sonst so häufig war. Es war der dritte Tag seiner Zeit als Verdammter, wie er sie in seinen Gedanken enttäuscht bezeichnete. Jayden, der erneut seine halblange Jeans und diesmal ein schwarzes Shirt seiner schottischen Lieblingsband Big Country trug, stellte sein Rad in den Klippen ab. Sorgsam verschloss er es sogar doppelt, bevor er seine Kleidung ablegte. Die blaue Badehose, die eher wie ein kurzer Slip aussah, hatte er sich schon mittags zu Hause untergezogen. Man konnte ja nicht wissen, wer eventuell noch hier schwimmen wollte. Doch heute war er ganz allein. Der Zugang durch die Felsen war viel zu schwierig, als dass ihn andere nutzten, und verboten war es ohnehin. Er stapelte die Kleidung eher unordentlich übereinander.

Vorsichtig stieg er die Klippen hinunter, bevor er von einem ins Meer ragenden Felsen in die Fluten sprang. Die Kühle des Atlantiks umfasste ihn sofort, und prustend tauchte er wieder auf. Er schwamm ein paar Züge und dachte eigenartigerweise an das vergangene Jahr. Von diesem Felsen war er letzten Sommer auch immer gesprungen, da allerdings mit Davy, Ken und Tom zusammen. Diesmal war niemand da. Das bedeutete aber auch, dass niemand mehr Regeln aufstellen konnte. Ja, er war frei, und für diesen ersten Augenblick genoss er dieses Gefühl.

Jayden, der ein guter Schwimmer war, machte einige lange Züge, rollte sich aus Spaß ein paar mal wie eine Robbe im Wasser und schwamm noch ein wenig weiter. Als er jedoch zurück zu den sich nun dunkelbraun gegen den hellblauen Himmel abhebenden Klippen sah, blieb ihm beinahe das Herz stehen.

Da war jemand. Und dieser jemand machte sich an seinem Rad zu schaffen. Um ein Haar hätte er laut auf sich aufmerksam gemacht und „nein“ geschrien. Doch im selben Moment, in dem er das gedacht hatte, wurde ihm klar, dass dies auch von dem anderen als Warnung interpretiert werden konnte, sich zu beeilen. Schon war er mit dem Gesicht im Wasser und kraulte so schnell er konnte zu den Felsen zurück. Panik stieg in ihm auf. Sein Rad war sein Ein und Alles. Er hatte so lange dafür gespart. Es durfte einfach nicht passieren.

„Hey! Weg da!“ So schnell er konnte, kletterte er die Felsen hinauf. „Finger weg!“

Er registrierte, dass der Junge sicherlich einen halben Kopf kleiner und vermutlich auch ein wenig jünger als er war. Sein langes, dunkles Haar fiel ihm offen auf die Schultern. Er hatte tiefdunkle Augen, die geheimnisvoll wirkten, und er trug nur eine fremdartig wirkende Hose aus hellem und sehr dünnem Leder, die am rechten Bein hauteng anlag, am linken jedoch sehr hoch geschnitten und sauber gefranst war. Ein derartiges Kleidungsstück hatte Jayden noch nie zuvor gesehen. Auf irgendeine Weise wirkte der Junge nicht nur fehl am Platz, sondern ausländisch, beinahe indianisch.

„Was hast du an meinem Bike zu schaffen?“, schrie ihn Jayden wütend an. Doch der fremde Junge reagierte nicht und sah ihn nur fragend an. Er nahm nur die Hände weg und streckte sie vor sich, um zu zeigen, dass er nichts Böses im Schilde führte. Jayden fragte sich, warum er keine Antwort bekam. Musste er noch deutlicher werden? Mit beiden Händen schubste er den Kleineren rücklings zu Boden. Doch nicht einmal das konnte den Jungen aus der Reserve locken. Ungläubig den Kopf schüttelnd stand er wieder auf. Er schien sich nicht wehgetan zu haben, obwohl er auf nackten Fels geknallt war. Vollkommen unerwartet machte der Junge sogar einen Schritt auf Jayden zu, sah ihn weiterhin fragend aus einer nach wie vor deutlich defensiven Position an.

„Na, was ist? Kriege ich keine Antwort?“

Doch der Junge reagierte weiterhin, als verstünde er seine Sprache nicht. Jayden holte nur kurz aus und schlug ihm trocken in den Magen. Stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht sackte der fremde Junge zu Boden.

„Du beklaust mich nicht”, sagte Jayden nachdrücklich.

Mühsam und noch immer mit dem Zucken einer Schmerzreaktion im Gesicht rappelte sich der Junge auf und sah Jayden in die Augen. Völlig überraschend registrierte der, dass keine Angst oder gar Wut in seinen Augen war, sondern eindeutig nur Enttäuschung.

Flüsternd und ganz leicht den Kopf schüttelnd fragte er: „Warum?“ Dann drehte er sich langsam um und ging die Hand in den Bauch drückend weg. Er sah nicht zurück, und Jayden, der ihm nachblickte, verstand weniger als vorher. Welch eine verrückte Aktion war das denn nur gewesen?

 

Zwei Stunden später – Jayden hatte inzwischen geduscht – fläzte er sich nur mit seiner Unterhose bekleidet auf dem Sofa herum und sah mit halbem Auge einer amerikanischen Comedyserie im Fernsehen zu. Neben ihm standen eine Dose Erdnüsse und eine halbe Flasche Cola.

Er hätte eigentlich zufrieden sein müssen. Er hatte den Diebstahl seines Rades verhindert, konnte so viel vor der Glotze hängen wie er wollte und die ganzen Vorräte an Cola leertrinken. Doch er war nicht zufrieden, weder mit sich noch mit seinem Leben. Nein, ihn störte nicht mehr, dass er jetzt nicht auf dem Weg nach Nizza war. Damit hatte er sich inzwischen irgendwie abgefunden. Ihn verunsicherte, dass dieser eigenartige Junge mit der, wie er in diesem Moment zum bestimmt zehnten Mal dachte, bescheuerten Hose die überhaupt nicht passende Frage „warum?“ gestellt hatte. Es war doch offensichtlich gewesen, wieso er ihn angegangen hatte, oder nicht?

Wie hätte er es deutlicher machen können als durch das, was er gesagt hatte und durch den Schubser, beziehungsweise den Schlag. Wie konnte man da nur so dämlich sein und „warum“ fragen?

Der Junge hatte anfangs zwar so ausgesehen, als verstünde er ihn nicht, hatte aber dann doch auf Englisch geantwortet. Also musste er ihn doch verstanden haben. Es war ein Rätsel, hinter das er nicht kam. Und das ärgerte ihn so sehr, dass er den Fernseher wieder ausschaltete, sich hinlegte und sich Bilder des Jungen ins Gedächtnis zurück rief? Wer trug solch eigenartige Hosen? Nicht einmal in Edinburgh hatte er jemanden gesehen, der mit einer nur an einer Seite ausgefransten Hose herum gelaufen wäre. Er konnte nicht aus der Gegend sein.

„Vielleicht ist er Franzose”, überlegte er, „oder noch von viel weiter her. Aber was tut er dann hier? Es gibt keine Campingplätze, dass ein Spanier oder ein sonstiger Ausländer hier seine Ferien verbringen könnte.“ Er hatte ihn an einen Indianer erinnert.

Er sprang auf. Das konnte er herausfinden. Er hatte ein Buch über Indianer. Er fand es auf Anhieb in einem Regal in seinem Zimmer und blätterte es fast fieberhaft durch. Als er auf die Schnelle nicht fündig wurde, begann er noch einmal in aller Ruhe von vorne und las es komplett durch. Dabei merkte er nicht einmal, dass er noch immer einzig mit seiner fast zu kleinen Unterhose bekleidet mitten in seinem Zimmer herum stand. Enttäuscht fand er heraus, dass solch eigenartige Lederhosen nirgendwo erwähnt wurden.

Er ging hinunter in die Küche und stöberte den Kühlschrank durch. Entschlossen machte er sich eine Pizza im Ofen warm und fand dann drei Flaschen Bier, die unter den Säften lagen. Dieser Fund zauberte ein Grinsen auf sein Gesicht. Die konnte er am Ende der drei Wochen wieder auffüllen, dachte er zunächst. Doch dann überlegte er, dass sein Vater wahrscheinlich ohnehin vergessen habe würde, dass er noch drei Flaschen gehabt hatte, wenn er zurückkehrte. Er öffnete eine und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Es war nicht seine erste, doch vielleicht erst die fünfte oder sechste, und so war Bier noch immer etwas Besonderes für ihn.

Er versuchte sich mit Musik und erneut mit dem Fernseher abzulenken. Doch egal, woran er absichtlich denken wollte; dieser eigenartige, fremde Junge tauchte immer wieder aufs Neue in seinem Kopf auf.

 

Jayden hatte sich für den Folgetag die exakt gleiche Stelle ausgesucht, um wieder schwimmen zu gehen. In gespannter Erwartung schwamm er diesmal nicht ganz so weit hinaus und blickte häufig zurück. Immer wieder biss er die Zähne zusammen und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Doch egal, wie häufig er zu den Klippen und zu seinem Rad sah, dort geschah nicht mehr, als dass ein Vogel über den Felsen kreiste. Innerlich ärgerte er sich, dass er hoffte, dass der Junge auftauchen möge und einfach nur da war. Doch es geschah nicht, obwohl er beinahe eine halbe Stunde in dem kalten Wasser blieb.

Enttäuscht trocknete er sich ab, zog sich sogar erstmals im Schutz eines Felsens um. Kurz lachte er, als er sich ohne Badehose umsah und niemanden erblickte. Nackt in der Natur stehen zu können, war auch eine Form von Freiheit. Doch ihm wäre lieber gewesen, wenn er diese Freiheit gegen Gesellschaft hätte tauschen können.

Seliân

Heute, einen weiteren Tag später, trug Jayden sein rotes Trikot vom FC Liverpool. Er mochte es, obwohl es ihm inzwischen etwas zu klein geworden war. Er hatte es vor zweieinhalb Jahren zu Weihnachten bekommen, und da war er noch gut fünfzehn Zentimeter kleiner gewesen als er heute war. Es war etwas weniger heiß als am Vortag. Er stellte das Rad noch einmal an der gleichen Stelle in den Felsen ab, verschloss es und begann sich auszuziehen. Immer wieder suchten seine Augen die Felsen ab, bevor er zu dem hervor stehenden Fels hinab stieg und einen Kopfsprung ins Wasser machte.

Gemächlich schwamm er wieder ein paar Meter hinaus. Auf Rollen oder sonstige Tauchbewegungen hatte er irgendwie keine Lust. Vielleicht würde er noch ein paar Sprünge machen. Als er jedoch zurück schwamm und zu seinem Rad blickte, sah er den fremden Jungen im Schneidersitz in den Felsen sitzend, nur eine Ebene über der, von der er vorhin den Kopfsprung gemacht hatte. Auf einmal lächelte Jayden. Dann tauchte er unter und kraulte tief durchatmend zurück.

Als er unter Wasser war, wusste er nicht, ob er erleichtert war, sich freuen wollte, dass er Gesellschaft bekam oder was er nun überhaupt denken sollte. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass es etwas Schlimmes sein könnte. Dennoch stieg er angespannt aus dem Wasser und langsam den Felsen empor.

Der fremde Junge trug erneut die fremdartige Hose aus ganz dünnem, hellem Leder, die hier im Schneidersitz noch ungewöhnlicher wirkte, weil die Fransen sein Bein nicht mehr verhüllten. Seine tiefdunklen Augen blickten ihn forschend an. Regungslos erwartete er Jayden, bis dieser seinen Felsen erreichte. Dann stand er bedächtig auf, verbeugte sich leicht vor ihm und sagte zwar leise, aber dennoch mit sicherer Stimme: „Ich bitte dich um Vergebung.“

Jayden verstand die Welt nicht mehr. „Du tust was?“

„Ich bitte dich um Vergebung. – Verstehst du mich nicht?“, fragte er unsicher nach.

„Doch, doch”, antwortete Jayden schnell. „Ich verstehe nur nicht wieso?“

Der Junge blieb ernst. „Du hast mich dafür bestraft, dass ich etwas berührt habe, das du dein Eigentum nennst. Somit bin ich vor dir schuldig geworden.“

„Du bist verrückt”, war alles, was Jayden hervor brachte.

„Nimmst du meine Entschuldigung an?“ Der Junge wirkte noch immer sehr angespannt und konzentriert. Jetzt hielt er ihm seine rechte Hand hin, nun jedoch wieder etwas verunsichert, anscheinend weil er fürchtete, Jayden könnte sie ablehnen.

Der überlegte einen Augenblick, entschied dann aber, dass es nicht schaden konnte. Und so würde er noch etwas Gesellschaft haben und mehr über den verrückten Jungen herausfinden können. Er schlug ein und lächelte etwas verlegen, während er mit dem Kopf schüttelte, als wollte er sich klar machen, in welche Situation er geraten war.

„Ich bin Seliân.“

„Seliân? Habe ich noch nie gehört. Ich bin Jayden.“

„Das habe ich noch nie gehört”, entgegnete dieser lächelnd und nickte zurück. „Was ist das?“

„Was ist was?“

„Was ist dieses Ding, mit dem du dich so schnell bewegen kannst?“ Er zeigte hoch zu Jaydens Fahrrad.

„Meinst du mein Bike?“

„Wenn dieses Ding Bike heißt”, sagte er lächelnd, „meine ich dein Bike.“ Als Jayden ihn ansah, als könnte er nicht glauben, dass er diese Frage gestellt hatte, fügte er hinzu: „Dort, wo ich herkomme, gibt es so etwas nicht.“

„Du kennst keine Bikes? – Das gibt es doch nicht.“ Nachdenklich rieb er sich ein wenig die Arme warm und fügte dann mehr zu sich gewandt hinzu: „Deshalb hast du es dir angeschaut. Langsam verstehe ich.“

„Du frierst. Dein Tuch ist oben bei deiner Kleidung.“

Gemeinsam wandten sie sich um. ›Tuch‹ hatte er gesagt, nicht Handtuch, wunderte sich Jayden, als sie zum Rad zurück kletterten. Und er kannte nicht einmal ein richtiges Bike? Das war wirklich seltsam. „Eigentlich heißt es nicht Bike, sondern Fahrrad”, sagte er, „aber das sagt kaum jemand.“

„Es funktioniert über die Kette, an der du mit den Füßen drehst, nicht wahr?“, fragte Seliân.

Jayden konnte nicht anders. Er antwortete lachend: „Ja, so kann man das auch ausdrücken.“

„Du musst sehr geschickt sein.“

„Ach was”, wiegelte Jayden ab, „Radfahren ist einfach. Das kann jedes Kind.“

„Nein, ich meine, es ist gewiss sehr schwer, so etwas Kompliziertes herzustellen.“

„Oh, ich habe es nicht gebaut. Es ist aus irgendeinem Laden.“ Mit einem Mal hatte er die Idee. „Möchtest du es dir anschauen? – Ich meine, mit meinem Einverständnis”, setzte er schmunzelnd hinzu, als sie das Rad erreichten.

Seliân nickte und berührte schließlich den Alurahmen voller Hochachtung, während Jayden sich abtrocknete und ihm dabei zusah. Er band sein Handtuch um, um die nasse Badehose gegen eine Unterhose zu tauschen. So hatte er es von seinen Freunden gelernt, als sie vor drei Jahren begonnen hatten, alleine hier schwimmen zu gehen. Niemand zeigte sich den anderen. Seliân holte einen Apfel aus einem Lederbeutel, zerbrach ihn geschickt und hielt Jayden, der sich nun in seiner Unterhose neben ihn setzte, die eine Hälfte hin.

„Danke”, sagte er und trocknete sich die Waden ab. Dann warf er das Handtuch nach hinten zu seinen Schuhen und dem roten Liverpool-Shirt.

„Erzählst du mir von dir?“, fragte Seliân.

„Okay. Ich heiße Jayden Fisher. Manche sagen auch nur Jay zu mir. Ich bin sechzehn, seit zwei Monaten. Naja, ich bin in Castney zu Hause; das ist so fünf Meilen von hier entfernt. Eigentlich ist es ein ziemlich kleines Kaff”, doch als er sah, dass Seliân das Wort ebenfalls fremd war, korrigierte er sich, „ein kleiner Ort, hat etwa zwölfhundert Einwohner. Viel mehr gibt es über mich nicht zu erzählen. Im Augenblick wäre ich lieber mit meinen Eltern und meiner Schwester Ellie in den Ferien in Südfrankreich.“

Doch als er es ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass es nicht oder besser nicht mehr der Wahrheit entsprach. In Gedanken berichtigte er sich. „Im Augenblick möchte ich nirgendwo anders sein als hier.“ Zu Seliân gewandt, sagte er dann: „Aber da mein Zeugnis so schlecht war, haben sie mir verboten mitzukommen.“

Seliân nickte und fragte weiter: „Wofür hast du ein Zeugnis bekommen?“

„Entschuldige, wenn ich jetzt nicht sofort antworte.“ Er sah Seliân nun direkt an. „Aber wer bist du wirklich, und vor allem woher kommst du, dass du nicht einmal weißt, wofür man ein Zeugnis bekommt oder was ein Fahrrad ist?“

Lächelnd antwortete dieser. „Mein Name ist wirklich Seliân. Ich bin der älteste Sohn von Rykiân, dem Herrscher auf Loron.“

Jayden wählte unbewusst einen derart dämlichen Gesichtsausdruck, dass Seliân zu lachen begann. Jayden lachte mit ihm.

„Ich wusste, dass du Loron nicht kennst. Loron ist eine Insel, eine ziemlich kleine Insel dort draußen.“ Er zeigte hinaus aufs Meer. „Aber es ist sehr schön dort.“

„Ich habe noch nie von Loron gehört. Gehört sie zu Schottland? Zu welcher Inselgruppe?“

Jayden konnte erkennen, dass Seliân nun voller Stolz sprach: „Loron gehört weder zu einem Staat noch zu einer Inselgruppe. Wir verwalten uns selbst.“ Als Jayden ins Nachdenken versunken nichts sagte, fuhr Seliân fort: „Du fragst dich, warum du noch nie von Loron gehört hast, nicht wahr?“

Jayden nickte nur, gespannt auf eine Antwort.

„Weißt du, Loron gehörte einst zum Reich der englischen Krone. Vor vielen, vielen Jahren, noch zur Zeit der Kreuzzüge wurde entschieden, dass Loron vor der gewaltsamen Christianisierung der Welt bewahrt werden sollte. Meine Heimat wurde zunächst bewusst und systematisch vom Festland abgekapselt und war schließlich für Menschen von dort gar nicht mehr zugänglich. Seit Jahrhunderten hat kein Fremder mehr einen Fuß auf unseren Boden gesetzt.“

„Dann ist Loron also eine vergessene Insel wie Avalon oder Atlantis”, sagte Jayden mehr zu sich als zu seinem Gegenüber.

„Das weiß ich nicht”, antwortete dieser trotzdem. „Von Atlantis habe ich gehört. Es soll versunken sein. Doch Avalon war nie eine wirkliche Insel. Sie stand in einem Moor, das mit den Jahren ausgetrocknet ist. Es ist nur überliefert, dass man die Insel nicht mehr mit Booten erreichen konnte.“

„Was ja irgendwie logisch ist”, unterbrach ihn Jayden, „wenn alles ausgetrocknet ist.“

„Ja, Loron hat seinen Schritt bewusst gemacht und schützt sich nun magisch vor Entdeckung durch ...“, er stockte einen Augenblick, „durch euch.“

Doch diese Bemerkung schien Jayden nichts auszumachen. „Und warum bist du jetzt hier?”, fragte er weiter.

„Das ist eine lange Geschichte. Ich habe dir gesagt, dass mein Vater Loron regiert. Rykiân ist ein guter Herrscher. Viele sagen, er sei der beste und weiseste seit vielen Jahren. Wenn er einst sterben wird, muss ich seinen Platz einnehmen, denn ich bin sein erstgeborener Sohn. So hat man mich schon früh gelehrt, nicht nur eigenverantwortlich zu denken, sondern bereits jetzt für alle Wesen auf Loron in Gedanken die Verantwortung mit zu übernehmen. Um zu beweisen, dass ich befähigt wäre, diese Nachfolge anzutreten, muss ich einen Test bestehen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich mich schon so früh zur Prüfung melden soll, oder ob ich besser noch ein paar Jahre warten soll. Nun, die Entscheidung ist für die Prüfung gefallen. Aufgrund meiner Entscheidung hat ein Gremium einen Test für mich ausgewählt. Die Aufgabe, die ich zu lösen habe, ist herauszufinden, was aus der anderen Welt, aus deiner Welt, geworden ist. Wir glauben, dass sie sich deutlich stärker verändert haben muss, als unsere kleine Welt auf Loron.“

Jayden hing wie gebannt an Seliâns Lippen. Dies alles konnte unmöglich wahr sein. Und doch klang alles so logisch und real, dass er gar nicht umhin kam, ihm dies zu glauben.

Seliân sah ihm direkt in die Augen und fragte ganz leise: „Möchtest du mir bei meiner Aufgabe helfen, Jayden?“

Ein Gefühl, das er noch nie zuvor verspürt hatte, durchströmte ihn. Es war einerseits angenehm warm und dennoch auf eine unbekannte Art beunruhigend. Es war, als würde er eine Grenze durchbrechen, wenn er ihm zusagte. Und dennoch war es genau das, was er wirklich wollte. Ich hab Ferien, und keiner sagt mir, was ich tun darf und was nicht, dachte er. Ich kann selbst entscheiden. Und meine Antwort ist eindeutig.

Sanfter als er wollte, antwortete er: „Gerne, Seliân.“ Um die sich in ihm aufbauende Verlegenheit zu überspielen, fügte er dann aber noch hinzu: „Dafür vergibst du mir aber bitte, was ich dir vorgestern angetan habe, ja?“

Seliân lächelte und nickte. Jayden stand auf und begann sich wieder anzuziehen, während Seliân die filigranen Speichen der Räder bewundernd betrachtete.

„Hast du keine Schuhe mit?“, fragte er den Jungen.

„Doch, sie sind in meinem Bündel.“ Er deutete auf das Ledersäckchen, aus dem er den Apfel hervor geholt hatte. „Auch etwas zum Überziehen, zum Essen und ein paar Kräuter.“

„Kräuter?“, fragte Jayden nach.

„Ich wusste nicht, was ich hier finden würde”, antwortete der Junge und stand auf. „Ich bin soweit. Von mir aus können wir gehen.“

„Willst du dir deine Schuhe nicht anziehen?“

„Wozu?“, fragte Seliân zurück. „Es ist doch warm.“

Jayden schüttelte ungläubig den Kopf, als er diese Begründung hörte. Dann brachen sie auf. Jayden ließ Seliân das Fahrrad schieben, nachdem er ihm kurz demonstriert hatte, wie er den Lenker führen musste. „Weißt du was?“, begann er. „Es mag bescheuert klingen, aber ich hatte dich gestern schon erwartet.“

„Oh, ich war da”, antwortete Seliân konzentriert und starrte auf den Lenker, der ihm gegenüber ein ungewolltes Eigenleben zu haben schien. „Auch ich wollte dich gestern schon sprechen, aber du warst schon auf dem Rückweg. Ich habe dich noch die Felsen verlassen sehen. Deshalb bin ich heute schon viel früher gekommen und habe gehofft, du kommst noch einmal.“

Erneut brachte der Junge Jayden dazu, so etwas wie Verlegenheit zu spüren. Er gebrauchte Worte, die irgendwie persönlicher waren als man sie in Castney verwenden würde, sagte sich Jayden. Vielleicht ist es auf Loron einfach anders. Ich darf ihn dafür nicht verurteilen.

„Erzählst du mir nun, wofür du ein Zeugnis bekommen hast?“, fragte Seliân.

„Okay. Jedes Kind und jeder Jugendliche bekommt zweimal im Jahr je ein Zeugnis über die Leistungen, die er in der Schule erbracht hat.“

„Was ist eine Schule?”, unterbrach ihn Seliân interessiert.

Er sah ihn verwundert an. „Wie, du kennst noch nicht mal eine Schule? – Du hast’s gut. – Also, eine Schule ist ein Haus, in dem Kinder und Jugendliche unterrichtet werden”, und sarkastisch fügte er hinzu, „meist gegen ihren Willen.“

„Doch, ich kenne etwas ähnliches. Es heißt bei uns ›Haus der Lehre‹. Dort können wir uns über alles, was uns interessiert, informieren. Mehrere unserer Weisen erzählen uns dort, wann immer wir wollen, Geschichten aus der Vergangenheit, und sie beantworten all unsere Fragen, zum Himmel, zu Tieren und Pflanzen, zum Zusammenleben.“ Als Jayden nicht reagierte, fragte ihn Seliân: „Sag mal, Jayden, lernt ihr in dieser Schule alles über eure Welt?“

„So kann man das sagen.“

„Dann bist du bestimmt der Richtige, um mir zu helfen”, sagte der fremde Junge, als wäre ihm eine Sorge genommen worden. „Du musst sehr klug sein.“

„Wieso?“, fragte Jayden erstaunt. „Ich habe dir doch eben gesagt, dass ich ein ziemlich schlechtes Zeugnis mit nach Hause gebracht habe.“

„Heißt das, dich interessiert deine eigene Welt nicht?“

Das war eine berechtigte Frage, musste Jayden zugestehen. Interessiert mich meine eigene Welt nicht, nur weil ich nicht über sie lernen will? Nein, die Welt interessiert mich. Ich hasse nur den Zwang, dem das ganze Lernen unterliegt. Laut antwortete er: „Naja, es gibt schon eine ganze Menge langweiliges Zeug, Mathe, Physik, Bio, Geschichte oder sowas wie Sozi, eigentlich fast alles außer Sport.“

„Jayden, bitte, außer Geschichte habe ich kein einziges von deinen Worten verstanden”, sagte Seliân ein wenig genervt. „Was bedeuten sie?“

„Sorry”, entschuldigte er sich. „Für mich sind das Begriffe, die ich jeden Tag unzählige Male gebrauche. Die sind ziemlich schwer zu erklären. Ich glaube, ich mache das am besten anhand von meinen Lehrbüchern, wenn wir bei mir angekommen sind.“

Drei Minuten später hatte Seliân Jayden so weit, dass er das Fahrrad ausprobieren durfte. Weitere zehn Minuten später fuhr Seliân lachend, aber sehr holprig auf einem Trampelpfad. Er bremste und stieg mit sichtbar klopfendem Herzen ab. „Puh, ich dachte, das wäre einfacher.“

„Es braucht schon ein bisschen Übung.“ Er übernahm das Rad und führte es nun an seiner Seite.

Seliân zeigte nach vorne. „Oh, schau mal, wir sind gleich in deiner Stadt.“

Jayden verzog den Mund zu einem Lächeln. „Stadt ist gut. Eine richtige wie Edinburgh oder Glasgow müsstest du mal sehen. Das sind Städte.“

 

Dass es in Jaydens Zimmer nicht aufgeräumt war, störte Seliân nicht. Staunend stand er vor einem offenen Regal mit Büchern und Spielen und begutachtete sie. Jayden kam mit einer Flasche Cola und zwei Gläsern die Treppe herauf und sagte schon von draußen: „So, jetzt lernst du noch etwas Neues kennen, eine Coke oder verständlicher eine Flasche Cola, eine Art Brausegetränk. Normalerweise, wenn ich alleine bin, trinke ich aus der Flasche. Aber du sollst ja auch lernen, wie man sich bei uns manierlich aufführt”, fügte er grinsend hinzu. Er schenkte ein und gab Seliân ein Glas.

Seliân verzog ein wenig das Gesicht, als er probiert hatte. „Das schmeckt seltsam, sehr süß.“

„Aber gut, oder?“ Seliân nickte nur, und Jayden fragte sich unwillkürlich, ob er es nur aus Höflichkeit tat. „Magst du Musik?“

„Ja, ich singe sehr gerne.“

„Das meinte ich nicht. Ich wollte Musik anmachen.“

„Anmachen?“

„Ja, klar”, sagte Jayden und griff sich an den Kopf, „das kennst du ja auch nicht. Pass auf.“ Er ging zur Stereoanlage herüber und legte eine CD ein, die er nach kurzem Überlegen gegriffen hatte. „Na, das ist ja passend für unser Kennenlernen.“

„Wieso?“, fragte Seliân, noch bevor die ersten Töne erklangen.

„Das ist ›Different worlds‹ von Magnum. Eine meiner Lieblingsbands.“

„Ja, verschiedene Welten, das passt wirklich perfekt”, sagte Seliân. Das Lied begann und irritierte Seliân vollkommen, wie Jayden mit einem überlegenen Lächeln feststellte.

Seliân ging zur Seite, kniete sich hin und besah sich die Lautsprecherboxen aus der Nähe. Erstaunt hielt er sein Ohr dran und starrte sie mit offenem Mund an. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Doch nach etwa einer Minute lächelte nun auch er und sagte souverän: „Jetzt hast du ein wirkliches Problem.“

„Ich?“ fragte Jayden erstaunt. „Ein Problem? Wieso?“

„Weil dir doch sicherlich bewusst ist, dass ich dich bitten werde, mir zu erklären, wieso aus diesen schwarzen Kisten Musik kommt, wenn du auf einen Knopf drückst und etwas in das Ding dort hineinsteckst.“

 

Der Esstisch war eher jugendlich gedeckt, etwas chaotisch und mit typischen Vorlieben für süße Begleitungen zu Brot. Seliân, der über seiner Hose nun ein weites, weißes Leinenhemd trug, brachte Teller und Besteck zum Tisch und ordnete es gegenüber an. Jayden brachte noch eine Tüte Milch und Gläser dazu.

„Ich nehme an, Kakao kennst du auch nicht.“ Seliân lächelte zustimmend. „Ist auch eine blöde Frage gewesen. Komm, setz dich, lass uns essen.“

„Sofort”, antwortete Seliân.

Jayden nahm Platz und begann sich zu bedienen. Dann erst registrierte er, dass Seliân mit geschlossenen Augen hinter seinem Stuhl stehen geblieben war, die Hände auf der Brust verschränkt. Seine Lippen bewegten sich aber. Gebannt und beinahe in Ehrfurcht erstarrt sah Jayden ihm zu. Seliân schien zum Ende zu kommen und hob nun die Arme. Langsam streckte er sie zur Decke und nickte schließlich. Dann erst öffnete er seine Augen wieder, sah Jayden an und lächelte. Während er Platz nahm, sagte er: „Entschuldige bitte. Das ist ein wichtiger Brauch für mich.“

„Ist schon okay. Du hast gebetet, stimmt´s?“

„Ja. Du betest nicht?“

„Nein”, antwortete Jayden, „es gibt auch hier einige Familien, in denen vor dem Essen gebetet wird, aber meine Eltern legen nicht so arg viel Wert darauf. Würdest du vielleicht für mich beim nächsten Mal laut beten? Ich würde gern hören, was du so sagst.“

„Wann immer du magst”, antwortete Seliân.

 

Das Wohnzimmer der Gradys war zwar nicht sehr groß, doch geschmackvoll eingerichtet, und es hatte eine längsgestreifte Tapete, die sie sehr mochten. Nun stand zudem ein hölzerner Laufstall in der Mitte, und der kleine Michael hielt sich am Geländer fest, während seine Mutter nebenan am Tisch Wäsche zusammenlegte. Als das Telefon klingelte, begann Michael vor Aufregung auf der Stelle zu wippen und mit offenem Mund Laute zu formen.

Cindy Grady meldete sich und erkannte sofort, dass es ihre Schwägerin war. „Hallo, Diana. Na, pflegt ihr den ersten Sonnenbrand?“

...

„Ich wusste, dass es wundervoll wird.“

...

„Nein, nichts Außergewöhnliches. Er kommt mittags wie vereinbart vorbei, erzählt, was er morgens gelesen und gelernt hat, und nachmittags fährt er Rad.“

...

„Kann man schlecht einschätzen. Ich glaube, er langweilt sich ein wenig.“

...

„Ach was, macht euch keine Gedanken. Er ist alt genug.“

...

„Nein, Carl bringt Laura morgen zu Oma und Opa. Sie wird eine Woche bei ihnen bleiben. Dort ist es einfach abwechslungsreicher. Du weißt doch, was Castney im Vergleich zu Edinburgh bieten kann. Sie hat sich so sehr gewünscht, mal wieder in den Zoo gehen zu können.“

...

„Ja, ja, alles Liebe. Grüße die deinen.“

Damit legte sie auf und widmete sich Michael. „Na, Hosenmatz, ich soll dir auch schöne Grüße von Tante Diana bestellen. Ja, ich habe ihr gesagt, dass du sie lieb hast. So, und nun gehen wir schlafen, nicht wahr? Deine Augen fallen ja schon zu.“

Damit nahm sie ihn aus dem Laufstall und auf den Arm.

 

In Jaydens leerem und nach wie vor etwas chaotisch aussehendem Zimmer brannte Licht, und die Tür stand offen. Umständlich und lachend, da sie überall aneckten, trugen die beiden Jugendlichen eine bezogene Matratze herein.

„Leg sie hin, wohin du magst”, sagte Jayden. „Ich hole den Rest.“

Seliân überlegte nur kurz und legte sie dann vor das Regal. Jayden kam nur einen Moment später mit einem Kissen und einer Bettdecke herein und warf alles auf Seliâns Nachtlager.

„Ich bin nicht oft froh, dass ich eine kleine Schwester habe, aber in dieser Situation ist es mal ganz hilfreich.“ Dann überlegte er kurz, ging zu seinem Schrank und holte einen Schlafanzug heraus. Er warf ihn seinem neuen Freund zu. „Hier, den kannst du heute Nacht anziehen. Er ist mir sowieso ein bisschen zu klein.“

„Dankeschön”, sagte Seliân, der von der Überfrachtung der vielen neuen Eindrücke noch immer ein wenig eingeschüchtert wirkte.

„Vielleicht”, begann Jayden nachdenklich, „vielleicht ist es eine ganz taugliche Idee, wenn du für die Zeit, die du hier bist, meine Klamotten trägst. Deine Hose vor allem, so faszinierend sie auch aussieht, fällt ziemlich auf.“

„Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee”, bestätigte Seliân. „Hast du denn noch andere Kleidung, die dir zu klein ist?“

Jayden nickte. „Ja, ich bin in letzter Zeit ziemlich gewachsen, und meine Mutter hat sie noch nicht entsorgt. Komm, wir ziehen uns um.“ Er griff sich seinen Schlafanzug und ging voraus ins Bad, während sich sein Gast in seinem Zimmer umkleiden konnte.

 

Drei Minuten später, er trug inzwischen Jaydens langen, blauen Kinderschlafanzug mit Spiderman-Aufdruck, kam Seliân lachend ins Zimmer zurückgelaufen. Jayden, der nun einen kurzen, hellgrünen Pyjama trug, folgte ihm ähnlich albern mit einer Handvoll Wasser, mit der er ihn mitten im Zimmer bespritzte.

„Hey, lass das”, rief Seliân lachend und versuchte, das Wasser abzuwehren. Doch ein Großteil landete trotzdem auf dessen Gesicht und im Regal hinter ihm. In diesem Moment war Jayden dies aber egal. Er griff sich den Jungen und warf ihn rücklings auf die Matratze. Beide rangelten ein wenig, wobei Jayden die Oberhand gewann und nicht mehr abgab. Schließlich hielt er Seliâns Hände über dessen Kopf und saß rittlings auf seinem Bauch, während dieser strampelnd dagegen ankämpfte. Da Seliân auch in dieser Position lachte, befürchtete Jayden nicht, dass dieser sich so wehrlos allzu unwohl fühlte. Sich auf diese Weise gehenlassen zu können, war durchaus auch eine Form des Vertrauensbeweises, und das freute ihn.

Doch erst jetzt registrierte Jayden erschrocken über sich selbst, dass ihn dieses Kämpfchen erregte, ungewollt, unwillkommen, verräterisch. Er erstarrte und zwang sich, nicht auf seine Hose zu blicken, damit er Seliân nicht sofort zeigte, was geschehen war. Doch Sekunden später war die stetig anwachsende Erregung in seiner Hose unmöglich noch zu kontrollieren. Wie hatte das nur in dieser Situation passieren können? Er schluckte und überlegte. Das durfte Seliân einfach nicht sehen. Was würde er sonst nur über ihn denken? Hektisch flüsterte er: „Ich mache das Licht aus, okay?“

Seliân antwortete nicht, verzog aber mit einer leichten Enttäuschung in den Augen den Mund. Jayden sprang angespannt auf, drehte sich so schnell er konnte um und versuchte, seine Körpervorderseite vor seinem neuen Freund zu verbergen. Erst als er den Lichtschalter erreicht und den Raum verdunkelt hatte, entspannte er sich wieder ein wenig. Tief ausatmend schluckte er einmal und ging dann langsam zu seinem Bett zurück. Noch bevor er sich setzte, wanderte eine Hand zu seiner Hose und beförderte den Übeltäter von vorne auf die rechte Seite. Er sah zu Seliân, der noch immer auf dem Rücken auf seiner Matratze lag und der sich nicht geregt hatte. Das durch sein Fenster scheinende Licht einer Straßenlaterne zeigte ihm deutlich dessen liegende Silhuette.

Scheiße, dachte Jayden fluchend. Vor diesem Licht hatte Seliân sehen können, was er soeben getan hatte. Und dann musste ihm auch bewusst sein, warum Jayden das Spiel zwischen ihnen abgebrochen hatte. Scheiße, scheiße, scheiße!

Gemächlich legte sich Seliân nun unter die Bettdecke, und auch Jayden warf die seine wütend über sich. Das war gehörig in die Hose gegangen.

„Ich hoffe, du schläfst gut”, hörte er Seliâns weiche und noch immer ein wenig enttäuscht klingende Stimme.

„Es, es war ein schöner Tag”, sagte er stockend. „Gute Nacht, Seliân.“

Beinahe zwei Minuten wartete Jayden, ob Seliân noch einmal antworten wollte. Dann erklang aus dem Dunklen tatsächlich ein „du, Jayden?“

„Ja”, hauchte er zurück. „Was ist?“

„Ich wollte dir danken.“

„Wofür?“

„Dafür, dass du mich aufnimmst und mir bei meiner Aufgabe hilfst”, antwortete Seliân.

„Das tue ich gerne”, sagte Jayden.

„Ich weiß. Schlaf gut.“

 

Als Jayden am nächsten Morgen aufwachte, saß Seliân schon im Schneidersitz auf seinem improvisierten Bett. Verschlafen grüßte er ihn: „Morgen, Seliân.“ Doch dieser antwortete nicht. Jayden blickte noch einmal zu ihm und erkannte an dessen Gesichtsfarbe und -ausdruck, dass irgendetwas nicht stimmte. „Was ist denn mit dir los? Hast du schlecht geschlafen?“

„Nein”, erwiderte der Junge sehr leise. „Ich weiß nicht, was mit mir ist. Irgendetwas stimmt nicht, etwas sehr Wichtiges. Aber ich vermag nicht zu sagen, was.“

„Du bist ganz bleich. Ich mach mal das Fenster auf. Dann geht es dir bestimmt gleich besser.“ Er öffnete zuerst ruckartig die Vorhänge und dann direkt das Fenster. Teilnahmsvoll sah er den jungen Freund an und setzte sich zu ihm. „Na? Wird es besser?“

„Nein, das ist es nicht. Leider ist es etwas anderes. Es ist etwas in mir, ein Gefühl, das mir sagt, hier ist etwas, was nicht hierher gehört. – Nein”, korrigierte er sich, während Jayden ihn sprachlos anstarrte, „anders: es fehlt etwas, was hierher gehört”, und er sah Jayden direkt in die Augen, „etwas Lebenswichtiges. Verstehst du?“

„Nein”, sagte dieser verunsichert, „ich verstehe gar nichts. Ich sehe nur, dass es dir dreckig geht. Ich würde dir gerne helfen.“

Plötzlich schrie Seliân erstickt auf und sah sich gehetzt um. Zittern setzte fast gleichzeitig zu einer Hechelatmung ein, die ihm das letzte bisschen Farbe raubte, und Jayden saß vor sprachlosem Grauen gepackt neben ihm und konnte sich nicht bewegen. Was geschah hier nur?

„Was zum Teufel wird das jetzt? Hey, Seliân, nicht; bitte nicht weinen.“ Er hatte die ersten Tränen in dessen Augen gesehen, und nun flossen sie ohne Gegenwehr.

„Wo sind sie? – Es gibt sie nicht!“, rief er.

„Wen gibt es nicht?“, fragte Jayden, der wie vor den Kopf geschlagen war.

„Ihr habt nie bemerkt, dass sie fehlen”, trauerte Seliân unverständlich weiter.

„Wer fehlt? – Seliân, ich verstehe rein gar nichts.“

„Ihre Stimmen”, antwortete der Junge verzweifelt. „Ich kann sie nicht hören.“

„Wessen Stimmen? Wen kannst du nicht hören?“ Inzwischen hatte er seinen Freund am Arm gegriffen. Er wusste sich nicht anders zu helfen.

„Vögel. All die wundervollen Singvögel, überhaupt Tiere. Ich kann kein einziges Tier hören.“

Nun war es raus, und Jayden wusste einfach nicht, was er darauf entgegnen sollte.

„Fehlen sie dir nicht?“, fragte Seliân.

Jayden überlegte. Es konnte nur etwas fehlen, was vorher dagewesen war. Doch solche Stimmen waren hier selten. Deshalb merkte es niemand, wenn kein Vogel zu hören war. Man registrierte es eher als ungewöhnlich, wenn man Tiere hörte. Fast unmerklich und irgendwie sogar eigenartigerweise schuldbewusst schüttelte er den Kopf.

„Ich werde sonst von ihrem Gesang, ihren Rufen wach”, erklärte Seliân, der sich nun, da er herausgefunden hatte, worin sein Problem bestand, langsam beruhigte. „Sie sind immer um mich herum. Sie begleiten mich den ganzen Tag, und mit ihren Stimmen gehe ich auch schlafen. Ich muss gestern von all dem Neuen hier so sehr abgelenkt gewesen sein, dass ich nicht gemerkt habe, dass sie fehlen.“ Er legte seine Hand auf Jaydens, der noch immer seinen Unterarm umfasst hatte. „Es tut mir leid, dass du dir um mich Sorgen gemacht hast.“ Dann wischte er sich die letzten Tränen mit dem Ärmel des Schlafanzugs weg.

„Ist schon in Ordnung”, brachte Jayden hervor. „Es war deutlich, wie wichtig es dir war.“

„Sie fehlen mir wirklich”, fuhr Seliân fort. „Ihr Gesang, ihr Werben, ihr Flehen, ihr Weinen und ihr Lachen; diese Stimmen sind doch erst das Leben.“

Erst nach einer kurzen Pause, sagte Jayden noch immer tief beeindruckt: „Es gibt sie. Keine Angst, es gibt sie. Aber sie sind nicht hier. Hier sind die Lebensbedingungen für viele Tiere nicht so gut. Einige Menschen halten Haustiere, die anderen Tiere sind im Wald, und die exotischeren sind in den Zoos in den großen Städten.“

Es entstand eine eigenartige Pause, in der nun Seliân nachdachte. „In Gefangenschaft?“, fragte er schließlich.

„Ja”, antwortete Jayden, und ein eigenartiges Gefühl stieg in ihm auf. Er merkte, er schämte sich dafür, denn er hatte das noch nie zuvor auf diese Weise betrachtet.

„Ich war tatsächlich von euch und euren technischen Errungenschaften beeindruckt”, sagte Seliân, der sich endgültig wieder zu dem Jungen gewandelt hatte, den Jayden am Vortag mitgenommen hatte. „Doch wenn das der Preis für Technik und Fortschritt ist, dann verzichte ich gerne darauf.“

„Du, Seliân”, sagte Jayden leise, aber tief beeindruckt. „Ich muss dir was gestehen.“ Sie sahen sich direkt in die Augen. „Ich habe deine Welt gestern belächelt, weil du all das, was für mich normal ist, nicht kennst. Jetzt merke ich zum ersten Mal, dass ihr uns auch etwas voraus habt. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so sehr um Tiere gesorgt hat wie du, und ich habe erst recht noch niemanden gesehen, der sogar um sie geweint hat.“

Zum ersten Mal an diesem Morgen huschte ein Lächeln über Seliâns hübsches Gesicht.

„Wenn überhaupt jemand diese große Aufgabe, die dir gestellt worden ist, bewältigen kann”, fuhr Jayden fort, „dann du. Ich verspreche dir, ab jetzt werde ich alles, was du sagst und tust, sehr viel ernster nehmen.“

„Das bringt sie auch nicht zurück”, sagte Seliân traurig.

„Nein.“

In meiner Welt

Es stellte sich heraus, dass Seliân Jaydens alte Kleidung passte, als wäre sie für ihn gekauft worden. Nun hatte er Jeans, weißblaue Turnschuhe und ein hellblaues T-Shirt mit der Aufschrift „Nicht gießen, ich wachse auch so“ an, während Jayden sein Liverpool-Shirt vom Vortag trug. Am späten Vormittag standen sie in einem Lebensmittelmarkt in der Obst- und Gemüseabteilung und begutachteten die ausgestellte Ware.

„Kennst du das ganze Obst hier eigentlich?“ fragte Jayden.

„Nein”, antwortete Seliân, „nicht alles, aber das meiste ist mir schon vertraut. Diese schmutzigen Früchte wachsen bestimmt unter der Erde, oder?“ Er zeigte auf Kartoffeln, und sein Freund nickte zustimmend. „Wie heißen sie? Schmecken sie gut?“

„Das sind Kartoffeln”, erklärte Jayden lächelnd. „Man isst sie meistens gekocht und ohne diese Schale. Innen sind sie gelb. Sie haben von sich aus keinen so starken Geschmack, machen aber satt. Aus Kartoffeln macht man aber auch Fritten, oder für dich besser ausgedrückt Pommes Frites. Die kaufen wir gleich auch noch. Die gibt es dann heute Mittag. Das sind Kartoffeln in Stäbchen, die in Öl gebraten werden. Die schmecken echt toll”, erklärte er begeistert.

„Ich bin sehr gespannt.“

„Das glaube ich dir. Es wundert mich, dass du Kartoffeln nicht kennst. Die gibt es doch überall.“ Er dachte nach. „Da war irgendetwas im Geschichtsunterricht. Ja, ich glaube, Seefahrer haben die aus Südamerika mitgebracht.“

„Woher?”, fragte Seliân erstaunt.

„Aus – ach, das weißt du dann ja auch noch nicht. Ich zeige es dir, wenn wir wieder zu Hause sind. Jetzt müssen wir uns noch überlegen, was wir zu den Fritten essen wollen. Was hältst du von einer Bratwurst?“ Er sah Seliân fragend an. „Oh nein”, sagte er, als er keine Antwort erhielt, „sag nicht, dass du kein Fleisch isst. Ja, natürlich isst du kein Fleisch, wenn dir alle Tiere heilig sind.“ Der Junge nickte beinahe etwas verschämt. „Hey, Seliân, es tut mir wirklich leid. Ich habe es einfach kurz vergessen. Wir werden irgendetwas anderes essen.“

„Danke”, entgegnete er nur kurz.

„Ich hab´s”, sagte Jayden, „wir essen was Salatiges mit Käse dazu, und – hey”, begeisterte er sich, „und morgen machen wir Pizza.“ Er grinste ihn überlegen an. „Ich weiß, dass du keinen Plan hast, was Pizza ist. Lass dich überraschen. Ich bin sicher, dass sie dir schmecken wird. Aber jetzt suchen wir erst einmal Zutaten für den Salat aus.“

 

„Hast du all diese Bücher gelesen?“, rief Seliân nach unten, als sie wieder zu Hause waren und gegessen hatten. Er stand auf Socken und ab und zu sogar auf Zehenspitzen vor Jaydens Regal und nahm immer mal wieder ein Buch in die Hand und stellte es dann auch wieder sorgsam zurück.

Von unten erklang Jaydens Stimme: „Bist du verrückt? Ich lese bloß das, was ich unbedingt lesen muss.“ Dann lachte er und verschwand in die Küche.

„Hast du auch Bücher, in denen aufgezeichnet ist, wie die Welt heute aussieht?”, rief Seliân durch das Treppenhaus und ging schließlich vor die Zimmertür, weil er nicht sicher sein konnte, dass Jayden ihn gehört hatte, „ich meine, wie die Länder heute heißen und wie sich ihre Grenzen verändert haben?“

„Ja”, antwortete Jayden, der mit einer Tüte und einer Glasschüssel aus der Küche zurück kam, „aber ich habe noch eine bessere Idee. Hier unten im Wohnzimmer steht ein Globus.“ Während Seliân ihn von oben über die Treppe gespannt ansah, dachte Jayden einen Augenblick nach. „Wann, sagst du, habt ihr euch von England abgespalten?“