Meine wunderbare Buchhandlung (eBook) -  - E-Book

Meine wunderbare Buchhandlung (eBook) E-Book

4,9

Beschreibung

Stunden in der gemütlichen Lieblingsbuchhandlung verbringen, stöbern in druckfrischen Neuerscheinungen und vergilbten Lederbänden. Auf Buchhändler und Antiquare treffen, die echte Charaktere sind. Bereitet es nicht mindestens ebenso viel Freude, ein Buch auszuwählen und zu kaufen, wie es anschließend zu lesen? Das meint der bibliophile Autor und Herausgeber Dirk Kruse und wundert sich, dass noch niemand diesen Orten 'irdischen Glücks' eine Anthologie gewidmet hat. Er konnte 15 bedeutende Autoren für die Hommage gewinnen – von Thommie Bayer über Ulrike Draesner und Ulla Hahn bis hin zu Herbert Rosendorfer und Hans-Ulrich Treichel. In Erzählungen und Kurzgeschichten schildern sie die denkwürdigsten, witzigsten, unheimlichsten und kuriosesten Begebenheiten in ihren ›wunderbaren Buchhandlungen‹.

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Seitenzahl: 282

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Meine wunderbare Buchhandlung

 

Herausgegeben von Dirk Kruse

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage der Klappenbroschurausgabe Oktober 2016)

 

© 2010 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Ulrike Jochum

Der Text »Tenor Soccus vulg. Linné« von Herbert Rosendorfer folgt auf ausdrücklichen Wunsch des Autors nicht den Bestimmungen der neuen deutschen Rechtschreibung. Als Lizenzabdruck ist auch Martin Suters »Plagiator auf Lesereise« noch in der alten Rechtschreibung verfasst.

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-739-1

 

Für Albert Krapf, Charlotte Wächtler-Prossén, Anke Bock, ­Christian Niedermeier, Godela Grauer, Heiko Kistner, Hans Schmidt und alle anderen wunderbaren Buchhändler

 

Inhalt

Vorwort

Ewald Arenz – Bücherliebe

Thommie Bayer – Die temporäre Schwellenangst

Claire Beyer – Buchhändler Rogalsky

Ulrike Draesner – Speck

Rolf-Bernhard Essig – Nazis in Dortmund

Gerhard Falkner – Bücher, Buchhandlungen und Übersprungshandlungen als Ursprungsbedingungen

Evelyn Grill – Sobieski, Mariandl und Chopin

Ulla Hahn – Drei Buchhändler in einem strengen Winter

Eckhard Henscheid – Ehre den Buchhändlern? Mit Einschränkungen. Ein Besinnungsaufsatz

Sandra Hoffmann – Kriedel

Michael Kleebeg – Der Bücherdirigent vom Dom

Günter Kunert – Am Anfang war Herr Wiese

Robert Menasse – Die blauen Bände

Christiane Neudecker – Ein Laden für das Nichts

Herbert Rosendorfer – Tenor Soccus vulg. Linné

Martin Suter – Plagiator auf Lesereise

Hans-Ulrich Treichel – Zufluchtsorte

Herausgeber und Autoren

Textnachweis

 

 

Vorwort

Buchhandlungen und Antiquariate sind für mich ebenso wichtig wie Supermärkte. Auch sie verkaufen Waren des täglichen Grundbedarfs: geistige Lebensmittel. Damit ist noch nichts über die Qualität dieser Geschäfte und ihrer Produkte gesagt. Das Spektrum der Buchhandlungen ist genauso groß wie das der Nahrungsmittelhändler. Da gibt es die Discounter, die gestern noch aktuelle Bücher heute billig verramschen, Supermarktketten, die in allen größeren Städten zu finden sind und sich zum Verwechseln ähnlich sehen, egal ob man sie in Hamburg oder München betritt, Tante-Emma-Läden, die mit einem kleinen, abgestimmten Sortiment die Bedürfnisse der Nachbarschaft decken und regelrechte Feinkostgeschäfte, die statt Wein, Käse und Schokolade Kunst, Philosophie und anspruchsvolle Belletristik für Genießer feilbieten. Ich kaufe in all diesen Läden, in manchen selten, in anderen oft. Aber definitiv gehe ich häufiger in eine Buchhandlung als in eine Metzgerei. Denn Buchhandlungen und Antiquariate sind ja weit mehr als Läden, in denen beliebige Waren abgegeben und Kunden möglichst schnell und effektiv bedient werden. Buchhandlungen sind Orte der Lockung und der Verführung. Orte, die uns nicht schnell wieder loswerden wollen, sondern zum Bleiben einladen. Orte, die uns mit Sitzgelegenheiten und manchmal auch Getränken verwöhnen und wollen, dass wir uns heimisch fühlen. Orte, an denen wir in aller Ruhe die Bücher prüfen, aber auch die beratende Hilfe des Buchhändlers in Anspruch nehmen dürfen. Orte, wo wir in Buchform gute alte Freunde wiedersehen und neue, vielversprechende Bekanntschaften knüpfen. Orte, an denen wir Gleichgesinnte treffen und mit ihnen eifrige Gespräche über beeindruckende Lektüreerlebnisse führen können. Kurz: Orte irdischen Glücks.

Ob eine Buchhandlung zu einer »wunderbaren Buchhandlung« wird, hängt natürlich nicht nur von ihrem Angebot und ihrem Ambiente, sondern auch stark von ihren Buchhändlern ab. Da gibt es zwar welche, die ebenso gut auch Kochtöpfe oder Zwieback verkaufen könnten, so wenig interessieren sie sich für ihre Produkte, doch sind das die Ausnahmen. Die meisten Buchhändler, die ich kenne, sind selber enthusiastische Leser und engagierte Vermittler, die recht gut in der Lage sind, auch die vielen Bücher, die sie nicht lesen können, zu beurteilen. Ein guter Buchhändler besitzt nicht nur Waren-, sondern auch Menschenkenntnis und erreicht langfristig bei seinen Kunden eine ähnliche Vertrauensposition wie ein Therapeut oder Apotheker. Niemals kann mir deshalb eine Internetbuchhandlung oder eine Antiquariatsplattform einen richtigen Buchladen ersetzen. Nur dort erfahre ich alle Sinnlichkeit des Bucherwerbs und werde nicht nur individuell beraten, sondern kann die Bücher auch berühren, riechen, in ihnen blättern und vor allem solche entdecken, nach denen ich gar nicht gesucht habe. Ein Buch auszuwählen und es zu kaufen, macht mir beinahe ebenso viel Freude, wie es anschließend zu lesen. Erstaunlich ist es daher, dass es so wenige Geschichten von Buchhandlungen gibt, und erst recht keine Sammlungen darüber. Ich kenne und besitze zwar etliche Anthologien über das ­Schreiben, das Lesen und das Sammeln von Büchern, habe aber keine über Buchhandlungen gefunden. Also habe ich mich selbst an die Aufgabe gemacht und 14 Autoren gebeten, Geschichten über Buchläden und Buchhändler zu schreiben, die ein möglichst breites Spektrum des Themas abdecken: humoristisch und ernsthaft, rührselig und spannend, phantastisch und satirisch, wirklich erlebt und frei erfunden. Genau dieses Buch mit 17 Erzählungen und Essays über wunderbare Buchhandlungen, das ich noch durch drei aktuelle, bereits veröffentlichte Beiträge ergänzt habe, halten Sie nun in den Händen.

Den Buchladen als Zufluchtsort beschreiben Hans-Ulrich Treichel, der in Rom eine deutsche Buchhandlung sucht und in Berlin die Heinrich-Heine-Buchhandlung findet, und Claire Beyer. Die schwäbische Autorin lässt ein Mädchen auf der Flucht vor einem Mitschüler an einem solchen Ort Schutz suchen und in dem Buchhändler einen väterlichen Freund finden. Kindliche Protagonisten haben auch Ulrike Draesner und Ulla Hahn gewählt. Draesner erzählt vom Schulbuben Speck, der in der Schwetzinger Buchhandlung Kieser in den Büchern die Abenteuer der Sprache entdeckt, während Hahn ihrem Alter Ego in die rheinischen Buchhandlungen ihrer Kindheit folgt und in der Hamburger Traditionsbuchhandlung Felix Jud noch einen Einkehrschwung macht. Das Kind in Günter Kunerts autobiografischem Triptychon ist er selbst – er berichtet über heimliche Buchhandlungsbesuche und Lektüreerlebnisse in Nazizeit und DDR-Diktatur. Noch weiter in der Geschichte, in die Zeit der Sockenhalter und Vollbartträger, geht Herbert Rosendorfer zurück, der das Leben eines verhinderten Antiquars in Linz erzählt. Dem Buchhändler als unbekanntem Wesen widmen sich ­mehrere Autoren. Rolf-Bernhard Essig gibt humorvolle und erhellende Einblicke in das Seelenleben einer prototypischen Buchhändlerin, indem er einem Kundengespräch ihren inneren Monolog gegenüberstellt. Michael Kleeberg würdigt ganz konkret die Buchhändlerlegende Franz Stoffl von der Dombuchhandlung in Mainz, während Eckhard Henscheid ein allgemeines Loblied auf den Buchhändlerstand singt – natürlich nicht ohne satirisch-kritische Unter- und Obertöne. Von Spezial-Buchläden erzählen Evelyn Grill, Sandra Hoffmann und Robert Menasse. Evelyn Grill ersinnt die erste Migrationsbuchhandlung Deutschlands und wird von einer findigen Studienrätin ausgebootet. Von der unbedingten Notwendigkeit eines Buchladens für Surf-Literatur überzeugt Sandra Hoffmanns atmosphärisch dichte Geschichte. Und Robert Menasse macht anhand einer politischen Buchhandlung in Wien deutlich, dass man niemals Bücher wegwerfen sollte, weil man das eines Tages bereuen könnte. Geradezu phantastisch geht es in den Buchhandlungen von Ewald Arenz und Christiane Neudecker zu. Arenz’ grantelnder Buchhändler stürzt ein Liebespaar in Verwirrung, weil er den Lebensroman des Geliebten feilbietet. Und Neudeckers gespenstisch anmutender Laden für das Nichts, in dem die Buchstaben aus den Büchern verschwinden, thematisiert die alte Autorenangst vor der Schreibblockade. Schriftsteller stehen auch im Mittelpunkt zweier anderer Geschichten: Martin Suter nimmt uns mit auf eine Lesereise in eine typische Kleinstadt, Thommie Bayer klärt uns über geheime Zwangshandlungen zahlreicher Autoren auf, die inkognito durch Großbuchhandlungen streifen. Und der gelernte Buchhändler Gerhard Falkner klagt, dass Buchhandlungen immer seltener »zentrale Orte für denkende Menschen« seien, und erinnert an die Nürnberger ­Buchhandlung Jakob, die Basis Buchhandlung in München und das Edel­antiquariat Foyles in London.

Viel Vergnügen mit diesen Geschichten über wirkliche und erfundene, immer aber wunderbare Buchhandlungen wünscht

 

Dirk Kruse

Nürnberg, im September 2010

 

Ewald Arenz – Bücherliebe

1

 

Es war ein Regentag im späten Frühling, ein leerer Sams­tag­nachmittag. Sie wanderten ziellos durch verlassene Straßen und wurden ein bisschen nass, aber das machte gar nichts.

»Eigentlich«, sagte er zur Baroness, die seit über zehn Minuten mit einem Taschenschirm kämpfte, »kann man eine Stadt nur an verregneten Nachmittagen wirklich kennenlernen.«

»Ja«, sagte die Baroness trocken und fluchte über den Regenschirm, genauso wie den Geliebten. »Im Sommer ist nämlich alles schön. Es sind die trostlosen Regentage, an denen man weiß, ob man mit ihnen zurechtkommt.«

»Ihnen?«, erkundigte er sich vorsichtig. »Wen meinst du? Und warum die Mehrzahl?«

Die Baroness antwortete nicht, sondern war an eine Mülltonne herangetreten, hatte den Deckel geöffnet, hielt den Schirm darüber und teilte ihm ernst mit: »Das ist jetzt deine letzte Chance. Öffne dich.«

Der Schirm erkannte entweder die Gefahr nicht oder war der Ansicht, dass man für seine Überzeugungen sterben sollte. Er entfaltete sich auch diesmal nicht, als die Baroness den Knopf drückte.

»Na gut«, sagte sie knapp, »Tschüss für immer.«

Der Regenschirm fiel dumpf in die Tonne. Dann wandte sich die Baroness an ihren Begleiter.

»Die Stadt und den neuen Geliebten. Denn, wenn sie bei schlechtem Wetter nicht funktionieren …« Ihr Blick wanderte bedeutungsvoll zur Mülltonne.

Er musste lächeln.

»Mein Lieb’«, sagte er dann in gefasstem Ton, »ich bin nicht dein neuer Geliebter.«

»Das stimmt«, unterbrach sie ihn herzlos, »du bist alt!«

Er hob nun den Zeigefinger und sah streng aus: »Lass mich ausreden, undankbares Stück, das ich erst aus der Gosse auflesen musste …«

Die Baroness riss in gespielter Empörung Augen und Mund auf und heuchelte Fassungslosigkeit, aber dann musste sie lachen und hakte sich bei ihm unter. Er legte schnell den regennassen Zeigefinger erst auf seine, dann auf ihre Lippen. Ein Fernkuss. So war alles zwischen ihnen. Der Ton. Die Unterhaltungen. Die Namen und die ­Sprache. Die Baroness hatte natürlich einen bürgerlichen deutschen Namen, wie es sich für eine Studentin der Philosophie gehörte. Am Anfang war es so eine heimliche Liebe gewesen, von der keiner wissen durfte, daher kam es wohl, dass er »Peter« genannt wurde und sie »Baroness«. Vielleicht war es aber auch nur des Spielens und der Bücher wegen. Es war so eine Liebe, die sich vor allem aus der Sprache nährte. Wenn sie sich nicht hatten sehen können, hatten sie sich geschrieben. Hunderte von SMS. E-Mails. Chats. Er, dessen erste Verliebtheit in eine Zeit gefallen war, in der es das alles noch nicht gegeben hatte und man in erster Linie stundenlang in Telefonzellen gestanden war, um miteinander zu reden und zu schweigen, staunte manchmal darüber, wie sehr das geschriebene Wort wieder zum Träger von Liebe geworden war. Und aus der Kürze, die einem SMS aufzwangen, hatte sich eine Grammatik und ein Wortschatz ihrer Verliebtheit entwickelt, die sonst niemand verstand und die sie auch jetzt noch mit großer Lust am Spiel weiterführten. Manchmal konnte ihnen wirklich kein anderer mehr folgen.

»Mage mir?«, fragte die Baroness mit der ganz kleinen Mädchenstimme, über die sie durchaus auch verfügen konnte.

»Mond, Sterne, alles was duftet«, antwortete er liebevoll, aber etwas zerstreut, denn er hatte auf der anderen Straßenseite eine Buchhandlung entdeckt. In einer Buchhandlung hatten sie sich kennengelernt. Aber nicht deshalb ging er gerne in Buchhandlungen, sondern weil sie beide gerne Bücher kauften, hatten sie sich in einer Buchhandlung getroffen. Es regnete jetzt stärker. Die Baroness schien, nachdem sie den Schirm aufgegeben hatte, den Regen ignorieren zu wollen. Der Himmel war tief und grau; von den Dächern triefte es. Sein Kragen begann feucht zu werden.

»Da wäre eine Buchhandlung«, sagte er und versuchte, ihre Finger aus seinem Gürtel zu lösen, die sie soeben eingehakt hatte. Sie machte das manchmal und behauptete dann, sie sei festgewachsen und er könne sie nie mehr loswerden. Wenn er dann feierlich erklärte, dass das ja auch niemals seine Absicht gewesen sei, verzog sie manchmal das Gesicht und jammerte zufälligen Passanten weinerlich zu, dass der alte Mann sie gefesselt hätte.

»Bücher haben mich niemalen interessiert!«, sagte sie jetzt. »Dieweilen du die Bücher mehr liebst als mir. Aber bitte«, fügte sie dann hinzu, »geh du zu deinen Büchern und lass mir allein im Regen stehen. Es ist ja nicht so, dass ich auf dich angewiesen wäre.«

Sie machte allerdings keine Anstalten, den Gürtel loszulassen. Peter war bereit, den Gürtel aufzugeben und öffnete die Schnalle.

»Fang dir einen neuen Geliebten«, schlug er vor, »oder komm jetzt sofort mit. Es regnet, und du hast unseren Schirm weggeworfen. Du bist anstrengend, und ich werde nass.«

»Ich bin anstrengend, doch sehe ich gut aus«, korrigierte die Baroness in gehobenem Ton, aber dann gab sie nach und rannte über die Straße. Das Wasser spritzte, wo sie in Pfützen trat. Er musste wieder lächeln. Manchmal war sie ganz ernsthafte junge Dame, klug und schlagfertig, manchmal ein kleines, gedankenlos spielendes Mädchen. Er lief ihr nach, holte sie kurz vor den drei Stufen zum Eingang des Ladens ein und versuchte sie zu küssen. Die Baroness drehte sofort den Kopf weg und hob den Zeigefinger: »Wie oft wurde dir bereits erklärt, dass dieses unziemlich ist? Hm? Wie oft?«

Er wollte etwas Kluges antworten, aber der Regen nahm auf einmal zu und das Wasser begann, von den Dächern herabzustürzen, weil die Dachrinnen die Mengen nicht mehr fassen konnten.

»Lass mich rein!«, sagte er halb lachend, halb ärgerlich. »Ich bin schon klitschnass!«

Die Baroness gab lächelnd den Weg frei, und sie traten gemeinsam durch die Tür.

 

Im Buchladen waren jetzt, da es draußen in Strömen regnete, alle Regale in ein graues, diffuses Licht getaucht. Die Farben der Buchrücken waren alle um ein paar Nuancen gedämpft. Auf dem Holzboden lag in der Mitte des Raumes sogar ein richtiger Teppich, der allerdings hie und da Falten warf. Dann gab es ein paar Tischchen, auf denen ­nachlässig, aber nicht ohne ein Auge fürs Detail, Neuerscheinungen arrangiert waren, und es gab natürlich die Regale an den Wänden. Das heißt, es war anzunehmen, dass die Regale an Wänden standen, denn man sah diese nicht. Die Buchhandlung war wohl früher einmal eine herrschaftliche Wohnung gewesen, denn sie bestand aus drei oder vier großen Zimmern, durch die sich nun die Bücherwände zogen. Man konnte jetzt auch sehen, dass die hinteren Räume hohe Fens­ter hatten, die auf einen alten Garten hinausgingen. Es knarzte, wenn man ging; die Räume waren alle mit hundert Jahre altem Parkett ausgelegt. In einer Ecke stand etwas verschämt eine durchaus moderne Verkaufstheke mit einem leise summenden Computer und einer Kasse.

»Das«, sagte Peter beeindruckt, »ist aber nett hier.«

»Ja«, meinte die Baroness in lässigem Ton, »ist ganz okay«, was bedeutete, dass sie diese Buchhandlung auch mochte. Sie wollte eben ein Buch von einem der Tischchen nehmen, als aus dem Nebenzimmer eine körperlose Stimme ungnädig sagte: »Wenn Sie auch nur eines meiner Bücher mit Ihren regennassen Fingern berühren, fliegen Sie hier achtkantig raus.«

»Hoppla!«, sagte die Baroness überrascht und hielt inne. Sie und Peter sahen sich belustigt an. Er hob die Augenbrauen ein kleines Stück, sie drehte die Augen um ein Winziges nach oben – die kleinen Zeichen des gegenseitigen Verstehens, der gemeinsamen Verschworenheit der Verliebten gegen den Rest der Welt. Die Baroness wollte etwas sagen, wurde aber von der Stimme unterbrochen, die barsch befahl: »Bleiben Sie in der Mitte des Raumes stehen, tropfen Sie mir den Teppich nicht voll und versuchen Sie, möglichst still zu sein. Ich nehme an, dass nur der Regen Sie hier hereingetrieben hat und Sie wahrscheinlich das erste Mal in so einer Art Laden stehen. Meinetwegen können Sie den Regen abwarten, aber fassen Sie nichts an.«

Es lag jetzt mehr als Belustigung in dem Blick, den die beiden tauschten. Man hätte von ungläubiger Begeisterung sprechen können. Die Baroness grinste.

»Ich habe in meinem Leben bereits das eine oder andere Buch gekauft!«, rief Peter mit einiger Ironie in den nächsten Raum.

»Das mag sein«, kam es trocken zurück, »aber sicher nicht bei mir. Aus meiner Sicht sind Sie so nutzlos wie ein Analphabet.«

Die grünen Augen der Baroness weiteten sich vor Überraschung und Vergnügen.

»Der Mann scheint dich zu kennen«, flüsterte sie Peter boshaft zu, »und ich mag, wie er denkt. Er findet dich auch nutzlos. Wie er wohl aussieht?«

»Ich nehme an, wie Benito Mussolini«, flüsterte Peter zurück. Er musste auch grinsen.

»Ich habe das gehört«, kam die Stimme wieder, und dann knarrte das Parkett im Nebenzimmer. Da war jemand aufgestanden.

Die Baroness und Peter wechselten einen kurzen Blick und warteten. Der Mann, der aus dem anderen Raum kam, war hager und hatte einen dünnen Bart. Außerdem hielt er ein Glas Wein in der Hand. Er sah kein bisschen aus wie Mussolini.

»Ich sehe Mussolini nicht im Geringsten ähnlich!«, sagte er mürrisch und musterte Peter und die Baroness unfreundlich, aber doch ein wenig neugierig.

»Stimmt«, sagte die Baroness, »abgesehen von dem schwarzen Hemd sind Sie nicht so der charmante ­Verführer der Massen.«

Peter sah überrascht, dass es um die Mundwinkel des Buchhändlers kurz zuckte. Seine Stimme klang aber nicht weniger mürrisch, als er Peter mit einem abschätzigen Blick auf die Baroness boshaft fragte:

»Ist Ihre Beziehung zu der Dame eher karitativer Natur oder ist Ihre Verliebtheit auf fortgesetzten Alkoholmissbrauch zurückzuführen?«

Peter und die Baroness sahen sich diesmal komplett ungläubig an. Der Mann war von so atemberaubender Unverschämtheit, dass sie beide einen Augenblick lang nicht wussten, was sie sagen sollten.

Die Baroness fasste sich als Erste.

»Ich beginne zu verstehen, warum dieser Laden so leer ist«, sagte sie maliziös, »mal abgesehen von den etwa 10 000 Büchern, die wahrscheinlich noch viele Jahre in diesen Regalen lagern werden. Ist Ihnen das Prinzip eines Buchladens nicht klar, oder wollen Sie einfach keine Bücher verkaufen?«

Peter warf der Baroness einen halb bewundernden, halb besorgten Blick zu. Vielleicht war sie etwas zu weit gegangen. Er hatte keine Lust, hinausgeworfen zu werden. Es gab einen kleinen Augenblick der Stille. Draußen rauschte der Regen. An den Schaufensterscheiben liefen schmale Bäche hinunter und ließen die Außenwelt verschwimmen.

»Ich werde«, sagte der hagere Buchhändler nach einer Pause gelassen, während er sich zu einem der Regale umdrehte, »heute mit Sicherheit noch zwei Bücher verkaufen. Und zwar an Sie.«

»Ich will Sie nicht entmutigen«, sagte jetzt Peter, »aber selbst Ihnen müsste klar sein, dass Sie an einen Analphabeten keine Bücher verkaufen können! Vor allem nicht, wenn Sie den Analphabeten eben massiv beleidigt haben.«

Der Buchhändler lehnte sich gegen ein Regal, trank einen kleinen Schluck seines Weines und betrachtete die beiden. Die Baroness und Peter fühlten sich eindringlich gemustert, aber sie wollten sich auch nicht die Blöße geben, wegzusehen. Das gedämpfte Prasseln des Regens gab der Stimmung zwischen all diesen Büchern etwas von der Welt Abgeschiedenes, einen Hauch von Strenge, so, als sei man in ein Museum oder in eine Kirche geraten. Die Baroness betrachtete den Buchhändler und fand, dass er trotz seiner Unverschämtheiten nicht boshaft aussah. Er hatte etwas Ernstes. Vielleicht bekommt man das ganz von allein, dachte sie, wenn man sein Leben lang von Büchern umgeben ist. Da wandte der Mann sich an Peter und fragte gelassen:

»Sagen Sie, fürchten Sie nicht, dass Ihre kleine Geliebte einen so viel älteren Mann irgendwann satt hat? Wenn die Faszination für die intellektuelle Überlegenheit nachlässt …«

Peter sah, dass sich die Augen der Baroness einen winzigen Augenblick weiteten, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, wie um ihn ihrer Solidarität bei einer Antwort auf diese unglaubliche Unhöflichkeit zu versichern, aber er konnte trotzdem nicht sofort etwas sagen. Auf irgendeine Weise hatte ihn dieser Mensch mit seiner lächerlichen Bemerkung im Innersten getroffen. Es war, als hätte er diese kleine, geheime Furcht vor dem Alter, vor dem Versagen, vor der Schwierigkeit dieser Liebe zur Baroness sofort entdeckt und ans Licht gezerrt. Er holte tief Luft und versuchte, überlegen zu lächeln, aber da hatte sich der Buchhändler schon an die Baroness gewandt und genauso überheblich gefragt: »Und Sie, meine Liebe? Glauben Sie noch, dass Sie wirklich seine letzte große Liebe sein werden? Und dass Sie die Blicke der anderen immer aushalten werden? Oder dass Sie sich wirklich nie mehr verlieben werden? In einen anderen, jüngeren, frischeren Mann?«

Peters und der Baroness’ Blicke trafen sich. Er konnte sehen, dass sie genauso betroffen war wie er, und das wiederum verunsicherte ihn. Und es war ja so, dass ihn diese Bemerkung nicht weniger berührte als sie. Er konnte ja nicht sicher sein … vielleicht war es wirklich nicht die ganz große Liebe. Und wer wusste, wie es für sie war … sie sahen auf einmal beide weg.

»Wir müssen ja nicht hier sein«, sagte Peter und versuchte, gelassen zu klingen, aber es gelang nicht so ganz, als er die Baroness fragte: »Kommst du?«

»Das geht Sie nichts an!«, sagte sie fast gleichzeitig und scharf zu dem Buchhändler, der immer noch an seine Bücher gelehnt dastand, hager, leicht gekrümmt und mit wachen Augen hinter altmodisch spiegelnden Brillengläsern.

»Ich weiß«, sagte er, »ich weiß. Aber Sie. Kommen Sie mit!«

Er stieß sich leicht vom Regal ab und ging in den nächsten Raum seines Ladens. Peter und die Baroness folgten ihm nach einem kurzen Zögern. Es war, als sei plötzlich eine kleine Unsicherheit zwischen sie getreten. Peter wollte nach ihrer Hand greifen, aber sie machte – unabsichtlich oder nicht – gerade eine kleine Bewegung, sodass er ins Leere fasste.

Der Buchhändler war an dem schmalen Regal zwischen den beiden hohen Fenstern stehen geblieben. Die große Weide im Garten triefte. Der Regen fiel so dicht, wie es nur ein Frühlingsregen kann: rauschend und so, dass alles Grün im Garten wie durch einen dichten Schleier zu leuchten schien. In dem hohen Raum wiederholte sich das Grün im dämmrigen Nachmittagslicht, das alle Konturen unsicher machte. Der Buchhändler war auf eine Trittleiter gestiegen und holte ein Buch aus einem der oberen Regale. Dann stieg er hinab, ging sicher zwei Regale weiter und nahm auch dort ein Buch heraus.

»Das hier kann ich Ihnen heute empfehlen«, sagte er trocken, als er sich zu den beiden umdrehte. »Bitte!«

Er reichte der Baroness und Peter je ein Buch. Peter drehte seines um, sodass er den Titel lesen konnte. Und dann war er doch überrascht. Die Baroness, stand da in kühler Schrift über den weißen Umschlag gedruckt, Roman.

»Ach nee«, sagte er einigermaßen beeindruckt. Dann sah er neugierig auf das Buch in der Hand der Baroness.

»Doch«, sagte sie, denn sie war wie immer etwas schneller gewesen und hatte seinen Titel schon gelesen, bevor er ihren hatte lesen können. Sie hielt das Buch hoch.

»Peter«, sagte sie, »Roman«. Halb ironisch, halb verunsichert fügte sie an: »Nett, hm?«

Sie ging dem Buchhändler hinterher, der schon wieder in den ersten Raum wechselte, wo die Verkaufstheke war.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte die Baroness neugierig. »Das ist nicht schlecht. Wirklich nicht.«

»Er hat uns auf der Straße gehört«, sagte Peter hastiger als nötig, »bevor wir reingegangen sind.«

Der Buchhändler war jetzt hinter seiner Verkaufstheke, stellte das Glas Wein achtlos auf einem Prospekt ab und bückte sich nach einer Tüte.

»Was Sie da haben«, sagte er, als er mit zwei kleinen weißen Plastiktaschen wieder auftauchte, »ist der Lebensroman Ihres Geliebten. Oder Ihrer Geliebten. Von Anfang bis Ende. Das macht dann jeweils 19,80 Euro. Wenn Sie ihn haben wollen«, fügte er nach einer kleinen Pause noch an.

»Blödsinn«, sagte Peter, legte das Buch auf die Theke und sah zur Baroness hinüber.

»Sie müssen es nicht kaufen«, sagte der Buchhändler gelassen und streckte die Hand nach dem anderen Buch aus. Die Baro­ness zögerte einen kleinen ­Augenblick, dann streckte sie ihm das Buch hin und sagte:

»Doch. Ich finde das lustig. Obwohl es Quatsch ist. Los«, sagte sie, »sei kein Spielverderber! Nimm das Buch. Und bezahl alles!«

Peter lachte, als er das Portemonnaie herausnahm, aber so unbefangen wie sonst klang es nicht.

»Bisschen billig, so ein Trick!«, sagte er zu dem Buchhändler, der das Geld in Empfang nahm, in der Kasse kramte und dann herausgab.

»Viel Vergnügen beim Lesen«, erwiderte der hagere Mann aber völlig unbeeindruckt, und es klang so, als hätte er es in diesem Ton schon seit 20 Jahren zu jedem Kunden gesagt.

 

 

2

 

So abrupt, wie er begonnen hatte, hatte der Regen auch wieder aufgehört. Sie gingen auf der glänzenden, dampfenden Straße in die Stadt hinunter. Im Westen war der ­Himmel aufgerissen und die späte Nachmittagssonne herausgekommen. Es war ein unwirkliches Licht wie nach einem Gewitter.

»Er hat uns gehört«, sagte Peter nachdenklich, während sie nebeneinander hergingen, jeder mit seiner kleinen weißen Plas­tiktüte in der Hand.

»Ich weiß nicht«, sagte sie nach einer Weile, »hast du ›Baroness‹ zu mir gesagt?«

Er zuckte die Schultern. Dann nahm er das Buch noch einmal aus der Tüte.

»Na ja«, sagte er dann, »Die Baroness. Wahrscheinlich gibt es hundert Romane, die so heißen.«

»Ja«, sagte die Baroness, »genau wie Peter.«

Sie waren auf der Brücke angelangt, wo sie sich immer trennten. In der Mitte, unter der Statue des Weltreisenden. Es hatte jetzt, zum Abend hin, richtig aufgeklart. Nur noch wenige Wolken wurden rasch über den Himmel getrieben, und auf einmal war eine kleine Fremdheit zwischen ihnen.

»Bis Dienstag dann«, sagte Peter.

»Bis Dienstag, alter Mann«, antwortete die Baroness lächelnd, aber Peter war sich nicht sicher, ob es so leicht klang wie sonst.

Als er durch den hellen Frühlingsabend nach Hause ging und wie nebenbei die Frühlingsgerüche von nassem Gras und blühenden Robinien in der klaren Luft wahrnahm, die vor einem Jahr zu ihrer allerersten Verliebtheit gehört hatten, ärgerte er sich auf einmal, dass sie in die Buchhandlung gegangen waren. Dieser unglaublich arrogante Mensch hatte ihnen den Tag verdorben. Er trat, plötzlich sehr wütend, nach einer Dose, die auf dem Gehsteig lag, blieb mit der Sohle hängen und stieß sich den Zeh. Fluchend über die eigene Dummheit und endgültig schlecht gelaunt, kam er zu Hause an.

Später, als er am offenen Fenster saß, in einer seltsamen Mischung aus Wehmut und Ärger in den Abend sah und ihm immer wieder Bilder der Baroness dazwischen­kamen, dachte er nach. Was war es denn eigentlich gewesen? Zwei Worte eines unfreundlichen, arroganten und mehr als indiskreten Buchhändlers, der seine Bücher verkaufen wollte. Aber noch als er das dachte, wusste er schon, dass das nicht stimmte. Es war einfach so, dass der Mann es so genau getroffen hatte. Seine geheimen Ängste und Gedanken. Seltsam. Peter straffte sich und sah aus dem Fenster über die Stadt. Allmählich wurde es ganz dunkel und überall gingen die Lichter an. Eigentlich sah es so friedlich aus, wenn man über die Dächer sah. Aber er war unruhig. In solchen Augenblicken war auf einmal alles unsicher und düster. Was tat er mit seinem Leben? Und was tat er mit dem Leben der Baroness? War es wirklich so, dass sie sich selbst – und damit den anderen – belogen? Er trommelte mit den Fingern unruhig auf die Fensterbank, dann drehte er sich kurz entschlossen um und holte das Buch aus der weißen Tüte, die er auf den Tisch gelegt hatte, als er nach Hause gekommen war. Dann ging er wieder ans Fenster.

»Die Baroness«, las er den Titel noch einmal. Das hatte er schon geschickt gemacht, dieser Buchhändler. Peter wog das Buch in der Hand. Ihr Leben sollte darin stehen, hatte er behauptet. Was für ein Blödsinn! Er schlug es aufs Geratewohl auf und las:

»Sie sah ihm hinterher und ärgerte sich nicht zum ersten Mal über das braun-rot karierte Jackett, das er schon vor Jahren hätte wegwerfen sollen.«

Peter hielt inne. Ein eigenartiges Gefühl war da plötzlich in ihm; so ein Gefühl, wie man es von nächtlichen Spaziergängen kennt, wenn man auf einmal merkt, dass da jemand hinter einem geht. Wie weit konnten Zufälle gehen? Er hatte ein braun-rot kariertes Jackett. Er konnte sich gerade nicht erinnern, ob er es schon jemals angehabt hatte, wenn er die Baroness gesehen hatte, aber er hatte eines, und so, wie er sie kannte, würde es ihr nicht gefallen. Verunsichert wog er das Buch in der Hand. Zufall? Wie viele braun-rot karierte Durchschnittsjacketts gab es in der Welt? Er schlug es ein ganzes Stück weiter vorne auf und las:

»Die Strömung im Fluss war viel stärker, als sie gedacht hatte. Sie gab sich Mühe, nicht in Panik zu geraten und schwamm in gleichmäßigen, kraftvollen Zügen, aber sie sah am vorbeiziehenden Ufer, wie schnell sie abgetrieben wurde. Die Doppelspitze des Doms verschwand allmählich, als unter der Brücke der Lastkahn auftauchte …«

Er hielt das Buch geöffnet in der Hand. Das sonderbare Gefühl der Beklemmung war jetzt noch stärker. Er erinnerte sich an einen Tag, an dem sie auf einer Brücke gestanden waren, Hand in Hand, und ins Wasser gesehen hatten und die Baroness auf einmal leichthin gesagt hatte: »Soll ich dir erzählen, wie ich einmal fast ertrunken bin?«

Und sie war in Köln aufgewachsen. Am Rhein. Peter zwang sich zur Vernunft. Es gab auch in anderen Städten einen Dom. Jeder war schon einmal fast ertrunken, weil er leichtsinnig im Meer oder im Fluss geschwommen war. Zufall. Koinzidenz. Natürlich setzte er jetzt alles in Beziehung zur Baroness, weil der Buchhändler behauptet hatte, in dem Buch stehe ihr Leben. Trotzig blätterte er fast bis zum Schluss und las:

»Der Friedhof war voller blühender Bäume und der kühle Aprilwind bewegte die jungen Blätter wie …«

Erschrocken, hastig und mit einem Gefühl wie von plötzlicher Scham klappte er das Buch zu. Wenn, nur einfach mal so gedacht, wenn in dem Buch wirklich ihr Leben stand, wollte er dann wissen, in welchem April es endete? Wollte er das wirklich wissen? Wollte er wissen, was mit ihnen beiden geschah? Wollte er wissen, was ihre Zukunft war und seine, so lange sie mit ihm war, und schließlich: Ob es überhaupt eine gemeinsame Zukunft gab?

Es war jetzt ganz Nacht geworden. Neumond, und der Himmel schwarz. Peter löschte das Licht und stand im Dunkeln, immer noch das Buch in der Hand. Las sie gerade sein Leben? Sie war so neugierig … Und er? Sollte er wissen, was mit ihr geschah? Und was geschehen war? All die kleinen Geheimnisse, die man so hat? Die vergangenen Geliebten, die alten, nur halb vergessenen Lieben? Die Sehnsüchte, die nichts mit einem selbst zu tun hatten? Und wenn sie es las, sollte er dann nicht auch alles über sie wissen? Es würde alle Unsicherheit wegnehmen, die da manchmal zwischen ihnen war. Und er würde wissen, ob sie wirklich liebte. Er müsste ja vielleicht nicht alles lesen. Nur die Kapitel, die ihn angingen. Ob sie las? Ob sie der Versuchung widerstehen würde, und ob sie es überhaupt wollte? Er überlegte, ob er sie anrufen solle, aber dann blieb er doch einfach am Fenster stehen und sah in die Nacht. Irgendwie konnte er jetzt nicht mit ihr sprechen. Er spielte unentschlossen mit dem Buch. Die Baroness. Roman. Dann, mit plötzlicher Entschlossenheit, warf er das Fenster zu und machte in der ganzen Wohnung Licht.

 

 

3

 

Im Sonnenlicht eines richtigen Frühlingstages hatte der Buchladen nicht mehr Zauber als ein Buchladen eben hat, aber dafür sah er jetzt viel freundlicher aus als noch vor drei Tagen. Der alte Parkettboden leuchtete dort, wo die Sonne durch die Fenster hereinfiel, und wie in allen Buchläden glitzerte der Staub in den Lichtbahnen. Die Tür war offen gestanden, als Peter eingetreten war, und so lag der typische Geruch jedes Buchladens nach Papier und ein wenig nach Leinen von den Buchrücken neben den Blütengerüchen von draußen nur wie eine Erinnerung in der Luft. Peter stand in der Mitte des Raumes, hatte das Buch in der Hand und wusste nicht genau, wie er sich fühlen sollte. Es war kein sehr schönes Wochenende gewesen. Sie hatten nicht einmal telefoniert, es war, als hätten die beiden Bücher ihnen mit einem Mal die Sprache genommen. Er hatte die Baroness nicht anrufen können; eigentlich wusste er selbst nicht, wieso. Aber drei Tage Schweigen – das hatten sie bisher noch nie gehabt.

Wieder war der Besitzer nicht zu sehen, und Peter trat ziellos zu den Regalen und sah sich die Bücher an, die dort standen. Die Klassiker in Leinenbindung hier: Goethe, Hesse, Schiller, Mann. Im Regal daneben die leuchtend bunten Taschenbücher mit modernen Titeln wie Seide, Schnee oder Tausend Sachen, die man bei Frauen falsch machen kann! Peter verzog den Mund zu einem halben Lächeln. Davon kannte er auch ein paar. Unschlüssig streifte er zwischen Regalen und Tischchen hin und her, nahm mal dieses, mal jenes Buch auf und wartete höflich, dass sich der Ladenbesitzer zeigte.

»Ach«, kam es aus der Tür zum Nebenzimmer, »sehen Sie, Sie sind doch wiedergekommen.«

Der Ladenbesitzer hatte diesmal kein Glas Wein, sondern eine ziemlich gebraucht aussehende, sehr große Kaffeetasse in der Hand, aus der er angelegentlich einen Schluck nahm, bevor er boshaft fragte:

»Ist meine böse Kundenfangstrategie aufgegangen? Wollen Sie jetzt doch Bücher bei mir kaufen?«

Peter antwortete nicht gleich, sondern sah den Mann sehr aufmerksam an.

»Nein«, sagte er dann langsam, »eigentlich wollte ich kein Buch kaufen. Ich wollte wissen …« Er hob das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten und das ihn drei Tage lang gequält hatte, »… ich will eigentlich nur … also, was ich wirklich wissen will, ist …«

Der Buchhändler unterbrach ihn.

»Beim letzten Besuch haben Sie viel mehr geredet. Was für eine heilsame Kraft Literatur doch haben kann. Also, was genau wollen Sie wissen?«

»Na, das würde auch mich interessieren«, kam es vom Eingang. Peter drehte sich um. Da stand die Baroness. Im Morgenlicht leuchtete ihr Haar. Peter fühlte einen kleinen Stich, als er sie ansah.

»Hallo«, sagte er.

»Selber Hallo«, sagte sie kurz und trat jetzt auch ein. Der Buchhändler hob bloß halb die Hand als Zeichen, dass er sie wiedererkannte, trank aber sonst nur einen Schluck Kaffee und wartete ab. Die Baroness musterte Peter.

»Du siehst aus wie Dresden im April ‘45«, sagte sie dann. »Schlecht geschlafen?«

Es klang sorgfältig neutral, und Peter hätte nicht sagen können, ob das eine echte Bosheit war oder ob sie sich einfach an ihrem gewohnt leichten Ton festhielt.

»In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf«, gab er zurück und lächelte schief, »aber so ganz wie der strahlende Morgen siehst du auch nicht aus, mein Herz.«

Sie nickte kurz, aber sie lächelte nicht, und so wusste er nicht, was sie dachte. Ihre Blicke trafen sich, und sie sahen sich eine ganze Zeit lang schweigend an. Er hatte das Buch in ihrer Hand natürlich ebenso gesehen wie sie das seine. Er fragte sich, ob sie ihn so ansah, weil sie das Buch gelesen hatte, und im selben Augenblick wurde ihm klar, dass sie sich das auch fragen musste, egal, ob sie seinen Roman jetzt gelesen hatte oder nicht.

»Na«, sagte sie dann schließlich unvermittelt, »was wolltest du den Herrn fragen?«

Der Buchhändler hatte sich nicht von der Stelle gerührt.