Meine Welt hinter den Sternen - Ajdana Vestin - E-Book

Meine Welt hinter den Sternen E-Book

Ajdana Vestin

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Beschreibung

Die 15-jährige Tara leidet an Amnesie, nachdem sie ihre Eltern bei einem Unfall verloren hat. Von Mitschülern ausgegrenzt, von den Mitmenschen nicht akzeptiert, führt sie ein monotones Leben. Das ändert sich mit einem Schlag durch den Kauf eines Fernrohres. Jeder Blick in dieses Gerät versetzt sie in eine fantastische Welt, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Sie verliebt sich in Prinz Aaron, der über dieses seltsame Land herrscht. Durch Zufall erfährt Tara, dass sie einen Bruder, Cedric, hat. Und auch dieser lebt in der Sternenwelt, gefangen von einem bösen König. Es beginnt eine fieberhafte Befreiungsaktion, die in eine Suche nach Taras wirklichem Ich mündet ...

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Seitenzahl: 272

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Meine Welt hinter den Sternen
Ajdana Vestin
Erschienen im novum pro Verlag
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2010 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-155-1
ISBN e-book: 978-3-99003-448-4
Lektorat: Dr. phil. Ursula Schneider
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumpro.com
AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND
Widmung
Für den besten Opa
der ganzen (Sternen-)Welt.
Für eine der großartigsten Personen,
die ich in meinem Leben je kennenlernen durfte:
Werner, mein Stiefpapa.
Und vor allen Dingen für meine Mama,
ohne die ich nicht die wäre,
die ich heute bin.
Leben
Draußen regnete es in Strömen. Ich saß vor meinen Hausaufgaben, als eine alte, raue Stimme die Treppe heraufrief: „Tara, komm sofort runter!“ Ich blickte von meinen Aufgaben auf und erhob mich langsam von meinem Sessel. „Was habe ich denn jetzt schon wieder vergessen?“, fragte ich mich, seufzte und trottete langsam die Treppe herunter. Meine Großmutter sah verärgert aus. Ihr langes, -mausgraues Haar war, wie immer, zu einem festen Knoten zusammengebunden. Ihr Rock hing unglücklich an ihrer etwas stärkeren Figur herunter, die Bluse war unordentlich in den Bund hineingestopft worden. Großmutter kam für ihr Alter noch relativ gut allein zurecht. Trotzdem benutzte sie mich meist nur als Haushaltshilfe, hin und wieder sogar bis in die späte Nacht hinein. Oh ja, sie liebte es, mich herumzukommandieren. Mich, ihre einzige Enkeltochter.
„Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte Großmutter und durchbohrte mich mit ihrem eiskalten Blick. Ich zuckte nur die Achseln. „Offensichtlich bist du der Meinung, dass sich die Geschirrspülmaschine von allein ausräumt“, fügte sie noch hinzu und stolzierte mit einem zufriedenen Lächeln zurück ins Wohnzimmer. Diesmal hatte ich wirklich Glück gehabt. Normalerweise bekam ich immer Ärger wegen solcher Nebensächlichkeiten. Warum musste eigentlich immer ich die Spülmaschine ausräumen? Sie hatte doch genauso gut Hände, die arbeiten konnten. Mürrisch trottete ich in die Küche, wo die Spülmaschine auch schon auf mich wartete.
Die Küche war ein kleiner Raum mit einem Tisch am Fenster. Dort aß ich oft allein zu Mittag, wenn meine Großeltern wieder einmal nicht zu Hause waren. Oh nein, ein Zuhause konnte ich dieses verhasste Haus nicht nennen. Seit meinem neunten Lebensjahr lebte ich bei meinen Großeltern. Wir wohnten in einem mittelgroßen Haus, am Rande der Stadt München. Es ist eine schöne Stadt, zu gern möchte ich manchmal einfach nur in ihr herumlaufen und mir alle Geschäfte genau ansehen. Aber dafür hatte ich bis jetzt keine Zeit. Mein Leben bestand aus Schule und zu Hause mithelfen. Etwas anderes gab es für mich nicht.
Meine Eltern kannte ich nicht. Ich hatte kein Foto von ihnen, nur den Teddybär meines Vaters. Er ist die einzige Erinnerung an sie. Oft tröstete er mich, wenn meine Großmutter mit mir schimpfte. Manchmal kam es mir vor, als könne mein Bär lächeln und weinen, er fühlte einfach mit mir. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich selbst litt an einer retrograden Amnesie, ich konnte mich also an nichts aus meinem früheren Leben erinnern. Ich wusste nicht einmal, wie meine Eltern aussahen, wem ich ähnlich sah und wo wir früher wohnten. Nichts. Leere in meinem Gehirn. Mein richtigesLeben begann also erst nach dem tragischen Unfall. Meine Großeltern sprachen weder über das Unglück noch über meine Eltern. Sie versuchten, mit der Vergangenheit abzuschließen, sie zu vergessen, aber ich wusste, dass es ihnen sehr schwerfiel. Und ich wusste auch, warum sie mich so anders behandelten: weil ich überlebt hatte und meine Eltern nicht. Weil ihr Sohn bei dem Unfall ums Leben gekommen war.
Endlich hatte ich es geschafft, die Maschine auszuräumen. Ich beschloss, ins Wohnzimmer zu gehen, um dort vielleicht etwas fernzusehen. Das Wohnzimmer war ein geräumiges Zimmer mit einer wunderschönen cremefarbenen Couch in der Ecke. Es gab einen großen Fernseher und mehrere Bücherregale. Es war mit Abstand mein Lieblingszimmer. Hier fühlte ich mich geborgen, obwohl ich nicht einmal wusste, warum. In der Ecke stand eine hohe Standuhr, die zu jeder vollen Stunde klingelte. Früher hatte ich mich immer davor erschreckt, heute konnte ich nur darüber lächeln.
Überall an der Wand hingen Sternkarten. Mein Großvater liebte die Sterne. Oft, wenn es eine klare Nacht gab, ging er hinaus und beobachtete sie, meistens stundenlang. Ich fand die Sterne auch wunderschön, dies musste ich wohl von ihm geerbt haben. Ich sah sie mir jeden Abend vor dem Schlafengehen an und stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn man dort oben sein würde …
Mein Großvater saß auf der Couch und sah fern, als ich das Zimmer betrat. Er hatte schneeweißes Haar und einen Schnauzer. Manchmal dachte ich mir, er sei ein typischer Engländer mit den vielen Westen, die er trug. Großvater war sehr in sich zurückgezogen, ebenso wie ich.
Ich setzte mich neben ihn auf die Couch und schaute gebannt in das schwarze, flimmernde Gerät. Er hatte die Nachrichten eingeschaltet. „Du hast doch noch Hausaufgaben zu machen und außerdem ist es gleich neun Uhr. Du gehörst ins Bett!“, fuhr mich Großvater an. Ich wollte widersprechen, doch ein Blick meiner Großmutter riet mir, dass ich es lassen sollte. Ich wünschte den beiden noch eine gute Nacht und schleppte mich hinauf in das Obergeschoss. Links lagen das Badezimmer und die Abstellkammer, rechts das Zimmer von meinen Großeltern und das von mir. Es war das letzte Zimmer, das kleinste von allen, soweit ich wusste. Das Schlafzimmer meiner Großeltern hatte ich noch nie betreten. Meine Großmutter hatte mich schon am ersten Tag ermahnt, dort nie hineinzugehen. Ihre Erklärung dafür: Es ginge mich nichts an, sie hätten auch ihre Privatsphäre.
Ich betrat mein Zimmer. In der Mitte stand mein Bett. Links neben der Tür befanden sich mein Schreibtisch und der Schrank. Anfangs hatte der Schreibtisch unter dem Fenster gestanden, aber ich hatte ihn weggeschoben. Ich musste doch die Sterne sehen. Mein Teddybär saß wie immer auf dem frisch gemachten Bett und schielte zu mir herüber. Er lächelte. Meine Hausaufgabenhefte stopfte ich zurück in die Schultasche und holte meinen Schlafanzug aus dem Schrank. Schnell zog ich mich um und lief ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen.
Ich betrachtete mein Spiegelbild. Eigentlich war ich für mein Alter doch recht hübsch. Ich hatte pechschwarzes, hüftlanges Haar und einige wenige Pickel im Gesicht. Aber mit 15 Jahren war das doch normal, oder!? Ich war sehr schlank, sogar etwas mager. Ich kleidete mich klassisch und nicht zu auffällig. Meine hellblauen Augen glichen der Farbe des Meeres und meine Augenbrauen waren nicht zu buschig. Ich konnte an meinem Aussehen im Großen und Ganzen nichts aussetzen. Und manchmal sah ich auch, dass sich die Jungen meiner Klasse nach mir umdrehten, auch wenn sie mich sonst ignorierten.
Ich bürstete mein Haar und putzte die Zähne. Schließlich tapste ich zurück in mein Zimmer, schlug mein Bett auf und legte mich hinein. Meinen Teddy nahm ich fest in den Arm und hoffte, am nächsten Morgen nicht wieder schweißgebadet aufzuwachen.
Albträume
Es war kalt. Ich lief einen langen, düsteren, schwarzen Korridor entlang. Ich fror und hatte am ganzen Körper Gänsehaut. Alles um mich herum war schwarz. Nur schwer konnte ich überhaupt erkennen, wo ich entlanglief. Mein Haar klebte mir an der feuchten Stirn. Wie lange musste ich es noch aushalten, bis ich an das Ende des Korridors kam? Ich hatte Angst. Ich war ganz allein, allein, wie ich immer war. Wie oft war ich diesen Korridor schon entlanggelaufen? Fünfzehn Mal? Zwanzig Mal? Ich hatte bereits aufgehört zu zählen.
Plötzlich vernahm ich ein Schreien. Einen gellenden Schrei, der mir durch Mark und Bein ging und mich erschauern ließ. Jede Nacht vernahm ich diesen Schrei. Er kam von einem Kind. Einem kleinen Kind, einem Jungen, den ich schon so oft besucht hatte. Ich lief schneller. Diesem Kind musste doch geholfen werden! Ich wollte es in die Arme schließen und es trösten. Ja, einfach nur trösten. Und dann sah ich es plötzlich vor mir. Ein Junge, scheinbar nicht älter als neun oder zehn Jahre. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah er mich an. Ich konnte den Kleinen nicht genau erkennen. Er schien leicht verschwommen. Ich sah nur seine Umrisse. Er streckte die Hände nach mir aus. Ich wollte ihn auf den Arm nehmen, doch ich konnte nicht. Wie versteinert blieb ich vor ihm stehen und sah ihn an. Tränen tropften ihm auf den dreckigen Pullover. Das Kind war gefesselt. Doch ich konnte ihm nicht helfen. Und dann war ich plötzlich wieder weg. Weg von dem Korridor, weg von dem schreienden Kind, weg von all der Angst. Zurück in einer anderen Welt …
Schweißgebadet saß ich aufrecht in meinem Bett. Wieder hatte ich einen Albtraum gehabt. Fast jede Nacht machte ich dies mit. Aber inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt. Es war nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Das Kind jedoch erinnerte mich an irgendjemanden, auch wenn ich die Gesichtszüge nicht genau erkennen konnte. Ich setzte mich auf und trat ans Fenster. Die Sterne leuchteten hell in der Nacht. „Was kann ich nur dagegen machen?“, fragte ich mich und öffnete das Fenster, sodass die kalte Nachtluft hereinströmte. Tief atmete ich ein. Es tat gut. Ich sah auf den Wecker. Seine roten Ziffern zeigten bereits halb drei. Jetzt konnte ich sowieso nicht mehr einschlafen und deswegen holte ich meine Schultasche unter dem Schreibtisch hervor und machte mich an die Arbeit. Bis um 07.00 Uhr früh hatte ich noch genügend Zeit und es war ja immerhin besser zu lernen, als durch Albträume geplagt zu werden. Oder etwa nicht? Und dann begann ich auch schon zu schreiben.
„Endlich fertig!“, rief ich glücklich und steckte die Hefte zurück in die Schultasche. Heute hatte ich wieder mal alles geschafft. Die Hausaufgaben waren erledigt. Ich lief ins Badezimmer, um mich zu duschen. In einem dicken Strahl fiel das warme Wasser auf meinen Körper hinab. Ich merkte, wie der Schweiß herunterlief und mit ihm all die schrecklichen Erinnerungen der letzten Nacht.
Schließlich stieg ich aus der Dusche und sah wieder in den Spiegel. Ein müdes und etwas geschafftes Mädchen blickte mir entgegen. Ich trocknete mich ab und schlüpfte in meine frisch gewaschenen Sachen. Langsam wurde mir wärmer und ich föhnte die Haare. Ich band sie zu einem langen Zopf zusammen und schminkte mir etwas die Augen. Ich wollte doch gut aussehen und nicht zu über-müdet.
Ich ging die Treppenstufen hinunter. Wie erwartet befand sich unten niemand. Alles war stockfinster. Ich schaltete das Licht ein und steuerte auf den Kühlschrank zu, um mir wie jeden Morgen mein Marmeladenbrot zu machen. Kirschmarmelade, meine Lieblingsmarmelade. Ich -konnte nie genug davon bekommen. Meine Großeltern schliefen noch. Wie jeden Morgen, wenn ich aufstand. Ich war immer froh, wenn ich allein frühstücken konnte, denn die Anwesenheit meiner Großeltern war nicht immer leicht zu ertragen. Entweder sie sagten gar nichts oder nörgelten ständig an mir rum.
Als ich fertig gegessen hatte, strich ich mir noch ein Brot für die Schule und packte es anschließend in die Schul-tasche. Jetzt musste ich mich aber beeilen, denn es war schon halb acht. In einer halben Stunde würde die Schule beginnen. Schnell zog ich den schwarzen Anorak an, packte die Schultasche und stolperte aus der Haustür. Das Haus war von einem Gartenzaun umgeben. Überall wuchsen die schönsten Blumen. Hinter dem Haus stand eine riesengroße Eiche. Dort hatte einmal meine Schaukel gehangen. Mein Großvater hatte sie vor einiger Zeit entsorgt, da sie schon alt und morsch gewesen war.
Ich überquerte die Straße und lief den Bürgersteig entlang. Die Schule war nicht weit von unserem Haus entfernt. Nur ein paar Hundert Meter. Ich ging gerne in der Stadt, auch wenn jetzt, um diese Zeit, noch keine Geschäfte offen hatten. Obwohl ich ganz in Gedanken versunken war, grüßte mich, wie jeden Morgen, der nette Eisverkäufer Fabio. Hin und wieder schenkte er mir ein Eis, natürlich nur an heißen Sommertagen. „Hallo Fabio! Schöner Tag heute, nicht wahr?“, rief ich zu ihm hinüber. „Oh ja! Viel Spaß in der Schule!“, schrie er zurück und wandte sich wieder seinem Eisstand zu, den er gerade zu putzen begann. Ich lächelte. Fabio war wirklich sehr aufgeweckt und hatte außerdem das beste Eis der ganzen Stadt. Schon seit langer Zeit kannte ich ihn, eigentlich seit ich neun Jahre alt war. Ja, seit ich zu meinen Großeltern gezogen war. Ohne meine Eltern. Ohne Erinnerungen, ohne Bilder von den Eltern, nur mit meinem Bären und meinen Sachen hatten mich meine Großeltern von unserem damaligen Haus abgeholt. Ich hatte keine Ahnung, wo unser Haus gestanden hatte. Unser Haus, in dem wir nur so wenige glückliche Jahre hatten verbringen dürfen. Aber so war es vorherbestimmt.
„He, pass doch auf!“, sagte Johannes, ein Junge aus meiner Klasse. Ich hatte ihn unabsichtlich angerempelt. „Entschuldigung, das wollte ich nicht. Ehrlich“, antwortete ich und lächelte schüchtern. „Schon in Ordnung“, murmelte er und lief ins Schulhaus. Johannes, ein großer, gut aus-sehender Junge mit haselnussbraunen Haaren. Er hatte -grüne Augen, so grün, wie die Blätter im Frühling waren. -Johannes war eigentlich ganz nett. Johannes saß rechts neben mir an einem anderen Tisch. Er beleidigte mich nicht wie so viele anderen in der Klasse und akzeptierte mich so, wie ich war. Manchmal half er mir sogar in Mathematik, wenn ich wieder mal mit den Gedanken woanders war. Hin und wieder ließ ich ihn auch dafür in Englisch abschreiben, denn in diesem Fach war ich die Bes-te. Letztes Jahr hatte ich es wieder mal geschafft, an unserer Schule, einem staatlichen Gymnasium, lauter Einser zu haben. Stolz war ich nach Hause gelaufen und hatte es meiner Großmutter gezeigt. Diese hatte nur die Augenbrauen hochgezogen und gesagt: „Ich hatte mir nichts anderes erwartet.“ Ich war enttäuscht in mein Zimmer gelaufen und hatte dort meinen Bären in den Arm genommen. Er -hatte glücklich ausge-sehen, so als hätte er mir sagen wollen: „Super! Toll gemacht! Deine Eltern wären bestimmt stolz!“ Und das hatte mich wieder aufgemuntert, ich war wieder fröhlich nach unten gelaufen und hatte Großmutter beim Kartoffelschälen geholfen.
Ich stand vor dem Eingang des Gymnasiums. An der gelben Hausmauer bröckelte bereits der Putz. Es gab einen Eingang für Mädchen und einen für Jungen. Mein Eingang war der linke.
Ich ging in das Gebäude hinein und marschierte auf unsere Garderobe zu. Sie befand sich genau neben der Direktion. Unser Direktor war ein kleiner Mann mit grauem Haar und Sommersprossen im Gesicht. Jede Woche saß er in einer anderen Klasse und beobachtete den Unterricht. Wenn er merkte, dass es einem Schüler oder einer Schülerin nicht gut ging, dann redete er später immer mit ihm oder ihr. Mich hatte er schon oft rausgeholt. Ich hatte ihm aber noch nie von unseren Problemen zu Hause erzählt. Großmutter hatte immer gesagt: „Erzähl doch den Leuten nicht immer alles! Wir haben ein Privatleben. Das geht sie gar nichts an.“ Und deswegen hatte ich noch nie etwas ausgeplaudert, obwohl ich manchmal unserem Direktor Eichinger wirklich gerne alles gesagt hätte.
Wir zählten insgesamt vierzehn Klassen. Ich besuchte die 10 b. Die Klasse befand sich im Obergeschoss, ganz hinten im Gang. Unser Klassenzimmer war relativ groß und nie aufgeräumt. Oft flogen Hefte und Bücher herum, außerdem lag immer Schmutz am Boden. An den Wänden hingen von uns gezeichnete Bilder, denn wir waren eine sehr künstlerisch veranlagte Klasse.
Endlich hatte ich mich umgezogen und lief die Treppe hinauf. Die Wände waren weiß angestrichen und an jeder Tür klebte ein Schild, auf dem der jeweilige Klassenname stand. Gerade ging ich an der 5 a vorbei, einer kleinen Klasse mit nur siebzehn Schülern. Wir selbst waren zweiundzwanzig Kinder in der Klasse. Auf dem Weg kam mir noch Frau Lengmann entgegen, die Geografie- und Turnlehrerin. Sie war sehr nett und hatte mich besonders ins Herz geschlossen. Sie galt zwar als etwas streng, aber welcher Lehrer war das nicht!? Schließlich lief ich noch an den 7. Klassen vorbei und kam endlich in die 10 b. In der Klasse herrschte Chaos.
„Guten Morgen“, grüßte ich meine Mitschüler. Aber wie erwartet drehte sich niemand um. Es hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Seit dem ersten Schultag hatte ich keine Freundschaften geschlossen. Die Mitschüler unterhielten sich mit mir nur über das Nötigste und sonst gingen wir getrennte Wege. Ich hatte mich damit schon sehr gut abgefunden, deswegen trottete ich mürrisch auf meinen Einzelplatz in der ersten Reihe am Fenster. Ich liebte diesen Platz. Dort konnte ich zum Fenster -hinausschauen und gleichzeitig mitlernen. War das nicht herrlich?
Ich packte meine Sachen für die erste Stunde aus. Wir hatten Chemie. Ich hasste dieses Fach. Ich fand es einfach nur langweilig. Unser Chemielehrer hieß Rudolf Wolf. Oft wurde er von uns „Wolferl“ genannt. Er war, laut meinen Mitschülerinnen, „der heißeste Lehrer des ganzen Universums“. Ich hatte darüber nur den Kopf geschüttelt. Trotzdem hatte ich mich einmal dabei ertappt, wie ich ein großes „W“ auf meine Mappe zeichnete. Aber das war Geschichte. Außerdem würde sich ein Lehrer doch nie für eine 15-Jäh-rige interessieren, oder!?
Plötzlich kam er, zusammen mit dem Glockenläuten und seiner Tasche, in die Klasse gestürmt. Wir standen alle hinter den Sesseln und warteten darauf, dass er sagte: „Guten Morgen, meine Lieben! Bitte setzt euch!“ Das passierte auch wenige Augenblicke später. „Wer kann mir sagen, was wir letzte Stunde gemacht haben?“, fragte der Lehrer in die Runde. Keiner zeigte auf. Meine Hand schnellte in die Höhe. „Tara, bitte!“ „Wir haben letzte Stunde über die verschiedenen Ladungen der Atome gesprochen und …“, antwortete ich, doch Herr Wolf redete gleich weiter: „Ganz genau! Wer kann mir sagen, was wir noch durchgenommen haben?“, wollte er wissen, doch ich hörte schon gar nicht mehr hin. Chemie interessierte mich einfach nicht. Aber immerhin hatte ich mich am Unterricht beteiligt. Verträumt sah ich aus dem Fenster. Heute war ein schöner, warmer Tag. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Vielleicht blieb nachher ja noch ein bisschen Zeit für einen kurzen Spaziergang …
„So, die Schule ist für heute beendet! Ihr könnt zusammenräumen!“, rief Herr McKay, unser Englischlehrer, in die Klasse hinein. Endlich war die Schule aus. Ich packte geschwind meine Sachen zusammen, wünschte dem Lehrer noch einen schönen Nachmittag und lief in die Garderobe, um mich umzuziehen. Heute wollte ich besonders flink sein. „He, schaut mal, unsere allwissende Tara ist ja heute mal wieder ganz besonders schnell. Was das wohl für einen Grund hat!? Aber vielleicht will sie sich ja noch bei den Lehrern einschmeicheln“, spottete Julian von hinten. Wir besuchten gemeinsam die 10. Klasse. Oft ärgerte er mich, aber immer ohne Grund. „Ach, halt doch deinen Rand“, fuhr ich ihn an und lief an dem Jungen vorbei. Ich wollte nur raus aus dem Schulhaus. Weg von den nervigen Mitschülern, die mich eh nicht verstanden.
„Hallo, ich bin wieder da!“, rief ich beim Hineingehen ins Haus, doch keiner antwortete mir. Ich war allein. „Umso besser“, dachte ich mir und legte meine Schultasche auf dem Gang ab. Ich lief in die Küche und fand einen Zettel auf der Anrichte:
„Sind weg. Essen steht in der Mikrowelle zum Aufwärmen. Du weißt ja, wie es funktioniert, Großmutter.“
Nichts weiter. „Auch in Ordnung“, murmelte ich vor mich hin und begann das Essen aufzuwärmen. Alles sollte ganz schnell gehen, damit ich nachher noch meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnte. Ich hatte sie schon seit zwei Tagen vernachlässigt. Hoffentlich war sie mir nicht böse …
Der Mond
Nachdem ich das Essen heruntergeschlungen hatte, zog ich mir wieder meine Jacke und die Turnschuhe an. Einen letzten Blick in den Spiegel und ich war raus aus der Tür. Ich holte den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche, lief die Straße entlang und blieb vor einem kleinen Haus mit Garten stehen. Die Garage war offen, der Besitzer -offensichtlich weggefahren. Um das Haus zog sich ein hoher Zaun. Am Gartentor hing ein Schild mit der Aufschrift: „Vorsicht – hier wache ich!“ und dem Bild von einem Hund. Aber es war nicht irgendein Hund, sondern ein Golden Retriever. Ich liebte diese Hunderasse. Sie hatten so ein glänzendes Fell und so einen lieben Charakter. Die Bewohnerin des Hauses besaß einen. Sie hieß Andrea Richter, wie das Postkastenschild verriet.
Andrea war eine sehr sympathische und hübsche Frau, die ich sehr mochte. Leider war sie Krankenschwester und hatte deswegen kaum Zeit für Luna, ihre Retrieverhündin. Mich störte das allerdings nicht, denn eines Tages hatte mir Andrea ihren Hausschlüssel in die Hand gedrückt und gesagt, ich solle doch, wenn es gehe, einmal am Tag bei Luna vorbeischauen, was sie so treibe. Ich hatte mich riesig gefreut und natürlich sofort eingewilligt. Seit diesem Tag versuchte ich immer, Luna zu besuchen. Sie war meine beste Freundin. Ich konnte ihr alles erzählen und sie hörte mir immer zu. Manchmal legte sie sogar den Kopf schief und dann sah es aus, als wolle sie alles ganz genau verstehen.
Ich sperrte das Gartentor auf und hörte Luna schon von innen an der Tür kratzen. In meiner Jackentasche suchte ich nach den Leckerlis und holte einige heraus. Geschwind schloss ich die Tür auf und stolperte ein paar Schritte zurück, denn Luna kam wie von der Tarantel gestochen aus der Tür geschossen. Sie sprang an mir hoch und leckte mir übers Gesicht. „Ist ja gut! Du tust ja so, als hätten wir uns schon Jahre nicht mehr gesehen!“, begrüßte ich sie und streichelte ihr sanft über den Kopf. Schließlich hatte die Hündin begriffen, dass ich etwas zum Naschen für sie dabeihatte. Gierig schnüffelte sie an meiner Hand und begann gleich zu fressen, als ich ihr die offene Handfläche hinhielt. „Du gieriges Vieh! Tust so, als hättest du nichts mehr zu fressen bekommen“, neckte ich sie und die Hündin bellte freudig zurück. Dann gingen wir ins Haus und ich füllte ihr eine Schale mit frischem Wasser. Die Küche war recht groß und Luna hatte einen eigenen Fressplatz bekommen. Ich hatte für sie den Teppich ausgesucht, auf dem die Schüsseln standen. Darauf sah man Hunde und Sterne abgebildet. Luna schlapperte das Wasser herunter und ich ging in den Flur, wo die Leine am Heizkörper hing. Auf dem Brett fand ich eine Nachricht von Andrea. Sie bedankte sich, dass ich ihr „die Arbeit“ mit Luna abnahm.
Ursprünglich wollte Andrea Luna gar nicht aufnehmen. Doch ihre Mutter war plötzlich verstorben und hatte erst einige Wochen zuvor einen jungen Hund zu sich geholt. Sie hatte es ihrer Tochter nicht einmal erzählt und im Testament stand nur, sie vererbe das quirlige und bei Mondschein geborene Hundebaby an ihre einzige Tochter. Das war nun ungefähr ein halbes Jahr her. Seitdem lebte Luna bei Andrea. Ich hatte den Namen für die Hündin ausgesucht, weil ich einfach der Meinung war, dass Luna zu ihr passe.
„Na los, Luna, gehen wir! Heute machen wir einen ganz langen Spaziergang!“, rief ich und band sie an die Leine. Das war relativ schwierig, denn Luna zappelte vor lauter Freude die ganze Zeit herum. Endlich waren wir aus der Tür raus und das Tier zog wie verrückt. Für ihr Alter war Luna eigentlich relativ groß. Sie hatte immer ordentlich gebürstetes goldenes Fell und wunderschöne, glitzernde Augen. Wie das Meer. So wie ich. Obwohl Luna und ich großen Spaß hatten, wollte und musste ich vor meinen Großeltern zu Hause sein. Also beeilte ich mich, so gut es ging. Würde nur die Zeit nicht immer so schnell vergehen!
Ausflug zum Flohmarkt
Im ganzen Haus brannte Licht, als ich es betrat. „Hallo, ich bin wieder zu Hause“, plärrte ich los und zog meine Schuhe und Jacke aus. Ich lief ins Wohnzimmer, wo auch meine Großeltern schon auf der Couch saßen und fernsahen. „Elsbeth hat sich den Fuß verknackst“, antwortete mein Großvater nur und sah weiter in das flimmernde Gerät. „Du warst sicher wieder bei dem Hund, oder!?“, fragte meine Großmutter unfreundlich. Ich nickte nur. „Essen steht auf dem Tisch“, sagte sie knapp und erhob sich mit einem Seufzer. Sie verzog das Gesicht, offenbar musste ihr Fuß wirklich wehtun. Sie setzten sich gemeinsam mit mir an den Esstisch und ich begann rasch zu essen. Ich hatte großen Hunger. „In der Schule wohl aufgepasst?“, fragte sie mich. Wieder nickte ich. Ich war heute einfach nicht so gesprächig, was vielleicht an meinem Gesprächspartner lag. Weiter sprachen wir nicht viel und dann gab ich den Teller in die Spülmaschine. „Am Samstag fahren wir gemeinsam auf den Flohmarkt und schauen, ob wir ein billiges Fernrohr finden“, sagte Großmutter und humpelte wieder zurück ins Wohnzimmer. „Oh, ich freu mich schon!“, rief ich vergnügt, verstummte jedoch gleich wieder, als mein Großvater etwas von „Pscht“ rief.
Wieder lief ich den langen, düsteren Gang entlang. -Kalter Schweiß rann mir den Rücken herunter. Diese schreckliche Angst breitete sich wieder in mir aus. „Warum mache ich jede Nacht diesen Terror mit?“, fragte ich mich selber und lief weiter, weiter an schwarzen, verschlossenen Türen vorbei. Bis ich dann an jene Stelle kam, an der das Kind schon auf mich wartete. Es hatte die Arme wieder nach mir ausgestreckt. Warum konnte ich das Kind nicht in den Arm nehmen, und warum sah ich es immer nur verschwommen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder. Dann versuchte ich den Mund aufzumachen und zu rufen: „Das arme Kind! Es braucht Hilfe! Warum kann ich es nicht auf den Arm nehmen?“ Stille. Ich wusste, dass ich nie Antworten darauf bekommen würde. Dass ich dieses Kind nie retten konnte und wieder verlassen musste …
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich saß aufrecht im Bett. Diese Albträume, sie waren einfach schrecklich. Ich sah auf den Wecker. Es war sechs Uhr. Eigentlich früh genug, um aufzustehen, denn es war Samstag. Samstage liebte ich, wir hatten keine Schule und ich hatte genügend Zeit für mich selbst und natürlich für Luna. Noch etwas verschlafen stieg ich aus dem Bett und machte mein Fenster auf. Am Himmel waren noch die Sterne zu sehen. Doch mein liebster Stern funkelte nicht mehr dort. Der Stern, der am hellsten und schönsten von allen leuchtete. Der, der etwas Geheimnisvolles an sich hatte.
Schließlich ging ich ins Badezimmer, duschte mich und frühstückte anschließend. Auf der Anrichte lag ein Zettel. Natürlich an mich gerichtet und schwer zu erraten, von wem – meiner Großmutter:
•• „Spülmaschine ausräumen• Anrichte putzen• Frühstück richten• bügeln“
Wie nett. Meine Großmutter behandelte mich immer wie eine Arbeitskraft. Ich kam mir vor wie ihre persönliche -Dienerin. Trotzdem machte ich mich daran, die Spülmaschine auszuräumen und die anderen Aktivitätenzu erle-digen. Alles, wie die gnädige Frau Großmutter wünschte.
Gegen Mittag machten wir uns endlich auf den Weg zum Flohmarkt. Schon seit meine Großmutter mir davon erzählt hatte, freute ich mich darauf. Nach gut 20 Minuten kamen wir an. Der Kirschsteinplatz, auf dem der Flohmarkt stattfand, war überfüllt mit Ständen. Viele Besucher drängten sich durch die engen Durchgänge. Wir begutachteten die Stände. Viele boten Bücher, Stofftiere oder auch Antiquitäten an. Mein Großvater schritt voran und wir schlenderten gemütlich durch die Menschenmenge. Hier und da blieben wir stehen und sahen uns ein paar Sachen genauer an. Großmutter hatte sogar schon eine rosafarbene Vase gekauft, mit Blumen darauf.
Schließlich kamen wir zu einem Stand, auf dem ein Fernrohr angeboten wurde. Ein wunderschönes Fernrohr. Es war schwarz und hatte alles, was man brauchen -konnte, um hindurchzuschauen. Ich war begeistert. Mir fiel auf, dass es anders aussah als die, die ich einmal im Fernsehen gesehen hatte. Trotzdem war es das Schönste, was ich je erblickt hatte. „Guten Tag! Mein Name ist Hester. Wir würden uns für das Fernrohr interessieren. Können Sie uns -sagen, aus welchem Jahr es stammt?“, fragte mein Großvater den Verkäufer. Dieser war ein alter Mann. Er hatte weißes, schmutziges Haar und trug zerlumpte Kleider. „Oh ja, natürlich!“, antwortete er meinem Großvater mit seiner tiefen Stimme. „Es ist ein altes Stück, aber dennoch besser erhalten als alle anderen. Man sieht die Sterne so klar, wie man durch ein Glas Wasser hindurchschauen kann. Ich brauche es nicht mehr, obwohl ich ebenso wie Sie ein großer Sternenliebhaber bin. Wissen Sie, meine Jahre gehen langsam zu Ende und ich möchte doch noch etwas länger in meiner derzeitigen Wohnung bleiben. Alles wird teurer, die Miete …“ „Woher wissen Sie, dass ich Sterne mag?“, fragte mein Großvater unhöflich. „Das sieht man an Ihren Augen. Doch, ich sage es Ihnen, dieses Fernrohr ist nicht wie jedes andere. Es ist etwas ganz Besonderes.“ Er zwinkerte mir zu. „Wie viel verlangen Sie?“, fragte mein Großvater. „Oh, so viel, wie Sie mir geben wollen. Es hat seine Dienste bei mir getan“, antwortete der Alte und mein Großvater steckte ihm einen Hunderter in die Tasche. Der Alte bedankte sich mit einer Verbeugung, Großvater nahm das Fernrohr und ging auch schon weiter. Doch der Mann winkte mich zu sich her. „Nimm dir meine Worte zu Herzen“, sagte er und lachte leise. Ich sah ihn mit großen Augen an und nickte. „Tara, wo bleibst du?“, rief meine Großmutter und ich drehte mich um, mit dem Wissen, etwas sehr Wichtiges erfahren zu haben.
Fernrohr
„Großvater, kann ich dir denn was helfen?“, fragte ich ihn, als er schnaufend das Fernrohr ins Wohnzimmer -hievte. „Nein! Geh mir einfach aus dem Weg!“, schimpfte er. „Kind, schau nicht so beleidigt. Es gibt gar keinen Grund dafür. Ich geh jetzt etwas lesen“, sagte meine Großmutter, setzte sich gemütlich in den Wohnzimmersessel, nahm ihr Buch aus dem Regal und begann auch schon, sich darin zu vertiefen. Ich dagegen sah meinen Großvater mit großem Staunen an. Es war wirklich ein tolles Fernrohr. Was wohl der alte Mann gemeint hatte mit Nimm dir meine Worte zu Herzen?
Gedankenverloren trottete ich zurück in mein Zimmer, setzte mich auf mein Bett und nahm meinen Teddy in den Arm. Die Tränen, die mir die Wangen herunterliefen, wischte ich schnell weg. Und mein Teddy half mir wie immer. Ich rappelte mich auf und setzte mich an meinen Schreibtisch. Vielleicht sollte ich noch etwas für die Schule lernen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, auch wenn mich unten die lauten Flüche meines Großvaters immer wieder zusammenzucken ließen. Aber auf meine Hilfe wollte er ja verzichten.
„Tara!“, schrie meine Großmutter die Treppe herauf. „Es gibt Essen.“ Langsam erhob ich mich von meinem Sessel und ging nach unten. Es roch nach Schweinebraten. So etwas Gutes gab es nur an Sonntagen. Meine Großmutter gab mir einen großen Knödel auf den Teller und ich begann hastig zu essen. „Wie schiehts jetscht mit dem Fernrohr aus?“, fragte ich meinen Großvater. „Man redet nicht mit vollem Mund“, wies mich meine Großmutter zurecht. Ich nickte in ihre Richtung. „Es ist fertig und ich habe auch schon hindurchgesehen. Es ist wirklich ein Prachtstück. Nur dass wir uns gleich verstanden haben, Mädchen, du greifst das nicht an, außer du möchtest, dass …“, doch ich hörte schon gar nicht mehr zu. „Hast du gehört, was Gottfried gesagt hat?“, fragte mich meine Großmutter und durchbohrte mich mit ihren Adleraugen. „Natürlich“, antworte ich und aß weiter den Braten. Ich war traurig, doch ich wollte es vor meinen Großeltern nicht zeigen.
Als ich mit dem Essen fertig war, beschloss ich, gleich in mein Zimmer hinaufzugehen. Ich wünschte den beiden noch eine gute Nacht und verschwand auch schon. In meinem Zimmer angelangt zog ich meine Sachen aus, legte sie sorgfältig über meinen Schreibtischstuhl und schlüpfte in meinen Schlafanzug. Als ich noch kurz bei meinem Fenster hinaussah, stand mein Lieblingsstern hoch oben am Himmel. „Gute Nacht“, sagte ich und sprang mit einem Satz ins Bett. Ich drückte meinen Teddy und schlief auch schon wenige Sekunden später ein.
Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich wach und stieg leise aus meinem Bett. Schnell, aber mucksmäuschenstill ging ich ins Bad und bürstete mir die Haare. Der Wecker im Bad zeigte dreizehn Minuten nach zwölf. Ich war überhaupt nicht mehr müde, doch etwas durstig. Ich ging hinunter in die Küche, wo ich mir ein Glas Wasser holte. Meine Großeltern waren schon schlafen gegangen, Großvaters Schnarchen war zu hören gewesen. Ich stellte das Wasserglas zurück ins Spülbecken und sah zum Fenster hinaus. Es war stockdunkel. Dann fiel mir ein, dass ich ja jetzt ungestört Großvaters Fernrohr beobachten konnte.
Ich schlich ins Wohnzimmer und sah es mir an. Im Mondlicht schaute es noch geheimnisvoller aus mit seiner schwarzen Farbe und den goldenen Rändern. Ich ging mehrere Male herum, traute mich aber nicht, es anzu-fassen. Schließlich überwand ich mich und griff danach. Es fühlte sich ganz glatt an. Mehrere Räder waren an dem Fernrohr befestigt. Wofür nur? Und ich dachte an die Worte des alten Mannes: Es ist etwas ganz Besonderes. Es hat seine Dienste bei mir getan.